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KSSG_Magazin_150Jahre

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DIE FEDER SO SCHARF<br />

WIE EIN SKALPELL<br />

Dr. Jakob Laurenz Sonderegger (1825 – 1896) gilt als Gründervater<br />

des Kantonsspitals St.Gallen. Mit Herz, Verstand und spitzer Feder<br />

brachte er die Politik auf seine Seite.<br />

Arroganz, Lügen und Kantönligeist – Dr. Jakob<br />

Laurenz Sonderegger schwingt den rhetorischen<br />

Zweihänder, als er 1865 die Streitschrift «Spitalfrage<br />

im Kanton St.Gallen» zu Händen der Regierung und<br />

des Grossen Rates verfasst:<br />

«Wir dürfen nicht vornehm an dem Obdachlosen,<br />

an dem erkrankten Dienstboten, Handwerksgehilfen<br />

und Tagelöhner, an dem Verunglückten und<br />

dem armen Kranken vorübergehen und achselzuckend<br />

sagen: Ihr habt es gut genug. Doch wäret ihr<br />

in Zürich oder im Bündnerland liegen geblieben, so<br />

ginge es euch und uns besser. Wir haben eben kein<br />

Bedürfnis nach einem Krankenhause!»<br />

Seit Jahren fordern der Mediziner Sonderegger und<br />

einige Arztkollegen ein Kantonsspital für St.Gallen,<br />

doch die Politiker wollen davon nichts wissen.<br />

Warum auch? Viele von ihnen werden wie andere<br />

gutbetuchte Ortsbürgerinnen und Ortsbürger im<br />

städtischen Bürgerspital vorzüglich behandelt. Im<br />

kleinen Fremdenspital hingegen stirbt jede und<br />

jeder zweite Erkrankte an Wundbrand. Sieht so die<br />

Nächstenliebe im frommen St.Gallen aus?<br />

Ein Leiden folgt dem nächsten<br />

Sonderegger, Sohn einer angesehenen Beamtenfamilie<br />

aus Balgach im Rheintal, hat als kränkliches<br />

Kind am eigenen Leib erfahren, was eine rückständige<br />

medizinische Versorgung bedeutet. Er ringt mit<br />

einer Diphtherie, einer tödlichen Infektionskrankheit,<br />

die er zwar überlebt, die ihm aber nachhaltig<br />

das Reden erschwert.<br />

Als kränkliches Kind hat Sonderegger am eigenen<br />

Leib e rfahren, was eine rückständige medizinische<br />

Versorgung bedeutet.<br />

Erst disziplinierte Sprachübungen während des<br />

Medizinstudiums in Zürich machen ihn zum Redekünstler,<br />

sodass er sogar zum Präsidenten des Studentenvereins<br />

gewählt wird.<br />

Der Arzt Sonderegger bleibt aber stets auch ein<br />

Kranker, er kämpft im Verlauf seines Lebens mit<br />

einer Lungentuberkulose, mit einer lebensbedrohlichen<br />

Lungenentzündung, mit einem schwachen<br />

Herzen, Bronchitis und weiteren Gebrechen.<br />

Mitten in stürmische Zeiten<br />

Neben seinem persönlichen Leidensweg sind es<br />

politische und soziale Erfahrungen, die Sonderegger<br />

prägen.<br />

Im Herbst 1848 saugt der 23-jährige Medizinstudent<br />

im Wiener «Allgemeinen Krankenhaus» gerade die<br />

Eindrücke eines Grossbetriebs in sich auf, als im<br />

Kaisertum die Revolution ausbricht. Von den Hunderten<br />

fremden Ärzten nehmen fast alle Reissaus –<br />

Sonderegger bleibt, ob aus Pflichtbewusstsein oder<br />

Abenteuerlust. Jedenfalls hat er mit der Pflege von<br />

Verwundeten alle Hände voll zu tun.<br />

Ein Jahr später reist er nach Prag, nur um sich inmitten<br />

einer Choleraepidemie wiederzufinden – eine<br />

Armutskrankheit, verbreitet durch verschmutztes<br />

Trinkwasser. Sie verschafft dem Studenten Einblick<br />

in neue medizinische Welten, doch sie konfrontiert<br />

den jungen Mann auch mit viel Leid.<br />

Sonderegger kann alles<br />

In seiner Praxis in Balgach, Altstätten und St.Gallen<br />

erwirbt sich Sonderegger einerseits den Ruf,<br />

seine Patientinnen und Patienten unabhängig von<br />

ihrem Vermögen mit Sachverstand und Empathie<br />

zu behandeln. «Menschlich bedeutungsvoll ist alles,<br />

wenn man nicht Maschinen-Reparateur, sondern<br />

Arzt sein will», schreibt er in seiner Biografie.<br />

Andererseits macht er sich als Allgemeinmediziner,<br />

als Spezialist in der Gesundheitspflege, als<br />

Hygieniker, als Internist, Chirurg und Frauenarzt<br />

einen Namen – kurzum: Sonderegger kann alles.<br />

Und er schreibt mit spitzer Feder über Gesundheit<br />

und Politik, wird Kantonsrat, «um ein bisschen am<br />

Steuerruder des Staates mitzuzerren», steht dem<br />

kantonalen Ärzteverein vor, später der Schweizerischen<br />

Ärztekommission, wo er den Bundesrat in<br />

gesundheitspolitischen Fragen berät.<br />

Auch sein sprachgewaltiger Einsatz zugunsten eines<br />

Kantonsspitals in St.Gallen zeigt Wirkung. 1873 wird<br />

das einstige Fremdenspital, das jetzt Gemeindespital<br />

heisst, erweitert und zum Kantonsspital St.Gallen<br />

erhoben. Sonderegger wird zur ersten Aufsichtsperson<br />

gewählt, oder wie er es nennt: zum «Vermittler<br />

zwischen Staatswagen und Krankenwagen».<br />

Im Juni 1896 besucht Sonderegger «sein» Kantonsspital<br />

ein letztes Mal – wegen einer Erkrankung im<br />

Magen-Darm-Trakt. Die Gastroenterostomie, also<br />

die operative Verbindung von Magen und Dünndarm,<br />

gelingt in diesem nun hochmodernen Spital<br />

ohne Schwierigkeiten. Nur das Herz des 71-Jährigen<br />

macht nicht mehr mit. Der Gründervater des<br />

Kantonsspitals St.Gallen stirbt am 20. Juni 1896.<br />

Sonderegger behandelt seine Patientinnen<br />

und Patienten – unabhängig von ihrem Vermögen<br />

– mit Sachverstand und Empathie.<br />

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