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„Meine Mutter hätte lieber

einen Stein geboren als mich“

Im Badeanzug am Strand liegen, Musik hören und daten, wen sie möchte – das sind

Freiheiten, die Lale Gül nie hatte. Die 23-Jährige ist in einer türkischen, streng

konservativ islamischen Gemeinschaft in Amsterdam aufgewachsen. Ihr Leben war

voller Vorschriften und Regeln, bis sie im Februar 2021 einen autobiografischen

Roman verfasste.

Von Jara Majerus, Fotos: Emiel Janssen

BIBER: Deine Familie ist Teil einer türkischen

Gemeinschaft. Inwiefern hat die

Kultur deiner Familie und deiner Gemeinschaft

dein Leben beeinflusst?

LALE GÜL: Meine Eltern kommen beide

aus dem Dorf Kümbet in der türkischen

Provinz Sivas. Sie sind in den 90er-

Jahren zum Arbeiten und Geldverdienen

in die Niederlande gekommen. Ich selbst

bin gemeinsam meinem kleinen Bruder

und meiner kleinen Schwester in Amsterdam

West aufgewachsen, in einem

Viertel, in dem eigentlich alles türkisch

ist. Es fühlt sich dort ein bisschen an wie

eine Parallelgesellschaft. Meine Mutter

spricht im Alltag zum Beispiel eigentlich

nur Türkisch. Niederländisch hat sie nie

wirklich gelernt. Einfach, weil sie das

in unserer Nachbarschaft nicht braucht

und sie auch nicht arbeitet. Mein Vater

hingegen arbeitet sehr viel – als Postbote

und als Reinigungskraft in Zügen.

Deshalb spricht er auch ein bisschen

Niederländisch. Trotzdem konsumiert er -

wie meine Mutter auch - ausschließlich

türkische Nachrichten. Das heißt, dass

alles, was ich sprachlich von Zuhause

aus mitbekommen habe, Türkisch war.

Nicht nur die Kultur, sondern auch der

Glaube deiner Familie hatten großen Einfluss

auf deine Jugend. Wie hat dieser

Einfluss ausgesehen?

Meine Eltern sind sehr streng konservativ

islamisch. Von meinem sechsten bis

zu meinem siebzehnten Lebensjahr bin

ich jeden Samstag und Sonntag in die

Koranschule gegangen, um Korantexte

auswendig zu lernen und mehr über den

Islam und das Leben des Propheten zu

erfahren. Zu Hause hat es sehr viele

Regeln gegeben, an die ich mich halten

musste. Ich durfte zum Beispiel keine

Serien schauen, in denen sich Menschen

küssen. Ich durfte nicht ausgehen und

musste ein Kopftuch, lange Röcke und

weite Kleidung tragen. Ich durfte mich

nicht wie die anderen Mädchen an meiner

Schule schminken oder meine Nägel

lackieren. Aber was mich an all diesen

Regeln am meisten gestört hat, war, dass

ich mich nicht verlieben durfte, in wen

ich wollte.

Das wurde dir später zum Verhängnis,

wie man in deinem Buch lesen kann. Du

hast dich in jemanden verliebt, den deine

Familie nicht akzeptiert hat.

Als ich 18 Jahre alt war, war ich in einen

Jungen verliebt. Wir waren drei Jahre

lang in einer Beziehung. Aber ich habe

gewusst, dass meine Eltern ihn nie

akzeptieren würden. Er war nämlich kein

Türke, sondern Niederländer. Und Muslim

war er auch nicht. Also habe ich mich

immer heimlich mit ihm getroffen. Jedes

Mal, wenn ich mit ihm unterwegs war,

musste ich meinen Eltern etwas vorlügen.

Aber sie sind misstrauisch geworden

und irgendwann habe ich ihnen

dann erzählt, dass ich einen niederländischen

Jungen kennengelernt habe. Zu

Hause war die Hölle los. Es war schrecklich

für meine Eltern, dass ich mich in

jemanden verliebt hatte, der weder ihre

Kultur noch ihre Religion geteilt hat – ihr

schlimmster Albtraum. Meine Mutter hat

gesagt, dass sie lieber einen Stein geboren

hätte als mich. Und ich habe mich

entscheiden müssen: mein Freund oder

meine Familie.

In deinem Buch erzählst du, dass du dich

damals für deine Familie entschieden

hast. Die Trennung von deinem Freund

scheint bei dir aber viel losgerüttelt zu

haben.

Nach der Trennung habe ich unglaublichen

Liebeskummer gehabt. Ich habe

meinen besten Freund verloren, war

zynisch und habe keine Freude mehr am

Leben gehabt. Ich war einfach unglücklich.

Ich habe dann beschlossen, dass ich

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