rik April / Mai 2021
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MUSIK<br />
TIPP<br />
FOTOS: JULIAN BURGUENO<br />
MADISON BEER:<br />
Autoaggression und Kunst<br />
Die sozialen Medien sind für<br />
Madison Beer wohl gleichermaßen<br />
Fluch und Segen. Einerseits<br />
entdeckte Justin Bieber ihre Version<br />
von Etta James‘ „At Last“ bei You-<br />
Tube und teilte sie auf Twitter. Das<br />
bracht der Ame<strong>rik</strong>anerin nicht nur<br />
ungeheure Aufmerksamkeit, mit<br />
Biebers Hilfe ergatterte sie gleich<br />
ihren ersten Plattenvertrag.<br />
Andererseits wird die Sängerin bei<br />
Instagram oder TikTok – das Videoportal<br />
hat sie inzwischen von ihrem Mobiltelefon<br />
gelöscht, aus Selbstschutz – immer<br />
wieder gemobbt. Sie sei zu schön, heißt<br />
es zum Beispiel. Da habe sie wohl ein<br />
bisschen nachgeholfen... Dabei sollte<br />
man die volle Aufmerksamkeit lieber<br />
auf ihre Musik richten, die 22-Jährige ist<br />
nämlich ausgesprochen talentiert. Den<br />
Beweis dafür liefert ihr Debütalbum.<br />
Nicht ohne Grund nannte sie es „Life<br />
Support“: Die kreative Arbeit am Album<br />
war quasi der Rettungsanker, als Madison<br />
Beer durch eine ziemlich dunkle Zeit ging.<br />
Ihre Beziehung zerbrach, bei ihr wurde<br />
eine Borderline-Persönlichkeitsstörung<br />
inklusive Stimmungsschwankungen und<br />
Autoaggressionen diagnostiziert, zeitweilig<br />
hatte sie sogar Selbstmordgedanken, wie<br />
sie in einem Interview mit dem Magazin<br />
„The Face“ offenbarte.<br />
Um dieses Tief zu überwinden, entschied<br />
sich die auf Long Island geborene<br />
Musikerin, die heute in Los Angeles lebt,<br />
für eine Psychoanalyse. Dreimal pro<br />
Woche ging sie zur Therapie und setzte<br />
sich mit ihren tiefsten Empfindungen<br />
auseinander, das half ihr, sich selbst besser<br />
zu verstehen. Davon profitierte sie nicht<br />
nur als Mensch, sondern auch<br />
als Künstlerin. Madison Beer<br />
begann, gnadenlos ehrliche<br />
Lieder zu schreiben. In<br />
der melancholischen<br />
Ballade „Selfish“<br />
bereut sie, sich auf<br />
ihren egoistischen Ex<br />
eingelassen zu haben.<br />
„I bet you thought you<br />
gave me real love“, singt<br />
sie. „But we spent it all in<br />
nightclubs.“ Im sphärischen<br />
„Stained Glass“ offenbart sie ihre<br />
Dünnhäutigkeit, der Satz „My skin is<br />
made of glass“ spricht Bände. „Effortless“<br />
pirscht sich ebenfalls auf Samtpfoten an.<br />
In diesem Titel zieht Madison Beer die<br />
Option in Betracht, den fiesen Schmerz<br />
mit Tabletten zu betäuben. Wen diese<br />
Stücke nicht berühren, der muss aus Stein<br />
gemeißelt sein.<br />
Offenheit ist das Charakteristikum, das<br />
Madison Beer so unverwechselbar macht.<br />
Sie setzt sich mit ihrem (Welt-)Schmerz<br />
von der Konkurrenz im <strong>Mai</strong>nstream-<br />
Pop ab, hat aber ganz offensichtlich<br />
auch nichts gegen ein bisschen Spaß<br />
einzuwenden. „Baby“ – eine Harfe liefert<br />
das Intro, kein Witz! – lockt mit groovigen<br />
R'n'B-Beats auf den Dancefloor. „I look too<br />
good to be in this bedroom without someone<br />
to touch me like you do“, flötet die<br />
Sängerin, die in diesem Song ausnahmsweise<br />
die laszive Verführerin gibt.<br />
Sie fühlt sich attraktiv und<br />
selbstbewusst, das hört<br />
man.<br />
Das basslastige<br />
„Follow the White<br />
Rabbit“ wirkt<br />
dagegen dunkel<br />
und beängstigend,<br />
fast schon<br />
gespenstisch. So<br />
nimmt Madison Beer<br />
ihre Hörerschaft mit<br />
auf eine Achterbahnfahrt<br />
der Gefühle. Düsternis statt<br />
Party. Längst hat sie weit mehr zu<br />
bieten als ihr 13-jähriges Alter Ego, das<br />
Coversongs bei YouTube einstellte. Wer<br />
weltweit mehr als drei Milliarden Streams<br />
verzeichnen kann – ein Drittel davon für<br />
die EP „As She Pleases“ (2018) –, der<br />
ist auf dem Weg nach ganz oben. 2019<br />
übernahm Madison Beer die komplette<br />
Kontrolle über ihr kreatives Umfeld.<br />
Sie schreibt und produziert ihre Lieder<br />
selbst. Mit diesem Konzept dürfte diese<br />
unglaublich talentierte Künstlerin künftig<br />
für Furore sorgen. *Dagmar Leischow