GEFÄHRLICHE GLORIFIZIERUNGAUF TIKTOKFür Sexarbeiter*innen wie Pia ergeben sich im Internet einigeVorteile. Einer davon ist die Tatsache, dass man onlineetwas sicherer ist als offline, da sie sich nicht persönlichin ungeschützten Räumen wie einem Hotelzimmer oderbei Kund*innen zuhause treffen. Frauen wie Pia können sobequem im Pyjama von daheim aus arbeiten. Pia steht oft um6 Uhr auf, macht sich fertig, um Fotos und Videos zu schießen,und versendet den restlichen Tag gemütlich im Bettliegend Nachrichten an ihre Kund*innen. Jedoch läuft nichtimmer alles ohne Probleme: Pia hat oft mit dubiosen Anfragenzu kämpfen. Kund*innen würden moralisch verwerfliche undsogar bestialische Videos von ihr wünschen, wie beispielsweiseeinen sexuellen Akt mit Tieren. An anderen Tagen bekommtsie obendrein Kinderpornografie zugeschickt. Manche Männererzählen während des Sextings sogar von ihren Töchtern, dieschlafend im Nebenzimmer lägen. Pia meldet diese Personenan die Plattform und blockiert sie. Diese verstörenden Erlebnissevon Online-Sexarbeiter*innen werden im Hinblick aufSexarbeit leider oft nicht thematisiert. Pia beobachtet, wieOnline-Sexarbeit auf der Plattform TikTok glorifiziert wird. Inden letzten Jahren tauchten auf TikTok immer mehr Videosauf, wo Sexarbeiter*innen jungen Mädchen Tipps geben, wiesie in die Industrie einsteigen und schnelles Geld machenkönnen. Dabei erzählen sie auf humorvolle und lustige Artund Weise, wie sie Sexarbeiter*innen geworden sind – ohnedabei die Nachteile und das Gefahrenpotenzial anzusprechen:„Das ist gefährlich. Vor allem, wenn die meisten User*innenvon TikTok erst zwischen 11 und 18 Jahren sind. Sexarbeit istja auch erst mit 18 Jahren legal. Es wird immer total positivdarüber gesprochen, ohne den psychischen Stress dahinterzu erwähnen.“ Ein immer wieder auftauchendes Problem, mitdem OnlyFans-User*innen kämpfen müssen: Der Content,für den Kund*innen bezahlen, wird immer wieder gratis aufPornoseiten veröffentlicht. Natürlich geschieht dies ohne derZustimmung der Akteur*innen.Den Vorwurf, dass Sexarbeitantifeministisch sein soll, kannPia allerdings nicht nachvollziehen.Wie viele andere der jungenSexarbeiter*innen, die ihreDienstleistungen sowohl virtuell als auch offline anbieten,bezeichnet sich Pia als Feministin. Für Kritiker*innen ist ihrLebensstil hingegen mit einer „feministischen“ Weltansichtunvereinbar. Beispielsweise positioniert sich die BewegungFEMEN radikal dagegen und argumentiert, dass Frauen sichdurch Sexarbeit freiwillig sexualisieren und ausbeuten lassen.Pia sieht das anders: „Wenn Feminismus die Emanzipationund Selbstbestimmung der Frau bedeutet und man so viel Sexhaben können soll, wie man möchte, warum sollte dann Sex fürGeld verwerflich sein?“ Das Argument „sie würde ihren Körperverkaufen“ ist für Pia hinfällig: „Ich verkaufe eine Dienstleistung,nicht meine Körperteile. Sonst würde ich sie nachhernicht mehr besitzen.“Pia sieht ihre Tätigkeit als Beruf – die virtuelle Sexarbeitist für sie mehr als nur ein Nebenjob geworden, der ihr das„SpaSS & Neugier“Studium möglich macht. Weil der Workload so hoch ist undihr die Tätigkeit Spaß macht, will sie demnächst jedoch mitihrem Studium aufhören. Beides lässt sich für Pia einfach nichtvereinbaren. Stattdessen will sie sich eine*n Finanzberater*inzulegen, ihr Geld investieren und sich so ein passives Einkommensichern. Pia kann sich Sexarbeit im Moment sogarals lebenslange Tätigkeit vorstellen, solange die Nachfragebesteht. „Und wenn Sexarbeit nicht mehr geht, dann gehe icheinfach in Pension“, lacht sie.In Wien sind aktuell 3.390 weibliche Prostituierte angemeldet.Für Online-Sexarbeiter*innen gibt es keine Zahlen. DieZahlen der registrierten Sexarbeiter*innen sollen sich in denletzten zehn Jahren verfünffacht haben. Ende 2013 wurdenaußerdem 67 männliche Sexarbeiter gezählt. Diese Zahlenspiegeln die Realität nicht wider: Die Zählung von Bordellenist bundesweit nicht einheitlich und viele Sexarbeiter*innenregistrieren sich nicht und arbeiten wie Pia privat. Interessantist auch, dass der Migrant*innenanteil unter denSexarbeiter*innen in Österreich auf etwa 80-90 Prozentgeschätzt wird. Davon sollen 40 Prozent aus Rumänien und24 Prozent aus Ungarn kommen.„SEXUALITÄT UND WEIBLICHKEIT WARBEI UNS IMMER TABU.“Die 22-jährige Technik-Studentin Enisa * kommt aus einemsyrisch-schiitischen Haushalt. Ihre langen braunen Haare undihr elegantes Auftreten stechen sofort ins Auge. Während siein ihrem kurzen Sommerkleid sitzt, erzählt Enisa, dass Sexund der weibliche Körper in ihrem Elternhaus immer stark mitScham verbunden waren. Mit dem Beginn eines technischenStudiums und dem dortigen hohen Männeranteil eröffnet sichfür Enisa eine neue Faszination und die Entdeckung des eigenenKörpers. In einem Umfeld, in dem viele Männer arbeiten,richtet sich die Aufmerksamkeit schnell einmal auf die Frau –so wie in ihrem Fall auf der Uni. „Warum soll ich nicht darausProfit schlagen?“, überlegt sie, als sie zu jener Zeit ein Touristaus Wien über Tinder anschreibtund sie fragt, ob sie sich amselben Abend treffen könnten. FürEnisa wäre dieses Date zu kurzfristiggewesen. Als der Mann ihrdann das Angebot macht, für dasTreffen zu zahlen, ist die Studentin erst mal entsetzt. Er warjedoch weder übergriffig noch aufdringlich gewesen, sondernhatte höflich gefragt. Nach kurzer Überlegung entscheidet siesich für das Treffen. Für Enisa beginnt ab diesem Zeitpunktihre Arbeit als Escort. Heute verdient sie bis zu 500 Euro proTreffen.„Wenn man mich fragt, warum ich Sexarbeit mache,erwarten sich Leute oft, dass ich sage: Ja, ich bin arm und binauf das Geld angewiesen. Für viele ist es aber überraschend,wenn sie erfahren, dass Sexarbeiter*innen diesen Beruf auchaus Spaß und Neugier machen.“ Außerdem, meint Enisa, seifür die meisten Männer Sex mit einer armen Sexarbeiterin, dieauf das Geld angewiesen ist, akzeptabler als mit einer, die dasgerne und mit Leidenschaft mache.28 / POLITIKA /
Sexarbeit ist viel besserbezahlt als Catering./ POLITIKA / 29