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Das Magazin MAI / JUN 2022

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Alles ist politisch<br />

Die Wiener Philharmoniker mit Musik von Gubaidulina,<br />

Schostakowitsch und Dvořák<br />

Andris Nelsons<br />

Ein Stück Kreide träumt davon, Paläste, Gärten oder das Meer zu<br />

zeichnen und wird im Klassenzimmer doch nur für langweilige mathematische<br />

Gleichungen und Leseübungen gebraucht. Bis es dafür<br />

zu klein geworden ist und im Müll landet. Da steckt ein Junge<br />

die Kreide ein, um draußen mit ihr wunderschöne Bilder auf die<br />

Straße zu malen. Sie ist so glücklich darüber, dass sie gar nicht<br />

merkt, wie sie sich langsam auflöst. Sofia Gubaidulina schrieb ihre<br />

Musik zu diesem modernen Märchen ursprünglich für eine Kindersendung<br />

des Moskauer Rundfunks, fand die Geschichte aber<br />

»so symbolhaft für das Schicksal eines Künstlers, dass bei mir eine<br />

sehr persönliche Beziehung zu dieser Arbeit entstand.« Symbolhaft<br />

– was meinte sie wohl damit? Vielleicht erinnerten sie die lästigen<br />

Schulaufgaben ja an Gebote des sozialistischen Realismus,<br />

denen im Jahr 1971 noch jeder sowjetische Künstler zu folgen hatte.<br />

Ihr »Märchen-Poem« wirkt jedenfalls wie ein Gegenentwurf dazu –<br />

eine Freiluftmusik, zauberhaft klangsinnlich und ohne Scheu vor<br />

den offiziell verpönten Modernismen komponiert.<br />

»Seien Sie Sie selbst«, riet einst Dmitrij Schostakowitsch der Moskauer<br />

Studentin Gubaidulina. »Haben Sie keine Angst, Sie selbst<br />

zu sein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf Ihrem eigenen falschen<br />

Weg weitergehen.« Er selbst hatte Angst – durchaus berechtigte<br />

Angst angesichts der Schauprozesse und Morde, denen gerade<br />

während der Stalin-Zeit viele Künstler zum Opfer fielen. Und<br />

doch versuchte er immer wieder, er selbst zu sein, die Grenzen<br />

des Erlaubten auszureizen und seine kritische Sicht der sowjetischen<br />

Realität in Musik zu chiffrieren. Auch seine neunte Sinfonie<br />

brachte ihn in Konflikt mit den Kulturfunktionären, die sich etwas<br />

ganz anderes erhofft hatten. Denn das Etikett »Nr. 9« stand ja seit<br />

Beethoven für Gipfelwerke der Orchestermusik, für monumentale<br />

Bekenntnismusiken. Nach der kämpferischen Siebten (»Leningrader«,<br />

1941) und der pessimistischen Achten (1943) war daher 1945<br />

das Schlussstück eines Kriegs-Triptychons gefragt: die Beweihräucherung<br />

des strahlenden Siegers Stalin.<br />

20 <strong>Das</strong> <strong>Magazin</strong>

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