DAS LEBEN MIT DENSITTENWÄCHTERNJETZT REDENTSCHETSCHENISCHEFRAUEN10 / POLITIKA /
Wenn es in österreichischen Medien umTschetschenen geht, wird immer nur überMänner berichtet. Aber was haben dieFrauen zu sagen? Wie sieht ihre Lebensweltaus? Sieben tschetschenische Frauen überpatriarchale Strukturen und Druck derSittenwächter auf die Wiener Community.Text: Aleksandra Tulej, Fotos: Zoe OpratkoWenn die COBRA mittenin der Nacht unsereWohnung stürmt, weilmein Bruder mit Waffenauf Instagram posiert hat, ist das fürmeine Eltern ein kleineres Problem, alswenn ich als Frau Jeans trage. Nur weilich scheinbar mit dem falschen Chromosomgeboren bin.“ Die 20-jährige Zara *hat viel loszuwerden. Ohne Punkt undKomma erzählt sie über ihr Leben: Überdie Ungerechtigkeiten, die ihr widerfahren.Darüber, wie ihr Vater ihr dasKopftuch aufzwingen wollte. Darüber,dass ihre jüngeren Brüder nachts draußenbleiben dürfen und sie nicht, unddarüber, in welcher Zwickmühle sie sitzt,was ihre Zukunft angeht. Dabei betontsie: „Es ist alles noch viel schlimmer, alsdas, was man weiß.“„DAS KANNST DUNICHT SCHREIBEN“„Das kannst du nicht schreiben. Alles,nur nicht das. Misch dich da nicht ein“,wird mir von allen Seiten geraten. Dabeiist das Thema kein Fremdes: In österreichischenMedien wird oft über Tschetschenenberichtet: Es geht immer nurum die Männer – und das im Kontextvon Kriminalität und Gewalt. So wie erstMitte August diesen Jahres, als in Wienund Linz sechs sogenannte „Sittenwächter“festgenommen wurden. Sie hattentschetschenische Frauen verfolgt undbedroht, da diese sich ihrer Ansicht nach„zu westlich“ verhalten haben. Oderder Vorfall von Ende September, beidem ein selbsternannter, wahrscheinlichminderjähriger Sittenwächter einenAustroserben ins Gesicht schlägt, weil ermit einem tschetschenischen Mädchenvia Handy geflirtet hat. Die, die negativauffallen, schaffen es in die Berichterstattung.Was ist aber mit den anderen?In Österreich leben etwa 40.000 Tschetscheninnenund Tschetschenen – diegenaue Anzahl lässt sich nicht sagen, dasie in Österreichs Statistiken als russischeStaatsangehörige geführt werden.Die Mehrheit, die mit Kriminalität nichtszu tun hat, leidet unter dem schlechtenImage. Vor allem die Frauen. Sie sind es,die medial stark unterrepräsentiert sind.Wenn, wird über sie gesprochen. Abernicht mit ihnen. Dabei haben sie so vielzu sagen. Es gibt die, die einen Hass aufihre Kultur haben, und die, die mit diesenStereotypen nichts anfangen können.Aber sie haben eines gemeinsam: Siewollen gehört werden. Ich will alle ihreGeschichten aus erster Hand erfahren.Wie sehen ihre Lebenswelten aus? Wasist „so viel schlimmer als das, was manweiß?“. Und was haben jene zu sagen,die diesem Image der gewaltvollenUnterdrückung, so gar nicht entsprechen?Wie Amina. Für ihre 17 Jahre istAmina unglaublich wortgewandt undselbstbewusst. Bei unserem Treffenlacht sie viel und redet ohne Pause. Beiihr merkt man schnell, dass sie zuhauseviel mehr zu melden hat als Zara, die icheinige Wochen zuvor getroffen habe.Amina spricht in kurzen Sätzen. „Beiuns zuhause gibt’s diese Unterteilungnicht – meine Brüder und ich werdengleich behandelt.“ Das war schon vonklein auf so: „Eislaufen, Fahrradfahren,Skateboard. Das alles war bei mir ganznormal. Ich durfte das alles genau wiemeine vier jüngeren Brüder. Ich kenneFamilien, da ist das nicht so wie bei mir.Diesen Instinkt des Aufpassers bekommendie Männer bei uns von klein aufso beigebracht, so auf: Das ist deineSchwester, wenn ihr etwas passiert, bistdu schuld.“ Da Amina die Älteste dervier Geschwister ist, sieht sie sich alsdie „Aufpasserin“ – die Rolle, die sonstoft den Brüdern zugeschrieben wird. Ihrist es wichtig, dass ihre Brüder nicht infalsche Kreise geraten. So wie das beiZaras Bruder der Fall war. Er sei früherein ganz „normaler, lieber, gescheiterJunge“ gewesen, wie sie erzählt. Bis ihnsein Umfeld beeinflusst habe und „er aufeinmal denkt, er muss dem Image des urargen Tschetschenen entsprechen“, sagtZara frustiert. Diesem Image zu entsprechen,bedeute für ihn, Stärke und Machtzu beweisen, auch gegenüber seinerSchwester. Aber woher stammt diesesBild, das Zaras Bruder meint, repräsentierenzu müssen?BLUTIGE GESCHICHTEDas tschetschenische Volk hat vieleGenerationen lang im Krieg gelebt. DieBeziehungen zwischen Tschetschenienund Russland sind seit Jahrhundertenvon Unterwerfung und Widerstandgeprägt. Anfang der 90er Jahre, nachdem Zerfall der Sowjetunion, erklärteTschetschenien die Unabhängigkeitgegenüber Russland. Darauf folgten diebeiden Tschetschenienkriege – der erstevon 1994 bis 1996, der zweite von 1999bis 2009. Im Zuge dieser Kriege flohenauch meine Gesprächspartnerinnen mit„Es ist alles noch vielschlimmer, als das,was man weiß.“/ POLITIKA / 11