Das Magazin MAI / JUN 2022
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Entfesselungskünstler<br />
Andrés Orozco-Estrada, Filarmónica Joven de Colombia<br />
sowie Katia und Marielle Labèque<br />
»War es zu viel? War ich zu viel?«, fragt nach manchen Konzerten seine<br />
Frau. Denn er könne von null auf hundert aufdrehen wie ein Ferrari. Es<br />
gebe Orchester, die das überfordert, erklärt der Dirigent. Die Filarmónica<br />
Joven de Colombia gehört ganz gewiss nicht dazu. Im Gegenteil:<br />
<strong>Das</strong> kolumbianische Jugendorchester läuft unter seinem Chefdirigenten<br />
zur Hochform auf, wenn es mit neuen Werken aus Lateinamerika<br />
den Funken überspringen lässt. Etwa 2019 beim stürmisch gefeierten<br />
Konzert in der Kölner Philharmonie. Wasserpfeifen- und Schneckenhornbläser<br />
positionierten sich damals zwischen die Besucherinnen<br />
und Besucher, die auf Blockflöten mitspielen durften. So wird Neugier<br />
auf die komplexen Rhythmen Südamerikas geweckt, in der jedes Land<br />
ein eigener musikalischer Kontinent ist. Dies zeigt nun auch das Werk<br />
»Travesía« des Argentiniers Wolfgang Ordoñez, das in die Ebenen um<br />
den Fluss Orinoco entführt. Hier sind nicht nur Tapir, Jaguar und Ameisenbär,<br />
sondern auch 350 Vogelarten zu Hause. »Pajarillo «– Vögelchen<br />
– heißt denn auch das Finale dieses mitreißenden Stücks, das im Stil<br />
des Joropo komponiert ist, eine traditionelle Tanzform Venezuelas, in<br />
die spanischer Barock, Flamenco, afrikanische Rhythmen und die Folklore<br />
der Landbevölkerung eingeflossen sind.<br />
Solche Qualitäten kann man auch Katia und Marielle Labèque attestieren,<br />
die seit fünf Jahrzehnten das Musikleben mit ihrem virtuosen<br />
Stil bereichern. <strong>Das</strong> perkussive Element spielt eine große Rolle bei den<br />
beiden Französinnen, die für das Genre des Duos an zwei Klavieren Pionierarbeitet<br />
geleistet haben, beginnend mit Gershwins »Rhapsody in<br />
Blue«. Spektakulär auch ihre Version von Ravels »Boléro«, die sie zu den<br />
eigenen Wurzeln führte. Aufgewachsen sind die Schwestern nämlich in<br />
Hendaye im Baskenland, nur wenige Kilometer entfernt vom Geburtsort<br />
Maurice Ravels. Ihre Mutter Ada Cecchi lernte einst bei der berühmten<br />
Pianistin Marguerite Long, die mit dem Komponisten befreundet war.<br />
Wie die jungen Kolleginnen und Kollegen aus Kolumbien zielt das Geschwister-Duo<br />
mit zeitgemäßen Konzert-Formaten darauf, den Kreis<br />
der Klassikfans zu erweitern. Frischen Wind bringen sie auch mit neuen<br />
Werken ins Repertoire. So gaben sie beim Argentinier Gonzalo Grau<br />
eine Adaption der Markus-Passion seines Landsmanns Osvaldo Golijov<br />
in Auftrag. Es trägt den Titel »Nazareno« und ist in seinem jazzigen Drive<br />
bei den Solistinnen und ihren jungen Orchesterbegleitern sicher in besten<br />
Händen. Annette Schroeder<br />
Zum Siedepunkt wird Orozco-Estrada das Orchester gewiss auch mit<br />
»Petrushka« bringen, wenn er Strawinskys Jahrmarktpuppe entfesselt.<br />
Bei solchen Gelegenheiten fliegt ihm schon mal der Fiberglasstab ins<br />
Orchester. »Ein gutes Zeichen; es bedeutet, dass ich nicht verspannt<br />
bin«, meint der 44-Jährige. Schon als Kind hat er den Taktstock im<br />
Wohnzimmer geschwungen, montierte dazu die Antenne vom Fernseher<br />
ab: »Ich war ganz verrückt aufs Dirigieren.« Geboren ist Andrés<br />
Orozco-Estrada in Medellín, seinerzeit als Zentrale der Drogenkartelle<br />
eine der gefährlichsten Städte der Welt. Und zugleich gebe es hier »so<br />
viele Farben, so viele glückliche Menschen, so viel Energie«, wie der<br />
Künstler sagt. <strong>Das</strong> hat ihn geprägt, hat ihm Bodenhaftung gegeben, als<br />
es ihn von zu Hause in das europäische Musikzentrum Wien zog.<br />
Kein Mentor, kein Stipendium, kein Wettbewerb haben ihm damals den<br />
Weg geebnet. Im Mozart-Kostüm verkaufte der junge Mann zeitweise<br />
sogar Konzertkarten an Touristen, um sein Studium zu finanzieren. »Ich<br />
bin kein besonderes Talent, kein Genie«, behauptet der Maestro, doch<br />
das sehen Orchester wie die Berliner oder Wiener Philharmoniker, mit<br />
denen er zusammenarbeitet, ganz anders. Er sei ein »begnadeter Motivator«,<br />
beherrsche jedes Detail, ohne ein Kontrollfreak zu sein, hieß es<br />
nach einem Konzert in Köln, das ihn gern als Generalmusikdirektor gewonnen<br />
hätte, doch der Kolumbianer winkte ab, nahm Chefpositionen<br />
in Houston und am Pult des Hessischen Rundfunksinfonieorchesters<br />
an, von dem er sich jüngst verabschiedete, um zu den Wiener Symphonikern<br />
zu wechseln. Was den Dirigenten so anziehend mache, so<br />
die Kritik nach dem letzten Konzert in Frankfurt, sei »die Verbindung<br />
aus tänzerisch vergnügter Leichtigkeit und bedingungsloser Perfektionssuche«.<br />
Katia und Marielle Labèque<br />
<strong>Das</strong> <strong>Magazin</strong><br />
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