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dient über Video-Chatting mit fremden Personen ihr Geld. Ihre
engsten Freunde wissen es und unterstützen sie – ihre Eltern
wissen nichts davon. „Ich schäme mich nicht, aber ich habe
Angst“, erklärt die Studentin. Sie habe Angst vor den negativen
Vorurteilen, Angst um ihre Sicherheit und Angst vor dem
psychischen Stress, der mit einem Coming-Out aufkommen
würde. Während Belle von ihren Ängsten erzählt, streichelt sie
ihren Hund und gibt ihm ein Leckerli. Ihre roten glatten Haare
fallen sofort auf und nichts an ihr verrät, dass sie zwischen
ihren vier Wänden Sexarbeiterin ist. Ihr Leben unterscheidet
sich nicht großartig von dem Leben anderer 21-jähriger
Frauen. Sie musiziert, liest gern und betreibt viel Sport in ihrer
Freizeit.
Lange Zeit wurde Prostitution nur mit Mafia, Menschenhandel
und Zwang in Zusammenhang gebracht. Das Resultat war
eine negative Konnotation des Begriffs. Deswegen lehnen viele
Sexarbeiter*innen heute den Begriff der
Prostitution ab. Für Belle ist Sexarbeit
„jeglicher Akt, egal ob online oder offline,
der sexuell erregen soll.“ Die Transaktion
von Geld oder bestimmten Gütern
spielt hier eine entscheidende Rolle. Wie
bei jeder anderen Dienstleistung gibt es auch bei Sexarbeit
einen Tausch. Das kann entweder Geld sein oder Handtaschen,
Schmuck und Parfüms.
Bis zu 100 Euro die Stunde hat Belle schon durch Camming,
also Video-Chatting mit ihren Kund*innen, verdient. Ihre
Rekordzuschauer*innenzahl liegt aktuell bei 14 Tausend. „Es
muss nicht immer sexuell sein. Manchmal reden wir über Gott
und die Welt“, erzählt Belle. Die junge Frau sitzt vor der Kamera
in ihrer Wohnung und redet mit den Kund*innen über Politik,
Veganismus oder Philosophie. Auch dafür gibt es Geld. Der
sexuelle Teil ihrer Arbeit funktioniert nach dem sogenannten
„Tip Menue“. Auf diesem Menü steht eine Liste von Vorschlägen,
die Belle vor der Kamera tun kann, wie etwa ihren BH
auszuziehen oder ihren Hintern herzuzeigen. Wenn jemand ein
Angebot aus diesem „Tip Menue“ wahrnehmen möchte, muss
die Person mit der Internet-Währung „Token“ bezahlen. 40 bis
60 Prozent von ihren Einnahmen fließen jedoch in die Cam-
Plattformen, auf denen sie sich anbietet.
SELBSTLIEBE DURCH
SEXARBEIT
Belles Selbstbewusstsein und Selbstachtung
ist in den drei Jahren, in denen sie
als Cam-Girl arbeitet, enorm gestiegen.
Früher wusste sie nicht, wie man „Nein“
sagt und Grenzen setzt. Heute kann sie
klar sagen, was sie will und was sie nicht
will. „Was mein Body-Image angeht, wurde
ich auch selbstbewusster, aber teilweise
auch kritischer. Es ist abhängig von meiner
Arbeit und meinem Verdienst. Wenn es
gut läuft, ich viel verdiene und tausende
Zuschauer*innen habe, bin ich super selbstsicher,
als wäre ich die geilste Frau der Welt.
Wenn es mal schlecht läuft, frage ich mich
Tip Menue
ANMERKUNG DER REDAK-
TION:
Dieser Artikel beschreibt
und beleuchtet die
Lebensrealitäten von
Sexarbeiter*innen aus
Insider-Sicht. Er soll Sexarbeit
keinesfalls verharmlosen
oder verherrlichen.
Dieser Beruf geht mit Risiken
einher, die der Psyche,
Sicherheit und Gesundheit
schaden können.
sofort, ob ich zu hässlich bin. Aber man darf das nicht auf sich
selbst beziehen.“ Sie erzählt, dass im Winter ihr Verdienst
höher als im Sommer sei. Nach einer Weile habe sie aber
erkannt, dass das wenig mit ihrem Aussehen zu tun habe,
sondern mit der Tatsache, dass im Sommer viele Menschen
auf Urlaub oder die Kinder zuhause seien.
Seit mehr als zwei Jahren ist Belle in einer gesunden und
glücklichen Beziehung. Obwohl es am Anfang leichte Schwierigkeiten
gab, hat ihr Freund inzwischen nicht nur Verständnis
für ihre Arbeit, sondern er unterstützt sie heute dabei: Er filmt
und schneidet ihre Videos. Innerhalb der Beziehung wird alles
offen gehandhabt. Man weiß gegenseitig von den Passwörtern
und versucht ehrlich über Gefühle zu kommunizieren. Und das
klappt.
Auch Belle empfindet ihre Tätigkeit nicht als anti-feministisch.
Sie versteht Frauen nicht, die andere Frauen wegen
ihrer Tätigkeit als Sexarbeiterin kritisieren.
Bei Diskussionen werden
meist die Betroffenen ausgeschlossen,
wobei stets über die Sexarbeiterinnen
gesprochen wird, anstatt mit ihnen.
„Das ist ein Problem. Es reden Außenstehende.
Uns einmal zu zuhören wäre ein wichtiger Schritt“,
wendet Belle ein. Sie ist der Meinung, dass Frauen in unserer
Gesellschaft schon automatisch sexualisiert würden und dass
Sexarbeiter*innen lediglich eine Dienstleistung anböten – und
zwar „eine Dienstleistung wie jede andere.“ Die Stigmatisierung
des Berufs müsste in der Gesellschaft geändert werden:
Ein Coming Out als Sexarbeiter*in kann nämlich ein echtes
Gefahrenpotenzial für Frauen wie Belle in sich tragen. Viele
Sexarbeiter*innen werden ermordet, gestalked und sind anderen
Formen von Gewalt ausgesetzt.
Dass ihre Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen gefährlich
sein kann, wissen die Sexarbeiterinnen Pia, Enisa und Belle.
Während der Recherche für diese Reportage und den Interviews
waren ihre Angst, dass Leser*innen dieser Geschichte
die jungen Frauen vielleicht wiedererkennen könnten, und der
starke Wunsch nach Anonymität, spürbar. Die Studentinnen
fürchten sich vor Männergewalt genauso wie vor gesellschaftlichen
Konsequenzen, die eventuell auch ihr Studium und ihr
Sozialleben treffen könnten. Gleichzeitig sehen sie ihre Arbeit
nicht in einem feministischen Widerspruch
– im Gegenteil. So ist Enisa von der Doppelmoral
genervt und fragt: „Warum sollte Sex
plötzlich verwerflich sein, wenn man dafür
bezahlt wird?“ Die junge Sexarbeiterin ist
der festen Überzeugung, dass Feminismus
die Selbstbestimmung der Frau fördern
sollte. Ob eine Frau ihr Leben mit Kinderpflege
und Hausarbeit verbringen möchte oder
eben als Sexarbeiterin, sollte man alleine ihr
überlassen. ●
* Namen von der Autorin geändert
/ POLITIKA / 31