Das Magazin MAI / JUN 2022
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Konzerttermin<br />
Sonntag, 29. Mai <strong>2022</strong>, 20:00<br />
Kirill Gerstein Klavier<br />
Igor Strawinsky Sonate pour piano<br />
Franz Schubert Sonate für Klavier c-Moll D 958<br />
Franz Liszt Bénédiction de Dieu dans la solitude S 173,3<br />
aus: Harmonies poétiques et religieuses S 173<br />
St. François de Paule marchant sur les flots S 175,2<br />
aus: Deux Légendes S 175<br />
Gretchen aus Faust-Symphonie S 513 in einer Fassung für Klavier<br />
Après une lecture du Dante, fantasia quasi sonata<br />
aus: Années de pèlerinage. Deuxième année, Italie S 161<br />
Der Jazz ist sein Hobby. Gern kehrt Kirill Gerstein zu dieser alten Weggabelung<br />
zurück, an der er für sich einen Schwerpunkt setzen musste:<br />
Klassik oder Jazz? Beides auf gleich hohem Niveau funktioniert in seinen<br />
Augen nicht. Also hat sich Gerstein im Alter von »16 oder 17 Jahren«<br />
zugunsten der Klassik entschieden. Begründung: »Über Jazz-Musiker<br />
hört man manchmal: Ja, er ist ein wunderbarer Pianist, er spielt auch ein<br />
bisschen Klassik nebenher. Und von fantastischen klassischen Pianisten<br />
hört man Jazz und denkt sich: Nein, das ist es nicht wirklich.«<br />
Wer sich Gersteins Biographie anschaut, wird rasch verstehen, dass<br />
er sich als Kosmopolit fühlt: geboren in der russischen Millionenstadt<br />
Woronesch, 500 Kilometer südlich von Moskau, erster Klavierunterricht<br />
mit drei Jahren; mit elf Jahren nimmt er im polnischen Gorzuw an einem<br />
Wettbewerb teil, und prompt laden ihn Professoren aus Boston zu<br />
einem Workshop ein. Mit 14 Jahren wird er am dortigen Berklee College<br />
aufgenommen. Seinen Studienabschluss macht er an der New Yorker<br />
Manhattan School of Music. Dennoch: »Mein russischer Teil ist mir wichtig,<br />
vor allem die Sprache und die hohe musikalische Kultur sind mir<br />
persönlich sehr nah«, gesteht Gerstein. »Auf der anderen Seite sind meine<br />
Eltern damals nach Boston gezogen, und ich habe dort viele Freunde<br />
gewonnen. Dieser Teil ist mir also auch nah.« Schließlich ist er inzwischen<br />
russischer und amerikanischer Staatsbürger.<br />
Und Deutschland? Eine seiner Wohnadressen wurde eines Tages Berlin.<br />
Außerdem hat Gerstein 2007 eine Professur an der Hochschule für<br />
Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart übernommen. Sich bereits in<br />
so jungen Jahren als Dozent an eine Hochschule zu binden war keineswegs<br />
selbstverständlich, doch für Gerstein eine wichtige Brücke. Es sei<br />
»unglaublich«, wie viel man beim Unterrichten selbst noch lernen könne.<br />
»<strong>Das</strong> war eigentlich auch der Grund, warum ich früh damit begonnen<br />
habe. Ich finde es wichtig, dass man zurückgibt, was man selbst<br />
von seinen Lehrern bekommen hat.« Wie wichtig Lehrer sein können,<br />
hat er selbst als frischer Absolvent erfahren. Als der gerade 20-Jährige<br />
seinen Abschluss in der Tasche hatte, wollte Gerstein bei der Lehrer-<br />
Legende Dmitri Bashkirov unterkommen: »Keine Chance, vergessen Sie<br />
es«, lautete die Antwort. Doch Gerstein blieb hartnäckig, und eines Tages<br />
öffnete ihm Bashkirov wohlwollend die Pforten. Bei ihm erwarb er zusätzliches<br />
Rüstzeug, um beim Rubinstein-Wettbewerb in Tel Aviv 2001<br />
und beim Gilmore Young Artist Award 2002 erfolgreich sein zu können.<br />
»Doch ist es wichtig, den Sprung zu schaffen vom Wettbewerbsgewinner<br />
zum Künstler. Wenn das nicht gelingt, kommt schon der nächste<br />
Wettbewerb.« Ein gefährlicher Spagat.<br />
riabel<br />
Gerstein hat sich nie ausschließlich für die prominenten Zugpferde des<br />
Repertoires interessiert, sondern sich immer auch für die Kammermusik<br />
oder das Genre Lied stark gemacht. Doch auch wenn er allein an den<br />
Tasten sitzt, bedeutet dies »Kammermusik mit sich selbst«. »<strong>Das</strong> Kommunizieren<br />
der Stimmen macht dann eben der Pianist allein, es passiert<br />
nicht zwischen Klavier, Geige und Cello. Ich würde daher auch das Solo-Repertoire<br />
als eine Art Kammermusik sehen, im Sinne eines Dialogs<br />
zwischen musikalischen Stimmen und Ideen.« Auch da liegt wiederum<br />
manche Parallele zum Jazz …<br />
Abe zurück zum Anfang: Der Jazz ist für Kirill Gerstein »die Musik des<br />
Augenblicks«, die Klassik dagegen besitzt »einen ganz anderen Grad<br />
an Komplexität«. Dennoch könne jeder vom anderen lernen, in puncto<br />
Rhythmus etwa oder beim richtigen Timing. In den großen Werken<br />
des Repertoires gibt es für Gerstein »keine ‚Nebensächlichkeiten‘, vor<br />
allem nicht bei den bedeutenden Komponisten. Auf diesem hohen<br />
Niveau künstlerischer Kreativität ist nichts das Ergebnis von Zufall. Die<br />
Schwierigkeit liegt manchmal nur darin, das auch aufs Publikum zu<br />
übertragen.« Christoph Vratz<br />
<strong>Das</strong> <strong>Magazin</strong><br />
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