Verelendungstheorie – die hilflose Kapitalismuskritik
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einreicht (1515), sollte den Bäckergesellen, <strong>die</strong> zur Mühle geschickt wurden, je Tag 4 Pfund Fleisch nebst 8 Quart<br />
Bier und reichlich Brot mitgegeben werden [ ... ] Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts dürfte der Fleischverzehr in<br />
Preußen, Sachsen und wohl auch in ganz Deutschland unter 20 kg je Kopf und Jahr gefallen sein (heute liegt er wie-<br />
der über 60 kg)<br />
Auch der Verzehr von Eiern, Butter, Geflügel, Wildbret und Wein, der vorn billigeren Bier und als Rauschmittel<br />
vom billigeren Schnaps zurückdrängt wurde, lag im Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts weit unter<br />
dem Stand des späten Mittelalters.« Friedrich List »schrieb im Jahre 1844: Unter den notwendigsten Lebensbedürf-<br />
nissen versteht man in vielen Gegenden Deutschlands Kartoffeln ohne Salz, eine Suppe mit Schwarzbrot, zur höchs-<br />
ten Notdurft geschmelzt, Haferbrei, hier und da schwarze Klöße [ ... ] Ich habe Reviere gesehen, wo ein Hering, an<br />
einem an der Zimmerdecke befestigten Faden mitten über dem Tisch hängend, unter den Kartoffelnessern von Hand<br />
zu Hand herumging, um jeden zu befähigen, durch Reiben an dem gemeinsamen Tafelgut seiner Kartoffel Würze<br />
und Geschmack zu geben.< Man darf darum auch im Bereich der Ernährung eine Stufenleiter aufstellen, <strong>die</strong> eindeu-<br />
tig abwärts führte: vom Fleischstandard des Spätmittelalters über den Getreidestandard der frühen Neuzeit zum Kar-<br />
toffelstandard im Zeitalter des Pauperismus.« 6<br />
Andererseits hat man damit einen eindrucksvollen Prüfstein, an dem sich jede spätere Theorie<br />
bewähren muß, <strong>die</strong> eine absolute Verelendung als unvermeidliches Resultat der kapitalistischen<br />
Entwicklung behauptet: sie muß glaubhaft machen können, daß sich <strong>die</strong> Lage der Industriearbei-<br />
ter gegenüber der damaligen Situation sogar noch weiter verschlechtert hat. Dort, wo das nicht<br />
möglich scheint, ziehen sich <strong>die</strong> Anhänger der <strong>Verelendungstheorie</strong> meist auf <strong>die</strong> >relative Ver-<br />
elendung< zurück, d. h. auf <strong>die</strong> Schlechterstellung des Proletariats in Relation zur verbesserten<br />
Situation der Bourgeoisie und des Kapitals. Das ist aber eine Rückzugsfront, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> hier inte-<br />
ressierende Fragestellung nichts hergibt; denn<br />
1. bezieht sich <strong>die</strong> >relative Verelendung< meist nur auf den Vergleich der Einkommen, was ein<br />
so verengter, allein auf <strong>die</strong> Zirkulation bezogener Vergleichspunkt ist, daß der Unterschied zwi-<br />
schen Lohnarbeit und Kapital in den von arm und reich zerfließt, wodurch jedes antikapitalisti-<br />
sche Bewußtsein im Sinne einer Erkenntnis des Spezifikums von Kapitalismus endgültig zerstört<br />
wäre;<br />
2. drückt <strong>die</strong> Relation dort, wo sie nicht bloß auf den Einkommensvergleich beschränkt bleibt,<br />
einen Vergleich von zwei einander fremden Lebensweisen aus, <strong>die</strong> selten einen<br />
6 Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Göttingen 1972, S. 64 f. Abel<br />
versucht allerdings das Gegenteil nachzuweisen, nämlich daß <strong>die</strong> Not, <strong>die</strong> Marx und Engels in den »Fabriken fanden,<br />
[ ... ] nicht dem >Kapitalismus< aufgebürdet werden (darf) [ ... ] Nach Ursprung und Entwicklung gehört <strong>die</strong> Armut<br />
des frühen 19. Jahrhunderts dem ausklingenden agrarischen Zeitalter der abendländischen Geschichte an« (S. 69).<br />
Dabei hat er aber nicht berücksichtigt, daß <strong>die</strong> Verarmung des Landes durch <strong>die</strong> Einhegungen und Landnahmen<br />
wesentliche Voraussetzung bei der Herausbildung des Kapitalismus in der ursprünglichen Akkumulation< ist.<br />
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