vsao Journal Nr. 2 - April 2022
Tier - Ein ambivalentes Verhältnis Pneumologie Lufthygiene als Erfolgsfaktor Allergene - Die Gesichter der Ekzeme Politik - Qualitätsentwicklung – amtlich verfügt
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Fokus<br />
Alle kennen das Reh, in vielen<br />
Kreuzworträtseln wird nach<br />
ihm gefragt, man trifft es auf<br />
der Joggingrunde oder bei einem<br />
Spaziergang im Wald an – ein filigranes<br />
Tier, mit seinen grossen schwarzen<br />
Augen geradezu elegant.<br />
So gewöhnlich das Reh in unseren<br />
Wäldern erscheinen mag: Es weist eine Besonderheit<br />
auf, die unter Geweihträgern<br />
einmalig ist. Nach der Paarung und der<br />
Befruchtung des Eis im Hochsommer nistet<br />
sich der stecknadelkopfgrosse Embryo<br />
nicht in der Gebärmutter ein, sondern legt<br />
eine Keimruhe, embryonale Diapause genannt,<br />
ein. Diese hält über vier Monate bis<br />
Dezember an. Erst danach setzt der Embryo<br />
seine Entwicklung in normaler Geschwindigkeit<br />
fort und nistet sich im Uterus<br />
ein. Im Mai bringt die Ricke nach<br />
viereinhalb Monaten «echter» Tragzeit ein<br />
bis drei Kitze zur Welt.<br />
Bekannt ist das Phänomen seit mehr<br />
als 150 Jahren. Doch der Forschung gibt<br />
dieser ungewöhnliche Vorgang nach wie<br />
vor Rätsel auf. Über 130 Säugetierarten<br />
mit unterschiedlich ausgeprägter Diapause<br />
sind bekannt. Selten dauern sie indes so<br />
lange wie beim Reh. Bei fast keiner anderen<br />
Art tritt statt dem vollständigen Anhalten<br />
eine so ausgeprägte, anhaltende<br />
Verlangsamung ein. Bei Mäusen können<br />
Wissenschaftler die Diapause künstlich<br />
auslösen. Nach wie vor ist aber unklar,<br />
welche natürlichen Faktoren beim Reh die<br />
Keimruhe steuern und den Embryo dabei<br />
am Leben erhalten.<br />
Mit dem Rätsel der Rehdiapause befasst<br />
sich auch die Forschungsgruppe von<br />
Susanne Ulbrich, Professorin für Tierphysiologie<br />
der ETH Zürich, seit längerem. In<br />
einer neuen Studie zeigen die Forschenden<br />
auf, welche molekularen Vorgänge im<br />
Embryo während seiner Keimruhe ablaufen:<br />
Die embryonalen Zellen teilen sich<br />
während der Diapause weiterhin, wenn<br />
auch sehr langsam. Die Zahl der Zellen,<br />
auch der embryonalen Stammzellen, verdoppelt<br />
sich dabei nur alle zwei bis drei<br />
Wochen. Die Studie erschien in der Fachzeitschrift<br />
PNAS. Daran beteiligt sind<br />
nebst der ETH-Gruppe auch Forschende<br />
der Universitäten Zürich und Bern sowie<br />
deutscher und französischer Forschungseinrichtungen.<br />
Gentranskripte und Signalmoleküle<br />
untersucht<br />
Um die Frage zu klären, was die Zellen des<br />
Embryos an der normalen Teilungsgeschwindigkeit<br />
hindert, untersuchten die<br />
Forschenden zum einen die molekulare<br />
Zusammensetzung der Uterusflüssigkeit.<br />
Zum anderen nahmen sie das Transkriptom,<br />
also die Gesamtheit aller Boten-RNA-Moleküle,<br />
der Embryonen und<br />
der Schleimhautzellen aus dem Uterus<br />
genauer unter die Lupe.<br />
In der Uterusflüssigkeit fanden die<br />
Forschenden tatsächlich Signalstoffe, welche<br />
die Teilungsgeschwindigkeit regulieren<br />
könnten. Besonders auffällig war die<br />
Aminosäure Serin. Die ETH-Forschenden<br />
zeigten auf, dass sich gegen Ende der Diapause<br />
die Konzentration bestimmter Aminosäuren<br />
in der Uterusflüssigkeit ändert.<br />
Daraufhin setzt die Rate der Zellteilung<br />
mit normaler Geschwindigkeit ein.<br />
Mit im Spiel ist dabei der Molekülkomplex<br />
mTOR, der auf die Aminosäuren reagiert.<br />
Dieser Proteinkomplex spielt bei<br />
vielen anderen Signalwegen in Säugetierzellen<br />
bei der Regulation des zellulären<br />
Stoffwechsels eine entscheidende Rolle,<br />
unter anderem auch im Zusammenhang<br />
mit Krebserkrankungen. mTORC1 reguliert<br />
zum Beispiel die Proteinsynthese<br />
und somit das Zellwachstum und die Zellteilung.<br />
Laut den neuen Erkenntnissen ist<br />
nur die Aktivität des Molekülkomplexes<br />
mTORC1 (aber nicht mTORC2) in den Embryonen<br />
des Rehs während der gesamten<br />
Diapause unterdrückt. Dies im Unterschied<br />
zur Diapause der Maus, bei der<br />
die Zellteilung vollständig durch die<br />
Hemmung beider mTORC-Komplexe angehalten<br />
wird.<br />
Wenn gegen ihr Ende hin der Aminosäurenpegel<br />
in der Uterusflüssigkeit deutlich<br />
ansteigt, aktiviert dies mTORC1. Dies<br />
wiederum setzt Stoffwechsel- und Zellzyklusgene<br />
in Gang. Die Embryonalentwicklung<br />
wird angetrieben. Die Forschenden<br />
vermuten zudem, dass im Gegenzug<br />
mTORC2 während der Diapause von Rehembryonen<br />
nicht gehemmt wird, wodurch<br />
die langsame kontinuierliche Zellteilung<br />
aufrechterhalten bleiben könnte.<br />
Ob nebst den diversen Aminosäuren<br />
weitere Signalmoleküle involviert sind,<br />
haben die Forschenden in dieser Studie<br />
nicht untersucht. Ebenfalls bleibt unklar,<br />
ob die Aminosäuren tatsächlich für die<br />
Fortsetzung der Embryoreifung verantwortlich<br />
sind oder ob auch der Embryo<br />
Moleküle absondert, die auf mütterliche<br />
Zellen und Signalwege einwirken. Es<br />
könnte sein, dass der Embryo seine Präsenz<br />
mit speziellen Signalmolekülen dem<br />
Mutterorganismus anzeigt. Diese Wissenslücke<br />
möchte Ulbrich in künftigen<br />
Studien schliessen.<br />
Neues Licht auf Fortpflanzungsbiologie<br />
Die neuen Erkenntnisse werfen ein Licht<br />
auf die Reproduktions- und Entwicklungsbiologie<br />
im Allgemeinen. Eine der<br />
grundlegenden Fragen ist, wie es bei Säugetieren<br />
zu einer Schwangerschaft respektive<br />
Trächtigkeit kommt. So können sich<br />
beispielsweise bei Mensch und Rind Embryonen<br />
oft nicht in der Gebärmutter<br />
einnisten und sterben. «Dies hat mit vielschichtigen<br />
Wechselwirkungen zwischen<br />
Embryo und Mutter zu tun», sagt Ulbrich.<br />
Für eine erfolgreiche Schwangerschaft<br />
bedürfe es einer engen zeitlichen<br />
Abstimmung. Der Embryo müsse sich<br />
zum rich tigen Zeitpunkt durch entsprechende<br />
(molekulare) Signale bemerkbar<br />
machen und den Zyklus der Mutter unterbrechen.<br />
«Diese Interaktion zwischen<br />
Embryo und Mutter wollen wir besser<br />
verstehen», erklärt die ETH-Professorin.<br />
Dafür sei das Reh als Modell ideal. Dessen<br />
Embryonalentwicklung sei derjenigen des<br />
Rindes sehr ähnlich, laufe aber in Zeitlupe<br />
ab. «Dadurch können wir die einzelnen<br />
Schritte besser zeitlich auflösen und ursächliche<br />
Zusammenhänge finden.»<br />
Die Erkenntnisse könnten auch dazu<br />
beitragen, die In-vitro-Fertilisation beim<br />
Menschen so zu verbessern, dass Embryonen<br />
nicht mehr eingefroren werden müssten.<br />
Zudem könnte mit natürlichen Faktoren<br />
die Geschwindigkeit der Teilung<br />
von Zellen, einschliesslich embryonaler<br />
Stammzellen, gesteuert werden.<br />
Literatur<br />
van der Weijden V. A., Bick J. T.,<br />
Bauersachs S., Rüegg A. B., Hildebrandt T.<br />
B., Goeritz F., Jewgenow K., Giesbertz P.,<br />
Daniel H., Derisoud E., Chavatte-Palmer P.,<br />
Bruckmaier R. M., Drews B., Ulbrich S. E.<br />
(2021). Amino acids activate mTORC1 to<br />
release roe deer embryos from decelerated<br />
proliferation during diapause. PNAS,<br />
publiziert 27.8.2021. DOI: 10.1073/<br />
pnas.2100500118call_made<br />
Rüegg A. B., Bernal S., Moser F. N.,<br />
Rutzen I., Ulbrich S. E. (2020). Trophectoderm<br />
and embryoblast proliferate at slow<br />
pace in the course of embryonic diapause<br />
in the roe deer (Capreolus capreolus)<br />
(2020). Bioscientifica Proceedings 10<br />
ISEDISED13 | DOI: 10.1530/biosciprocs.10.<br />
013call_made<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 2/22 31