MQ+ Winter 2023
Das Artland-Magazin
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Von links:<br />
Dimitrius<br />
Berger, Wolfgang<br />
Gerdes,<br />
Teilnehmer.<br />
Fotos: Natalia Gerdes<br />
Berger: „Viele junge Juden<br />
denken ans Auswandern“<br />
Abschluss der Vortragsreihe „Nie wieder! Gegen Krieg und Antisemitismus“<br />
im Friedensort Hermann-Bonnus-Geburtshaus<br />
Von Jürgen Görlach<br />
Bis auf den letzten Platz besetzt war<br />
der Friedensort Hermann-Bonnus-Geburtshaus<br />
aus Anlass des Gedenktages<br />
der Novemberpogrome des Jahres 1938.<br />
Wolfgang Gerdes, der Vorsitzende des<br />
Trägervereins, hatte den Vorsitzenden<br />
der Jüdischen Gemeinde zu Bremerhaven,<br />
Dimitrius Berger, zum Thema<br />
„Judentum und Antisemitismus heute“<br />
eingeladen.<br />
Als die Vorträge der Reihe im Sommer<br />
geplant wurden, hatte diese Thematik<br />
noch nicht die Aktualität und Brisanz,<br />
wie sie sich heute auf dem Hintergrund<br />
der Ereignisse in Israel und Palästina<br />
darstellt. Deshalb hatte man auch ein<br />
Sicherheitskonzept mit der Polizei in<br />
Quakenbrück abgestimmt. Aber alles<br />
verlief ohne Probleme. Es herrschte<br />
eine gespannte Aufmerksamkeit und<br />
Erwartung im Obergeschoss des historischen<br />
Gebäudes.<br />
Wolfgang Gerdes hatte sich mit Dimitrius<br />
Berger verständigt, im ersten Teil<br />
des Abends das Thema in Form eines<br />
Interviews zu gestalten, um dann im<br />
zweiten Teil dem Publikum Fragen und<br />
Anmerkungen zu ermöglichen.<br />
Berger, der 1995 mit seiner Familie als<br />
sogenannter Kontingentflüchtling aus<br />
Kiew nach Deutschland einwanderte,<br />
fand zunächst in Osnabrück eine neue<br />
Bleibe. Dort schloss er sich der orthodoxen<br />
jüdischen Gemeinde an und übernahm<br />
später verschiedene Ehrenämter<br />
in jüdischen Organisationen. „Ich wollte<br />
der Gesellschaft etwas zurückzugeben<br />
von dem, was ich hier an Unterstützung<br />
und Hilfe erfahren habe“, führte Berger<br />
aus.<br />
Ausführlich ging Berger auf die unterschiedlichen<br />
Prägungen jüdischer<br />
Gemeinden in Deutschland ein. Neben<br />
dem orthodoxen Judentum etabliere<br />
sich zunehmend wieder eine liberale<br />
Strömung. „Vor dem Holocaust<br />
dominierte das liberale Judentum in<br />
Deutschland. Seit den Fünfzigerjahren<br />
war es dann die orthodoxe Richtung.<br />
Heute versucht die liberale Orientierung<br />
wieder an Bedeutung zu gewinnen“,<br />
so Berger. Diese Entwicklung habe<br />
auch mit dem Zuzug von Jüdinnen und<br />
Juden aus Osteuropa zu tun, der in den<br />
letzten zwanzig Jahren die jüdischen<br />
Gemeinden stark verändert habe. Daneben<br />
gebe es vor allem in Großstädten<br />
die sogenannten Chabad-Gemeinden<br />
mit ultra-orthodoxer Ausrichtung<br />
und ausgeprägter Spiritualität sowie<br />
- hauptsächlich in Frankfurt - die<br />
sogenannten Bergjuden, die aus dem<br />
Kaukasus stammen.<br />
Eine kritische Position bezog Berger<br />
gegenüber dem Zentralrat der Juden.<br />
„Was von da kommt, ist mir oft zu opportunistisch<br />
an der Politik der Bundesregierung<br />
orientiert“, meinte Berger. Die<br />
eigentlichen Probleme und Sorgen der<br />
jüdischen Gemeinden gerieten dabei<br />
oft aus dem Blick.<br />
Auf die Frage nach seinem eigenen<br />
Verhältnis zu Israel betonte Berger, dass<br />
seine Heimat Deutschland sei, wo er<br />
nun schon seit fast drei Jahrzehnten<br />
lebe. Israel bleibe aber für ihn von besonderer<br />
Bedeutung, auch weil sein Vater<br />
dort begraben liege. „Vor allem aber<br />
ist Israel für mich - wie für viele Jüdinnen<br />
und Juden meiner Generation - ein<br />
Notausgang, falls sich die Verhältnisse<br />
hier in Richtung Nazizeit entwickeln“,<br />
sagte Berger. Auch im Blick auf einen<br />
Generationenwechsel in den jüdischen<br />
Gemeinden betonte er: „Es gibt keine<br />
Intention der jüngeren Jüdinnen und Juden,<br />
sich hier zu engagieren. Sie sehen<br />
zum großen Teil wirklich keine Zukunft<br />
mehr für sich in Deutschland.“<br />
Wenn schon auf den Schulhöfen das<br />
Wort „Jude“ wieder als Schimpfwort<br />
durchginge, dann dürfe man sich darüber<br />
nicht wundern. Die jüngeren Leute<br />
überlegten sich schon lange, wohin sie<br />
36 | MQ Ausgabe <strong>Winter</strong> <strong>2023</strong>