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kultour KULTUR JOKER 37

Den Ermordeten Persönlichkeit verliehen

Mahnmal für die Euthanasie-Opfer der Nazis aus dem Dreisamtal enthüllt

Das Denkmal ist enthüllt (v.r.n.l.): Weihbischof Peter Birkhofer, die Schüler der Geschichts-AG Paul Lieb, Jakob Seidel,

Sidonie Hahlbrock, Simon Buchgeister, Adelheid Prinz sowie Daniel Rösch und Claudius Heitz

Dem Vergessen entrissen

Fotos: Erich Krieger

Seit kurzem sind im Garten

der St. Johannes-Kapelle in

Zarten die Namen von 15 bisher

unbekannten Menschen aus den

Gemeinden des Dreisam tals in

Stein gemeißelt. Ihr Leben wurde

– im Rassenwahn der Nazidiktatur

als „unwert“ deklariert

– in den Tötungsfabriken

Grafeneck und Hadamar in den

Jahren 1940/41 im Giftgasnebel

ausgelöscht. Der Steinbildhauer

Daniel Rösch aus Stegen hat die

Existenz der Ermordeten und

ihr grausiges Schicksal mit einer

Namensstele und einer steinernen

Skulptur für uns Heutige

unübersehbar gemacht.

Die Vorgeschichte

Im September 2018 hatte

die aus sieben Schülerinnen

und Schülern bestehende Geschichts-

AG am Stegener Kolleg

St. Sebastian zusammen mit

ihrem Lehrer Claudius Heitz

begonnen, sich mit den Verbrechen

der Naziherrschaft auseinanderzusetzen.

Besonderen

Blickwarfen sie auf die Morde

an über 100.000 Kranken und

Menschen mit Behinderungen

während der „T4-Aktion“, benannt

nach dem Standort ihrer

Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße

4. Der dafür von

den Tätern gewählte Begriff

„Euthanasie“ (griechisch: Der

gute Tod) ist an Zynismus nicht

zu überbieten. Dahinter steht

die von dem Strafrechtler Karl

Binding und dem Freiburger

Psychiater und an der Universität

lehrenden Professor Alfred

Hoche entwickelte Theorie des

„Unwerten Lebens“. Die Nazis

stützten sich auf deren 1920

veröffentlichte Schrift „Die

Freigabe der Vernichtung lebensunwerten

Lebens. Ihr Maß und

ihre Form“. Darin rechtfertigen

die beiden „Wissenschaftler“ das

Recht des Staates, sich aus rassehygienischen

und volkswirtschaftlichen

Gründen solcher

„Ballastexistenzen“ zu entledigen.

Hoche war als Direktor der

psychiatrischen Klinik der Freiburger

Universität auch für die

psychiatrische Anstalt Emmendingen

zuständig, von der aus

durch Selektion und Deportation

mit den berüchtigten „Grauen

Bussen“ insgesamt 1127 der

dortigen Patienten in den Tod

geschickt wurden. Die Schüler

mussten erkennen, dass T4 als

erste systematische Tötungsaktion

der Nationalsozialisten

zum Vorläufer und Prototyp

des späteren Holocaust diente.

Gleichwohl zählten die gemordeten

Euthanasie-Toten zu Hitlers

„vergessenen Opfern“, weil

die Nazis durch geschickte Verschleierungstaktiken

und unmittelbare

Einäscherung der Toten

sämtliche Spuren verwischten,

so dass selbst den Familien

das tatsächliche Schicksal ihrer

Angehörigen unbekannt war.

So wurde Wilhelmine Hitz vom

Schweizerhof in Zarten wegen

ihrer diagnostizierten Alkoholsucht

aus „planwirtschaftlichen

Gründen“ nach Emmendingen

eingewiesen, Flora Meder aus

Kirchzarten wegen „ungewöhnlicher

Frömmigkeit und Essensverweigerung“

und Wilhelm

Scherer aus Eschbach wegen

„Geistesgestörtheit“, weil er einen

Brand gelegt hatte. Für sie

und die anderen 12 Opfer war

Emmendingen nur Zwischenstation

auf ihrem Weg ins Gas.

An diese „vergessenen Opfer“

wollten die Schüler erinnern

und die Idee eines bleibenden

Denkmals entstand. Sie fand

sofort Unterstützung bei Franz

Asal vom Förderverein der St.

Johannes-Kapelle und beim

Zartener Bürgerverein. Bildhauer

Daniel Rösch zeigte sich

sofort begeistert und half neben

der konzeptionellen Arbeit an

einem künstlerischen Entwurf

kräftig bei der Sponsorensuche

mit. Mit Hilfe der Gemeinden

des Dreisamtals, der Kirche und

vielen Einzelspendern konnte

das Vorhaben schließlich umgesetzt

werden.

Das Denkmal

Daniel Rösch empfand die

zwanghafte Entkleidung der

Opfer in Grafeneck als besonders

erniedrigend. Diese ihre

letzte persönliche Habe mussten

die Deportierten damals sofort

nach ihrer Einlieferung ablegen.

Er stöberte erfolgreich auf

Dachböden und Scheunen von

Bauernhöfen in der Gegend nach

Kleidungsstücken, Schuhen und

sonstigen Utensilien aus der Zeit

und fertigte daraus einen achtlos

zusammengeworfenen Haufen.

Dieser diente als Modell und

wurde digital dreidimensional

vermessen. Die Konturen

wurden aus einem passenden

Steinblock grob ausgefräst und

zusammen mit seinen Mitarbeitern

in zusammen 750 Arbeitsstunden

manuell feinbearbeitet.

Zusätzlich fertigte er eine Stele

mit den eingravierten Namen,

Lebensdaten und Herkunft der

Opfer. Skulptur und Stele bilden

nun gemeinsam ein Ensemble,

das in seiner bewegenden Eindringlichkeit

den willkürlich

ermordeten Menschen ein angemessenes

Denkmal setzt und

ihnen wieder ihre Persönlichkeit

zurückgibt. Am 24. Juli 2021

berichteten die Schülerinnen

und Schüler der Geschichts-

AG und ihr Lehrer Claudius

Heitz vor zahlreichen Gästen

in einem feierlichen Festakt aller

Gemeinden des Dreisamtals

unter Teilnahme der Bürgermeister

Andreas Hall, Fränzi Kleeb,

Klaus Vosberg und Ralf Kaiser

ausführlich über ihre Arbeit

und ihre Beweggründe. Weihbischof

Peter Birkhofer, Daniel

Rösch und Kolleg-Schulleiter

Bernhard Moser würdigten den

Einsatz der Jugendlichen als

Beispiel aktiver Erinnerungskultur.

Anschließend wurde

das Denkmal im Garten der St.

Johannes-Kapelle enthüllt.

Erich Krieger

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