flip-Joker_2021-09
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kultour KULTUR JOKER 37
Den Ermordeten Persönlichkeit verliehen
Mahnmal für die Euthanasie-Opfer der Nazis aus dem Dreisamtal enthüllt
Das Denkmal ist enthüllt (v.r.n.l.): Weihbischof Peter Birkhofer, die Schüler der Geschichts-AG Paul Lieb, Jakob Seidel,
Sidonie Hahlbrock, Simon Buchgeister, Adelheid Prinz sowie Daniel Rösch und Claudius Heitz
Dem Vergessen entrissen
Fotos: Erich Krieger
Seit kurzem sind im Garten
der St. Johannes-Kapelle in
Zarten die Namen von 15 bisher
unbekannten Menschen aus den
Gemeinden des Dreisam tals in
Stein gemeißelt. Ihr Leben wurde
– im Rassenwahn der Nazidiktatur
als „unwert“ deklariert
– in den Tötungsfabriken
Grafeneck und Hadamar in den
Jahren 1940/41 im Giftgasnebel
ausgelöscht. Der Steinbildhauer
Daniel Rösch aus Stegen hat die
Existenz der Ermordeten und
ihr grausiges Schicksal mit einer
Namensstele und einer steinernen
Skulptur für uns Heutige
unübersehbar gemacht.
Die Vorgeschichte
Im September 2018 hatte
die aus sieben Schülerinnen
und Schülern bestehende Geschichts-
AG am Stegener Kolleg
St. Sebastian zusammen mit
ihrem Lehrer Claudius Heitz
begonnen, sich mit den Verbrechen
der Naziherrschaft auseinanderzusetzen.
Besonderen
Blickwarfen sie auf die Morde
an über 100.000 Kranken und
Menschen mit Behinderungen
während der „T4-Aktion“, benannt
nach dem Standort ihrer
Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße
4. Der dafür von
den Tätern gewählte Begriff
„Euthanasie“ (griechisch: Der
gute Tod) ist an Zynismus nicht
zu überbieten. Dahinter steht
die von dem Strafrechtler Karl
Binding und dem Freiburger
Psychiater und an der Universität
lehrenden Professor Alfred
Hoche entwickelte Theorie des
„Unwerten Lebens“. Die Nazis
stützten sich auf deren 1920
veröffentlichte Schrift „Die
Freigabe der Vernichtung lebensunwerten
Lebens. Ihr Maß und
ihre Form“. Darin rechtfertigen
die beiden „Wissenschaftler“ das
Recht des Staates, sich aus rassehygienischen
und volkswirtschaftlichen
Gründen solcher
„Ballastexistenzen“ zu entledigen.
Hoche war als Direktor der
psychiatrischen Klinik der Freiburger
Universität auch für die
psychiatrische Anstalt Emmendingen
zuständig, von der aus
durch Selektion und Deportation
mit den berüchtigten „Grauen
Bussen“ insgesamt 1127 der
dortigen Patienten in den Tod
geschickt wurden. Die Schüler
mussten erkennen, dass T4 als
erste systematische Tötungsaktion
der Nationalsozialisten
zum Vorläufer und Prototyp
des späteren Holocaust diente.
Gleichwohl zählten die gemordeten
Euthanasie-Toten zu Hitlers
„vergessenen Opfern“, weil
die Nazis durch geschickte Verschleierungstaktiken
und unmittelbare
Einäscherung der Toten
sämtliche Spuren verwischten,
so dass selbst den Familien
das tatsächliche Schicksal ihrer
Angehörigen unbekannt war.
So wurde Wilhelmine Hitz vom
Schweizerhof in Zarten wegen
ihrer diagnostizierten Alkoholsucht
aus „planwirtschaftlichen
Gründen“ nach Emmendingen
eingewiesen, Flora Meder aus
Kirchzarten wegen „ungewöhnlicher
Frömmigkeit und Essensverweigerung“
und Wilhelm
Scherer aus Eschbach wegen
„Geistesgestörtheit“, weil er einen
Brand gelegt hatte. Für sie
und die anderen 12 Opfer war
Emmendingen nur Zwischenstation
auf ihrem Weg ins Gas.
An diese „vergessenen Opfer“
wollten die Schüler erinnern
und die Idee eines bleibenden
Denkmals entstand. Sie fand
sofort Unterstützung bei Franz
Asal vom Förderverein der St.
Johannes-Kapelle und beim
Zartener Bürgerverein. Bildhauer
Daniel Rösch zeigte sich
sofort begeistert und half neben
der konzeptionellen Arbeit an
einem künstlerischen Entwurf
kräftig bei der Sponsorensuche
mit. Mit Hilfe der Gemeinden
des Dreisamtals, der Kirche und
vielen Einzelspendern konnte
das Vorhaben schließlich umgesetzt
werden.
Das Denkmal
Daniel Rösch empfand die
zwanghafte Entkleidung der
Opfer in Grafeneck als besonders
erniedrigend. Diese ihre
letzte persönliche Habe mussten
die Deportierten damals sofort
nach ihrer Einlieferung ablegen.
Er stöberte erfolgreich auf
Dachböden und Scheunen von
Bauernhöfen in der Gegend nach
Kleidungsstücken, Schuhen und
sonstigen Utensilien aus der Zeit
und fertigte daraus einen achtlos
zusammengeworfenen Haufen.
Dieser diente als Modell und
wurde digital dreidimensional
vermessen. Die Konturen
wurden aus einem passenden
Steinblock grob ausgefräst und
zusammen mit seinen Mitarbeitern
in zusammen 750 Arbeitsstunden
manuell feinbearbeitet.
Zusätzlich fertigte er eine Stele
mit den eingravierten Namen,
Lebensdaten und Herkunft der
Opfer. Skulptur und Stele bilden
nun gemeinsam ein Ensemble,
das in seiner bewegenden Eindringlichkeit
den willkürlich
ermordeten Menschen ein angemessenes
Denkmal setzt und
ihnen wieder ihre Persönlichkeit
zurückgibt. Am 24. Juli 2021
berichteten die Schülerinnen
und Schüler der Geschichts-
AG und ihr Lehrer Claudius
Heitz vor zahlreichen Gästen
in einem feierlichen Festakt aller
Gemeinden des Dreisamtals
unter Teilnahme der Bürgermeister
Andreas Hall, Fränzi Kleeb,
Klaus Vosberg und Ralf Kaiser
ausführlich über ihre Arbeit
und ihre Beweggründe. Weihbischof
Peter Birkhofer, Daniel
Rösch und Kolleg-Schulleiter
Bernhard Moser würdigten den
Einsatz der Jugendlichen als
Beispiel aktiver Erinnerungskultur.
Anschließend wurde
das Denkmal im Garten der St.
Johannes-Kapelle enthüllt.
Erich Krieger