Der Augustdorfer: 120 Jahre Bäckerei Gräser
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<strong>120</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Bäckerei</strong> <strong>Gräser</strong><br />
Karl wurde Soldat. <strong>Der</strong> Betrieb bekam als Ersatz für ihn einen<br />
polnischen Kriegsgefangenen, an den sich Kalla noch<br />
erinnern kann. Er sprach deutsch und war Bäckermeister.<br />
Es ist sehr wahrscheinlich, dass der polnische Zwangsarbeiter<br />
auch im Hause <strong>Gräser</strong> sein Zimmer hatte.<br />
Er war nicht der einzige in Augustdorf. Anderen Betrieben<br />
in Augustdorf und der Region wurden osteuropäische<br />
Kriegsgefangene aus dem Stammlager (Stalag) 326 in<br />
Stukenbrock zugeteilt. In der heutigen Gedenkstätte dort<br />
sind noch Listen über die Einsatzorte ausgestellt, denen<br />
die Gefangenen zugewiesen worden waren. Auch aus Augustdorf<br />
waren einige dabei.<br />
Viele Betriebe waren für die Ernährung der Bevölkerung<br />
wichtig. Da die meisten Männer als Soldaten im Krieg waren,<br />
wurden sie durch Gefangene ersetzt. Dabei war es<br />
Vorschrift, sie als nicht gleichwertige Menschen zu behandeln.<br />
Dies betraf insbesondere Menschen aus Osteuropa.<br />
Zum Beispiel war es bei Strafe verboten, sie mit der Familie<br />
am gleichen Tisch essen zu lassen. Zum Glück ist diese<br />
Anordnung von vielen nicht befolgt worden.<br />
Berta und Karl <strong>Gräser</strong> bekamen 1931 eine Tochter, Bärbel.<br />
Nach einigen <strong>Jahre</strong>n Volksschule in Augustdorf besuchte<br />
sie ein Gymnasium in Detmold. <strong>Der</strong> Schulweg muss ein<br />
Abenteuer gewesen sein, mit dem Fahrrad von Augustdorf<br />
zum Eichenkrug in Pivitsheide und von dort mit der<br />
Straßenbahn nach Detmold. Das ging so bis in die Kriegsjahre<br />
mit den Fliegeralarmen. Gisela Ruthe-Steinsiek,<br />
Nichte von Berta und Kusine von Bärbel und Kalla weiß,<br />
dass Bärbel den Unterrichtsabbruch bei Fliegeralarm zu<br />
schätzen wusste. Denn sie machte sich dann entlang der<br />
Straßenbahnschienen auf den Heimweg. Die Stadtkinder<br />
mussten nach der Entwarnung zurück in die Schule, das<br />
brauchte sie nicht.<br />
Nach der 10. Klasse fanden die Eltern Berta und Karl, es<br />
sei jetzt genug mit der Bildung ihrer Tochter. Ab jetzt<br />
lernte sie Haushaltsführung in einer Pension in Bad Meinberg.<br />
Anschließend war sie für mehrere <strong>Jahre</strong> bei der Post<br />
angestellt.<br />
In den letzten Kriegsmonaten und –tagen spielten die<br />
Verantwortlichen der Nazis vor Ort noch einmal alle Macht<br />
aus. Das Pferd der <strong>Bäckerei</strong> wurde beschlagnahmt und<br />
zum Einsatz gegen die Panzer der anrückenden Amerikaner<br />
in Richtung Paderborn abtransportiert. Es musste in<br />
der Nähe von Schloss Neuhaus den „Heldentod“ sterben.<br />
Die Folge waren zerschossene Häuser und viel zu viele<br />
tote Soldaten. Die harmlosen Panzersperren spielten keine<br />
Rolle.<br />
Kalla und seine Familie waren vor den anrückenden Panzern<br />
zu Kleesik „in die Senne“ geflüchtet. Kleesiks Haus<br />
liegt heute an der Waldstraße, damals lag es völlig abseits<br />
des Dorfes, tatsächlich in der Senne.<br />
Viele andere <strong>Augustdorfer</strong> waren ebenfalls dem Kriegsgeschehen<br />
ausgewichen, bis nach Hörste und Stapelage. Andere<br />
haben im Keller gewartet, bis alles vorbei war.<br />
So brutal diese Ereignisse auch waren, die nächsten Schritte<br />
liefen fast überall auf ähnliche Weise ab: Die Sieger<br />
verteilten Schokolade an die Kinder, die als erste wieder<br />
aus der Deckung kamen. Und die staunten über die ersten<br />
Menschen mit dunkler Haut, die sie zu Gesicht bekamen.<br />
Kallas Vater war zu der Zeit schon in Kriegsgefangenschaft.<br />
Nach einem kurzen Prozess war er zu Lagerhaft in<br />
der Eselsheide, im ehemaligen Stalag in Stukenbrock verurteilt<br />
worden, ganz in der Nähe von Augustdorf. Von dort<br />
aus wurden die deutschen Gefangenen in die Umgebung<br />
transportiert, um Reparationsarbeiten für die Engländer<br />
zu leisten. Kallas Vater wurde wiederholt nach Augustdorf<br />
gebracht, wo er zu Holzfällerarbeiten eingeteilt war. Auf<br />
dem Rückweg überredete er einmal die britischen Aufseher<br />
und die Mitgefangenen zu einem Umweg in die heimische<br />
Backstube. Da gab es vernünftiges Brot. Jedenfalls<br />
hat es den Aufsehern und dem Arbeitstrupp gefallen, und<br />
so durften die Besuche wiederholt werden.<br />
Während viele tausend russische Kriegsgefangene im<br />
Stalag jämmerlich verhungert waren, wurde Karl genau<br />
am Heiligen Abend 1946, also nach eineinhalb <strong>Jahre</strong>n,<br />
nach Hause entlassen. Er begann sofort in der Backstube,<br />
wo sein Vater mit dem polnischen Meister gute Arbeit<br />
geleistet hatte. Sein Sohn Kalla, inzwischen acht <strong>Jahre</strong><br />
alt, war natürlich auch voller Tatendrang. Aber eine seiner<br />
ersten Aktionen in der Backstube ging leider voll daneben<br />
und hatte eine Backpfeife des so lange vermissten Vaters<br />
zur Folge. Kein guter Einstand für einen Neustart! Und<br />
Kalla erinnert sich noch sehr genau an diese Situation.<br />
Teil 2 in der nächsten Ausgabe.<br />
Text und Interview: Klaus Mai und Angelika Böger-Mai<br />
Vom Bäckerauto wurden die Reifen beschlagnahmt. Kalla<br />
sieht es in seiner Erinnerung noch heute ohne Räder<br />
im Schuppen stehen. Für ihn und seine Freunde aus der<br />
Nachbarschaft war das stillgelegte Auto eine wunderbare<br />
Spielgelegenheit.<br />
Es gab den Befehl, die Amerikaner bei Multhaupt „zurückzuschlagen“.<br />
Und es gab auch Soldaten und <strong>Augustdorfer</strong>,<br />
die glaubten, das zu schaffen. Am Ostermontag 1945<br />
machten sie den Fehler, mit Panzerfäusten auf die Amerikaner<br />
zu schießen.<br />
8 <strong>Der</strong> <strong>Augustdorfer</strong>/ April - Mai '21