Das Magazin MAI / JUN 2022
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Abgründe der<br />
Quatuor Ebène wagt sich an eines der expressivsten Werke der frühen Moderne<br />
Es hätte so schön sein können beim Nachmittagskonzert am 24. 5. 1803<br />
im k.u.k.-Augarten: ein neues Werk, gespielt vom Maestro und Widmungsträger.<br />
Doch es kam anders. George Bridgetowers Part war erst<br />
am frühen Morgen fertig geworden, Beethoven hatte zerfledderte Blätter<br />
vor sich. Alles wirkte holprig, unfertig, die Wiener lachten. Dann die<br />
Schmach danach: Der Geiger soll eine Dame beleidigt haben, die ersterer<br />
verehrte! Beethoven entzog ihm die Widmung, eignete seine »Sonate<br />
für Pianoforte und Violine« dem Franzosen Rodolphe Kreutzer zu. Der<br />
spielte sie laut Berlioz nie, erklärte das furiose Opus für unspielbar. Die<br />
»Kreutzersonate« gelangte dennoch zu Ruhm – und der ging weit über<br />
die Konzertbühne hinaus.<br />
Bei Tolstoi spiegelt sie eheliche Abgründe. Posdnyschews Frau lässt<br />
sich mit dem Geiger nicht nur auf das Spiel besagter Kreutzersonate<br />
ein – sondern auch auf eine Liaison. Verzeihlich, wenn man weiß, dass<br />
Posdnyschew, zerrissen von den Moral- und Sexualhygienedogmen<br />
seiner Zeit, seine Gattin nicht mehr anrührt, weil die ihm seit ihrem<br />
30. Lebensjahr keine weiteren Kinder gebären kann. Er ermordet die<br />
Untreue. Tolstois »Kreutzersonate« lässt zwar Raum für differenzierte<br />
Betrachtungen. Doch die Ernüchterung folgt im Nachwort, in dem der<br />
Dichter Verständnis für Posdnyschew zeigt und den Ehebruch der Frau<br />
verurteilt – ohne Rücksicht auf deren Motivation. Statt als Erneuerer zu<br />
wirken, bleibt Tolstoi Dogmatiker. Dabei kann es ein Freigeist à la Leos<br />
Janáček nicht bewenden lassen. Auch er verehrt Tolstoi, versteht aber<br />
auch den seelischen Konflikt der Treulosen. Für eine Tolstoi-Geburtstagsfeier<br />
bringt Janáček ein von der Novelle des Russen inspiriertes<br />
Klaviertrio zu Papier, das neben Beethovens Kreutzersonate und einer<br />
Tolstoi-Rezitation bereits am 2. April 1909 in Brünn uraufgeführt wird.<br />
Ihr Schöpfer lässt es verschwinden, doch das Sujet »Kreutzersonate«<br />
lässt ihn nicht los. Im Herbst 1923 macht er sich, 69-jährig, erneut an<br />
die Arbeit. In neun Tagen entsteht ein Geniestreich: formal kühn, hochemotional,<br />
technisch anspruchsvoll, ein Streichquartett par excellence,<br />
ein Reifewerk, das zum Klassiker der frühen Moderne avanciert. Einige<br />
erklären es zur »Oper für vier Streicher«, andere erkennen in ihm ein<br />
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