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Verelendungstheorie – die hilflose Kapitalismuskritik

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Wolf Wagner<br />

<strong>Verelendungstheorie</strong> <strong>–</strong> <strong>die</strong> <strong>hilflose</strong> <strong>Kapitalismuskritik</strong><br />

Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/M. 1976<br />

Inhalt<br />

Statt einer Einleitung: Lese-Empfehlungen 10<br />

Erster Teil<br />

Darstellung und Kritik der <strong>Verelendungstheorie</strong><br />

I. Die <strong>Verelendungstheorie</strong> bei Karl Marx und seinen<br />

Zeitgenossen 13<br />

Zusammenfassung 19<br />

II. Die Rolle der <strong>Verelendungstheorie</strong> in der<br />

Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 21<br />

1. Revisionismusstreit und <strong>Verelendungstheorie</strong> 21<br />

2. Die Bedeutung der <strong>Verelendungstheorie</strong> für <strong>die</strong><br />

Kommunistische Internationale und für <strong>die</strong> KPD 32<br />

- Bei der Gründung der Kommunistischen<br />

Internationale 32<br />

- Die Verarbeitung der Stabilisierung<br />

1924-1928 35<br />

- Weltwirtschaftskrise und Sozialfaschismus<br />

theorie 39<br />

3. Die <strong>Verelendungstheorie</strong> in der Kapitalismus<br />

analyse der DDR 43<br />

- Die <strong>Verelendungstheorie</strong> im Programm der<br />

SED von 1963 43<br />

- Die Dogmatisierung der <strong>Verelendungstheorie</strong><br />

in der Zeit des Stalinismus 47<br />

- Die <strong>Verelendungstheorie</strong> in der Theorie über<br />

den westdeutschen Kapitalismus nach dem<br />

Programm der SED 51<br />

4. Die Vorstellungen der SPD über <strong>die</strong> Lage und<br />

Bewußtseinsentwicklung der Arbeiter vom Gör<br />

litzer bis zum Godesberger Programm 56<br />

- Die Wende zum Optimismus (1926-1927) 56<br />

- Das Verhalten zur Weltwirtschaftskrise 62<br />

- SPD-Programmatik nach dem 2. Weltkrieg 66<br />

Zwischenbilanz: Die <strong>Verelendungstheorie</strong> in der gespal<br />

tenen Arbeiterbewegung 68


III. Einwände gegen <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als<br />

Theorie über <strong>die</strong> Entwicklung von antikapitalisti<br />

schem Bewußtsein 71<br />

1. Historisch-empirische Einwände 71<br />

- Die >absolute< Verelendung 71<br />

- Die >relative< Verelendung 76<br />

2. Zur <strong>Verelendungstheorie</strong> bei Marx im Rahmen<br />

des Gesamtwerkes 77<br />

3. Die <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie über <strong>die</strong><br />

Durchbrechung der Mystifikation 83<br />

- Die Mystifikation in ihrer Wirkung auf <strong>die</strong><br />

Arbeiter 83<br />

- Die Möglichkeit der Durchbrechung der<br />

Mystifikation bei Marx 88<br />

- Die <strong>Verelendungstheorie</strong> und der >Grund<br />

widerspruch von Lohnarbeit und Kapital< 89<br />

- Das Verhältnis von Gebrauchswert und<br />

Tauschwert und <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> 91<br />

4. Zusammenfassung und Fragestellungen für den<br />

Zweiter Teil<br />

zweiten Teil 94<br />

Arbeitserfahrung und Bewußtsein<br />

Elemente einer Theorie über <strong>die</strong> Erfahrungsbasis anti<br />

kapitalistischen Bewußtseins im Produktionsprozeß 103<br />

IV. Die Determinanten der Arbeitserfahrung im kapi<br />

talistischen Produktionsprozeß 105<br />

1. Steigerung der Intensität und Produktivkraft<br />

der Arbeit: <strong>die</strong> Gebrauchswertwirkungen der<br />

Wertbewegungen 106<br />

2. Analyse der Kostpreisbewegungen 107<br />

- Stückkostenbewegung bei konstantem<br />

Output (Stagnation und Krise) 108<br />

- Stückkostenbewegungen bei steigendem<br />

Output (Boom) 111<br />

(a) Der Mechanisierungssprung 111, (b) Die<br />

arbeitsorganisatorische Rationalisierung 115<br />

3. Zusammenfassung 120<br />

V. Die Erfahrungen im kapitalistischen Produktions<br />

prozeß beim Mechanisierungssprung. Die Ent<br />

wicklung der Mechanisierung in ihrer Auswirkung<br />

auf <strong>die</strong> Arbeitsbelastung 122<br />

1. Die Mechanisierungsstufen 122


2. Die Entwicklung der Arbeitsbelastung auf den<br />

Mechanisierungsstufen 124<br />

- Physische Belastung 129<br />

- Psychische Belastung 130<br />

- Arbeitsumwelt 137<br />

(a) Schmutz, Wetter, Beleuchtung 137, (b) Lärm<br />

139, (c) Unfallgefährdung 141, (d) Quali-<br />

fikationsanforderungen (Ausbildung) 141<br />

- Gesamtentwicklung 144<br />

3. Quantitative Verbreitung der Mechanisierungs-<br />

erfahrung in der Bundesrepublik Deutschland 146<br />

4. Zusammenfassung 147<br />

Vl. Die arbeitsorganisatorischen Rationalisierungen in<br />

ihrer Wirkung auf <strong>die</strong> Arbeitsbelastung 149<br />

1. Das >Arbeitsstudium< - <strong>die</strong> Theorie der arbeits-<br />

organisatorischen Rationalisierung 150<br />

2. Lohnanreiz—<strong>die</strong> Verlängerung der Zirkulations-<br />

sphäre in den Produktionsprozeß 154<br />

- Akkord 154<br />

- Prämiensysteme - der Zusammenhang von<br />

Lohnsystemen und Mechanisierung 161<br />

3. Arbeitszeit 162<br />

4. Arbeitsorganisatorische Rationalisierung auf<br />

den höheren Mechanisierungsstufen 164<br />

- Schichtarbeit 164<br />

- Mehrstellenarbeit - <strong>die</strong> Anpassung des Men-<br />

schen an <strong>die</strong> Technik 166<br />

5. >Humanisierung der Arbeit< - oder: Die Sper-<br />

rigkeit des Gebrauchswertes 168<br />

6. Zusammenfassung 175<br />

VII. Ausmaß und Verlauf der Arbeitsbelastung bei in-<br />

dustrieller Arbeit in der Bundesrepublik Deutsch-<br />

land, dargestellt an ihren Folgen 177<br />

1. Arbeitsunfälle 178<br />

2. Krankheit und Arbeitsunfähigkeit 183<br />

- Die Determinanten des Krankenstandes 186<br />

- Krankenstand und Krankheit als eine Aus-<br />

wirkung der Arbeitsbedingungen 187<br />

- (a) Arbeitsumwelt 187, (b) Arbeitszeit 189,<br />

(c) Arbeitsorganisation 189, (d) Exkurs: Dif-<br />

ferenzierung nach Qualifikation, Geschlecht<br />

und Alter 190, (e) Arbeitszufriedenheit:<br />

psychosomatische Folgen der Arbeitssituation 192


3. Spätfolgen der Arbeitsbelastung (ein deprimie-<br />

render Exkurs) 204<br />

- Das Altwerden als Verelendung 204<br />

- Vorzeitiger Aufbrauch 206<br />

- Frühinvalidität 207<br />

- Übersterblichkeit 208<br />

4. Zusammenfassung 214<br />

VIII. Die Verarbeitung der Arbeitserfahrungen im Be-<br />

wußtsein der Industriearbeiter 216<br />

1. Die Verarbeitung der Verelendungserfahrung<br />

im Bewußtsein 221<br />

2. Der Wechselprozeß von Aufwärts- und Ab-<br />

wärtsentwicklung als Erfahrungsbasis für anti-<br />

kapitalistisches Bewußtsein 226<br />

3. Zusammenfassung 229<br />

Schlußbemerkungen 230<br />

Schlußfolgerungen: Sechs Thesen 234<br />

Anhang 237<br />

1. Tabellen 239<br />

2. Verzeichnis der angeführten Literatur 242


Statt einer Einleitung: Lese-Empfehlungen<br />

1. Man kann einen Text immer sehr viel leichter verstehen und mit kritischer Aufmerksamkeit<br />

lesen, wenn man Weiß, worauf das Ganze hinaus will, wogegen und wofür in dem Text argumentiert<br />

wird. Deshalb sollte man auf jeden Fall zuerst <strong>die</strong> >Schlußfolgerungen: Sechs Thesen< ganz<br />

am Ende des Buches lesen.<br />

2. Danach kann man sich noch vor der detaillierten und chronologischen Lektüre mit Hilfe des<br />

Inhaltsverzeichnisses einen groben Überblick über den Gang der Argumentation verschaffen: am<br />

Ende eines jeden Kapitels steht eine kurze Zusammenfassung der für den weiteren Gang der Argumentation<br />

wesentlichen Ergebnisse. Liest man <strong>die</strong>se zuerst nacheinander durch, so ist in etwa<br />

klar, worum es jeweils geht.<br />

3. jetzt kann man dann sinnvoll entscheiden, ob man das Buch vom Anfang bis zum Schluß lesen<br />

will (was mir am liebsten wäre), oder ob nur einzelne Passagen auf Interesse stoßen und für den<br />

eigenen Arbeitszusammenhang relevant werden.<br />

4 . Damit mit dem Buch auch quasi als Steinbruch für andere Fragestellungen gearbeitet werden<br />

kann und <strong>die</strong> Masse wichtiger Daten und Informationen über den Arbeitsprozeß und seine Folgen,<br />

<strong>die</strong> ich in zweieinhalbjährigen Fischzügen durch Berliner Bibliotheken gelandet habe, genutzt<br />

werden können, habe ich ein sehr detailliertes Inhaltsverzeichnis angelegt. Die Daten lassen<br />

sich von dort jeweils unter dem entsprechenden Zwischentitel in sehr konzentrierter Form finden,<br />

so daß ein Register unnötig erschien. - W. W.


Erster Teil<br />

Darstellung und Kritik der <strong>Verelendungstheorie</strong><br />

I. Die <strong>Verelendungstheorie</strong> bei Karl Marx und seinen Zeitgenossen<br />

Es ist ungeklärt, wann und von wem erstmals der Begriff ><strong>Verelendungstheorie</strong>< in der Literatur<br />

benutzt wurde. Bei Marx und Engels taucht er jedenfalls nirgendwo auf. 3<br />

Was das Wort benennt, <strong>die</strong> Theorie, daß der sich entwickelnde Kapitalismus trotz des sprunghaf-<br />

ten Wachstums in der Masse der produzierten Güter denjenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Güter produzieren,<br />

keine Verbesserung, sondern im Gegenteil eine Verschlechterung in ihrer Lage bringt, dafür fin-<br />

den sich in ihrem Werk viele Belege. Allerdings sind sie zu ihrer Zeit nicht <strong>die</strong> einzigen und kei-<br />

nesfalls <strong>die</strong> profiliertesten Vertreter einer solchen <strong>Verelendungstheorie</strong>: Schon im 18. Jahrhundert<br />

regte das beobachtete Paradoxon zwischen immens gesteigertem Güterausstoß und gleichzeitiger<br />

Verschlechterung im Einkommen und in der gesamten Lebenslage der Manufakturarbeiter zur<br />

Theoriebildung an. So formulierte Turgot bereits 1766:<br />

»Infolge der gegenseitigen Konkurrenz der Arbeiter untereinander bleibt der Arbeitslohn auf das<br />

Existenzminimum beschränkt. Die Arbeiter müssen ihre Ansprüche um <strong>die</strong> Wette herabsetzen.<br />

So kommt es dann tatsächlich in allen Arbeitszweigen schließlich so weit, daß der Lohn nur ge-<br />

rade hoch genug ist, um dem Arbeiter seine Subsistenzmittel zu beschaffen.« 4 '<br />

Während sich in England und Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine umfang-<br />

reiche Literatur mit vielfältigen Theorien über <strong>die</strong> Gründe und Entwicklungstendenzen des Arbei-<br />

terelends entwickelte, konnte man in Deutschland erst in den siebziger und achtziger Jahren von<br />

einer wissenschaftlichen Literatur zu dem Problem reden, das unter dem Titel >Die soziale Frage<br />

behandelt wurde.<br />

Die schärfsten Versionen der <strong>Verelendungstheorie</strong> finden sich immer dann, wenn <strong>die</strong> Theorie im<br />

Zusammenhang mit der Malthusianischen Bevölkerungslehre konstruiert wurde, wo-<br />

3 Meine Recherchen nach dem Ursprung der Bezeichnung blieben erfolglos. Der einzige Hinweis, den ich gefunden<br />

habe, stammt von Karl Kautsky und ist lediglich negativ: »Ebenso wenig, wie <strong>die</strong> Worte Zusammenbruchstheorie<<br />

und >Katastrophentheorie< stammt das Wort ><strong>Verelendungstheorie</strong>< von Marx oder Engels her, sondern von Kritikern<br />

ihrer Anschauungen (Bernstein und das Sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik; Stuttgart 1899, S.<br />

114). Werner Hofmann, Sozialökonomische Stu<strong>die</strong>ntexte, 3 Bände, Berlin 1965, 2. Bd., S. 150, datiert das Wort<br />

direkt auf Bernstein,<br />

4 Zit. nach dem übersetzten Zitat in: Robert Michels, Die <strong>Verelendungstheorie</strong>. Stu<strong>die</strong>n und Untersuchungen zur<br />

internationalen Dogmengeschichte der Volkswirtschaft, Leipzig 1928, S. 15.<br />

13


nach sich <strong>die</strong> Bevölkerung bis zu dem Punkt ausdehnt, wo zusätzliche Menschen nicht mehr er-<br />

nährt werden können und sich daher der Lohn mit der Bevölkerungsvermehrung zuerst immer<br />

mehr dem physischen Existenzminimum nähert und sich von dort dann nicht mehr wegbewegen<br />

kann. 5<br />

Die anderen Versionen der <strong>Verelendungstheorie</strong>, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Entwicklung gesellschaftliche und<br />

nicht natürliche Ursachen suchten, lassen sich danach einteilen, ob sie davon ausgehen, daß es<br />

den Arbeitern mit der Entwicklung des Kapitalismus in absolutem Sinne immer schlechter gehe,<br />

oder ob sie eine bloß relative Schlechterstellung annehmen: also im Vergleich zur Entwicklung<br />

einer anderen gesellschaftlichen Größe - sei es, der gesamtgesellschaftliche Reichtum, das Poten-<br />

tial an Bedürfnisbefriedigung oder <strong>die</strong> Einkünfte und das Vermögen der Kapitaleigner in irgend-<br />

einer Form.<br />

Wie Michels eindrucksvoll zeigt, waren <strong>die</strong> Vertreter beider Anschauungen (wobei <strong>die</strong> Prognose<br />

der absoluten Verelendung selbstverständlich immer <strong>die</strong> der relativen einschließt) um <strong>die</strong> Mitte<br />

des 19. Jahrhunderts in vielen Varianten weit verbreitet.<br />

Um <strong>die</strong>se Zeit waren also <strong>die</strong> Gedanken, <strong>die</strong> unter der Bezeichnung ><strong>Verelendungstheorie</strong>< zu-<br />

sammengefaßt werden, europäisches Allgemeingut und keine speziellen oder gar spezifischen<br />

Schöpfungen von Marx und Engels: Das Mißverhältnis zwischen wachsender Warenproduktion<br />

und wachsendem Elend bei den Arbeitern - und erst recht bei den Arbeitslosen und Almosenemp-<br />

fängern - war zu schreiend, <strong>die</strong> niederdrückende Wirkung der kapitalistischen Produktionsweise<br />

zu offensichtlich, ihre zersetzende Wirkung auf Landwirtschaft, Handwerk und kleine Industrie<br />

nicht abzuleugnen<br />

Führt man sich einmal <strong>die</strong> epochale Entwicklung seit dem Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert vor<br />

Augen, so wird <strong>die</strong> allgemeine Verbreitung der <strong>Verelendungstheorie</strong> als globale Einschätzung der<br />

historischen Entwicklung erst voll verständlich.<br />

»Man greift kaum fehl, wenn man den Fleischverzehr im spätmitteIalterlichen Deutschland auf über 100 kg je Kopf<br />

der Bevölkerung schätzt. Fleisch wurde damals nicht nur an Festtagen und an den Tafeln reicher Bürger in kaum<br />

vorstellbaren Mengen verzehrt. Auch <strong>die</strong> weniger bemittelten Bevölkerungsschichten verbrauchten riesige Mengen.<br />

Nach einer Berliner Verordnung, <strong>die</strong> schon in <strong>die</strong> Zeiten beginnender Knappheit hin-<br />

5 Sismondi, Ricardo und noch mehr Lassalle sind <strong>die</strong> bekanntesten Vertreter <strong>die</strong>ser Richtung. Das >eherne Lohnge-<br />

setz< von Lassalle wird - wie vorher alle anderen Mathusianischen Konstruktionen - nicht nur von Marx, sondern<br />

von all denjenigen Theoretikern heftig bekämpft, <strong>die</strong> gesellschaftliche Verhältnisse und nicht unveränderliche Natur-<br />

gesetze, <strong>die</strong> den Menschen wie Karnickel behandeln, als Ursache des Elends ansahen. Vgl. Michels, a.a.O., S. 45 f.,<br />

53, 179 und Hofmann, Werner, Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts; Berlin-New<br />

York 19714, S. 11 f, 80 ff.<br />

14


einreicht (1515), sollte den Bäckergesellen, <strong>die</strong> zur Mühle geschickt wurden, je Tag 4 Pfund Fleisch nebst 8 Quart<br />

Bier und reichlich Brot mitgegeben werden [ ... ] Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts dürfte der Fleischverzehr in<br />

Preußen, Sachsen und wohl auch in ganz Deutschland unter 20 kg je Kopf und Jahr gefallen sein (heute liegt er wie-<br />

der über 60 kg)<br />

Auch der Verzehr von Eiern, Butter, Geflügel, Wildbret und Wein, der vorn billigeren Bier und als Rauschmittel<br />

vom billigeren Schnaps zurückdrängt wurde, lag im Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts weit unter<br />

dem Stand des späten Mittelalters.« Friedrich List »schrieb im Jahre 1844: Unter den notwendigsten Lebensbedürf-<br />

nissen versteht man in vielen Gegenden Deutschlands Kartoffeln ohne Salz, eine Suppe mit Schwarzbrot, zur höchs-<br />

ten Notdurft geschmelzt, Haferbrei, hier und da schwarze Klöße [ ... ] Ich habe Reviere gesehen, wo ein Hering, an<br />

einem an der Zimmerdecke befestigten Faden mitten über dem Tisch hängend, unter den Kartoffelnessern von Hand<br />

zu Hand herumging, um jeden zu befähigen, durch Reiben an dem gemeinsamen Tafelgut seiner Kartoffel Würze<br />

und Geschmack zu geben.< Man darf darum auch im Bereich der Ernährung eine Stufenleiter aufstellen, <strong>die</strong> eindeu-<br />

tig abwärts führte: vom Fleischstandard des Spätmittelalters über den Getreidestandard der frühen Neuzeit zum Kar-<br />

toffelstandard im Zeitalter des Pauperismus.« 6<br />

Andererseits hat man damit einen eindrucksvollen Prüfstein, an dem sich jede spätere Theorie<br />

bewähren muß, <strong>die</strong> eine absolute Verelendung als unvermeidliches Resultat der kapitalistischen<br />

Entwicklung behauptet: sie muß glaubhaft machen können, daß sich <strong>die</strong> Lage der Industriearbei-<br />

ter gegenüber der damaligen Situation sogar noch weiter verschlechtert hat. Dort, wo das nicht<br />

möglich scheint, ziehen sich <strong>die</strong> Anhänger der <strong>Verelendungstheorie</strong> meist auf <strong>die</strong> >relative Ver-<br />

elendung< zurück, d. h. auf <strong>die</strong> Schlechterstellung des Proletariats in Relation zur verbesserten<br />

Situation der Bourgeoisie und des Kapitals. Das ist aber eine Rückzugsfront, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> hier inte-<br />

ressierende Fragestellung nichts hergibt; denn<br />

1. bezieht sich <strong>die</strong> >relative Verelendung< meist nur auf den Vergleich der Einkommen, was ein<br />

so verengter, allein auf <strong>die</strong> Zirkulation bezogener Vergleichspunkt ist, daß der Unterschied zwi-<br />

schen Lohnarbeit und Kapital in den von arm und reich zerfließt, wodurch jedes antikapitalisti-<br />

sche Bewußtsein im Sinne einer Erkenntnis des Spezifikums von Kapitalismus endgültig zerstört<br />

wäre;<br />

2. drückt <strong>die</strong> Relation dort, wo sie nicht bloß auf den Einkommensvergleich beschränkt bleibt,<br />

einen Vergleich von zwei einander fremden Lebensweisen aus, <strong>die</strong> selten einen<br />

6 Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Göttingen 1972, S. 64 f. Abel<br />

versucht allerdings das Gegenteil nachzuweisen, nämlich daß <strong>die</strong> Not, <strong>die</strong> Marx und Engels in den »Fabriken fanden,<br />

[ ... ] nicht dem >Kapitalismus< aufgebürdet werden (darf) [ ... ] Nach Ursprung und Entwicklung gehört <strong>die</strong> Armut<br />

des frühen 19. Jahrhunderts dem ausklingenden agrarischen Zeitalter der abendländischen Geschichte an« (S. 69).<br />

Dabei hat er aber nicht berücksichtigt, daß <strong>die</strong> Verarmung des Landes durch <strong>die</strong> Einhegungen und Landnahmen<br />

wesentliche Voraussetzung bei der Herausbildung des Kapitalismus in der ursprünglichen Akkumulation< ist.<br />

15


gemeinsamen Bereich haben, aus dem eine relative Verelendung als selbst erlebte Erfahrung re-<br />

sultieren könnte.<br />

Wenn also von >der< <strong>Verelendungstheorie</strong> gesprochen wird dann ist hier - außer in ausdrück-<br />

lich abweichendem Zusammenhang - von der >absoluten< Verelendung <strong>die</strong> Rede, <strong>die</strong> immer<br />

zugleich eine relative Verelendung einschließt.<br />

Marx und Engels formulierten erstmals ihre Version der <strong>Verelendungstheorie</strong> in einer besonders<br />

zugespitzten Situation einer Situation, <strong>die</strong> zu dem auch in den anderen <strong>Verelendungstheorie</strong>n<br />

erfaßten allgemeinen Elend <strong>die</strong> Wendung <strong>die</strong>se Elends zur Revolution bringen mußte, wie es<br />

schien. In <strong>die</strong>se Situation geriet ihnen der Zusammenhang von wachsenden Elend und Entwick-<br />

lung, des Proletariats zur revolutionären Klasse besonders pointiert: Nach dein Text des >Mani-<br />

fest der Kommunistischen Partei< findet eine absolute Verelendung statt, <strong>die</strong> unvermeidlich<br />

scheint und <strong>die</strong> gesamte Lebenslage des Arbeiters umfaßt: nicht nur sein Einkommen sinkt seine<br />

Situation im Arbeitsprozeß verschlechtert sich ebenfalls permanent. 7<br />

Diese permanente, absolute Verschlechterung in der Lage de Proletariats und <strong>die</strong> Ausdehnung<br />

des Proletariats durch de Zerfall aller anderen Schichten außer den beiden antagonistischen Klas-<br />

sen, Bourgeoisie und Proletariat, soll schließlich bis zu der grotesken Situation fortschreiten kön-<br />

nen, in der <strong>die</strong> Bourgeoisie, <strong>die</strong> selbst vom Produkt der Arbeit der Proletarier lebt, nun <strong>die</strong>se er-<br />

nähren soll. Die Gesellschaft müßte an <strong>die</strong> sein Punkt zusammen mit dem Kapitalismus zusam-<br />

menbrechen und in <strong>die</strong> Barbarei der einfachen Subsistenzwirtschaft der wenigen überlebenden<br />

zurückfallen. 8<br />

Im Unterschied zu den meisten anderen zeitgenössischen <strong>Verelendungstheorie</strong>n, <strong>die</strong> als Ergebnis<br />

ihrer Analysen zu staatlichen oder privaten Wohltätigkeitsaktionen aufriefen (Nationalwerkstät-<br />

ten, Louis Blanc, oder durch Produktionsgemeinschaften, Owen und Lassalle, etc.) oder völlig<br />

resigniert <strong>die</strong> Abschaffung der Armengesetze forderten, damit der Hungertod und <strong>die</strong> Säuglings-<br />

sterblichkeit <strong>die</strong> Konkurrenz und mit ihr das Elend bei den Arbeitern vermindere (so <strong>die</strong> Malthu-<br />

sianer Ricardo und Sismondi) 9 , folgerten Marx und Engels aus ihrer Analyse des Kapitalismus,<br />

daß derselbe Prozeß der zur ständig zunehmenden Verelendung des Proletariat führe, auch <strong>die</strong><br />

Kräfte zu seiner Umwälzung und Überwindung erzeuge: Die Bourgeoisie »produziert vor allem<br />

ihre. eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeid-<br />

lich« 10 .<br />

7 MEW 4, S. 468 f.<br />

8 MEW 4, S. 473.<br />

9 Vgl. Hofmann, Ideengeschichte, a.a.O. S.80<br />

10 Manifest, MEW 4, S. 473 f.<br />

16


Die verelendende Tendenz bringe zugleich <strong>die</strong> Arbeiter in den großen Fabriken zusammen, nivel-<br />

liere alle Unterschiede in Einkommen, Qualifikation, Geschlecht, Alter oder Herkommen und<br />

zwinge <strong>die</strong> Arbeiter, sich in gleicher Weise gegen <strong>die</strong> Angriffe der Bourgeoisie auf ihr Lebensin-<br />

teresse zur Wehr zu setzen. Diese vereinzelten Kämpfe breiteten sich aus, zwängen <strong>die</strong> Arbeiter<br />

zu entsprechend breiten Assoziationen, <strong>die</strong> »Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit<br />

zur politischen Partei« 11<br />

Für den umfassenden, revolutionären Kampf gegen <strong>die</strong> kapitalistische Gesellschaft werde das<br />

Proletariat durch <strong>die</strong> vielen Einzelkämpfe geschult, immer wieder erneut zusammengeschweißt.<br />

Die absinkenden Schichten und später Teile der Bourgeoisie führten ihm >Bildungselemente< zu.<br />

Diese erstarkende Arbeiterklasse könne aber <strong>die</strong> Verelendung der Arbeiter unter dem Kapitalis-<br />

mus trotzdem nicht abwenden. »Von Zeit zu Zeit siegen <strong>die</strong> Arbeiter, aber nur vorübergehend.<br />

Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern <strong>die</strong> immer weiter<br />

um sich greifende Vereinigung der Arbeiter.« Erst wenn der Kapitalismus als Ganzes überwun-<br />

den ist und nicht nur einzelne »Interessen der Arbeiter in Gesetzesform« anerkannt sind, kann <strong>die</strong><br />

Lohnarbeit abgeschafft werden. 12<br />

Sie stehen also vor der Alternative: Verelendung und Rückfall in <strong>die</strong> Barbarei oder »gewaltsamer<br />

Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung«. An <strong>die</strong>se Erkenntnis, daß <strong>die</strong> Entwicklung des<br />

Kapitalismus den Untergang im Elend bedeute, wenn man ihn nicht vorher abschaffe, appellieren<br />

<strong>die</strong> Schlußsätze des Kommunistischen Manifests: »Mögen <strong>die</strong> herrschenden Klassen vor einer<br />

kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ket-<br />

ten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.« 13<br />

Erst durch <strong>die</strong>se Verknüpfung von <strong>Verelendungstheorie</strong> und der strategischen Einschätzung, daß<br />

<strong>die</strong> Verschlechterung der Lebenslage <strong>die</strong> Arbeiter dazu bringe, Widerstand zu leisten, sich zu-<br />

sammenzuschließen und durch das, was sie bekämpfen, geschult und zur kampfkräftigen Organi-<br />

sation zusammengeschweißt schließlich den Kapitalismus und seine herrschende Klasse als Ur-<br />

sache des wachsenden Elends umzustürzen, erhält <strong>die</strong> damals allgemein verbreitete Theorie ihre<br />

spezifische Prägung und ihren besonderen Stellenwert in der marxistischen Literatur und in der<br />

Entwicklung der Arbeiterbewegung. Danach mußte es so scheinen, daß, wer <strong>die</strong> Verelendung des<br />

Proletariats im Kapitalismus ableugnete, damit<br />

11 Ebd., S. 471<br />

12 Ebd.<br />

13 Ebd., S. 493 (Hervorh. W. W.).<br />

17


auch <strong>die</strong> Entwicklung des Proletariats zur revolutionären Klasse und damit <strong>die</strong> Entwicklung zum<br />

Sozialismus abstritt.<br />

Ohne <strong>die</strong> Verknüpfung von Entwicklungsprognose und grundsätzlicher strategischer Einschät-<br />

zung hätte <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> nie <strong>die</strong> Bedeutung erhalten können, <strong>die</strong> sie bis heute noch<br />

hat. Sie wäre lediglich eine von vielen Prognosen, <strong>die</strong> von Marx oder Engels aufgestellt wurden<br />

und <strong>die</strong> ohne viel Aufsehen von der historischen Entwicklung modifiziert und in der Theorie<br />

dann revi<strong>die</strong>rt wurden (etwa <strong>die</strong> Erwartung, daß <strong>die</strong> sozialistische Revolution zuerst nur in den<br />

höchstindustrialisierten Ländern erfolgreich sein könne).<br />

Nach <strong>die</strong>ser eindeutigen und überaus, pointierten Formulierung einer <strong>Verelendungstheorie</strong>, <strong>die</strong><br />

nur noch <strong>die</strong> Alternative zwischen Umsturz oder allgemeinem Zusammenbruch des Kapitalismus<br />

offenließ, hätte in den späteren, Schriften von Marx und Engels schon eine ebenso eindeutige<br />

Absage an <strong>die</strong>se Theorie erscheinen müssen, um <strong>die</strong> allgemeine Überzeugung ins Wanken zu<br />

bringen, daß <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> ein integraler und konstitutiver Teil der marxistischen The-<br />

orie sei. Statt dessen finden sich auch danach immer wieder Passagen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Überzeugung<br />

bestätigen mußten. 14<br />

Als nach beinahe 20 Jahren auch noch im Hauptwerk von Marx, im eisten Band des >KapitalKapital< und im >Manifest< noch folgende Schriften, auf <strong>die</strong> sich <strong>die</strong> Behauptung, es gebe bei<br />

Marx eine <strong>Verelendungstheorie</strong>, stützen kann: Arbeitslohn, MEW 6, S. 535-556; Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S.<br />

397-423, insbesondere S. 400, 405, 410, 412 bis Schluß; Lohn, Preis und Profit, MEW 16, S. 103-152, insbesondere<br />

ab S- 141. Dort auch <strong>die</strong> explizite Bestätigung für eine absolute Verelendung,' gegen <strong>die</strong> <strong>die</strong> täglichen Kämpfe keine<br />

dauerhaften Erfolge erzwingen können: „Gleichzeitig und ganz unabhängig von der allgemeinen Fron, <strong>die</strong> das<br />

Lohnsystern einschließt, sollte <strong>die</strong> Arbeiterklasse <strong>die</strong> endgültige Wirksamkeit <strong>die</strong>ser tagtäglichen Kämpfe nicht über-<br />

schätzen. Sie sollte nicht vergessen, daß sie gegen Wirkungen kämpft, nicht aber gegen <strong>die</strong> Ursachen <strong>die</strong>sr Wirkun-<br />

gen; daß sie zwar <strong>die</strong> Abwärtsbewegung verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert; [ ... ] Sie sollte begreifen, daß<br />

das gegenwärtige System bei all dem Elend, das es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen<br />

Bedingungen und den gesellschaftlichen, Formen, <strong>die</strong> für eine ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft notwen-<br />

dig sind.« S. 152 und auf der gleichen Seite als Teil des Fazits sogar eine Formulierung der absoluten Verelendung<br />

als Lohnverelendung: »2. Die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion geht dahin, den durchschnittlichen<br />

Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken.« Außer den hier zitierten Stellen aus dem 1. Band finden sich im<br />

>Kapital< noch folgende Stellen im 3. Band (MEW 25) im Zusammenhang mit der industriellen Reservearmee: S.<br />

96, 246, 250, 253, 259, 266, 829. Stellen im Rahmen der Behandlung des zinstragenden Kapitals; S. 524, 560; zum<br />

Wucherkapital S. 609 u. 623,- zur Grundrente: S. 631, 815, 821.<br />

18


einem zentralen und konstituierenden Teil einer Weltanschauung wurde:<br />

„Innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehen sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produk-<br />

tivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; [ ... ] Es folgt daher, daß im Maße wie Kapital akkumu-<br />

liert, <strong>die</strong> Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß. Das Gesetz<br />

endlich, welches <strong>die</strong> relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Ak-<br />

kumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus <strong>die</strong> Keile des<br />

Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend.<br />

Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklave-<br />

rei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf Seite der Klasse, <strong>die</strong> ihr<br />

eigenes Produkt als Kapital produziert.« 15<br />

Das in dem zitierten Text angesprochene Gesetz über den Zusammenhang von industrieller Re-<br />

servearmee und Akkumulation und <strong>die</strong> daraus resultierende Akkumulation von Elend ist in dem<br />

ganzen vorangehenden Teil des 23. Kapitels in polemischer Abhebung gegen <strong>die</strong> Vertreter der<br />

malthusianisch inspirierten Beschäftigungs- und <strong>Verelendungstheorie</strong>n entwickelt und mit unge-<br />

wöhnlicher Bestimmtheit im Text gekennzeichnet worden als »das absolute, allgemeine Gesetz<br />

der kapitalistischen Akkumulation« 16 . Und schließlich wiederholt sich im 24. Kapitel, dem zu-<br />

sammenfassenden Kapitel des ersten Bandes, unter dem programmatischen Titel >7. Geschichtli-<br />

che Tendenz der kapitalistischen Akkumulation< <strong>die</strong> Verknüpfung von <strong>Verelendungstheorie</strong> und<br />

grundsätzlicher strategischer Einschätzung der Entwicklung der Arbeiterbewegung, wie wir sie<br />

bereits beim Kommunistischen Manifest als entscheidend wichtiges Spezifikum analysiert haben:<br />

»Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile <strong>die</strong>ses Umwandlungsprozesses<br />

usurpieren und monopolisieren, wächst <strong>die</strong> Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der<br />

Ausbeutung, aber auch <strong>die</strong> Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen<br />

Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. [ ... ] Die Zentralisation der<br />

Produktionsmittel und <strong>die</strong> Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit<br />

ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Ex-<br />

propriateurs werden expropriiert― 17<br />

Zusammenfassung<br />

In <strong>die</strong>ser Passage, <strong>die</strong> am Ende des 1. Bandes - wie als zusammenfassender, Fazit - <strong>die</strong> aus der<br />

kapitalistischen Entwicklung selbst erwachsende historische Tendenz aufzeigt,<br />

15 K. Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 674 f. (Hervorh. W. W.)<br />

16 Ebd-, S. 673 f.<br />

17 Ebd., S. 790 f. (Hervorh. W. W.).<br />

19


spielt der Zusammenhang von dem Elend, das der Kapitalismus erzeugt, und der daraus resultie-<br />

renden Empörung eine so wichtige Rolle, daß sie allein schon belegen könnte, wie leicht man aus<br />

den Marxschen Schriften eine ><strong>Verelendungstheorie</strong>< als integralen Bestandteil der gesamten<br />

theoretischen Konstruktion herausinterpretieren kann. Ob sie notwendig, aus dem Gesamtzu-<br />

sammenhang der Marxschen Theorie folgt, werde ich im 3. Kapitel untersuchen. Hier gilt es zu-<br />

erst einmal festzuhalten, daß aus den Marxschen Schriften eine Theorie belegt werden kann, <strong>die</strong><br />

besagt, daß der Kapitalismus in seiner Entwicklung notwendig <strong>die</strong> Läge des Proletariats ver-<br />

schlechtere, und daß <strong>die</strong>ser Prozeß der Verelendung bei den Proletariern das Bewußtsein und den<br />

Willen erzeuge, den Kapitalismus als <strong>die</strong> Quelle ihres Elends abzuschaffen.<br />

Damit haben wir aber zugleich gesehen, daß <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> nicht nur eine Theorie über<br />

<strong>die</strong> Entwicklung der Lage der Arbeiterklasse ist, sondern daß sie vor allen Dingen eine Theorie<br />

über <strong>die</strong> Bewußtseinsentwicklung der Arbeiterklasse beinhaltet. Und erst als eine solche Theorie<br />

über <strong>die</strong> Entstehung von antikapitalistischem Bewußtsein erhält sie einen zentralen Stellenwert<br />

für eine Geschichtsbetrachtung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> gegenwärtig herrschende Produktionsweise, Kapitalis-<br />

mus, nicht als ewige Naturnotwendigkeit, sondern als Durchgangsstadium in einer historischen<br />

Gesamtentwicklung versteht.<br />

Weiter können wir festhalten, daß bei Marx an den Stellen, <strong>die</strong> zur <strong>Verelendungstheorie</strong> zusam-<br />

mengefaßt werden, nicht so sehr das Einkommen und <strong>die</strong> anderen Verhältnisse außer--, halb des<br />

Produktionsprozesses als bestimmend für <strong>die</strong> Lage der Arbeiter im Vordergrund stehen. Diese<br />

Elemente der Lebenslage sind entscheidend und umfassend für <strong>die</strong> industrielle Reservearmee, für<br />

<strong>die</strong> Paupers, kurz für all <strong>die</strong>jenigen, denen der Verkauf ihrer Arbeitskraft nicht oder nicht mehr<br />

gelingt, <strong>die</strong> aber für ihre normale gesellschaftliche Lebenshaltung auf <strong>die</strong>sen Verkauf voll und<br />

ganz angewiesen sind. Für <strong>die</strong> beschäftigten Arbeiter, denen <strong>die</strong>ser Verkauf gelungen ist, stehen<br />

dagegen <strong>die</strong> Entwicklungen im Produktionsprozeß selbst ganz dominierend im Vordergrund: das<br />

Verhältnis zur Maschinerie, <strong>die</strong> Länge des Arbeitstages, <strong>die</strong> Intensität und der Inhalt der Arbeit.<br />

Eine Analyse des Arbeiterbewußtseins im Kapitalismus müßte demnach vor allem eine Analyse<br />

des kapitalistischen Produktionsprozesses bedeuten.


II. Die Rolle der <strong>Verelendungstheorie</strong> in der Geschichte der deutschen Arbei-<br />

terbewegung<br />

Die kritische Interpretation der <strong>Verelendungstheorie</strong> im Rahmen des Gesamtwerkes und <strong>die</strong> Un-<br />

tersuchung auf ihren Stellenwert innerhalb der gesamten Theorie der materialistischen<br />

.Geschichtsbetrachtung (als Bedingungsanalyse der Entwicklung der materiellen Reproduktion)<br />

werde ich im folgenden Kapitel vornehmen. Für <strong>die</strong>ses Kapitel hier ist allein wichtig, ob sich für<br />

<strong>die</strong> Zeitgenossen von Marx und Engels eine <strong>Verelendungstheorie</strong> als plausibel darstellen konnte<br />

und ob bei der späteren Lektüre von Marx-Texten <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als zentral wichtiger<br />

und konstitutiver Teil des Marxismus durch <strong>die</strong>se Texte belegt werden konnte.<br />

So werden denn auch in den Programmschriften der SPD nach dein >Manifest der Kommunisti-<br />

schen Partei< bis zur Jahrhundertwende <strong>die</strong> Thesen der <strong>Verelendungstheorie</strong> aufgenommen; im<br />

>Gothaer Programm< von 1875 noch vermischt mit dem Lassallianischen Malthusianismus: An<br />

der heutigen Gesellschaft sind <strong>die</strong> Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; <strong>die</strong> hierdurch<br />

bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist <strong>die</strong> Ursache des Elends und der Knechtschaft in<br />

allen Formen.« Gefordert - und Marx rügt <strong>die</strong>se Forderung heftig - wird »,<strong>die</strong> Zerbrechung des<br />

ehernen Lohngesetzes« 18<br />

Im >Erfurter Programm< von 1891 ist dann <strong>die</strong> Formulierung über <strong>die</strong> »geschichtliche Tendenz<br />

der kapitalistischen Akkumulation« vom Ende des ersten Bandes des >Kapital< beinahe wörtlich<br />

übernommen. Die <strong>Verelendungstheorie</strong> als strategische Einschätzung der Entwicklung des Kapi-<br />

talismus und der unausweichlichen revolutionären Reaktion des Proletariats auf <strong>die</strong>se Entwick-<br />

lung ist damit zur programmatisch festgelegten Doktrin der deutschen Arbeiterbewegung gewor-<br />

den.<br />

In der Revisionismusdebatte wurde <strong>die</strong>se Doktrin und <strong>die</strong> entsprechende Passage im Erfurter<br />

Programm zu einem der zentralen Punkte der Auseinandersetzung.<br />

1. Revisionismusstreit und <strong>Verelendungstheorie</strong><br />

Die Revisionismusdebatte erreichte ihren ersten Höhepunkt, als Eduard Bernstein eine Zuschrift<br />

an den vom 3. bis 8. Ok-<br />

18 Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (Gothaer Programm), in: Revolutionäre deutsche Par-<br />

teiprogramme, Berlin (DDR-Dietz) 1967,S. 47, und K. Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW 19, S.15f.<br />

21


tober 1898 in Stuttgart versammelten Parteitag der SPD einsandte. Mit statistischen Untersu-<br />

chungen über <strong>die</strong> Entwicklung der Eigentumsverhältnisse bei den Aktiengesellschaften, in der<br />

Landwirtschaft und bei den mittelständischen Unternehmen begründete er seinen zentralen Ein-<br />

wand gegen <strong>die</strong> sozialdemokratische Programmatik:<br />

»Ich bin der Anschauung entgegengetreten, daß wir vor einem in BäIde zu erwartenden Zusammenbruch der bürger-<br />

lichen Gesellschaft stehen und daß <strong>die</strong> Sozialdemokratie ihre Taktik durch <strong>die</strong> Aussicht auf eine solche<br />

,bevorstehende große soziale Katastrophe bestimmen beziehungsweise von ihr abhängig machen soll. Das halte ich<br />

in vollem Umfang aufrecht.« 18a<br />

Dagegen setzte Rosa Luxemburg in ihrer erstmals 1899 erschienenen Schrift >Sozialreform oder<br />

Revolution?< <strong>die</strong> These:<br />

»Bernstein hat seine Revision des sozialdemokratischen Programms mit dem Aufgeben der Theorie des kapitalisti-<br />

schen Zusammenbruchs angefangen. Da aber der Zusammenbruch der - bürgerlichen Gesellschaft ein Eckstein des<br />

wissenschaftlichen Sozialismus ist, so mußte <strong>die</strong> Entfernung <strong>die</strong>ses. Ecksteins logisch zum Zusammenbruche der<br />

ganzen sozialistischen Auffassung bei Bernstein führen.« 19<br />

So schien <strong>die</strong> Auseinandersetzung gar nicht um <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> zu gehen. Die Entwick-<br />

lung der Reallöhne und .der Lage der Arbeiterklasse kam auch. nur ganz nebenbei bei den Debat-<br />

ten über <strong>die</strong> empirische Entwicklung des Kapitalismus zur Sprache. Im Mittelpunkt der Streit-<br />

schriften scheint <strong>die</strong> These vom Zusammenbruch zu stehen.<br />

Untersucht, man jedoch <strong>die</strong> Argumentation um <strong>die</strong> Zusammenbruchsthese genauer, so wird man<br />

finden, daß sich in ihr der Streit um <strong>die</strong> strategische Einschätzung der <strong>Verelendungstheorie</strong> ver-<br />

birgt: wenn es dem Proletariat immer schlechter gehe, wenn es vor sich nur noch <strong>die</strong> Wahl zwi-<br />

schen Sozialismus oder Barbarei sehe, werde es notwendig immer revolutionärer und klassenbe-<br />

wußter. Rosa Luxemburg begründete ihre These, daß mit der Zusammenbruchstheorie der ganze<br />

>wissenschaftliche Sozialismus< stehn oder fallen müsse, folgendermaßen:<br />

»Die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus stützt sich nämlich bekanntermaßen auf drei Ergebnisse der<br />

kapitalistischen Entwicklung: vor allem auf <strong>die</strong> wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, <strong>die</strong> ihren Un-<br />

tergang zu unvermeidlichem Ergebnis macht, zweitens auf <strong>die</strong> fortschreitende Vergesellschaftung des Produktions-<br />

prozesses, <strong>die</strong> <strong>die</strong> positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf <strong>die</strong> wachsende Organi-<br />

sation und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet.« 20<br />

Wenn man mit Bernstein <strong>die</strong> Entwicklung zum eigenen Untergang wegnehme, »dann hört der<br />

Sozialismus auf, objektiv notwendig zu sein«, denn mit der Vermeidbarkeit von Krisen und der<br />

»Hebung der Lage der Arbeiterklasse« komme es zu<br />

18a Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und <strong>die</strong> Aufgaben der Sozialdemokratie, nach der Neuen<br />

Ausgabe von 1921 hg. von Gunther Hillmann, Reinbek 1969, S. 9.<br />

19 2. durchgesehene und ergänzte Auflage, Leipzig 1908, S. 45.<br />

20 Ebd., S. 3.<br />

22


einer »Abstumpfung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit«. Der vergesellschaftete<br />

Produktionsprozeß in seiner kapitalistischen Form sei bloß »in begrifflichem und nicht in histori-<br />

schem Sinne« Voraussetzung des Sozialismus, denn das Klassenbewußtsein - der »aktive Faktor«<br />

unter den drei Ergebnissen - kann nur noch »bloßes Ideal« sein, »dessen Überzeugungskraft auf<br />

seiner eigenen ihm zugedachten Vollkommenheit« beruht, weil es durch »<strong>die</strong> Anpassungsmittel«<br />

und <strong>die</strong> »Abstumpfung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit« eben nicht mehr »der<br />

einfache geistige Widerschein der sich immer mehr zuspitzenden Widersprüche des Kapitalismus<br />

und seines bevorstehenden Untergangs« sei. 21 Für Rosa Luxemburg bedeutete also <strong>die</strong> Ver-<br />

schlechterung in der Lage der Arbeiterklasse den entscheidenden Aspekt der Krise, »dessen Ge-<br />

genstück der Aufschwung des politischen und sozialistischen Klassenkampfes sein muß« 22 . In<br />

der Zusammenbruchstheorie ist daher gar nicht der quasi automatische Zusammenbruch des Ka-<br />

pitalismus als bloß ökonomisches Scheitern an den rein ökonomischen Widersprüchen gemeint,<br />

denn lange vor <strong>die</strong>sem Punkt werde das Proletariat gegen <strong>die</strong> Unhaltbarkeit der Zustände revol-<br />

tieren.<br />

Auch Bernstein verstand unter dem, was er als <strong>die</strong> >Zusammenbruchstheorie< der Sozialdemo-<br />

kratie bezeichnete, keinen mechanischen, bloß ökonomischen Zusammenbruch, sondern das Zu-<br />

sammenspiel von Verelendung des Proletariats in einer umfassenden Geschäftskrisis und dem<br />

durch <strong>die</strong>se Verelendung erzeugten revolutionären Klassenbewußtsein:<br />

»Nach <strong>die</strong>ser Auffassung wird früher oder später eine Geschäftskrisis von gewaltiger Stärke und Ausdehnung durch<br />

das Elend, das sie erzeugt, <strong>die</strong> Gemüther so leidenschaftlich gegen das kapitalistische Wirtschaftssystemen entflam-<br />

men, <strong>die</strong> Volksmassen so eindringlich von der Unmöglichkeit überzeugen, unter der Herrschaft <strong>die</strong>ses Systems <strong>die</strong><br />

gegebenen Produktivkräfte zum Wohle der Gesamtheit zu leiten, daß <strong>die</strong> gegen <strong>die</strong>ses System gerichtete Bewegung<br />

unwiderstehliche Kraft annimmt und unter ihrem Andrängen <strong>die</strong>ses selbst hoffnungslos zusammenbricht.« 23<br />

Insgesamt kann man sagen, daß <strong>die</strong> Revisionismusdebatte letztlich eine Diskussion um, <strong>die</strong> Vere-<br />

lendungstheorie war. 24 Bernstein versuchte mit Hilfe empirischer Daten nachzuweisen, daß <strong>die</strong><br />

erwartete Verelendung nicht stattfand, daß <strong>die</strong> wirtschaftliche Entwicklung nicht, wie im Erfurter<br />

Programm prognostiziert, mit immer schärfer werdenden und immer en-<br />

21 Alle Zitate ebd., S. 4.<br />

22 Ebd., S, 14.<br />

23 Eduard Bernstein, Der Kampf der Sozialdemokratie und <strong>die</strong> Revolution der Gesellschaft, in: Neue Zeit, j. 16,1;<br />

1897, S. 549<br />

24 Zu <strong>die</strong>sem Ergebnis kommt auch Peter Gay, Das Dilemma des demokratischen Sozialismus - Eduard Bernsteins<br />

Auseinandersetzung mit Marx, Nürnberg (Nest) 1954, S. 208 f: Die revisionistische Taktik »beruhte vor allem auf<br />

den revisionistischen Modifikationen der marxistischen Verelendungs- und Krisentheorie«.<br />

23


ger aufeinanderfolgenden Krisen in einer nach unten abfallenden Wellenlinie, sondern in unre-<br />

gelmäßigen, manchmal nach unten versetzten Wellenbergen aber mit insgesamt steigender Ten-<br />

denz verlaufen war und eine grundsätzliche Wende nicht zu erwarten sei .25<br />

Die Gegner Bernsteins versuchten einerseits zu zeigen, daß <strong>die</strong> von Bernsteins angeführten empi-<br />

rischen Daten irrelevant, unvollständig und irreführend seien und warfen ihm andererseits Ab-<br />

weichung von der Marxschen Methode und Fehlinterpretation der grundsätzlichsten Schriften<br />

von Marx und Engels vor. Dabei Schien der zweite Vorwurf, <strong>die</strong> mangelnde Orthodoxie Bern-<br />

steins, für <strong>die</strong> Kritiker der schwerwiegendere, zu sein;* daher auch der Name >RevisionismusRevisionisten< und >Antirevisionisten< in ihrer Marxismusinterpretation,<br />

- was <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> angeht - sich voll decken: beide behaupten, <strong>die</strong> prognostizierte<br />

Tendenz zur Verschlechterung der Lage der Arbeiterklasse sei zentraler und unverzichtbarer Be-<br />

standteil der materialistischen Geschichtsbetrachtung, und zwar darum, weil mit ihr aufs engste<br />

<strong>die</strong> Theorie über <strong>die</strong> Entstehung von Klassenbewußtsein und revolutionärer Massenmobilisierung<br />

verknüpft sei. In der Interpretation der Theorie der Verelendung und ihrer politischen Folgen gibt<br />

es keine entscheidenden Unterschiede; strittig ist alleine, ob sich <strong>die</strong> Wirklichkeit nach der über-<br />

einstimmenden Marx-Interpretation verhält. Und je nachdem wie <strong>die</strong> Antwort auf <strong>die</strong>se Frage<br />

ausfällt, bestimmt sich in der Folge- <strong>die</strong> Politik auf völlig unterschiedlicher Grundlage und mit<br />

entgegengesetzter Perspektive.<br />

Diejenigen, <strong>die</strong> in der wirklichen Entwicklung des Kapitalismus keine Verelendung beobachten<br />

können, sehen darin eine Widerlegung der <strong>Verelendungstheorie</strong>. Da <strong>die</strong>se besagt, daß durch <strong>die</strong><br />

Verelendung das revolutionäre Bewußtsein im Proletariat erzeugt werde, das den Kapitalismus<br />

umstürzen und den Sozialismus aufbauen werde, muß damit folglich auch <strong>die</strong> Hoffnung auf eine<br />

revolutionäre Entwicklung aufgegeben werden. Die Führer der Arbeiterbewegung mußten dem-<br />

nach an dem bestehenden 'Bewußtsein der Massen anknüpfen, das ohne Verelendung - laut Theo-<br />

rie - gar nicht revolutionär sein konnte. Es mußten also alternative Strategien für den Kampf um<br />

den Sozialismus entwickelt werden. Dazu bot sich vor allem an, <strong>die</strong>jenigen Tendenzen und Kräf-<br />

te, <strong>die</strong> in der Ver-<br />

25 Ders., Der Revisionismus in der Sozialdernokratie - ein Vortrag gehalten in Amsterdam vor Akademikern und<br />

Arbeitern, Amsterdam 1909, in: Ein revisionisti5ches Sozialismusbild - drei Vorträge von Eduard Bernstein; hg. und<br />

eingel. von Helmut Hirsch, Hannover 1966, S. 35 f.<br />

24


gangenheit statt der Verelendung eine Besserstellung der Arbeiter bewirkt hatten, zu einer weite-<br />

ren Stärkung der Arbeiterklasse auszunutzen.<br />

Die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft sollte durch das Mittel der demokratischen und<br />

wirtschaftlichen Reform angestrebt werden.<br />

»Es handelt sich nicht darum, das sogenannte Recht auf Revolution abzuschwören [ ... ] Dieses ungeschriebene und<br />

unverschreibbare Recht wird dadurch, daß man sich auf den Boden der Reform stellt, so wenig berührt, wie das<br />

Recht der Notwehr dadurch aufgehoben wird, daß wir Gesetze zur Regelung unserer persönlichen und Eigentums-<br />

streitigkeiten schaffen.« 26<br />

Die Revolution ist also nur noch Notwehr für den Fall, daß es doch noch zu der Verelendung<br />

kommen sollte - und <strong>die</strong> Drohung mit <strong>die</strong>ser möglichen Gefährdung des >sozialen Friedens< ist<br />

zugleich wichtiges Mittel im Kampf gegen Verelendungstendenzen. Ansonsten solle mit Hilfe<br />

der Gewerkschaften und vor allem der parlamentarischen Partei <strong>die</strong> Wirtschaft und Gesetzgebung<br />

zuerst beeinflußt und dann über <strong>die</strong> eroberte Staatsmacht umgestaltet werden. Einstweilen gehe.<br />

es in gespanntem, aber nicht grundsätzlich antagonistischem Verhältnis zu den Gegebenheiten<br />

der kapitalistischen Gesellschaftsordnung weiter voran nach der Devise, daß das Endziel alleine<br />

nichts, <strong>die</strong> Bewegung dahin aber alles sei<br />

»Überall Aktion für Reform, Aktion für sozialen Fortschritt, Aktion er Erringung der Demokratie - man stu<strong>die</strong>rt <strong>die</strong><br />

Einzelheiten der Probleme des Tages und sucht nach Hebeln und Ansatzpunkten, um auf dem Boden <strong>die</strong>ser <strong>die</strong> Ent-<br />

wicklung der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus vorwärts zu treiben.« 27<br />

Diejenigen aber, <strong>die</strong> auf der Gültigkeit irgendeiner Form der <strong>Verelendungstheorie</strong> beharrten, ta-<br />

ten <strong>die</strong>s weniger aufgrund entsprechender empirischer Beobachtungen, sondern folgerten <strong>die</strong>s aus<br />

theoretischen Argumentationsketten: durch Reformen innerhalb des Kapitalismus oder Eroberung<br />

der Staatsmacht über Wahlerfolge als Volkspartei sei der Sozialismus nicht erreichbar. Dies wur-<br />

de als wichtigstes Argument vor gebracht und von <strong>die</strong>ser Seite aus als <strong>die</strong> bedeutendste theoreti-<br />

sche Frage in der gesamten Revisionismusdebatte hervorgehoben. Sobald <strong>die</strong> Reformpolitik <strong>die</strong><br />

Kapitalakkumulation beeinträchtige, werde sie ihrer ökonomischen Basis beraubt,<br />

26 Bernstein, Voraussetzungen, a.a.O., S. 196, in der Originalausgabe S. 231 f.<br />

27 Ebd. S. 198, im Original S. 233 f (Hervorh. W. W.). In seiner Schrift �Leitsätze für den Theoretischen Teil eines<br />

sozialdemokratischen Parteiprogramms (in: ein revisionistisches Sozialismusbild, a.a.O., als Anhang des dritten<br />

Vortrages, S. 42) schreibt Bernstein programmatisch zusammenfassend: »Revisionismus, ein Wort, das im Grunde<br />

nur für theoretische Fragen Sinn hat, heißt in's Politische übersetzt: Reformismus, Politik der systematischen Re-<br />

formarbeit im Gegensatz zur Politik, der eine revolutionäre Katastrophe als gewolltes oder für unvermeidlich erkann-<br />

tes Stadium der Bewegung vor Augen schwebt.«<br />

25


weil der Rückgang in den Kapitalinvestitionen, <strong>die</strong> Kapital flucht und <strong>die</strong> daraus resultierende<br />

Wirtschaftskrise, <strong>die</strong> Reformpartei vor <strong>die</strong> Alternative stelle, entweder durch ein revolutionäre<br />

Umwandlung der Gesellschaft dem Kapital <strong>die</strong> Entscheidung über <strong>die</strong> Wirtschaftsentwicklung<br />

aus der Hand zu nehmen oder aber durch gezielte Förderung des Verwertungsinteresses <strong>die</strong> Kapi-<br />

talakkumulation wieder anzukurbeln und so das für Reformen und Wahlerfolge günstige Wirt-<br />

schaftsklima wieder herzustellen. Der Verzicht auf den revolutionären Weg zum Sozialismus<br />

bedeute also den Verzicht auf den Sozialismus selbst und zwinge <strong>die</strong> Arbeiterbewegung zur Sta-<br />

bilisierung des Kapitalismus, um sich vom, >wachsenden Kuchen ein wachsendes Stück< holen<br />

zu können. Wenn der Sozialismus aber auf dem Wege der Reform nicht erreichbar sei, müsse er -<br />

so geht <strong>die</strong> Argumentationskette weiter - durch <strong>die</strong> revolutionäre Aktion des Proletariats erkämpft<br />

werden. Das massenhafte revolutionäre Eintreten des Proletariats für den Umsturz des Kapitalis-<br />

mus könne sich aber wieder nur entwickeln, wenn das Proletariat zunehmend unter dem Kapita-<br />

lismus leide und so in zunehmenden Widerspruch und Empörung gegen <strong>die</strong> herrschenden Ver-<br />

hältnisse gerate. Damit aber war <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> tatsächlich zu einem theoretischen<br />

Eckpfeiler der >antirevisionistischen Linken< geworden.<br />

Weil <strong>die</strong> Theorie über <strong>die</strong> Entstehung von Klassenbewußtsein und damit <strong>die</strong> Einschätzung der<br />

Möglichkeit von revolutionären Entwicklungen zum Sozialismus so eng an <strong>die</strong> Verelendungsthe-<br />

orie gebunden schien, mußten in der Folge ungeheure theoretische Anstrengungen unternommen<br />

werden, um je nach Wandel in der Entwicklung der Wirklichkeit des Kapitalismus <strong>die</strong> Punkte<br />

aufzuzeigen, <strong>die</strong> so niederdrückend auf das Proletariat wirkten, daß sie geeignet erschienen, <strong>die</strong><br />

erwartete revolutionäre Empörung zu erzeugen. Dabei entstanden, wie sich in den folgenden Tei-<br />

len <strong>die</strong>ses Kapitels noch zeigen wird, eine Vielfalt von Neukonstruktionen und Modifikationen<br />

der Theorie und scharfsinnige und eindrucksvolle, empirische Beweisführungen, aber auch<br />

plumpe Verdrehungen und Verfälschungen nach dem Motto: daß nicht sein kann, was nicht sein<br />

darf.<br />

Bevor wir aber <strong>die</strong>ser Entwicklung bis heute im einzelnen nachgehen, sollen hier <strong>die</strong> unterschied-<br />

lichen Vorstellungen, <strong>die</strong> prägend, für <strong>die</strong>se Entwicklung der Theorie waren, dargestellt werden,<br />

wie sie von den drei wichtigsten Gegnern Bernsteins in der Revisionismusdebatte vertreten wur-<br />

den, von Kautsky, Luxemburg und Lenin.<br />

Karl Kautsky bezog gegenüber den Revisionisten eine sehr differenzierte und bei aller Polemik<br />

ausgewogene Stellung. Er


unterschied nach Gegenden und Bereichen, <strong>die</strong> erst neu vom Kapitalismus erfaßt werden und wo<br />

<strong>die</strong> kapitalistische Produktionsweise »eine Masse physischen Elends schafft«, während dort, wo<br />

sie hoch entwickelt ist, das physische Elend »namentlich durch das Erstarken des Proletariats«<br />

zurückgedrängt werden könne. Das physische Elend werde dort durch eine »soziale Verelen-<br />

dung« abgelöst, »durch den Fortschritt der Arbeitstheilung und des Maschinenwesens, welche <strong>die</strong><br />

Arbeit monoton und widerwärtig machen, durch Ausdehnung der Frauenarbeit, vielfach durch<br />

Kinderarbeit, Verdrängung qualifizierter Arbeit, durch Vermehrung der Existenzunsicherheit,<br />

durch das Zurückbleiben der Erhöhung proletarischer Lebenshaltung hinter der gleichzeitigen<br />

Erhöhung bürgerlicher Lebenshaltung«.<br />

Dieses soziale Elend, das nicht bloß relative Verelendung bedeutet, sondern <strong>die</strong> gesamte Stellung<br />

im kapitalistischen Produktionsprozeß umfaßt, wächst nach der Interpretation Kautkys beständig -<br />

»nämlich der Gegensatz zwischen den Kulturbedürfnissen und den Mitteln des einzelnen Arbei-<br />

ters, ihnen zu genügen«. Dabei schloß er keineswegs aus, daß es einzelnen Gruppen von Arbei-<br />

tern gelingen könne, als einzelne dem sozialen Elend zeitweise zu entgehen. 28<br />

Während er <strong>die</strong> Zusammenbruchstheorie zurückwies - sie sei nie in der Sozialdemokratie oder im<br />

Marxismus vertreten worden 29 -, erkannte er das, was von Bernstein und anderen als Verelen-<br />

dungstheorie gekennzeichnet wurde, als Motor der Klassenauseinandersetzung voll an:<br />

»Die Frage der >Verelendung< ist, wie man sieht, keine einfache, sondern' eine sehr komplizierte. Das Elend nimmt<br />

<strong>die</strong> verschiedensten Formen an und jede <strong>die</strong>ser Formen hat ihre besonderen Bewegungen, aber sie alle enden in dem<br />

Resultat: Verschärfung der sozialen Gegensätze, Verschärfung des proletarischen Kampfes gegen das kapitalistische<br />

Joch.« 30<br />

»Ja, daß <strong>die</strong> proletarische Solidarität ein Ende nimmt, wenn politischer und ökonomischer Druck aufhört, das will ich<br />

nicht bestreiten; sie ist ja gerade ein Ergebnis <strong>die</strong>ses Druckes.« 31<br />

In <strong>die</strong>sem Punkt brachte Kautsky den kleinsten gemeinsamen Nenner der . antirevisionistischen<br />

Linken in der Arbeiterbewegung zum Ausdruck, eine Übereinstimmung, <strong>die</strong> bis heute nur wenige<br />

Ausnahmen kennt.<br />

Der Punkt, an dein Kautsky selbst über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinausging, lag in der<br />

Frage, welche Rolle <strong>die</strong> Partei des Proletariats in der historischen Entwicklung zum<br />

28 Alle Zitate aus: Bernstein, Voraussetzungen, a.a.O., S. 127 f.<br />

29 Ebd. S. 41 ff.<br />

30 Ebd.', S. 127.<br />

31 Ebd., S. 169.<br />

27


Sozialismus spielen könne und spielen solle. Im Gegensatz zu Rosa Luxemburg, Lenin und damit<br />

auch alle folgenden Theoretikern der späteren kommunistischen Parteien, sah er der Partei nur<br />

eine untergeordnete, unterstützende Rolle zugeteilt, während <strong>die</strong> epochalen Tendenzen der Klas-<br />

senauseinandersetzung und der sich entfaltenden Gesellschaftlichkeit von Produktivkraftentwick-<br />

lung eine beinahe mechanische Rolle spielen sollten. 32<br />

Für Rosa Luxemburg war, wie wir oben bereits dargestellt haben, <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> ganz<br />

selbstverständlich gültige Beschreibung der zukünftigen Entwicklung des Kapitalismus, so<br />

selbstverständlich, daß sie sich über <strong>die</strong>sen Punkt überhaupt nicht auf eine Diskussion einließ,<br />

sondern <strong>die</strong> Auseinandersetzung von der viel exponierteren Position der Verteidigung einer<br />

Zusammenbruchstheorie aus führte. Sie insistierte darauf, daß der ökonomische Zusammenbruch<br />

des Kapitalismus auf <strong>die</strong> Dauer gesehen unvermeidlich sein müßte, sobald sich der Kapitalismus<br />

zum Weltsystem entwickle und damit seine Möglichkeiten erschöpft habe, seine inhärente Über-<br />

produktion in neu erschlossenen, fremden Märkten abzusetzen. Diese These versuchte sie mit<br />

Hilfe der weitergeführten Reproduktionsschemata aus dem 2. Band des >Kapital< nachzuweisen,<br />

Die ganze Bemühung sollte aber nicht etwa zeigen, daß der Zusammenbruch des Kapitalismus<br />

automatisch erfolge, den das Proletariat und seine Partei daher in aller Ruhe abwarten könne,<br />

sondern sollte im Gegenteil <strong>die</strong> objektive, historische Notwendigkeit der revolutionären Erhe-<br />

bung des Proletariats vor dem Zeitpunkt der endgültigen Katastrophe demonstrieren. (Diese The-<br />

se wurde Ende der zwanziger Jahre wieder aufgenommen und führte zu einer hitzigen Debatte<br />

innerhalb der kommunistischen Parteigruppen, in deren Zentrum <strong>die</strong> Frage nach der Rolle der<br />

subjektiven, aktiven und spontanen Arbeiterbewegung stand.)<br />

Lenins Position zur <strong>Verelendungstheorie</strong> und Entwicklung des Klassenbewußtseins ist besonders<br />

wichtig, weil sie durch <strong>die</strong> siegreiche Oktoberrevolution innerhalb der kommunistischen Parteien<br />

besonderen Einfluß gewann und - zum Teil aus Gründen von innersowjetischen Parteistreitigkei-<br />

ten im Laufe der zwanziger Jahre - zum sakroskanten Dogma für <strong>die</strong> gesamte 3. Internationale<br />

erhoben wurde, zu dem sich auch heute kaum jemand kritisch äußern darf, will er innerhalb<br />

32 Ebd., S. 194. Diese Haltung kommt bei ihm allerdings in späteren Schriften, in denen er gegen <strong>die</strong> bolschewisti-<br />

sche Oktoberrevolution argumentiert, erst völlig heraus. Darauf näher einzugehen, wäre hier aber eine Abschwei-<br />

fung.<br />

28


der offiziellen kommunistischen Bewegung nicht an Einfluß verlieren. 33<br />

Die Äußerungen Lenins zur <strong>Verelendungstheorie</strong> scheinen zuerst einmal im Widerspruch zu ste-<br />

hen zu der Position, <strong>die</strong> er im Streit mit Rosa Luxemburg um <strong>die</strong> Entstehung von Klassenbewußt-<br />

sein bezogen hatte: in seiner Rezension über das Buch von K. Kautsky unterstützte er <strong>die</strong> Inter-<br />

pretation der <strong>Verelendungstheorie</strong> mit ihrer engen, beinahe automatischen Verknüpfung von Ver-<br />

elendung und der Entstehung von Klassenbewußtsein und revolutionärer Empörung. 34 Und in der<br />

Schrift )Entwurf eines Programms unserer Partei( von 1902 wurde <strong>die</strong> entsprechende Passage des<br />

Erfurter Programms nicht nur verteidigt, sondern als besonders wichtiger Punkt für das russische<br />

Programm mit folgender Begründung vorgeschlagen:<br />

„In letzter Zeit sind <strong>die</strong> Kritiker, <strong>die</strong> sich um Bernstein gruppieren, gerade über <strong>die</strong>sen Punkt besonders heftig herge-<br />

fallen, wobei sie <strong>die</strong> alten Einwände der bürgerlichen Liberalen und Sozialpolitiker gegen <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong>~<br />

wiederholen. Unserer Meinung nach hat <strong>die</strong> Polemik, <strong>die</strong> aus <strong>die</strong>sem Anlaß geführt wurde, <strong>die</strong> völlige Unhaltbarkeit<br />

einer derartigen >Kritik< vollauf bewiesen.«<br />

Lenin wies erneut <strong>die</strong> Bernsteinschen Widerlegungsversuche der <strong>Verelendungstheorie</strong> zurück und<br />

referierte zustimmend <strong>die</strong> Interpretation durch Kautsky vom Wachstum des sozialen Elends in<br />

den kapitalistisch entwickelten Ländern und dem des physischen Elends in den Randgebieten des<br />

Kapitalismus. Demnach, so folgerte er, sei Rußland »in einem zehnfach höheren Maße« als ande-<br />

re europäische Länder vom Wachstum des sozialen und des physischen Elends betroffen.<br />

»Also müssen unserer Meinung nach <strong>die</strong> Worte von der > wachsenden Masse des Elends, des Drucks, der Knech-<br />

tung, der Degradation, der Ausbeutung< unbedingt in das Programm aufgenommen werden - erstens, weil sie <strong>die</strong><br />

grundlegenden und wesentlichen Eigenschaften des Kapitalismus absolut richtig charakterisieren, weil sie gerade den<br />

Prozeß charakterisieren, der sich vor unseren Augen vollzieht und der eine der Hauptbedingungen ist, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Arbei-<br />

terbewegung und den Sozialismus in Rußland hervorbringen; zweitens, weil <strong>die</strong>se Worte ein riesiges Material für <strong>die</strong><br />

Agitation liefern, da sie eine ganze Reihe von Erscheinungen resümieren, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Arbeitermassen am meisten bedrü-<br />

cken, aber auch am meisten empören [ ... ]; drittens, weil wir uns durch <strong>die</strong>se genaue Kennzeichnung der verderbli-<br />

chen Auswirkungen des Kapitalismus und der Notwendigkeit, der Unvermeidlichkeit der Empörung der Arbeiter von<br />

den halbschlächtigen Elementen abgrenzen, <strong>die</strong> mit dem Proletariat >sympathisieren und >Reformen< zu seinen<br />

Gunsten verlangen und zugleich be-<br />

33 Vgl. Isaac Deutschers biographische Darstellungen der russischen Revolution und der späteren Entwicklung unter<br />

Stalin: Stalin - Die Geschichte des modernen Rußland, Stuttgart 1951; Trotzki; 3 Bde. insbes. Bd. II: Der unbewaff-<br />

nete Prophet 1921-1929, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1972 2 , S. 156 ff.<br />

34 Rezension über: Karl Kautsky; Bernstein und das sozialdemokratische Programm - Eine Antikritik, Ende 1899, in:<br />

Lenin, Werke, Bd. 4, S. 195 f.<br />

29


strebt sind, �<strong>die</strong> goldene Mitte� zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zwischen der autokratischen Regierung und<br />

den Revolutionären einzunehmen.« 35<br />

So wurde denn auch ins Parteiprogramm eine regelrecht Kautskyanische Formulierung über-<br />

nommen, <strong>die</strong> Lenin auch wieder in den >Materialien zur Revision des Parteiprogramms< (von<br />

1917) unverändert stehen ließ. 36<br />

Die Widersprüchlichkeit in den Anschauungen Lenins über <strong>die</strong> Entstehung von Klassenbewußt-<br />

sein können durchaus als unterschiedliche Bestimmungen unvereint nebeneinander stehen, denn<br />

es handelte sich bei den Schriften Lenins nicht um den Versuch, eine konsistente Theorie zu bil-<br />

den, sondern sie waren meist durch aktuelle Auseinandersetzungen und taktische Rücksichtnah-<br />

men bestimmt. Es ist jedoch auch möglich, beide Anschauungen, das spontane Wachsen von<br />

Klassenbewußtsein aus der Verelendungserfahrung und <strong>die</strong> aktive Rolle der Partei dabei, als zu-<br />

sammengehörig zu interpretieren, wenn man sie mit der These von der Arbeiteraristokratie in<br />

>Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus< (1916) und noch deutlicher in >Der<br />

Imperialismus und <strong>die</strong> Spaltung des Sozialismus< (ebenfalls 1916) zusammenbringt. 37<br />

Diese - höchst problematische - theoretische Konstruktion sollte <strong>die</strong> starken revisionistischen<br />

Strömungen in den Arbeiterparteien und <strong>die</strong> aller bisherigen Theorie und Agitation hohnspre-<br />

chende Unterstützung des eindeutig imperialistischen Ersten Weltkrieges durch <strong>die</strong> Arbeiterpar-<br />

teien aller europäischen Länder (und nicht nur durch <strong>die</strong> Führung <strong>die</strong>ser Parteien!) erklären. Sie<br />

besagt, daß aus den monopolistischen Extraprofiten als Frucht des Imperialismus eine kleine<br />

Gruppe 'von Arbeitern in den imperialistischen Ländern bestochen werde. Es bleibt dabei völlig<br />

unklar, wie und an wen <strong>die</strong> Extraprofite übertragen werden: an <strong>die</strong> »Oberschicht der Arbeiter« (S.<br />

747) oder einen »Teil der Kleinbourgeoisie und gewisser Schichten der Arbeiterklasse« (S. 789)<br />

oder an »<strong>die</strong> Arbeiterführer und <strong>die</strong> Oberschicht der Arbeiteraristokratie« (S. 652) oder an <strong>die</strong><br />

gesamte Arbeiterschaft der imperialistischen Länder (S. 786 und 794) bzw. eines kleinen Teils (S.<br />

796):<br />

35 Lenin, Werke, Bd. 6, S. 228 f.<br />

36 »Aber in dem Maße, wie alle <strong>die</strong>se, der bürgerlichen Gesellschaft eigenen Widersprüche wachsen und sich entwi-<br />

ckeln, wächst -auch <strong>die</strong> Unzufriedenheit der werktätigen und ausgebeuteten Masse mit den bestehenden Zuständen,<br />

und verschärft sich ihr Kampf gegen ihre Ausbeuter.« Lenin, Werke, Bd. 24, S. 469.<br />

37 Der Imperialismus als höchstes Stadium ... ist abgedruckt in: Werke, Bd. 22 , S. 189-309;*Der Imperialismus und<br />

<strong>die</strong> Spaltung. . ., in: Werke, Bd, 23, S. 102-108. ich zitiere hier nach Band II von: W. I. Lenin, Ausgewählte Werke<br />

in sechs Bänden, Frankfurt 1970, S. 643-770 und S. 784 bis 801. Seitenangaben im Text beziehen sich auf <strong>die</strong>se<br />

Ausgabe.<br />

30


„Die Bourgeoisie einer imperialistischen Großmacht ist ökonomisch in der Lage, <strong>die</strong> oberen Schichten >ihren Arbei-<br />

ter zu bestechen und dafür ein - oder zweihundert Millionen Francs im Jahr auszuwerfen; denn ihr Extraprofit beträgt<br />

wahrscheinlich rund eine Milliarde. Und <strong>die</strong> Frage, wie <strong>die</strong>ses kleine Almosen verteilt wird unter <strong>die</strong> Arbeiterminis-<br />

ter, <strong>die</strong> >Arbeitervertreter< [ ... ], <strong>die</strong> Arbeitermitglieder der Kriegsindustriekomitees, <strong>die</strong> Arbeiterbürokraten, <strong>die</strong><br />

Arbeiter, <strong>die</strong> in eng zünftlerischen Gewerkschaften organisiert sind, <strong>die</strong> Angestellten usw. usw. -das ist schon eine<br />

Frage zweiter Ordnung« (S. 795).<br />

Wie auch immer <strong>die</strong>s geschieht, führe das bei den Bestochenen dazu, daß sie »Sozialimperialis-<br />

ten« werden, »D. h. Sozialisten in Worten, Imperialisten in der Tat ... « (S. 750), »Kettenhunde<br />

des Kapitalismus« und »Verderber der Arbeiterbewegung« (S. 789).<br />

»Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der >Arbeiteraristokratie


chenen >Arbeiteraristokraten< behindert, <strong>die</strong> hier als >Führer< auftreten und eine ganz analoge -<br />

nur eben in entgegengesetzte Richtung wirkende - Funktion haben wie <strong>die</strong> Partei Leninschen<br />

Typs: Sie verführen <strong>die</strong> Massen durch »ein weitverzweigtes, systematisch angewandtes, solide<br />

ausgerüstetes System von Schmeichelei, Lüge, Gaunerei, das mit populären Modeschlagworten<br />

jongliert, den Arbeitern alles mögliche, beliebige Reformen und beliebige Wohltaten verspricht -<br />

wenn <strong>die</strong>se nur auf den revolutionären Kampf für den Sturz der Bourgeoisie verzichten« (S. 797).<br />

In <strong>die</strong>ser Situation ist es dann Aufgabe der revolutionären Avantgarde, der Partei des Proletariats,<br />

den Betrug zu »enthüllen« (S. 800), <strong>die</strong> Arbeiteraristokraten zu entlarven, indem sie «tiefer, zu<br />

den untersten, zu den wirklichen Massen« gehen (S. 800). Diesen unbestochenen Massen, <strong>die</strong><br />

voll der verelendenden Wirkung des Kapitalismus unterliegen (denn <strong>die</strong>ses >tiefer< und >unters-<br />

te< ist nur als Richtungsangabe im Sinne einer ökonomischen Schichtung verständlich), braucht<br />

man nur ihre Illusionen über ihre wirkliche Lage zu nehmen, dann kommt <strong>die</strong> Bewußtseins-<br />

bildende Kraft der Verelendung voll zum Tragen. Dadurch »lehren wir <strong>die</strong> Massen, ihre wirkli-<br />

chen politischen Interessen zu erkennen und durch all <strong>die</strong> langen und qualvollen Wechselfälle der<br />

imperialistischen Kriege und der imperialistischen Waffenstillstände hindurch für den Sozialis-<br />

mus und <strong>die</strong> Revolution zu kämpfen« (S. 800). Es sind also zwei Eliten, <strong>die</strong> darum kämpfen,<br />

»welcher Teil des Proletariats« ihnen »folgt und folgen wird« (S. 800). Die »Opportunisten und<br />

Sozialchauvinisten« mit der Tendenz, dem Proletariat <strong>die</strong> Erkenntnis seiner wahren Lage und<br />

seiner wahren Interessen durch >SozialdemagogieAlmosenLügenIllusionen< etc. zu<br />

>verschleiern


walder Vereinigung auf, <strong>die</strong> alle Gegner der Kriegspolitik in den sozialdemokratischen Parteien<br />

zusammengefaßt hatte, und organisierte sie zu einer neuen, dritten Internationale gegen <strong>die</strong> alte<br />

sozialdemokratische, zweite Internationale. Die Trennungslinien verliefen personell und inhalt-<br />

lich ziemlich genau wie 20 Jahre vorher im Revisionismusstreit. So steht denn auch gleich am<br />

Anfang des auf dem Kongreß verabschiedeten >Manifest an das Proletariat der ganzen Welt, das<br />

an das Kommunistische Manifest anknüpfen und »<strong>die</strong> revolutionäre Erfahrung der Arbeiterklasse<br />

zusammenfassen« will, als erstes theoretisches Fazit der Erfahrungen des Weltkrieges:<br />

»Die Widersprüche der kapitalistischen Ordnung sind durch den Krieg für <strong>die</strong> Menschheit zu<br />

tierischen Qualen des Hungers und der Kälte, zu Epidemien, moralischer Verwilderung gewor-<br />

den. Dadurch ist auch der akademische Streit im Sozialismus über <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> und<br />

über das Aushöhlen des Kapitalismus durch den Sozialismus endgültig entschieden. Statistiker<br />

und Pedanten der Theorie der Ausgleichung der Widersprüche haben sich im Laufe von Jahr-<br />

zehnten bemüht, aus allen Weltenden wirkliche und scheinbare Tatsachen heranzuzerren, welche<br />

von der Vergrößerung des Wohlstandes verschiedener Gruppen und Kategorien der Arbeiterklas-<br />

se zeugten. Man nahm an, <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> sei unter dem verächtlichen Gepfiff der Eu-<br />

nuchen der bürgerlichen Katheder und der Bonzen des sozialistischen Opportunismus zu Grabe<br />

getragen. Heute steht <strong>die</strong> Verelendung vor uns, nicht nur <strong>die</strong> soziale, sondern <strong>die</strong> physiologische,<br />

<strong>die</strong> biologische in ihrer ganzen erschütternden Wirklichkeit.« 38<br />

Der offen triumphierende Ton in der Feststellung, daß Elend und Krise nun doch, wie vorausge-<br />

sagt, wahr geworden sind, wird ein wenig verständlicher, wenn man sich klar macht, daß sich <strong>die</strong><br />

Mitglieder der neuen Kommunistischen Internationale den Aufschwung der revolutionären Be-<br />

wegungen in ganz Europa im Gefolge des Weltkrieges nur im Zusammenhang mit <strong>die</strong>ser Ver-<br />

elendung erklären konnten. Die Arbeiter hatten dem Krieg zuerst zugestimmt, weil sie angeblich<br />

durch <strong>die</strong> imperialistischen Extraprofite zum Teil korrumpiert und insgesamt durch <strong>die</strong> korrum-<br />

pierten Teile verführt worden waren. Den Umschwung erklärte sich derselbe Gründungskongreß<br />

in den ebenfalls von ihm verabschiedeten >Richtlinien der Kommunistischen Internationale<<br />

ganz entsprechend der <strong>Verelendungstheorie</strong> so:<br />

»Aber <strong>die</strong>selbe Methode der permanenten Korrumpierung, mit der der Patriotismus der Arbeiterklasse und ihre geistige<br />

Unterwerfung geschaffen wurde, hatte sich durch den Krieg in ihr Gegenteil verwandelt. Physische Vernichtung,<br />

vollständige Versklavung des Proletariats, ungeheurer Druck, Verelendung und Entartung, der Welthunger - das war<br />

der letzte Lohn für den Burgfrieden. Er brach zusammen. Der imperialistische Krieg verwandelte sich in den Bürgerkrieg.«<br />

39<br />

38 Der I. und II. Kongreß der Kommunistischen Internationale - Dokumente der Kongresse und Reden W. 1. Lenins,<br />

hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin (DDR) 1959, S.84.<br />

39 Ebd., S. 74.<br />

33


Den gleichen Schluß hatte bereits vorher <strong>die</strong> Kommunistische Partei Deutschlands in ihrem ersten<br />

Programm auf dem Gründungsparteitag an der Wende des Jahres 1918 gezogen:<br />

»Sozialismus ist in <strong>die</strong>ser Stunde der einzige Rettungsanker der Menschheit ... Ober den zusammensinkenden Mau-<br />

ern der kapitalistischen Gesellschaft lodern wie ein feuriges Menetekel <strong>die</strong> Worte des >Kommunistischen Mani-<br />

festsMarxismus-Leninismus<<br />

ersetzt wurde, der sich pikanterweise bald selbst als >Ideologie< bezeichnete.<br />

Damit wurde eine Entwicklung fortgesetzt und verstärkt, <strong>die</strong> bereits mit Engels' >Anti-Dühring<<br />

und der weiteren Popularisierung in der Schrift >Die Entwicklung des Sozialismus von der Uto-<br />

pie zur Wissenschaft< begonnen hatte. 41<br />

Einen wichtigen Markierungspunkt für <strong>die</strong>se Entwicklung setzte Bucharin, damals schon Ver-<br />

bündeter Stalins gegen Trotzki im Politbüro, mit seiner Schrift von 1922 >Theorie des histori-<br />

schen MaterialismusÜber dialektischen und his-<br />

torischen MaterialismusKapital�, in: 3.<br />

Band des >Kapital


sich aber <strong>die</strong>se psychologische und ideologische Revolution? Sie vollzieht sich dann, wenn <strong>die</strong> objektive Entwick-<br />

lung <strong>die</strong> unterdrückte Klasse in eine >unerträgliche Lage< versetzt, wenn <strong>die</strong>se Klasse klar sieht und fühlt, daß unter<br />

der betreffenden Ordnung keine Verbesserung möglich ist, kein >Ausweg< da ist, daß >es nicht so weiter geht


nach Leitfossilien in Phasen und Perioden einteilte: In dem damals beschlossenen >Programm<br />

der Kommunistischen Internationale< wird zuerst unter der Überschrift >Das Weltsystem des<br />

Kapitalismus, seine Entwicklung und sein notwendiger Untergang< eine >Epoche des Industrie-<br />

kapitals< und eine >Epoche des Finanzkapitals (der Imperialismus)< unterschieden. Letztere<br />

wird näher gekennzeichnet als: »der verwesende, sterbende Kapitalismus. « 45<br />

In der ebenfalls vom 6. Weltkongreß 1928 beschlossenen Resolution über >Die internationale<br />

Lage und <strong>die</strong> Aufgaben der Kommunistischen Internationale< wird <strong>die</strong> »allgemeine Krise des<br />

kapitalistischen Systems« in drei Perioden aufgeteilt: 1. <strong>die</strong> revolutionären Kämpfe direkt nach<br />

dem Ersten Weltkrieg; 2. <strong>die</strong> Periode der »nach und nach sich herausbildenden teilweisen Stabili-<br />

sierung des kapitalistischen Systems«;<br />

3. »Schließlich <strong>die</strong> dritte Periode, in der <strong>die</strong> Wirtschaft des Kapitalismus und fast gleichzeitig auch <strong>die</strong> Wirtschaft<br />

der Sowjetunion das Vorkriegsniveau überschreiten [ ... ] Für <strong>die</strong> kapitalistische Welt ist <strong>die</strong>s eine Periode rascher<br />

Entwicklung der Technik, der gesteigerten Entwicklung der Kartelle, Trusts und der Tendenzen zum Staatskapita-<br />

lismus.«<br />

»Diese Periode, in der sich <strong>die</strong> internationalen Gegensätze verschärfen, in der sich <strong>die</strong> inneren Widersprüche in den<br />

kapitalistischen Ländern zuspitzen (der Prozeß der Linksentwicklung der Arbeitermassen, <strong>die</strong> Verschärfung des<br />

Klassenkampfes), [ ... ] führt unvermeidlich über eine weitere Entwicklung der Widersprüche der kapitalistischen<br />

Stabilisierung zur erneuten Erschütterung der kapitalistischen Stabilisierung und zur äußersten Verschärfung der<br />

allgemeinen Krise des Kapitalismus.« 46<br />

Die Stabilisierung des Kapitalismus, <strong>die</strong> einen Anhänger der <strong>Verelendungstheorie</strong> eigentlich hätte<br />

unsicher machen müssen in seiner Beurteilung der Entwicklung von Klassenbewußtsein und<br />

Klassenkämpfen, wurde für <strong>die</strong> Kommunistische Internationale zur Phase oder Periode in der<br />

>allgemeinen KriseStabilisierungsperiode< in<br />

eine Periode gewaltiger Katastrophen« 47 .<br />

Besonders wichtig ist für den Zusammenhang unserer gesamten Untersuchung, wie sich <strong>die</strong><br />

Kommunistische Internationale <strong>die</strong> technische Entwicklung und Rationalisierung in ihrer Wir-<br />

kung auf <strong>die</strong> Arbeiterklasse während der �Stabilisierung� vorstellte, denn hier formulierte sie das<br />

Vorbild für eine Unzahl späterer Artikel und Untersuchungen von offizieller kommunistischer<br />

Seite. Hier wurde als Resultat des<br />

45 Protokoll des 6. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale -Moskau, 17. Juli - 1. September 1928; Vier-<br />

ter Band, Thesen, Resolutionen, Programm, Statuten, Hamburg-Berlin 1929 - als Feltrinelli Reprint, Mailand 1967,<br />

S. 54.<br />

46 Ebd., S. 16.<br />

47 Ebd., S. 16.<br />

36


»bedeutenden Aufschwungs« in der Steigerung der Produktivkräfte im Kapitalismus durch neue<br />

Verfahren und neue Formen der Organisation der Arbeit (Fließband) auf allgemeinökonomischer<br />

Ebene eine Zunahme der Bedeutung des Weltmarktes und damit auch der Weltmarktkonkurrenz<br />

mit ihrer Gefahr der imperialistischen Kriege konstatiert. Innerhalb der kapitalistischen Nationen<br />

führe <strong>die</strong> Entwicklung der Technik zu immer weiterer Ausdehnung der »kapitalistischen Mono-<br />

pole«.<br />

»Gleichzeitig macht sich auch ein Anwachsen der staatskapitalistischen Tendenzen bemerkbar, sowohl in der Form<br />

des Staatskapitalismus im ursprünglichen Sinne <strong>die</strong>ses Wortes (staatliche Elektrizitätswerke, kommunale Industrie-<br />

und Transportunternehmungen) als auch in der Form des immer stärkeren Verwachsens der Unternehmerorganisati-<br />

onen mit den Organen der Staatsgewalt.« 48<br />

Die Wirkung der technischen Entwicklung und Rationalisierung auf <strong>die</strong> Arbeiterklasse wurde vor<br />

allen Dingen in der Freisetzung von Arbeitskräften und der Ersetzung von qualifizierten Arbeits-<br />

kräften durch unqualifizierte gesehen. Damit ist <strong>die</strong> industrielle Reservearmee als das zentrale<br />

Element der <strong>Verelendungstheorie</strong>, wie sie aus den bekannten Stellen im >Kapital< hergeleitet<br />

wird, auch auf <strong>die</strong> Phase der technischen Entwicklung während der >allgemeinen Krise< übertra-<br />

gen worden.<br />

Darüber hinaus hob <strong>die</strong> Kommunistische Internationale aber ein Element in der Analyse des<br />

technischen Fortschritts besonders akzentuiert hervor:<br />

»Sogar in solchen Ländern, wo <strong>die</strong>ser technische Fortschritt festzustellen ist, Ist <strong>die</strong> Rationalisierung, <strong>die</strong> zu einer<br />

ungeheuren Vergrößerung der Produktivkräfte führt, mit der größten Intensivierung der Arbeit, der mörderischen<br />

Steigerung des Arbeitstempos, dem schlimmsten Raubbau an der lebendigen Arbeitskraft verbunden.« 49<br />

Zum erstenmal treffen wir hier <strong>die</strong> Veränderungen im Produktionsprozeß selbst als ein zentrales<br />

Element in der nach Marxschen <strong>Verelendungstheorie</strong>, während doch vorher vor allem <strong>die</strong> Ver-<br />

schlechterung der Lage der Arbeiter außerhalb des Produktionsprozesses durch Arbeitslosigkeit,<br />

Dequalifizierung und niedrigen Lohn im Vordergrund stand. Die Akzentverschiebung muß als<br />

ein Ergebnis der Erfahrungen mit der Rationalisierung Ende der zwanziger Jahre angesehen wer-<br />

den und ist von da an in allen Analysen zur Lage der Arbeiterklasse im Kapitalismus <strong>die</strong> zentrale<br />

Argumentationslinie, wenn in Richtung auf <strong>Verelendungstheorie</strong> argumentiert wird.<br />

Am deutlichsten und klarsten läßt sich <strong>die</strong>ser neue Argumen-<br />

48 Zit. ebd., S. 14,15.<br />

49 Ebd., S. 16.<br />

37


tationszusammenhang an der Schrift von F. David, >Der Bankrott des Reformismuseiserne Bestandteil< aus dem >Ideenschatz< läßt sich trotz der Reallohnsteigerungen<br />

aufrechterhalten, weil laut David <strong>die</strong> Intensität der Arbeit im gleichen Zeitraum um ein Vielfa-<br />

ches der Reallohnsteigerungen zugenommen hat und deshalb der vielfach erhöhte Energiebedarf<br />

zur normalen Reproduktion der Arbeitskraft nicht einmal annähernd durch <strong>die</strong> mit den höheren<br />

Löhnen zugänglichen, zusätzlichen Waren ausgeglichen werden kann (S. 40 ff).<br />

Der Zusammenhang von Verelendung und Bewußtseinsentwicklung -um den es uns hier vor al-<br />

lem geht - ist für David schon allemal entschieden: stimmt <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong>, so bleibt für<br />

<strong>die</strong> Arbeiterbewegung nur noch der revolutionäre Weg; der Nachweis der Richtigkeit oder<br />

Falschheit der Verelendung entscheidet also über »<strong>die</strong> Einschätzung der Aufstiegsmöglichkeiten<br />

des Proletariats im Kapitalismus und <strong>die</strong> daraus resultierende Wertung der Sozialreform« (S.<br />

18). Er folgert daher ganz klar in den wahrscheinlich später geschriebenen letzten Kapiteln als<br />

Fazit der offenen Krise:<br />

»Die gegenwärtige Krise zerstört, trotz aller Bemühungen der Bourgeoisie, das sozialökonomische Fundament des<br />

Reformismus. Der Keil, den das Monopolkapital in <strong>die</strong> Arbeiterklasse geschlagen hat in Form der Schaffung einer<br />

obersten Schicht der Arbeiterklasse, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Agentur des Ka-<br />

50 F. David, Der Bankrott des Reformismus. Wandlungen in der Theorie und in der Politik der deutschen Gewerk-<br />

schaften vom Verzicht auf <strong>die</strong> soziale Revolution zur Preisgabe des Lohnkampfes, Berlin 1932, Pofitladen-Reprint<br />

Nr. 4, Erlangen 1970. Die Seitenangaben im folgenden Text verweisen auf <strong>die</strong>se Ausgabe.<br />

38


pitals in den Reihen der Arbeiter sein sollte, verliert immer mehr seine Wirkung. Es reifen <strong>die</strong> Voraussetzungen für<br />

<strong>die</strong> Überwindung des Reformismus und <strong>die</strong> Sammlung der Mehrheit der Arbeiterklasse unter den Fahnen des revolu-<br />

tionären Marxismus« (S. 244).<br />

Die Theoretiker der Kommunistischen Internationale waren sich also einig über <strong>die</strong> Richtigkeit<br />

und den zentralen Stellenwert der <strong>Verelendungstheorie</strong> und damit auch über <strong>die</strong> Einschätzung,<br />

daß der Kapitalismus kurz vor seinem katastrophalen Ende stünde.<br />

Weltwirtschaftskrise und Sozialfaschismustheorie.<br />

Als nun <strong>die</strong> vorhergesagte große Wirtschaftskrise tatsächlich eintrat, mußte <strong>die</strong> kommunistische<br />

Partei erwarten, daß sich nun ganz entsprechend der <strong>Verelendungstheorie</strong> <strong>die</strong> proletarischen Mas-<br />

sen und <strong>die</strong> von der Proletarisierung bedrohten anderen Schichten, also alle von der Verelendung<br />

Betroffenen der kommunistischen Agitation erschließen würden und sich unter Führung der<br />

kommunistischen Parteien an den revolutionären Kämpfen zum Sturz des Kapitalismus wenn<br />

nicht aktiv beteiligen, so doch mit ihnen bei den Wahlen sympathisieren müßten. In Deutschland<br />

erfuhr <strong>die</strong> kommunistische Bewegung auch tatsächlich, sowohl was <strong>die</strong> Wählerstimmen angeht<br />

wie auch in der Parteimitgliedschaft und der Beteiligung an den Tageskämpfen, einen ganz er-<br />

heblichen Aufschwung (ganz im Gegensatz zur französischen KP zur gleichen Zeit). 51 Aber<br />

trotzdem blieb <strong>die</strong> Mehrheit der Arbeiter der Sozialdemokratischen Partei treu, obwohl <strong>die</strong>se<br />

nicht mit klassenkämpferischen Aktionen auf <strong>die</strong> Krise antwortete, sondern im Gegenteil eine<br />

Politik der Krisenbewältigung auf Kosten der Arbeiter durch ihre Politik der Duldung von Defla-<br />

tion, Notstandsmaßnahmen und Abbau der Sozialleistungen unterstützte und zugleich mit einer<br />

völlig verfehlten Taktik versuchte, <strong>die</strong> bürgerliche Demokratie angesichts des drohenden Fa-<br />

schismus zu retten, indem sie mit gerade denjenigen bürgerlichen Parteien ein Bündnis einging,<br />

<strong>die</strong> sich zu <strong>die</strong>ser Zeit selbst bereits am Faschismus orientierten.<br />

Die <strong>Verelendungstheorie</strong> ließ jedoch erwarten, daß alle - auf jeden Fall aber <strong>die</strong> große Mehrheit<br />

der Proletarier - sich der revolutionären Partei anschließen würden: <strong>die</strong> Tatsachen standen also in<br />

eklatantem Widerspruch zur Theorie. Anstatt nun aber <strong>die</strong> Theorie vom unvermeidlichen revolu-<br />

tionären<br />

51 Die Wahlstimmen für <strong>die</strong> CPF sanken von 1928 bis 1932 von 1067 000 auf 790 000; gleichzeitig gingen <strong>die</strong> Mit-<br />

gliedschaft und <strong>die</strong> Leserzahlen der Parteizeitungen noch stärker zurück. Vgl. The Communist International<br />

1919-1943 - Documents; selected and edited by Jane Degras, Volume III 1929-1943, Oxford University Press, Lon-<br />

don, New York, Toronto 1965, S. 217 f.<br />

39


Bewußtsein als Folge der Verelendung kritisch zu überprüfen, wurde ganz wie in der Leninschen<br />

Arbeiteraristokratietheorie ein intervenierender Faktor für das >ungenügend entwickelte< Be-<br />

wußtsein der proletarischen Massen verantwortlich gemacht: eigentlich würde sich unter den Be-<br />

dingungen der wirtschaftlichen und politischen Krise das Bewußtsein der Massen ganz entspre-<br />

chend der <strong>Verelendungstheorie</strong> zum revolutionären Klassenkampf entwickeln müssen, wenn<br />

nicht <strong>die</strong> sozialdemokratische Zweite Internationale und insbesondere <strong>die</strong> SPD-Führung <strong>die</strong> Mas-<br />

sen über ihre >wahre< Lage, ihre >wahren� Interessen »täuschen und in <strong>die</strong> Irre führen«, das<br />

Proletariat »spalten, unterdrücken, verraten und verwirren« würde. 52<br />

Das Verhalten der SPD gegenüber den revolutionären Kämpfen im Anfang der zwanziger Jahre<br />

und während der Mai - Demonstrationen im Mai 1929, <strong>die</strong> Duldungspolitik gegenüber dem Ab-<br />

bau der sozialen Errungenschaften und das gleichzeitige Auftreten als Arbeiterpartei mit Streik-<br />

forderungen und »pseudo-revolutionärer Demagogie« 53 schienen als Erfahrungsbasis <strong>die</strong>ser In-<br />

terpretation auch voll recht zu geben: das Hauptziel mußte demnach sein, <strong>die</strong> Massen dem roß-<br />

täuscherischen Einfluß der Sozialdemokratie zu entziehen, damit sie ihre >wirkliche< Lage und<br />

ihre >wirklichen< Interessen erkennen könnten. Das 11. Plenum des Exekutivkomitees der<br />

Kommunistischen Internationale (ECCI) schloß seine Thesen >Über <strong>die</strong> Aufgaben der Sektionen<br />

der Kommunistischen Internationale im Zusammenhang mit der Vertiefung der Wirtschaftskrise<br />

und der Steigerung der Voraussetzungen der revolutionären Krise in einer Reihe von Ländern<<br />

vom April 1931 denn auch mit der Schlußfolgerung ab:<br />

»Daher ist <strong>die</strong> Entlarvung der Sozialdemokratie und der Il. Internationale, <strong>die</strong> Befreiung der Ar-<br />

beitermassen vom Einfluß der Sozialdemokratie, Isolierung und Überwindung der Sozialdemo-<br />

kratie <strong>die</strong> nächste und dringendste Aufgabe der kommunistischen Parteien, ohne deren Lösung<br />

ein erfolgreicher Kampf des Proletariats um seine Befreiung aus dem kapitalistischen Joch un-<br />

möglich ist.« 54<br />

Würde es gelingen, <strong>die</strong> Sozialdemokratie zu >entlarven< und <strong>die</strong> Führung von der Masse der<br />

Arbeiter zu trennen, dann wäre damit der intervenierende Faktor, der <strong>die</strong> bewußtseinsbildende<br />

Kraft der Verelendung in ihrer vollen Wirksam-<br />

52 Vgl. hierzu und zu dem gesamten Sozialfaschismuskomplex Niels Kadritzke, Reformismus als Sozialfaschismus.<br />

Zur politischen Verwertung der Geschichte der Arbeiterbewegung durch von Plato: KPD und Komintern - Sozial-<br />

demokratie und Trotzkismus, in: Probleme des Klassenkampfes. Zeitschrift für politische Ökonomie und sozialisti-<br />

sche Politik;<br />

Heft 11/12, 4. lg. Nr. 1/1974.<br />

53 So Varga 1931 nach ebd., S. 152.<br />

54 Internationale Presse-Korrespondenz, XI, Nr. 38, 24. April 1931, S. 951<br />

40


keit behinderte, ausgeschaltet und ein revolutionärer Aufschwung ohnegleichen müßte eintreten.<br />

So kam denn auch <strong>die</strong> Kommunistische Internationale noch im April 1933, also nach der Macht-<br />

ergreifung durch <strong>die</strong> NSDAP, zu einer von der <strong>Verelendungstheorie</strong> her gesehen ganz folgerich-<br />

tigen Einschätzung, <strong>die</strong> aber von der wirklichen Entwicklung der Verhältnisse im damaligen<br />

Deutschland kaum weiter entfernt hätten sein können:<br />

»Die augenblickliche Stille nach dem Siege des Faschismus ist nur eine vorübergehende Erschei-<br />

nung. (Der Rest des Absatzes ist im original hervorgehoben, W. W.) Der revolutionäre Auf-<br />

schwung in Deutschland wird trotz des faschistischen Terrors unvermeidlich ansteigen. Die Ab-<br />

wehr der Massen gegen den Faschismus wird zwangsläufig zunehmen. Die Errichtung der offe-<br />

nen faschistischen Diktatur, <strong>die</strong> alle demokratischen Illusionen in den Massen zunichte macht<br />

und <strong>die</strong> Massen aus dem Einfluß der Sozialdemokratie befreit, beschleunigt das Tempo der Ent-<br />

wicklung Deutschlands zur proletarischen Revolution.« 55<br />

Diese skandalöse Blindheit gegen <strong>die</strong> wirklichen Verhältnisse, in der Hitler zum Helfershelfer der<br />

Revolution dadurch wird, daß er <strong>die</strong> sozialdemokratische Führung zerschlägt, <strong>die</strong>se Ungeheuer-<br />

lichkeit wurde zwar durch das unbefragbare Dogma der <strong>Verelendungstheorie</strong> mit möglich ge-<br />

macht, denn es ließ <strong>die</strong> Sozialdemokratie als Hauptgegner erscheinen und lenkte <strong>die</strong> Aufmerk-<br />

samkeit von der faschistischen Bedrohung ab. Aber aus der <strong>Verelendungstheorie</strong> konnte keines-<br />

wegs gefolgert werden, daß es keinen wesentlichen Unterschied mehr gebe zwischen Faschisten,<br />

bürgerlichen Konservativen, bürgerlichen Demokraten und Sozialdemokraten. Das Leugnen <strong>die</strong>-<br />

ses Unterschiedes, das alle nicht-kommunistischen Parteien zu Spielarten des Faschismus erklär-<br />

te, <strong>die</strong>se Theorie der bürgerlichen Gesellschaft war der entscheidende Grund für <strong>die</strong> selbstmörde-<br />

rische Strategie der KPD: In den bereits oben zitierten Anweisungen des 11. Plenums des ECCI<br />

an <strong>die</strong> Sektionen der Komintern vom April 1931 wird <strong>die</strong>se Theorie ausführlich dargestellt. Die<br />

zentrale Stelle lautet:<br />

»Die Sozialdemokratie, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Konstruierung eines Gegensatzes zwischen der �demokratischen� Form der<br />

Diktatur der Bourgeoisie und dem Faschismus <strong>die</strong> Wachsamkeit der Massen im Kampfe gegen <strong>die</strong> heraufziehende<br />

politische Reaktion und gegen den Faschismus einschläfert und <strong>die</strong> das konterrevolutionäre Wesen der bürgerlichen<br />

Demokratie als einer Form der Diktatur der Bourgeoisie verhüllt, ist der aktivste Faktor und Schrittmacher der Fa-<br />

schisierung des kapitalistischen Staates.<br />

Der erfolgreiche Kampf gegen den Faschismus fordert [ ... ] eine rasche und entschiedene Ausrichtung der Fehler,<br />

<strong>die</strong> in der Hauptsache auf <strong>die</strong> liberale Konstruierung eines Gegensatzes zwischen Faschismus und der bürgerlichen<br />

Demokratie, sowie zwischen den parlamentarischen Formen<br />

55 Die Lage in Deutschland - Resolution des Präsidiums des EKKI. zum Referat des Genossen Heckert - Angenom-<br />

men am 1. April 1933, in: Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung, Basel, 2. lg., Nr. 9, April 1933,<br />

S. 230.<br />

41


der Diktatur der Bourgeoisie und den offen faschistischen Formen hinauslaufen, was eine Widerspiegelung des sozi-<br />

aldemokratischen Einflusses in den kommunistischen Parteien darstellt.« 56<br />

Dieses In-eins-Setzen aller Formen bürgerlicher Herrschaft mit dem Faschismus verband sich<br />

nun mit der aus der <strong>Verelendungstheorie</strong> stammenden Bestimmung der Sozialdemokratie als dem<br />

Hauptgegner zu der verhängnisvollen These vom Sozialfaschismus:<br />

»Die gesamte Entwicklung der Sozialdemokratie seit dem Kriege und seit der Entstehung der Sowjetmacht in der<br />

Sowjetunion ist ein ununterbrochener Evolutionsprozeß zum Faschismus.« 57<br />

Faschismus und Sozialfaschismus werden in den differenzierteren Schriften der KPD und der<br />

Kommunistischen Internationale nicht gleichgesetzt: <strong>die</strong> Sozialdemokratie bevorzuge einen ge-<br />

setzlicheren Weg der bürgerlichen Klassenherrschaft. 58<br />

Aber letztlich beruhte <strong>die</strong> maßlose Fehleinschätzung der Sozialdemokratie darauf, daß sich <strong>die</strong><br />

Komintern das Ausbleiben revolutionärer Aktionen des Proletariats trotz sich verschärfender<br />

ökonomischer und politischer Krise eben nicht anders als durch <strong>die</strong> heimtückisch bremsende Ak-<br />

tion abtrünnig gewordener Arbeiterführer erklären konnte:<br />

»Das Ende der kapitalistischen Stabilisierung, <strong>die</strong> rasche Steigerung der Voraussetzungen der revolutionären Krise in<br />

einer Reihe kapitalistischer Länder sowie <strong>die</strong> gesamte neue internationale Situation stellen den Kommunistischen<br />

Parteien mit aller Schärfe <strong>die</strong> Frage der Erfüllung der gegenwärtigen Grundaufgabe: Der Vorbereitung der Arbeiter-<br />

klasse und der ausgebeuteten Massen im Prozesse des. wirtschaftlichen und politischen Kampfes auf <strong>die</strong> bevorste-<br />

henden Kämpfe um <strong>die</strong> Macht. [ ... ] Die Gegner der revolutionären Bewegung haben <strong>die</strong> Unterstützung eines gewal-<br />

tigen Teils der organisierten und unorganisierten Arbeiter immer noch nicht verloren; <strong>die</strong>ser Umstand, der ihnen <strong>die</strong><br />

Möglichkeit gibt, <strong>die</strong> Revolutionierung des Proletariats zu hemmen, bildet vom Standpunkte der Vorbereitung seines<br />

Sieges <strong>die</strong> Hauptgefahr.« 59<br />

Diese Politik, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Sozialdemokratie zum Hauptfeind erklärte und parlamentarische und fa-<br />

schistische Herrschaft als bloße Spielarten desselben Faschismus ansah, trug nicht nur zur Spal-<br />

tung der Arbeiterbewegung bei und machte eine gemeinsame antifaschistische Abwehrpolitik<br />

unmöglich, <strong>die</strong> als einzige <strong>die</strong> nationalsozialistische Machtergreifung vielleicht hätte verhindern<br />

oder rückgängig machen können. Sie mußte auch innerhalb der Organisationen der Arbeiterbe-<br />

wegung desorientierend und demobilisierend wirken, denn mit der<br />

56 Internationale Presse-Korrespondenz vom 24. 4. 1931, a.a.O., S. 948.<br />

57 Ebd., S. 950.<br />

58 Über <strong>die</strong> Internationale Lage und <strong>die</strong> Aufgaben der Sektionen der Kommunistischen Internationale - Thesen zum<br />

Bericht des Genossen Kuusinen - Angenommen vom XII. Plenum der Exekutive der Kommunistischen Internationa-<br />

le, zit. in: Internationale Presse-Korrespondenz, XII, Nr. 82 vom 4. Oktober 1932, S. 2631.<br />

59 Ebd.<br />

42


Erklärung, daß es zwischen Severing, Brüning und Hitler keinen Unterschied gebe, daß sie alle-<br />

mal Faschisten seien, wurde in Wirklichkeit <strong>die</strong> Schlacht, »<strong>die</strong> noch gar nicht begonnen hatte, für<br />

verloren« erklärt. 60<br />

KPD und SPD wurden ohne breiten Widerstand zerschlagen. Trotzdem verkündete <strong>die</strong> Komin-<br />

tern eine nachträgliche Rechtfertigung der politischen Linie der Partei als »completely correct«<br />

und schob der SPD alle Schuld zu. 61<br />

Erst 1935 wurden <strong>die</strong> Strategie und <strong>die</strong> theoretische Einschätzung umgestülpt und <strong>die</strong> Volksfront<br />

der antifaschistischen Parteien als neue Linie ausgegeben, um so mit allen Mitteln <strong>die</strong> drohenden<br />

Folgen der früheren Fehler abzuwenden. Die Politik der Komintern - selbst ihre überraschende<br />

Auflösung - war nur noch davon bestimmt, <strong>die</strong> Folgen <strong>die</strong>ser früheren Fehler auszubügeln.<br />

Die Veränderungen in der Strategiebestimmung und <strong>die</strong> Neufassung der Theorie über den bürger-<br />

lichen Staat berührte aber überhaupt nicht <strong>die</strong> Vorherrschaft der <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie<br />

über <strong>die</strong> Entstehung massenhaften revolutionären Bewußtseins. In der Resolution der Brüsseler<br />

Parteikonferenz der KPD vom Dezember 1935, in der <strong>die</strong> »antifaschistische Volksfront« gefor-<br />

dert wird, der Schwenk der Komintem also auf Deutschland übertragen wird, heißt es wieder:<br />

»Ein neuer Angriff auf <strong>die</strong> Lebenshaltung des werktätigen Volkes ist in Vorbereitung [ ... ] Der<br />

neue Kurs wird zur weiteren Verschärfung der Ausbeutung, zur weiteren Verschlechterung der<br />

Lage der werktätigen Massen, aber auch zur Verstärkung ihres Widerstandes führen.« 62<br />

3. Die <strong>Verelendungstheorie</strong> in der Kapitalismusanalyse der DDR<br />

Die <strong>Verelendungstheorie</strong> im Programm der SED von 1963<br />

Direkt nach dem Krieg nahm <strong>die</strong> KPD in ihre Aufrufe, Proklamationen und Programmschriften<br />

keine Analyse der Entwicklung des Kapitalismus und seiner Auswirkungen für <strong>die</strong> Lage und das<br />

Bewußtsein des Proletariats auf, wie das sonst in allen Programmschriften vorher und nachher<br />

üblich war. Ohne ausführliche Analyse der >objektiven Entwicklung< wurde direkt an den politi-<br />

schen Willen appelliert und das gan-<br />

60 So argumentierte Trotzki, der sich <strong>die</strong>ser ganzen Politik mit verzweifelter und unermüdlicher, aber völlig folgenlo-<br />

ser Energie entgegenwarf; vgl. Deutscher, Trotzki, a.a.O., Bd. 111, 5. 136.<br />

61 The Communist International, a.a.O., Resolution of the ECCI Presidium on the Situation in Germany, April 1933,<br />

S. 254 ff.<br />

62 Zit. nach: Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, a.a.O., S. 136 (Hervorh. W. W.).<br />

43


ze Proletariat dazu aufgerufen, aus der Vergangenheit <strong>die</strong> Lehre zu ziehen, und nun einheitlich<br />

»für <strong>die</strong> demokratische Erneuerung« zu kämpfen. 63<br />

Erst im >Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlandsobjektiven< Entwicklung und in ihr <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong>. Deshalb<br />

soll es hier ausführlich analysiert werden: Unter dem Titel >Die Gesetzmäßigkeit des Übergangs<br />

vom Kapitalismus zum Sozialismus und des Niedergangs des deutschen Imperialismus< heißt es:<br />

»Die Ablösung der alten durch <strong>die</strong> neue Gesellschaftsordnung erfolgt in erbitterten Klassenkämpfen. Sie ergibt sich<br />

aus dem Grundwiderspruch des Kapitalismus zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der<br />

privatkapitalistischen Aneignung ihrer Ergebnisse. [ ... ]<br />

Der Imperialismus ist - wie W. I. Lenin feststellte - monopolistischer und parasitärer oder faulender Kapitalismus, er<br />

ist sterbender Kapitalismus. Alle Widersprüche des Kapitalismus, vor allem der Widerspruch zwischen Kapital und<br />

Arbeit, verschärfen sich in solchem Maße, daß <strong>die</strong> Eroberung der Macht durch <strong>die</strong> Arbeiterklasse, <strong>die</strong> sozialistische<br />

Revolution zur unausweichlichen Notwendigkeit wird. Die kapitalistische Gesellschaft insgesamt ist reif für <strong>die</strong><br />

sozialistische Umwälzung,« 64<br />

63 Ich habe hier bewußt darauf verzichtet, <strong>die</strong> nicht-sozialdemokratische Linke in der BRD in <strong>die</strong> Darstellung mit<br />

einzubeziehen, und zwar aufgrund folgender Überlegungen: 1. Die außerordentlich komplexen Varianten und Schat-<br />

tierungen in der Theorie der Neuen Linken von Adorno, Horkheimer über H. Marcuse bis hin zu Fanon, Mao Tse-<br />

tung etc. und ihre Verarbeitung durch <strong>die</strong> unterschiedlichen Richtungen innerhalb der Studentenbewegung würde<br />

den Rahmen <strong>die</strong>ser Arbeit sprengen müssen; 2. es wäre problematisch, sie hier als Teil der Arbeiterbewegung zu<br />

behandeln; 3. das Material ist gegenwärtig nur zum Teil zugänglich; 4. vieles von dem Material, das ich hierzu ge-<br />

sammelt habe, kann sinnvoller im folgenden und im Schlußkapitel einbezogen und diskutiert werden. Hier nur so-<br />

viel: Die <strong>Verelendungstheorie</strong> wird heute sowohl von der DKP -wie auch von den verschiedenen Gruppen, <strong>die</strong> sich<br />

KPD nennen, als strategisches Konzept zur Mobilisierung von Anhängern unbefragt beibehalten (vgl. �Thesen des<br />

Düsseldorfer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei�, Düsseldorf 1972, S. 38 f; >Programm und Statut<br />

des Kommunistischen Bundes Westdeutschland�, Broschüre, 1974, S. 13 ff; sowie Flugblätter und Programmerklä-<br />

rungen der KPD (früher AO, vgl.: Rote Presse Korrespondenz 1971, Nr. 126/127, S. 2), KPD/ML - Roter Morgen,<br />

KPD/ML - Neue Einheit etc.).<br />

Nur während der Studentenbewegung und .im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) während der sechzi-<br />

ger Jahre wurde <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie über <strong>die</strong> Entstehung von antikapitalistischem Bewußtsein in<br />

Frage gestellt und teilweise durch ein eher hedonistisches Verständnis auch des politischen Lernprozesses ersetzt.<br />

(Vgl. dazu insbesondere: Michael Vester, �Zur Dialektik von Reform und Revolution�, in: Neue Kritik 34, Feb.<br />

1966, und in derselben Nummer: �Entwurf einer programmatischen Erklärung des SDS� sowie <strong>die</strong> Beiträge in: Die<br />

hedonistische Linke - Beiträge zur Subkulturdebatte; hg. D. Kerbs, Neuwied - Berlin 1970).<br />

64 Zit. nach: Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, a.a.O., S. 214 f (Hervorh. W. W.).<br />

44


Im folgenden Kapitel wird noch ausführlich auf <strong>die</strong>se Bestimmung eines >Grundwiderspruchs<<br />

und eines >Grundgesetzes< für den Kapitalismus und <strong>die</strong> Verknüpfung zur <strong>Verelendungstheorie</strong><br />

eingegangen. Hier gilt es festzuhalten, daß aus <strong>die</strong>ser Charakterisierung des Kapitalismus der<br />

<strong>Verelendungstheorie</strong> besondere Bedeutung zukommt, da sie erklären soll, wie der Motor der ge-<br />

schichtlichen Entwicklung hin zum Sozialismus, der >unversöhnliche Gegensatz< zwischen<br />

>Kapital und Arbeit< angetrieben werde - woher <strong>die</strong> Energie und der Wille für <strong>die</strong>se Entwick-<br />

lung kommt. Die Entwicklung selbst stellt sich dar als ein hin- und herwogender Kampf zwischen<br />

>Kapital und Arbeit< (womit immer <strong>die</strong> Lohnarbeit gemeint ist!).<br />

Das Programm der SED übernimmt auch <strong>die</strong> Einteilung <strong>die</strong>ses Kampfes' in Etappen und Perio-<br />

den wie sie sich unter der Kommunistischen Internationale entwickelt hatte: Nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg habe sich »<strong>die</strong> allgemeine Krise des Kapitalismus weiter vertieft und ist nunmehr in<br />

ihre dritte Etappe eingetreten« 65<br />

Auch <strong>die</strong> Arbeiteraristokratiethese wird übernommen, um das Ausbleiben des revolutionären<br />

Bewußtseins trotz der >allgemeinen Krise< erklären zu können. 66<br />

»Der deutsche Imperialismus konnte seine antinationale, volksfeindliche Politik nur durchführen, weil es ihm gelang,<br />

<strong>die</strong> Arbeiterklasse zu spalten. Aus seinen Überprofiten korrumpierte das Monopolkapital eine Oberschicht der Arbei-<br />

ter - <strong>die</strong> Arbeiteraristokratie. Mit Hilfe rechter Führer der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften wurde <strong>die</strong><br />

Kampfkraft der Arbeiterklasse untergraben.« 66<br />

An <strong>die</strong>ser Stelle, wo es also um das Bewußtsein der Arbeitermassen, um ihre andauernde Ver-<br />

bundenheit mit dem Reformismus und ihre ideologischen Vorstellungen über den Kapitalismus<br />

geht, folgt ein Text, in dem erstmals in einem Programm der deutschen Arbeiterbewegung expli-<br />

zit von >relativer< und >absoluter Verelendung< gesprochen wird:<br />

»Die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus beschleunigen nicht nur <strong>die</strong> relative, sondern mitunter auch <strong>die</strong> abso-<br />

lute Verelendung der Arbeiterklasse [ ... ]<br />

Krisen, steigende Intensität der Ausbeutung und Kriegsvorbereitungen verschlechtern <strong>die</strong> materiellen Bedingungen,<br />

bedrohen den Arbeitsplatz, gefährden <strong>die</strong> Gesundheit und das Leben der Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft.<br />

Noch nie war der Widerspruch zwischen der Handvoll überreicher Finanzmagnaten und der Mehrheit der, Volkes so<br />

tief und unüberbrückbar wie im heutigen Kapitalismus.« 67<br />

65 Ebd», S. 218 (Hervorh. W. W.).<br />

66 Ebd», 5. 222.<br />

67 Ebd., S. 222 f (Hervorh. W. W.). Die Formulierung, <strong>die</strong> sich wie eine Einschränkung der Gültigkeit der absoluten<br />

Verelendung liest, �mitunter auch


Mit <strong>die</strong>sen Formulierungen stellt sich das SED-Programm am deutlichsten in der Geschichte der<br />

Arbeiterbewegung hinter <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong>, wobei sie alle Elemente aufnimmt, <strong>die</strong> sich in<br />

der geschichtlichen Entwicklung <strong>die</strong>ser Theorie herausgebildet haben. in einem Punkt geht sie<br />

jedoch über <strong>die</strong>se Tradition hinaus und erweitert sie um einen wichtigen Punkt, der in der Kapi-<br />

talismusanalyse der DDR auch sonst <strong>die</strong> entscheidende Weiterentwicklung bedeutet: <strong>die</strong> Theorie<br />

vom staatsmonopolistischen Kapitalismus. 68<br />

Die Verknüpfung von Staat und Monopolen irrt staatsmonopolistischen Kapitalismus führe dazu,<br />

daß <strong>die</strong> Arbeiterklasse in ihrem Abwehrkampf gegen <strong>die</strong> Verelendung nicht nur das Kapital und<br />

<strong>die</strong> Kapitalisten als Gegner erkenne und bekämpfe, sondern zugleich auch den staatlichen Appa-<br />

rat. Dadurch müsse der Bewußtseinsprozeß und der Kampf (der vorher immer in der Gefahr<br />

schien, in bloß ökonomischen Forderungen stecken zu bleiben) notwendig einen politischen<br />

Charakter erhalten, der sich bei andauernder Verelendung und Verschärfung der Widersprüche<br />

bis zur revolutionären Umwälzung steigern müsse:<br />

»Unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus muß sich <strong>die</strong>ser Kampf in zunehmendem Maße<br />

gegen den Staat der Monopole und dessen Politik richten. Daher entwickelt sich in den kapitalistischen Ländern eine<br />

immer engere Verflechtung des ökonomischen und politischen Kampfes.« 69<br />

In <strong>die</strong>sem bis heute gültigen Programm der SED findet <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> ihre weiteste<br />

Ausbildung und deutlichste Formulierung und erhält durch <strong>die</strong> Verbindung mit der Theorie vom<br />

staatsmonopolistischen Kapitalismus noch erhöhten Stellenwert: sie wird zu einer Theorie des<br />

notwendigen Umschlags bloß ökonomischer in politische Forderungen gegen den gesamten ka-<br />

pitalistischen Herrschaftsapparat. Eigentlich ist es aber doch recht erstaunlich, daß <strong>die</strong> Verelen-<br />

dungstheorie in der Programmatik der deutschen Arbeiterbewegung gerade zu einem Zeitpunkt<br />

eine besondere Bedeu-<br />

Berlin 1961 S. 104), dabei das Programm von 1903 zitierend (Werke, Bd. 6, S. 6 b. Diese Formulierung <strong>die</strong>nte in<br />

der DDR-Literatur als Aufhänger für eine ausgedehnte Debatte über Lenins Auffassung von der Gültigkeit der abso-<br />

luten Verelendung. Vgl. Jürgen Kuczynski, Die Theorie der Lage der Arbeiter; Bd. 36 von: ders., Die Geschichte der<br />

Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus; Berlin (DDR) 1968, S. 26 ff.<br />

Das Programm von 1963 entscheidet <strong>die</strong>sen Streit eindeutig zugunsten der <strong>Verelendungstheorie</strong>: das �mitunter< be-<br />

zieht sich in dem Satz nur auf <strong>die</strong> Beschleunigung der absoluten Verelendung. Damit ist das Vorherrschen einer<br />

dauerhaften absoluten Verelendung< überhaupt nicht in Frage sondern als unzweifelhafte Selbstverständlichkeit<br />

dargestellt.<br />

68 Vgl. Margaret Wirth, Kapitalismustheorie in der DDR. Entstehung und Entwicklung der Theorie des staatsmono-<br />

polistischen Kapitalismus,.Frankfurt 1972, S. 194 f.<br />

69 Ebd., S. 224.<br />

46


tung gewann, als der Kapitalismus in den hochindustrialisierten Ländern -und insbesondere in<br />

dem für <strong>die</strong> DDR besonders wichtigen kapitalistischen Und, der BRD - in einer nie ,vorher er-<br />

reichten Konjunktur das Einkommen und den Lebensstandard auch der abhängig Beschäftigten<br />

deutlich steigerte. Um das verstehen zu können, ist es notwendig, <strong>die</strong> Entwicklung der Theorie-<br />

bildung über den westdeutschen Kapitalismus näher zu untersuchen.<br />

Die Dogmatisierung der <strong>Verelendungstheorie</strong> in der Zeit des Stalinismus<br />

Bis zum Tode Stalins gab es in der DDR kaum irgendwelche Stellungnahmen zur Entwicklung<br />

des Kapitalismus und zur Bewußtseinsentwicklung im Proletariat, <strong>die</strong> nicht mit der offiziellen<br />

stalinistischen Linie auf Punkt und Komma übereinstimmen. 70 Eine <strong>die</strong>ser Ausnahmen ist <strong>die</strong><br />

erste Auflage von Jürgen Kuczynskis Buch mit dem Titel >Die Theorie der Lage der ArbeiterDie Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Industriekapitalis-<br />

mus< 1948 herauskam. Im folgenden soll anhand der Reaktion auf <strong>die</strong>se Ausnahme und der da-<br />

rauf folgenden Veränderungen <strong>die</strong> stalinistische Konzeption der <strong>Verelendungstheorie</strong> exempla-<br />

risch herausgearbeitet werden:<br />

Das Fazit der 1. Auflage, <strong>die</strong> noch >ungereinigt< ist und nach kurzer Zeit durch <strong>die</strong> stalinisierte<br />

2. Auflage ersetzt wurde:<br />

»Aber wie auch <strong>die</strong> einzelnen Faktoren (<strong>die</strong> <strong>die</strong> Lage der Arbeiterklasse bestimmen, W. W.) sich bewegen: das Ge-<br />

samtresultat ist eine fortlaufende absolute Verelendung der Arbeiterklasse als Ganzes. Nur einzelne Schichten kön-<br />

nen <strong>die</strong>sem Schicksal für einige Zeit entgehen.« 71<br />

Wie schon David zu Zeiten der Weimarer Republik argumentierte dabei Kuczynski vor allem mit<br />

den Veränderungen im kapitalistischen Produktionsprozeß: steigende Intensität der Arbeit, <strong>die</strong><br />

durch <strong>die</strong> steigenden Reallöhne nicht mehr ausgeglichen werden können. Die häufigeren Unfälle,<br />

Krankheiten und Frühinvalidität wögen alle Einzelverbesserungen in<br />

70 Anfangs erschienen zu <strong>die</strong>ser Frage vor allem Cbersetzungen sowjetischer Arbeiten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> offizielle Linie vorzeichne-<br />

ten. Ein besonders eindrückliches, weil in seinen statistischen Fälschungen besonders offensichtliches Beispiel aus der<br />

Vielzahl der Arbeiten kann stellvertretend zitiert werden:<br />

W. Tschermenski, Die Verelendung der Werktätigen in den kapitalistischen Ländern" in: Neue Zeit, Moskau 1950, Nr. 29,<br />

S. 6-11 und Nr. 33, S. 10-14. Er belegt <strong>die</strong> Verelendung durch Statistiken, <strong>die</strong> jeweils von 1929 bis 1939 und.1944 bis 1950<br />

reichen, also genau <strong>die</strong> Kriegskonjunktur, den Aufschwung bis 44 auslassen und so das ständige Sinken der Indexzahlen<br />

ermöglichen.<br />

71 Jürgen Kuczynski, Die Theorie der Lage der Arbeiter, Bd. VII von: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem In-<br />

dustriekapital, 1. Aufl., Berlin 1948, S. 288.<br />

47


der Konsumsphäre bei weitem auf. Dazu komme noch <strong>die</strong> wachsende Unsicherheit der Existenz<br />

durch Freisetzungen bei Rationalisierungen und durch <strong>die</strong> konjunkturelle Arbeitslosigkeit. 72<br />

Die Intensivierung der Arbeit wurde damit wieder zur entscheidenden Argumentationsstütze der<br />

<strong>Verelendungstheorie</strong>. jede Reallohnsteigerung, jede Verkürzung der Arbeitszeit, jede Verbesse-<br />

rung der Lebensverhältnisse außerhalb des Produktionsprozesses wie verbesserte Ausbildung,<br />

verlängerter Urlaub, Steigerung des Anteils langlebiger Konsumgüter alles kann damit als Ar-<br />

gument gegen <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> mit dem Hinweis auf <strong>die</strong> stetig steigende Intensität der<br />

Arbeit zurückgewiesen werden. Darum schrieb Kuczynski auch.:<br />

»Es ist traurig festzustellen, daß das Argument der steigenden Arbeitsintensität in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-<br />

hunderts und noch bis in <strong>die</strong> Jahre des 20., <strong>die</strong> dem Weltkrieg vorangingen, in der Arbeiterbewegung, insbesondere<br />

in der Gewerkschaftsbewegung, nur eine geringe Rolle gespielt hat, und somit auch <strong>die</strong> Arbeiterklasse den falschen<br />

Argumenten und Irrlehren, <strong>die</strong> sich an <strong>die</strong> unbestreitbare Tatsache steigender Reallöhne knüpften, ausgesetzt wur-<br />

de.« 73<br />

Weil - in der Meinung Kuczynskis -<strong>die</strong> »Irrlehren« des Revisionismus aus der Negation der Ver-<br />

elendungstheorie entstehen müssen, wehrte er sich auch vehement gegen alle Interpretationsver-<br />

suche, »daß <strong>die</strong> absolute Verelendung nur eine Tendenz sei, <strong>die</strong> sich nicht durchsetzen könne, da<br />

es eben Gegentendenzen gäbe, <strong>die</strong> stärker seien«. Dies sei nicht nur falsch und entspräche nicht<br />

»den Tatsachen«, sondern daran zeige sich, daß solche »Volkswirtschaftler«, <strong>die</strong> glauben, Mar-<br />

xisten zu sein, »<strong>die</strong> Grundvoraussetzungen der gesamten Strategie der kommunistischen Partei-<br />

en nicht begriffen haben«. 73a<br />

1951 erschien in der Zeitschrift Einheit eine Kritik von Robert Naumann, Leiter des Instituts für<br />

Politische Ökonomie an der Humboldt-Universität und seit 1953 Mitglied des ZK der SED, an<br />

dem Buch von Kuczynski, in der ihm vorgeworfen wurde, daß er »nicht immer konsequent auf<br />

dem Boden des Marxismus-Leninismus« stehe, denn:<br />

»Eine konsequent marxistisch-leninistische Darstellung der absoluten und relativen Verelendung der Arbeiterklasse<br />

muß zeigen, daß <strong>die</strong> absolute und relative Verelendung des Proletariats in allen Ländern der kapitalistischen Welt<br />

zunimmt, daß sie immer schneller fortschreitet, daß sich im Laufe der historischen Entwicklung des Kapitalismus<br />

neue Erscheinungsformen <strong>die</strong>ses Grundgesetzes der kapitalistischen Entwicklung. zei-<br />

72 Ebd., S. 60 ff.<br />

73 Ebd., S. 92.<br />

73a Ebd., S. 63 f.<br />

48


gen, daß sich der Klassenkampf infolge des fortschreitenden Verelendungsprozesses immer mehr verschärfen und<br />

daß der Kapitalismus letzten Endes vernichtet werden muß.« 74<br />

1952 erschien dann <strong>die</strong> zweite, >verbesserte< Auflage, in der Kuczynski in einer Selbstkritik<br />

<strong>die</strong>se - offensichtlich oft wiederholte -Kritik auf sich nimmt und in das Buch einarbeitet. Er habe<br />

<strong>die</strong> >Allgemeine Krise des Kapitalismus< - eine stalinistische Konstruktion - nicht berücksich-<br />

tigt.<br />

"Dieser Vorwurf ist völlig berechtigt. Er wiegt um so schwerer, als nur mit der Allgemeinen Krise des Kapitalismus<br />

[ ... ] <strong>die</strong> gesetzmäßige Begründung für <strong>die</strong> rapide Beschleunigung im Tempo der Verelendung der Arbeiterklasse<br />

seit dem Ersten Weltkrieg gegeben werden kann.« 75<br />

Unter dem Druck der Stalinisten mußte Kuczynski also seine Analyse aus der ersten Auflage<br />

entsprechend dem Befehl, der in der Naumannschen Kritik steckt, zurechtstutzen und <strong>die</strong> Aufga-<br />

be übernehmen, »bei der Untersuchung - der einzelnen Faktoren, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Lage der Arbeiter be-<br />

stimmen, jeweils anzuzeigen, wie das Tempo der Verelendung immer mehr zunimmt« 76 .<br />

Alle Kritik wurde berücksichtigt. Die skandalöse, <strong>die</strong> befahl, was bei einer wissenschaftlichen<br />

Analyse herauszukommen habe. Die beschämende, »daß <strong>die</strong> Weiterentwicklung des Marxis-<br />

mus-Leninismus durch Lenin und Stalin ungenügend beachtet und dargestellt wurde«. Sie wurde<br />

von Kuczynski in eulenspiegelhafter Übertreibung befolgt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kritiker der Lächerlichkeit<br />

preisgibt - so müßte man wenigstens meinen, wüßte man nicht um <strong>die</strong> schamlose Lobhudelei auf<br />

Stalin aus anderen Schriften der Zeit. 77 Und auch <strong>die</strong> groteske, er habe<br />

74 Einheit, Jg. 6, Berlin 1951, Heft 19.<br />

75 2. Aufl., S. 5.<br />

76 Ebd., S.75<br />

77 2. Aufl., S. 6. So schreibt Kuczynski in der 1. Auflage noch in aller Harmlosigkeit und wissenschaftlicher Ehrlich-<br />

keit: »Wenn wir uns jedoch <strong>die</strong> Theorie betreffend <strong>die</strong> Lage der Arbeiter, <strong>die</strong> Marx und Engels entwickelt haben, in<br />

ihrer Fortführung betrachten, dann finden wir, daß abgesehen von der durch Lenin entwickelten Theorie der Arbeiter-<br />

aristokratie, so gut wie nichts dem alten Lehrgebäude hinzugefügt worden ist« (S. 50). In der 2. Auflage steht an der-<br />

selben Stelle: »Lenin und Stalin haben das Werk Von Marx und Engels fortgesetzt und uns gelehrt, den Marxismus,<br />

erweitert und vertieft zum Marxismus-Leninismus, auf <strong>die</strong> Gegenwart anzuwenden« (S. 47). Oder an anderer Stelle<br />

wird in den sonst unveränderten Text folgende peinliche Lobesrede eingefügt: »Es gab nie eine Zeit in den letzten 100<br />

Jahren, in der wir uns nicht an den Arbeiten unserer Klassiker des Marxismus-Leninismus hätten orientieren können!<br />

In einer Zeit, in der <strong>die</strong> Theoretiker der Zweiten Internationale <strong>die</strong> Lehre der absoluten Verelendung von Marx bestrit-<br />

ten haben, hielten Lenin und Stalin <strong>die</strong> Lehre von Marx und Engels rein und vertieften sie.« Das geht bis an den<br />

Punkt, wo Lenin durch Stalin zitiert wird, Stalin-Fußnoten über <strong>die</strong> Seiten verstreut werden, um im Register aus den<br />

zwei Stalin-Verweisen der 1. Auflage 20 in der zweiten zu machen. Und schließlich wird <strong>die</strong> ganze zweite Auflage<br />

unter das Stalin-Wort gestellt. »Der Weg der Entwicklung des Kapitalismus ist der Weg der Verelendung. .«<br />

49


»<strong>die</strong> feindliche Theorie ironisiert statt attackiert« 78 .<br />

All das wird >selbstkritisch< berücksichtigt. Aber <strong>die</strong> Passagen, in denen der politische Stellen-<br />

wert der <strong>Verelendungstheorie</strong> erläutert wird und in denen eine deutliche Verkürzung der Kapita-<br />

lismuskritik auf den schlechten Lebensstandard der Arbeiter und den unverhältnismäßigen<br />

Reichtum der Kapitalisten zum Ausdruck kommt und in denen sich zeigt, daß Kuczynski <strong>die</strong> im<br />

Reproduktionszusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft liegenden ökonomischen Hin-<br />

dernisse eines allmählichen Überganges in eine nicht-kapitalistische Produktionsweise nicht be-<br />

griff en hatte, <strong>die</strong>se schwerwiegenden theoretischen und politischen Aussagen wurden nicht kri-<br />

tisiert und blieben unverändert stehen. Sie finden sich auch wieder unverändert in der 4. Auflage<br />

des Buches, <strong>die</strong> bezeichnenderweise 1968, also ein Jahr nach der Krise von 1967 in der BRD, er-<br />

schienen ist und in der <strong>die</strong> sonstigen Konzessionen an den Stalinismus alle gestrichen sind. 79<br />

In <strong>die</strong>ser 4. Auflage von 1968 schildert Kuczynski in einem Kapitel >Zur neueren Geschichte der<br />

marxistischen Theorie von der absoluten Verelendung< <strong>die</strong> zwanghafte Verballhornung der Ver-<br />

elendungstheorie zu einer Theorie der Lohnverelendung, also des permanent fallenden Realloh-<br />

nes, unter dem Stalinismus. »Man kann sich vorstellen, welche Bedeutung unter <strong>die</strong>sen Umstän-<br />

den der XX. Parteitag der KPdSU als erster Schritt für <strong>die</strong> Wiederherstellung wissenschaftlicher<br />

Arbeitsnormen hatte« (S. 160f.)<br />

78 2. Aufl., S. 6.<br />

79 1. Aufl., S. 63; 2. Aufl., S. 60; 3. unveränderte Aufl. 1955; 4. Auflage als Band 36 von: ders., Die Geschichte der<br />

Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Berlin (DDR) 1968. Die Passage steht S. 24. »Denn wenn sich <strong>die</strong> absolu-<br />

te Verelendung nicht durchsetzt, dann heißt das nichts anderes, als daß sich unter dem Kapitalismus <strong>die</strong> Lage der Ar-<br />

beiter absolut verbessert, dann heißt das also, daß im Laufe der Zeit <strong>die</strong> Arbeiter, genau wie vor ihnen das Bürgertum,<br />

sich eine wirtschaftliche Position erobern können, von der aus sie dann auch <strong>die</strong> politische Macht übernehmen kön-<br />

nen, daß <strong>die</strong> kapitalistische Gesellschaft also graduell in <strong>die</strong> sozialistische hineinwächst. Der ganze grundlegende Un-<br />

terschied der Formen, in denen Arbeiterklasse und Bürgertum zur Macht kommen, wäre aufgehoben. Es bedeutet<br />

auch, daß der einzige Unterschied zum Beispiel zwischen Kommunisten und Revisionisten des Marxismus oder Re-<br />

formisten darin besteht, daß <strong>die</strong> Kommunisten es etwas eiliger haben als <strong>die</strong> Reformisten, daß sie den<br />

Hereinwachsensprozeß beschleunigen wollen, daß sie <strong>die</strong> Lage der Arbeiter schneller verbessern wollen, als es sowie-<br />

so schon geschieht. Das heißt, der ganze Kampf, den Lenin gegen <strong>die</strong> Verräter an der marxistischen Theorie geführt<br />

hat, wäre im Grunde ein Kampf um Nuancen, um Tempofragen, aber kein Kampf um prinzipielle Fragen, um grund-<br />

legende Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung, der Strategie der Arbeiterklasse.«<br />

50


Die <strong>Verelendungstheorie</strong> in der Theorie über den westdeutschen Kapitalismus nach dem Pro-<br />

gramm der SED<br />

Im folgenden sollen anhand von Veröffentlichungen, <strong>die</strong> den Standpunkt der SED wiedergeben,<br />

weil sie vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED stammen, <strong>die</strong> Verände-<br />

rungen in der <strong>Verelendungstheorie</strong> unter dem Eindruck der Konjunkturentwicklung des west-<br />

deutschen Kapitalismus dargestellt werden.<br />

Zwei Jahre nach der Verabschiedung des Programmes auf dem VI. Parteitag der SED fand in<br />

Berlin eine Konferenz über >Das staatsmonopolistische Herrschaftssystem in Westdeutschland<<br />

statt, <strong>die</strong> entsprechend der Anweisung des Politbüros der SED »<strong>die</strong> allseitige Untersuchung des<br />

Wesens und der Erscheinungsformen des staatsmonopolistischen Systems in Westdeutschland«<br />

angehen sollte, um »<strong>die</strong> neuen Probleme der Strategie und Taktik des Klassenkampfes in West-<br />

deutschland auszuarbeiten und so der westdeutschen Arbeiterklasse zu helfen, ihre Kräfte zu<br />

formieren und dem Monopolkapital mit einem eigenen Programm der demokratischen Umgestal-<br />

tung entgegenzutreten« 80<br />

Im Hauptreferat -<strong>die</strong>ser Konferenz gab Otto Reinhold eine völlig neue Interpretation der Vere-<br />

lendungstheorie, <strong>die</strong> in direktem Widerspruch zum Text des Programms der SED stand:<br />

»Zu den wichtigsten Thesen des westdeutschen imperialistischen Ideologen gehört <strong>die</strong> Behauptung, der heutige Ka-<br />

pitalismus, <strong>die</strong> soziale Marktwirtschaft, hätte jegliche Verelendung längst überwunden. Der Reallohn sei gestiegen<br />

der traditionelle Verbrauch der Arbeiter und Angestellten hätte sich verändert, viele Arbeiter besäßen Fernsehemp-<br />

fänger, Kühlschränke, Waschmaschinen, unter den Arbeitern vergrößere sich sogar <strong>die</strong> Zahl der Autobesitzer; es<br />

entstünde also eine Lage, <strong>die</strong> sich Marx nicht vorgestellt hätte. Auch bei uns wird oft <strong>die</strong> Frage nach der absoluten<br />

Verelendung gestellt.« 81<br />

Diese Frage beantwortete er damit, daß er <strong>die</strong> grundsätzliche Tendenz des Kapitals zur Akkumu-<br />

lation auf Kosten der Einkommen und der Lebenskraft der Arbeiter herausstrich, aber es habe<br />

sich eine Gegentendenz durchgesetzt: Weil <strong>die</strong> Kapitalisten befürchten müßten, daß sich <strong>die</strong><br />

westdeutsche Arbeiterklasse mit der DDR verbünde und das Kapital »in einen Zweifronten-<br />

krieg« geraten könne,<br />

»haben sie einen Teil ihres Profites benutzt, um materielle Forderungen der Arbeiter und Angestellten in einer sol-<br />

chen Weise zu befriedigen, daß <strong>die</strong> Kampfkraft der Arbeiterklasse außerordentlich geschwächt, ja zeitweilig neutra-<br />

lisiert wurde.« 82<br />

Womit <strong>die</strong> bewußtseinsbildende Kraft der Verelendung über<br />

80 Monopole - Profit - Aggression - Notstand. Materialien der Konferenz „Das staatsmonopolistische Herrschaftssystern in<br />

Westdeutschland― 17. und 18. März 1965 in Berlin, Berlin (DDR) 1965, S. 5.<br />

81 Ebd., S. 68 f.<br />

82 Ebd.. S. 70.<br />

51


<strong>die</strong> traditionelle Umkehrung in der Arbeiteraristokratietheorie - nur jetzt auf alle Arbeiter ausge-<br />

dehnt <strong>–</strong> bestätigt ist; aber: »Dafür tritt <strong>die</strong> relative Verelendung um so stärker in Erscheinung.« 83<br />

In <strong>die</strong>sem Schwenk gegenüber dem Programm der SED und den früheren Kapitalismus-<br />

analysen in der DDR fand <strong>die</strong> unbestreitbare ökonomische Entwicklung in der BRD ihre Berück-<br />

sichtigung. Als Erklärung für <strong>die</strong>se Entwicklung, <strong>die</strong> den früheren Prognosen genau entgegenge-<br />

setzt verlief, <strong>die</strong>nte <strong>die</strong> Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus, wonach in einer For-<br />

mulierung von Lemmnit 84 auf dem Kongreß - »<strong>die</strong> Monopole den Staat unmittelbar in den Pro-<br />

zeß der Profitaneignung und -verwendung einschalten, mit seiner direkten Hilfe <strong>die</strong> inneren und<br />

äußeren Wirtschaftsbeziehungen für <strong>die</strong>sen Zweck lenken und organisieren und so dem Staat<br />

spezifische Aufgaben in der Wirtschaft übertragen. « Nach <strong>die</strong>ser Theorie sei nicht mehr wie im<br />

Konkurrenzkapitalismus mit der regulären zyklischen Krise und ihren extremen, offensichtlichen<br />

Verschlechterungen in der Lage der Arbeiterklasse zu rechnen. Die Folgerung war also: <strong>die</strong> ab-<br />

solute Verelendung, wie sie im Programm der SED vorausgesagt worden war, finde nicht statt.<br />

Wir erinnern uns, daß im Ausgang des 19. Jahrhunderts <strong>die</strong>selbe Situation zum<br />

Revisionismusstreit innerhalb der Sozialdemokratie geführt hatte: Ohne erfahrbare Verelendung<br />

sei <strong>die</strong> Revolution weder nötig noch zu erwarten, weil sich bei den Massen kein revolutionäres<br />

Bewußtsein entwickeln könne.<br />

Die Theoretiker am gesellschaftswissenschaftlichen Institut des ZK der SED zogen nicht <strong>die</strong>sel-<br />

ben Folgerungen wie seinerzeit <strong>die</strong> Mehrheit der SPD. Dasselbe theoretische Konzept, das es ih-<br />

nen erlaubt hatte, auf <strong>die</strong> Theorie von der unausweichlichen absoluten Verelendung zu verzich-<br />

ten, erlaubt es ihnen nun auch, <strong>die</strong> Vorstellung eines revolutionären Weges beizubehalten. Rein-<br />

hold sagte dazu in seinem Hauptreferat auf der Konferenz:<br />

»Der konsequente Kampf um ein demokratisches Wirtschaftsprogramm würde eine große mobilisierende Kraft im<br />

Kampf gegen den Kapitalismus besitzen. [ ... ] Der erfolgreiche Kampf um <strong>die</strong> praktische Verwirklichung eines sol-<br />

chen Programms bedeutet doch, daß der übliche Kampf um <strong>die</strong> Tagesinteressen objektiv immer mehr mit dem<br />

Kampf um <strong>die</strong> Überwindung des staatsmonopolistischen Systems verschmilzt.« 85<br />

Diese Positionen der Konferenz bildeten <strong>die</strong> Basis für das Buch >Imperialismus Heute - Der<br />

staatsmonopolistische Kapi-<br />

83 Ebd.<br />

84 Alfred Lemmnitz, >Der staatsmonopolistische Kapitalismus - <strong>die</strong> Grundlage der politischen Reaktion und Aggressivität<br />

des westdeutschen Imperialismus


talismus in WestdeutschlandImperialismus heute< allerdings ein<br />

ganz entscheidender Unterschied gegenüber der Konferenz, der einer weiteren, besonders ein-<br />

schneidenden Modifikation der traditionellen Interpretation der <strong>Verelendungstheorie</strong> gleich-<br />

kommt: erstmals treffen wir in unserem Material bei Theoretikern, <strong>die</strong> sich selbst als Marxisten<br />

bezeichnen, auf eine explizite, direkte Polemik gegen <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie über<br />

<strong>die</strong> Entstehung von massenhaftem antikapitalistischem und revolutionärem Bewußtsein:<br />

»Mitunter wird <strong>die</strong> Meinung vertreten, daß <strong>die</strong> absolute Verschlechterung der materiellen Lage der Arbeiter im Ka-<br />

pitalismus geradezu schicksalhaft unvermeidlich sei. Es wird sogar <strong>die</strong> unmarxistische Auffassung geäußert, daß <strong>die</strong><br />

Revolutionierung der Werktätigen im Kapitalismus von der absoluten Verschlechterung ihrer Lage abhängig sei.<br />

Beides ist jedoch nicht richtig.« 86<br />

Das Klassenbewußtsein müsse durch <strong>die</strong> Agitation und Aufklärung, durch den >ideologischen<br />

Kampf< derjenigen, <strong>die</strong> das Bewußtsein bereits haben, erzeugt werden! Wir haben hier also zwar<br />

eine Negation der <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie über <strong>die</strong> Entstehung spontanen Klassenbe-<br />

wußtseins, zugleich aber auch eine Negation spontaner Entwicklung von Klassenbewußtsein<br />

überhaupt.<br />

Allerdings tut sich daneben ein neuer Blickwinkel auf, der - wie wir im zweiten Teil <strong>die</strong>ser Ar-<br />

beit sehen werden - in sich den Keim trägt zu einem wirklichen Abgehen von der Verelendungs-<br />

theorie zu einer neuen Theorie von der Entwicklung spontanen antikapitalistischen und revoluti-<br />

onären Bewußtseins<br />

»Nun wird aber mit fortschreitender Entwicklung der Produktivkräfte selbst <strong>die</strong> Differenz zwischen dem, was der<br />

Mensch zur Reproduktion als Arbeitskraft braucht, und7seinen Gesamtbedürfnissen zur Entfaltung und allseitigen<br />

Ausbildung als Persönlichkeit immer größer. Während Sozialismus und Kommunismus ihrem Wesen nach <strong>die</strong> Be-<br />

friedigung der Gesamtbedürfnisse des Menschen anstreben und in wachsendem Maße realisieren, vermag <strong>die</strong> kapita-<br />

listische Gesellschaft, auch wenn sie noch so hochentwickelt ist, den engen Horizont der Betrachtung des arbeiten-<br />

den Menschen nur als >Produktionsfaktor< nicht zu überspringen. Aber <strong>die</strong> Arbeiterklasse darf sich heute nicht<br />

mehr nur auf Forderungen beschränken, um <strong>die</strong> Reproduktion als Arbeitskraft zu sichern. Sie muß <strong>die</strong><br />

86 Imperialismus Heute - Der staatsmonopolistische Kapitalismus in Westdeutschland, Berlin (DDR) 1965; zitiert wird<br />

nach der 5. Auflage 1968, <strong>die</strong> gegenüber der im Dezember 1966 druckgelegten, also vor der Stagnation in der BRD 66167<br />

abgeschlossenen, »vierten, überarbeiteten und erweiterten Auflage« unverändert ist. Dies ist daruini wichtig, weil einer-<br />

seits <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> anhaltende Konjunktur bestimmten überlegungen voll, <strong>die</strong> Wirkung der ersten größeren Krise in der<br />

BRD-Wirtschaft aber noch, nicht berücksichtigt sind. Obiges Zitat: S. 701.<br />

53


Frage der Befriedigung der Bedürfnisse zur Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit unter Berufung darauf auf-<br />

werfen, daß der dafür notwendige Reichtum mit den Potenzen der wissenschaftlich-technischen Revolution er-<br />

schlossen werden kann, seine Realisierung für alle Mitglieder der Gesellschaft aber durch <strong>die</strong> Privilegien des Mono-<br />

polkapitals verhindert wird. jeder Erfolg der Arbeiter in <strong>die</strong>ser Richtung bedeutet bereits eine Einschränkung und<br />

Beschränkung der ökonomischen Prinzipien des Kapitalismus selbst.« 87<br />

Dieser ungeheuer wichtige Gedanke, der an dem in der Ware enthaltenen Widerspruch von<br />

Tauschwert und Gebrauchswert ansetzt und <strong>die</strong> Bedürfnisse der Arbeiter in ihrer dynamischen<br />

Entwicklung als Träger des Interesses am Gebrauchswert und damit als notwendigen Antagonis-<br />

ten der> allein am Tauschwert interessierten Kapitals aufgreift, <strong>die</strong>ser Ansatz bleibt aber Argu-<br />

ment, einzelner, bloß zusätzlich stützender Gedanke innerhalb einer Argumentationskette zur al-<br />

lein Tauschwertgrößen vergleichenden relativen Verelendung.<br />

1968 erschien <strong>die</strong> letzte Auflage von >Imperialismus heuteDer Impe-<br />

rialismus der BRDImperialismus heute< aufbauen und es fortsetzen sollte. 88<br />

Als Ergebnis der veränderten Konjunkturlage ist <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie über <strong>die</strong><br />

Entwicklung in der Lage der Arbeiterklasse wieder deutlich schärfer gehalten. Zwar werden <strong>die</strong><br />

systematischen Formulierungen zur Einschätzung der <strong>Verelendungstheorie</strong> bei Marx wiederholt,<br />

in denen zugleich auch <strong>die</strong> Gültigkeit der <strong>Verelendungstheorie</strong> als Bewußtseinstheorie bestritten<br />

wird. 89 Nachdem dann noch <strong>die</strong> Marx- und Engels-Stellen über <strong>die</strong> gegenwirkenden Faktoren<br />

bzw. den >gewissen Damm< zitiert worden sind, gebraucht das Buch >Der Imperialismus der<br />

BRD< Formulierungen, <strong>die</strong> all <strong>die</strong> Modifikationen und Polemiken gegen <strong>die</strong> Verelendungstheo-<br />

rie der vorangegangenen Analysen wieder zurücknehmen und <strong>die</strong> unter dem Eindruck der verän-<br />

derten politischen und ökonomischen Lage in der BRD mit den entsprechenden Formulierungen<br />

des SED-Programms von 1963 beinahe wörtliche Übereinstimmungen zeigen. 90<br />

Es wird zwar nicht mehr von einer Permanenz der absoluten Verelendung ausgegangen, <strong>die</strong> sich<br />

»mitunter auch« beschleunige (wie es im Programm der SED heißt), aber <strong>die</strong><br />

87 Ebd., S. 712 f.<br />

88 Der Imperialismus der BRD, Berlin (DDR) 1971, S. 5.<br />

89 »Marx hat nirgendwo eine Theorie der permanenten Verelendung des Proletariats entwickelt, geschweige denn den Ruin<br />

von Proletariermassen als Bedingung für den Sieg über den Kapitalismus betrachtet« (ebd., S. 390 f).<br />

90 Ebd., S. 391 f.<br />

54


absolute Verelendung wird nicht mehr bloß dementiert sondern es wird immer wieder darauf<br />

hingewiesen, daß sie auch empirisch beobachtbar sei und nur durch den Kampf der Arbeiterklas-<br />

se und durch den Einfluß des Sozialismus in vielen Bereichen zurückgedämmt werden könne. 91<br />

In >Der Imperialismus der BRD< wird auch <strong>die</strong> Dynamik der Bedürfnisse betont, aber eben<br />

nicht wie <strong>die</strong>s ansatzweise in >Imperialismus heute< als Zuspitzung des Widerspruchs zwischen<br />

der eng begrenzten Tauschwertgrenze des Werts der Ware Arbeitskraft und der selbstbewußten<br />

Gebrauchswertbasis der über <strong>die</strong>se Grenze hinausgreifenden Bedürfnisse, wodurch <strong>die</strong> Verselb-<br />

ständigung des Tauschwerts gegenüber dem Gebrauchswert im Kapitalismus erfahrbar und be-<br />

greifbar würde. Statt dessen wird <strong>die</strong> Entfaltung der Bedürfnisse lediglich als weiteres Argument<br />

und als Beleg für <strong>die</strong> Gültigkeit der Theorie von der relativen und absoluten Verelendung ver-<br />

wandt: wachsende Bedürfnisse seien nur solche, <strong>die</strong> durch den veränderten Produktionsprozeß<br />

für <strong>die</strong> Reproduktion der Arbeiterklasse notwendig werden. Können sie nicht mit Hilfe des Loh-<br />

nes befriedigt werden, dann sei der Lohn unter den Wert der Ware Arbeitskraft gefallen, es habe<br />

dann eine absolute Verelendung stattgefunden, denn <strong>die</strong> Arbeiterklasse könne sich nicht mehr<br />

voll reproduzieren.<br />

»Aus <strong>die</strong>sen veränderten Reproduktionsbedingungen der Arbeiter entstand ein neuer tiefer Widerspruch: Die gesell-<br />

schaftlichen Bedingungen für <strong>die</strong> Reproduktion der Arbeitskraft bleiben immer stärker hinter den wachsenden und<br />

qualitativ neuen Bedürfnissen zurück. Durch <strong>die</strong>sen Widerspruch wird <strong>die</strong> erweiterte und sogar schon <strong>die</strong> einfache<br />

Reproduktion der Arbeitskraft gehemmt oder unmöglich. Die Reproduktion der Arbeitskraft aber ist eine Existenz-<br />

bedingung sowohl für <strong>die</strong> Arbeiter als auch für das kapitalistische Ausbeutungssystem als Ganzes.« 92<br />

Hier verschärft sich <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> beinahe wieder zu einer Zusammenbruchstheorie.<br />

Und genau so wie in der ganzen Geschichte der Arbeiterbewegung übernimmt sie wieder <strong>die</strong><br />

Rolle, das Motiv und den Willen der Arbeiterklasse zum Kampf gegen den Kapitalismus erklä-<br />

ren zu müssen.<br />

In einem Abschnitt über >Spontaneität, Bewußtheit und Aktion< wird entwickelt, wie <strong>die</strong> spon-<br />

tane Motivation (»In dem Maße, wie das Unbehagen am bestehenden Gesellschaftssystem zu-<br />

nimmt, wächst in breiten Schichten der Bevölkerung auch <strong>die</strong> Spontaneität« 93 ) mit der notwen-<br />

digen größeren Einsicht vermittelt werden soll. So wie der staatsmonopolistische Kapitalismus<br />

»<strong>die</strong> Tendenz zur Spontaneität« vermehre, so habe er auch mehr Mittel entwickelt, um <strong>die</strong> spon-<br />

tane Auf-<br />

91 Z. B. ebd., S. 392 f.<br />

92 Ebd., S. 389.<br />

93 Ebd., S. 615<br />

55


lehnung wieder durch »Randzugeständnisse«, Demagogie oder Verfälschungen zu integrieren<br />

oder aber einfach zu zerschlagen. Ein »konsequenter Kampf gegen <strong>die</strong> Macht der Monopole« er-<br />

fordere »Kenntnis der Grundgesetze des Imperialismus, eine langfristige Strategie und eine dau-<br />

erhafte, kampffähige Organisation, Vorausschau des Zieles und der Prognose möglicher gesell-<br />

schaftlicher Entwicklung kurz: das Gegenteil von Spontaneität«. Deshalb erhöhe sich »<strong>die</strong> Be-<br />

deutung der marxistisch-leninistischen Partei«. Sie müsse vor allem <strong>die</strong> »spontan erfühlten« Be-<br />

dürfnisse mit dem Fernziel der Arbeiterbewegung vermitteln.<br />

»Diese Vermittlung war nie leicht. Sie ergab sich für große Massen mitunter nur in Zeiten tiefer Gesellschaftskrisen,<br />

wenn <strong>die</strong> Grundwidersprüche der Gesellschaft unübersehbar aufbrachen und <strong>die</strong> Not so unerträglich wurde, daß <strong>die</strong><br />

Menschen unmittelbar bereit waren, aufs Ganze zu gehen.« 94<br />

4. Die Vorstellungen der SPD über <strong>die</strong> Lage und Bewußtseinsentwicklung der Arbeiter<br />

vom Görlitzer bis zum Godesberger Programm<br />

Bis hierher ist <strong>die</strong> Rolle der <strong>Verelendungstheorie</strong> in dem Teil der deutschen Arbeiterbewegung<br />

beschrieben worden, der sich auf <strong>die</strong>jenigen beruft, <strong>die</strong> im Revisionismusstreit Verteidiger eines<br />

orthodoxen Standpunktes waren.<br />

Nun soll <strong>die</strong> Entwicklung derjenigen Richtung in der deutschen Arbeiterbewegung nachgezeich-<br />

net werden, <strong>die</strong> damals wie heute als >Revisionismus( bezeichnet wurde, und zwar anhand der<br />

Programme und der Diskussionen auf den Parteitagen <strong>die</strong> Entwicklung der SPD nach dem<br />

Revisionismusstreit bis zu dem heute noch gültigen Grundsatzprogramm von Godesberg.<br />

Die Wende zum Optimismus (1926-1927)<br />

Im Görlitzer Programm der SPD von 1921 findet sich <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als Beschreibung<br />

der wirklichen Entwicklung wie auch als Darstellung der mobilisierenden Kraft zwar nicht in<br />

den an Naturgesetze erinnernden Formulierungen des Erfurter Programmes aber doch in deutli-<br />

chen Worten wieder -wohl unter dem Eindruck des Krieges und der Nachkriegszeit. 95 Vergleicht<br />

man aber den Grundtenor der Ein-<br />

94 Ebd., S. 617.<br />

95 Vgl. Programme der deutschen Sozialdernokratie (Sonderdruck für den Verstand der Sozialdemokratischen Partei<br />

Deutschlands, Bonn), Hannover 1963,S.83.<br />

56


schätzung der Wirtschaftsentwicklung und <strong>die</strong> Zielrichtung der Agitation mit den ersten Verlaut-<br />

barungen der Kommunistischen Internationale nach dem 1. Weltkrieg, dann kommt schon zu<br />

<strong>die</strong>sem Zeitpunkt der optimistischere und auf <strong>die</strong> positive Entwicklung vertrauende Zugang der<br />

SPD zur Geltung. So betonte der Berichterstatter der Programmkommission, Löbe, vordem Par-<br />

teitag:<br />

»Unsere Wirtschaft gleicht einem wogenden Meer, in dem <strong>die</strong> Wellen sich überstürzen. Lange wird es dauern, ehe<br />

sie sich beruhigen, und unser Schiff auf ruhigem Gewässer der Entwicklung dahingleitet. Deshalb legen wir es in<br />

unserem Programm klar und unzweideutig nieder, daß gerade <strong>die</strong> heutige Zeit beweist, wie <strong>die</strong> kapitalistische Pro-<br />

duktion und Austauschweise unfähig ist, das Leben der Kulturvölker zu sichern, daß der Sozialismus <strong>die</strong> Katastro-<br />

phe überwindet, [ ... ]« 96<br />

Die <strong>Verelendungstheorie</strong> wurde als Theorie der Mobilisierung und als Begründung für <strong>die</strong> Not-<br />

wendigkeit eines Sozialismus voll beibehalten, aber als Theorie über <strong>die</strong> notwendige Entwick-<br />

lung der Wirtschaft und der Lage der Arbeiter aufgegeben, denn es besteht ja <strong>die</strong> Aussicht, wenn<br />

auch in großer Ferne, auf <strong>die</strong> »ruhigen Gewässer der Entwicklung«.<br />

Erst im Heidelberger Programm von 1925 wurden <strong>die</strong> Sozialdemokratischen Folgerungen aus<br />

der Revisionismusdebatte in das Programm aufgenommen:<br />

»Ununterbrochen sind im Kapitalismus Tendenzen wirksam, <strong>die</strong> arbeitenden Schichten in ihrer Lebenshaltung zu<br />

drücken. Nur durch steten Kampf ist es ihnen möglich, sich vor zunehmender Erniedrigung zu bewahren und ihre<br />

Lage zu verbessern.« 97<br />

Die Tendenz zur Verelendung durch den Kapitalismus wurde also nicht bestritten, aber <strong>die</strong> Ar-<br />

beiterklasse könne durch ihren Kampf <strong>die</strong>ser Tendenz entgegenwirken und ihre Lage verbessern,<br />

und zwar schon unter dem Kapitalismus, und nicht erst im Sozialismus.<br />

Zugleich aber blieb <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie der Mobilisierung gegen den Kapitalis-<br />

mus unangetastet, wie <strong>die</strong>s auch im Revisionismusstreit von seiten Bernsteins nie in Frage ge-<br />

stellt worden war.<br />

»Doch mit dem Druck und den Gefahren des Hochkapitalismus steigt auch der Widerstand der stets wachsenden<br />

Arbeiterklasse, <strong>die</strong> durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst sowie durch stete Ar-<br />

beit der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei geschult und vereint wird. Immer größer wird <strong>die</strong><br />

Zahl der Proletarier, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der<br />

Klassenkampf zwischen den kapitalistischen Beherrschern der Wirtschaft und den Beherrschten.« 98<br />

Neben der Schulung durch Partei und Gewerkschaft wurde betont, daß der kapitalistische Pro-<br />

duktionsprozeß selbst <strong>die</strong> Arbeiter in ihrem Widerstand schule.<br />

96 S. 298 und 299.<br />

97 Programm der SPD, a.a.O., S. 92.<br />

98 Ebd., S. 92.<br />

57


Schaut man sich daraufhin aber das Programm und das Protokoll der Verhandlungen über das<br />

Programm genauer an, so zeigt sich, daß eine genauere Analyse des kapitalistischen Produkti-<br />

onsprozesses gar nicht vorgenommen worden war, denn es finden sich nur Hinweise auf <strong>die</strong> Ein-<br />

führung arbeitssparender Maschinen und den dadurch erstrebten Extraprofit. Es fehlt aber <strong>die</strong><br />

Einsicht, daß neben solchen Rationalisierungen in der Regel auch Steigerungen in der Intensität<br />

der Arbeit auftreten - eine Erkenntnis, <strong>die</strong> in den kommunistischen Analysen derselben Zeit im-<br />

mer zentraler wird, wie wir gesehen haben.<br />

Der Tenor des Heidelberger Programms verstärkt also <strong>die</strong> Akzentverschiebung auf eine optimis-<br />

tischere Einschätzung bei grundsätzlicher Beibehaltung der <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie<br />

über <strong>die</strong> Entstehung von antikapitalistischem Bewußtsein. Da aber gleichzeitig festgestellt wur-<br />

de, daß <strong>die</strong> Tendenz zur wirklichen Verelendung der Lage der Arbeiter durch den Kampf der Ar-<br />

beiter abgewandt werden könne, mußte zugleich ein neues Erklärungsmoment gefunden werden,<br />

wie antikapitalistisches Bewußtsein auch unter <strong>die</strong>sen verbesserten Bedingungen entstehen kön-<br />

ne. Das Dilemma und seine Lösung wird deutlicher als im Programm im Kommentar Karl<br />

Kautskys zum grundsätzlichen Teil des Programms ausgesprochen. Diesem Kommentar kommt<br />

darum auch besondere Bedeutung zu, weil das Programm selbst von Kautsky entworfen und in<br />

den hier relevanten Teilen auch so verabschiedet worden - ist. 99 Einerseits stellt er fest, daß <strong>die</strong><br />

verelendende Kraft des Kapitalismus weiterhin wirke, was man überall dort sehe, wo <strong>die</strong> Kapita-<br />

listen »widerstandslosen Arbeitermassen gegenüberstehen, wie in China und In<strong>die</strong>n«. Anderer-<br />

seits aber:<br />

»Der Drang, <strong>die</strong> Tendenz des Kapitalismus nach Verelendung seiner Arbeiter besteht heute ebenso wie vor hundert<br />

Jahren. Aber zum Glück für <strong>die</strong> Menschheit erweist sich <strong>die</strong>se Tendenz nicht als unwiderstehlich, sonst wären <strong>die</strong><br />

Arbeiter schon längst in tiefstem Elend verkommen und untergegangen, und damit wäre <strong>die</strong> ganze kapitalistische<br />

Gesellschaft der Länder der höchsten Zivilisation in Schmutz und Schande erstickt.«<br />

Dieser außerordentlich wichtige Einwand gegen <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> wendet sich genauso<br />

gegen ihre Gültigkeit als Beschreibung der tatsächlichen Entwicklung der Lage der Arbeiterklas-<br />

se (<strong>die</strong> Reproduktion der Gesamtgesellschaft würde<br />

99 Vgl. Bericht der Programm-Kommission durch Hilferding, in: Sozialdemokratischer Parteitag 1925 in Heidelberg - Pro-<br />

tokoll mit dem Bericht der Frauenkonferenz, Berlin 1925, S. 273; in der Aussprache stellte übrigens Levy fest, daß der Satz<br />

über <strong>die</strong> Verelendung im Erfurter Programm nicht in das Heidelberger Programm übernommen worden ist: »Dieser Satz ist<br />

im wesentlichen das Kernstück der jahrelangen Diskussion in der Sozialdemokratischen Partei zwischen den sogenannten<br />

Revisionisten und Radikalen gewesen. Ich stelle mit Bedauern fest daß <strong>die</strong>ser Stein des Anstoßes der Revisionisten von<br />

damals heute gestrichen ist« (S. 286).<br />

58


zunehmend eingeschränkt) wie auch gegen ihre Gültigkeit als Theorie der Entstehung von Be-<br />

wußtsein (mit der eingeschränkten Reproduktion würde auch <strong>die</strong> Erfahrungsbasis und Aktions-<br />

möglichkeit auf <strong>die</strong> bloße individuelle Lebenssicherung reduziert). Dies wird aber an <strong>die</strong>ser Stel-<br />

le nicht weiter ausgeführt. Statt dessen werden <strong>die</strong> gegen eine Verelendung wirkenden Kräfte<br />

dargestellt, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> kapitalistische Entwicklung selbst erzeugt werden:<br />

»Das Kapital selbst erzeugt nicht bloß den Drang nach Verelendung der Arbeiter, es erzeugt auch - sehr wider sei-<br />

nen Willen - <strong>die</strong> Bedingungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Masse und den Zusammenschluß der Masse und ihre Wucht immer mehr<br />

vergrößern, wodurch <strong>die</strong> tatsächliche Bewegung der Arbeiterklasse aus einer absteigenden in eine aufsteigende ver-<br />

wandelt wird. [ ... ] Schon vor hundert Jahren begannen sich manche Arbeiter Englands gelegentlich zu Versuchen<br />

des Widerstandes gegen kapitalistische Tyrannei in Ausständen zusammenzutun. Die wirkten wenig. Als aber aus<br />

gelegentlichern Zusammentreten dauernde Organisationen erwuchsen, [. . ] da hörte für alle <strong>die</strong> Arbeiterschichten,<br />

<strong>die</strong> zu solcher Art Organisation fähig waren, <strong>die</strong> Tendenz der Verelendung auf, wirksam zu sein.<br />

Aber das geschah nur durch unaufhörlichen Kampf, Klassenkampf; durch unaufhörliche Vermehrung und Vervoll-<br />

kommnung der Waffen des Klassenkampfes.<br />

Der proletarische Klassenkampf hat Europa vor dem Elend bewahrt, in das es der schrankenlose Kapitalismus zu<br />

stürzen drohte.« 99a<br />

Diese eindrucksvolle Darstellung der Kräfte, <strong>die</strong> sich der Tendenz zur Verelendung entgegen-<br />

stellten, deren Entstehungsgrund nach <strong>die</strong>ser Argumentation aber eben in der Intention liegt, <strong>die</strong><br />

Tendenz zur Verelendung abzuwehren, <strong>die</strong>se Überlegungen müssen notwendig in der Vermu-<br />

tung münden, mit dem Grund des Klassenkampfes, nämlich dem Elend, sei auch der Kampf ver-<br />

schwunden:<br />

»Nun meint gar mancher bürgerlicher Politiker und Ökonom, daß jetzt, seitdem das Proletariat es vermag, <strong>die</strong> Ten-<br />

denz der Verelendung zu überwinden und unter günstigen Umständen seine Lage sogar zu verbessern, damit sein<br />

Gegensatz gegen das Kapital sich mildere und es sich mit seiner Herrschaft immer mehr abfinde, ja befreunde.«<br />

Diesem Gedanken, der nur als Vermutung der >bürgerlichen< Gegner zugelassen wird, setzt<br />

Kautsky eine Argumentation entgegen, <strong>die</strong> zuerst stark an <strong>die</strong> Theorie der relativen Verelendung<br />

erinnert: der absolute Mehrwert werde durch <strong>die</strong> Produktion des relativen Mehrwerts abgelöst -<br />

mit dem Resultat: der Anteil der Kapitalisten »am Produkt der Arbeit wächst auch unter <strong>die</strong>sen<br />

für den Arbeiter günstigen Umständen«.<br />

Hier war <strong>die</strong> Argumentation für <strong>die</strong> Einwände der Verelendungstheoretiker vom Schlage Davids<br />

völlig offen, denn was sich hier als bloße relative Verelendung darstellt, konnte leicht als in<br />

Wirklichkeit absolute Verelendung analysiert werden, wenn man nicht (wie Kautsky es hier<br />

machte) <strong>die</strong><br />

99a Erste Hervorh. W. W. - zweite Hervorh. i. Orig.<br />

59


Intensivierung der Arbeit und ihre Folgen außer acht ließ.<br />

Aber <strong>die</strong> Argumentation Kautskys wollte gar nicht auf relative Verelendung hinaus, <strong>die</strong> ja - wie<br />

gezeigt - nur <strong>die</strong> Ei kommen in Relation setzt. Statt dessen wird eine ganz neu der Verelendungs-<br />

theorie als Theorie über <strong>die</strong> Entstehung v Bewußtsein geradezu entgegengesetzte Theorie vorge-<br />

tragen:<br />

»Auf der andern Seite erstarkt mit der Verkürzung der Arbeitszeit u dem Steigen der Löhne das Selbstbewußtsein<br />

der Arbeiter, nehmen <strong>die</strong> Möglichkeiten ihrer Organisierung und Aufklärung zu, steigen ihre Ansprüche an den ge-<br />

sellschaftlichen Reichtum, den sie geschaffen haben wächst ihr Widerstand dagegen, als willenlose Werkzeuge bei<br />

der Arbeit behandelt zu werden. [...]<br />

Das, und nicht <strong>die</strong> Milderung der Klassengegensätze ist <strong>die</strong> Folge der Überwindung der kapitalistischen Verelen-<br />

dungstendenz durch ein in siegreiche Klassenkämpfen emporsteigendes Proletariat.« 100<br />

Demnach entstehe und verstärke sich das antikapitalistisch Bewußtsein durch <strong>die</strong> wachsenden<br />

und zugleich mit wachsen dem Selbstbewußtsein vorgetragenen Ansprüche, durch <strong>die</strong> Entfaltung<br />

der Bedürfnisse in der Zirkulationssphäre wie auch im Produktionsprozeß, und zwar nicht nur<br />

materielle Bedürfnisse, sondern auch politische Bedürfnisse, wie Selbstbestimmung am Arbeits-<br />

platz und Mitbestimmung an der gesellschaftlichen Entwicklung. Also nicht der Abschwung, <strong>die</strong><br />

Verelendung und <strong>die</strong> Bedrohung der minimalen, existenznotwendigen Bedürfnisbefriedigung er-<br />

zeuge das massenhafte antikapitalistische und revolutionäre Bewußtsein. Es sei der Aufschwung,<br />

der gesteigerte Wohlstand, und das gewachsene Selbstbewußtsein, wodurch <strong>die</strong>. Forderung nach<br />

erhöhter Bedürfnisbefriedigung und voller Selbstbestimmung gegen <strong>die</strong> besonderen Beschrän-<br />

kungen durch <strong>die</strong> kapitalistische Produktionsweise entstehe.<br />

Doch zugleich mit <strong>die</strong>sem Wandel in der Entstehung von antikapitalistischem Bewußtsein - und<br />

das folgende Zitat zeigt, daß Kautsky an einen Wandel der Formen und nicht an eine Widerle-<br />

gung früherer Auffassungen dachte - entwickelte sich auch ein Wandel in der Form des Klassen-<br />

kampfes: er nehme »mildere« Formen an:<br />

Die Demokratie biete »<strong>die</strong> Möglichkeit, <strong>die</strong> Klassenkämpfe weniger opfervoll zu gestalten, <strong>die</strong> Verheerungen zu<br />

mildern, <strong>die</strong> sie mit sich bringen. Wo <strong>die</strong> Demokratie herrscht, da kämpfen nicht mehr unwissende, unorganisierte<br />

Scharen. Solche sind unter normalen Umständen keines Widerstandes fähig, nur eine außerordentliche Situation ,<br />

vermag sie zu einer Erhebung aufzupeitschen, <strong>die</strong> nicht kluger Berechnung des günstigen Moments, sondern wilder<br />

Verzweiflung entspringt, daher oft nur zu kurzem, ziellosem zerstörendem Toben führt, um dann im Blute erstickt<br />

zu werden. Derart sind <strong>die</strong> Klassenkämpfe des Proletariats in ihren Anfängen überall dort, wo keine längere Benut-<br />

zung demokratischer Rechte es organisiert und geschult hat, Je länger <strong>die</strong> Demokratie in einem Lande dauert, je un-<br />

100 Alle Zitate: Karl Kautsky, Kommentar zum Heidelberger Programm, in: Das Heidelberger Programm, Berlin 1925, S.<br />

14 bis 16.<br />

60


umschränkter sie ist, um so mehr verlieren <strong>die</strong> proletarischen Klassenkämpfe <strong>die</strong>sen wilden Charakter des Ur-<br />

sprungs. Und so werden <strong>die</strong> Formen des proletarischen Klassenkampfes immer milder, trotzdem <strong>die</strong> Klassengegen-<br />

sätze sich immer stärker zuspitzen.« 101<br />

Nach <strong>die</strong>sem vom Parteivorstand autorisierten Kommentar ,standen also noch beide Auffassun-<br />

gen über <strong>die</strong> Entstehung von antikapitalistischem Klassenbewußtsein nebeneinander, und je<br />

nachdem, ob Verelendung oder Aufschwung herrsche, nehme der Klassenkampf mildere oder<br />

wildere, reformerische oder revolutionäre Formen an. Dabei wurde der Zusammenhang aber<br />

nicht als ein Hin und Her von Auf- und Abschwung, sondern als ein epochaler Ablösungsprozeß<br />

gesehen: Verelendung und bewaffnete, revolutionäre Kämpfe seien in <strong>die</strong> Kolonien verdrängt,<br />

während in Europa der reformerische Übergang zum Sozialismus, getragen durch <strong>die</strong> selbstbe-<br />

wußten Bedürfnisforderungen eines erstarkten Proletariats, zunehmend frühere Formen des<br />

Klassenkampfes und der Bewußtseinsbildung ablöse.<br />

Auf dem Parteitag von 1927 in Kiel wurde kein neues, Programm beschlossen. In einem Referat<br />

>Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik< stellte jedoch Rudolf Hilferding <strong>die</strong> Wei-<br />

terentwicklung der Vorstellungen der SPD vor und stieß mit ihnen auf dem Parteitag kaum auf<br />

Gegenstimmen. In <strong>die</strong>sem Referat wies er alle ökonomischen wie politischen<br />

Zusammenbruchstheorien zurück und versprach dagegen, »daß wir, wenn nicht alle Anzeichen<br />

trügen, zum ersten Mal seit Ablauf des Krieges in eine allgemeine weltwirtschaftliche Besserung<br />

der Konjunktur eingetreten sind« 102 .<br />

Zugleich meinte er einen grundlegenden Wandel in der kapitalistischen Wirtschaft »von der<br />

Wirtschaft des freien Spiels der Kräfte zur organisierten Wirtschaft« beobachten zu können. 103<br />

»Wir haben heute alle das Gefühl, daß auch der Privatbetrieb, <strong>die</strong> Wirtschaftsführung des einzel-<br />

nen Unternehmers, aufgehört hat, Privatsache <strong>die</strong>ses Unternehmers zu sein.«<br />

Aus <strong>die</strong>sem >Gefühl< - eine Analyse oder Begründung kann man nirgendwo finden - wurden<br />

dann folgende weitgehenden Konsequenzen gezogen:<br />

»Organisierter Kapitalismus bedeutet also in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der<br />

freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion. [ ... ] Das heißt nichts anderes, als daß<br />

unserer Generation das Problem gestellt ist, mit Hilfe des Staates, mit Hilfe der bewußten gesellschaftlichen Rege-<br />

lung <strong>die</strong>se von den Kapitalisten organisierte und geleitete Wirtschaft in eine durch den demokratischen Staat gelei-<br />

tete Wirtschaft umzuwandeln. 104<br />

101 Ebd., S. 18.<br />

102 Protokoll der Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1927 in Kiel, Berlin 1927, S.<br />

165.<br />

103 Ebd., S. 166.<br />

104 Ebd., S. 168 f.


Damit hatte <strong>die</strong> optimistische Sicht, das Setzen auf den Aufschwung und das Vertrauen, <strong>die</strong> Ar-<br />

beiterklasse werde sich aus dem Interesse, an <strong>die</strong>sem Aufschwung beteiligt zu sein <strong>die</strong> Sozial-<br />

demokratie scharen, auch <strong>die</strong> Einschätzung der» Entwicklung der Kapitalseite erfaßt und verän-<br />

dert und blieb nicht mehr, wie in Heidelberg, auf <strong>die</strong> Analyse der Lage der Arbeiterklasse be-<br />

schränkt: Nun meinte man, <strong>die</strong> Entwicklung treibe den Kapitalismus über sein eigenes Konsti-<br />

tuens hinaus zur bewußten Organisation und Orientierung an den gesellschaftlichen Bedürfnis-<br />

sen durch den Staat. Demnach sei eine revolutionäre Umwälzung überhaupt nicht mehr nötig,<br />

man > brauche das Prinzip der Demokratie nur aus dem politischen Bereich auf <strong>die</strong> Wirtschaft<br />

auszudehnen.<br />

Damit rückte an <strong>die</strong> Stelle des früheren Kampfes gegen <strong>die</strong> Verelendung -ein Kampf, den <strong>die</strong><br />

KPD immer noch als zentrale Strategiebestimmung, weil entscheidende mobilisierende Kraft an-<br />

sah - »der Kampf um Betriebsdemokratie und der Kampf um <strong>die</strong> Wirtschaftsdemokratie. Die<br />

Wirtschaftsdemokratie ist <strong>die</strong> Unterordnung der wirtschaftlichen Privatinteressen unter das ge-<br />

sellschaftliche Interesse; Betriebsdemokratie ist <strong>die</strong> Aufstiegsmöglichkeit zu der Leitung des Be-<br />

triebes für den einzelnen je nach seinen Fähigkeiten« 105 .<br />

Das Verhalten zur Weltwirtschaftskrise<br />

Nach der allgemeinen Wende zum Optimismus über <strong>die</strong> Entwicklung der Lage der Arbeiter -<br />

nach der Strategie von Heidelberg, auf den Aufschwung zu setzen, und erst recht nach der Ein-<br />

schätzung von Kiel, der Kapitalismus entwickle sich von selbst zum organisierten Kapitalismus,<br />

den man nur noch politisch zu übernehmen brauche -nach alldem ist es von besonderer Bedeu-<br />

tung, zu untersuchen, wie <strong>die</strong> SPD auf <strong>die</strong> Weltwirtschaftskrise reagierte: würde sie ihren Kurs<br />

beibehalten und weiter auf Aufschwung setzen, oder würde sie nun <strong>die</strong> Arbeiterklasse, <strong>die</strong> sie als<br />

so selbstbewußt und stark einschätzte, zum revolutionären Kampf aufrufen gegen den Kapitalis-<br />

mus, der sich als so offensichtlich unfähig gezeigt hatte, <strong>die</strong> gesteigerten Ansprüche und Bedürf-<br />

nisse zu erfüllen?<br />

1931 hielt <strong>die</strong> SPD in Leipzig ihren Parteitag. Gleich am ersten Verhandlungstag hielt Fritz<br />

Tarnow, der zusammen mit Naphtali <strong>die</strong> Konzeption der Wirtschaftsdemokratie in Partei und<br />

Gewerkschaft maßgeblich geprägt und durchgesetzt hatte, das Hauptreferat mit dem Titel >Kapi-<br />

talistische Wirtschaftsanarchie und Arbeiterklasse


nicht bewahrheitet hatten, daß <strong>die</strong>se Politik in einem so offensichtlichen Bankrott geendet hatte:<br />

»Hat sich <strong>die</strong> Entwicklung rückläufig vollzogen, oder hat Hilferding damals eine falsche Analyse vorgenommen,<br />

oder muß ich heute zu Unrecht über Wirtschaftsanarchie sprechen? Nichts von dem! Der Monopolkapitalismus or-<br />

ganisiert zwar, aber er organisiert Wirtschaftsbezirke und nicht <strong>die</strong> Volkswirtschaft; er hebt in der Gesamtwirtschaft<br />

<strong>die</strong> Anarchie nicht auf, er verlegt sie nur in andere Größenordnungen. Der organisierte Kapitalismus hat den öko-<br />

nomischen Bürgerkrieg Mann gegen Mann aufgehoben und ihn in einen ökonomischen Bandenkrieg umgewan-<br />

delt.« 106<br />

In <strong>die</strong>ser Ehrenrettung steckt eine Kehrtwendung in der Einschätzung des Kapitalismus, so<br />

scheint es. Und liest man den Schluß der Rede, so könnte man meinen, <strong>die</strong> SPD habe sich ange-<br />

sichts der fürchterlichen Krise, der offenen Verelendung und der gleichzeitigen Radikalisierung<br />

der Arbeiterschaft wie7 der auf marxistische Kapitalismusanalyse besonnen, und es scheint so,<br />

als rufe sie nun - auf <strong>die</strong> mobilisierende Kraft der Krise vertrauend - zum revolutionären Kampf<br />

auf:<br />

»Wir dürfen darauf vertrauen, daß auch <strong>die</strong>se ökonomische Weltkrise in allen Ländern Millionen neuer Anhänger<br />

unter <strong>die</strong> Fahne des Sozialismus treiben und zu dem Ruf vereinigen wird: >Hinweg mit <strong>die</strong>ser kapitalistischen Wirt-<br />

schaftsordnung!< (Stürmischer Beifall.)« 107<br />

Aber selbst <strong>die</strong>ser Schlußfanfarenstoß zeigt, daß durchaus mit einer noch länger dauernden Exis-<br />

tenz des Kapitalismus gerechnet wurde, nicht mit einer unmittelbar bevorstehenden Umwälzung<br />

der Produktionsweise. So antwortete Tarnow vorher auf <strong>die</strong> selbstgestellte Frage »Endgültige<br />

Krise des Kapitalismus?«, es sei trotz einer Häufung von Krisenelementen nicht davon auszuge-<br />

hen, »daß wir <strong>die</strong> entscheidende Krise des kapitalistischen Systems vor uns haben, <strong>die</strong> endgültige<br />

Krise, <strong>die</strong> mit dem Zusammenbruch des Kapitalismus enden müsse«. Er glaube vielmehr, <strong>die</strong><br />

Wirtschaft werde »Wege finden, <strong>die</strong> wieder zum Aufstieg führen«. 108<br />

Wenn der Zusammenbruch des Kapitalismus auch nicht selbsttätig durch <strong>die</strong> Krise erfolge, so<br />

könnte doch <strong>die</strong> revolutionäre Aktion des bewußt gewordenen Proletariats unter der Anleitung<br />

der Partei <strong>die</strong> Krise zur Umwälzung des Gesellschaftssystems nutzen. Diese Möglichkeit sah<br />

Tarnow durchaus und beantwortete sie in einem Bild, das mittlerweile berühmt geworden ist:<br />

»Nun stehen wir ja allerdings am Krankenlager des Kapitalismus nicht nur als Diagnostiker, sondern auch - ja, was<br />

soll ich da sagen? - als Arzt der heilen will?, oder als fröhlicher Erbe, der das Ende nicht erwarten kann und am<br />

liebsten mit Gift noch etwas nachhelfen möchte? (Heiterkeit) In <strong>die</strong>sem Bild drückt sich unsere ganze Situation aus.<br />

(Sehr gut!) Wir sind nämlich, wie mir scheint, dazu verdammt, sowohl Arzt zu sein, der ernsthaft heilen will, und<br />

dennoch das Gefühl aufrechtzuerhalten, daß<br />

106 Protokoll - Sozialdemokratischer Parteitag in Leipzig 1931 vom 31. Mai bis 5. Juni im Volkshaus; Berlin 1931, S. 38 f.<br />

107 Ebd., S. 52.<br />

108 Ebd., S. 45.<br />

63


wir Erben sind, <strong>die</strong> lieber heute als morgen <strong>die</strong> ganze Hinterlassenschaft des kapitalistischen Systems in Empfang<br />

nehmen wollen. Diese Doppel rolle, Arzt und Erbe, ist eine verflucht schwierige Aufgabe. (Sehr richtig)«. 109<br />

Die Begründung, warum <strong>die</strong> SPD »Arzt am Krankenbett des Kapitalismus« und nicht nur Erbe<br />

sein müsse, der »jetzt, wo er schon röchelt, ihm den Gnadenstoß« geben will, folgt ganz logisch<br />

aus der Theorie des Heidelberger Programms, wonach <strong>die</strong> Partei der Arbeiterklasse auch schon<br />

unter der Herrschaft des Kapitalismus für <strong>die</strong> Lage der Arbeiter verantwortlich sei und <strong>die</strong> Ten-<br />

denz zur Verelendung aufhalten könne und deshalb auch aufhalten müsse.<br />

»Der Patient selbst barmt uns gar nicht so sehr, aber <strong>die</strong> Massen, <strong>die</strong> dahinter stehen. (Sehr richtig!) Wenn der Pati-<br />

ent röchelt, hungern <strong>die</strong> Massen draußen. (Sehr richtig!) Wenn wir das wissen und eine Medizin kennen, selbst<br />

wenn wir nicht überzeugt sind, daß sie den Patienten heilt, aber sein Röcheln wenigstens lindert, so daß <strong>die</strong> Massen<br />

draußen wieder mehr zu essen bekommen, dann geben wir ihm <strong>die</strong> Medizin und denken im Augenblick nicht so sehr<br />

daran, daß wir doch Erben sind und sein baldiges Ende erwarten.« 110<br />

Die Kommunistische Internationale wies dagegen jede Verantwortung für den Verlauf der Krise<br />

und <strong>die</strong> Entwicklung in der Lage der Arbeiterklasse von sich: auf der Basis der Verelendungs-<br />

theorie mußte es so scheinen, als ob <strong>die</strong> Arbeiterklasse ihre Forderungen zur Verbesserung der<br />

Lage aufstellen und kämpferisch vertreten müsse, damit aber <strong>die</strong> innere Gesetzmäßigkeit der ka-<br />

pitalistischen Akkumulation nicht auf <strong>die</strong> Dauer aufheben könne, sondern im Gegenteil <strong>die</strong> Wi-<br />

dersprüche der kapitalistischen Akkumulation dadurch nur noch verschärft würden. Das Elend,<br />

das der Kapitalismus dabei notwendig und unabwendbar produziere, mache der Arbeiterklasse<br />

nur noch klarer, daß sie eine dauerhafte Verbesserung ihrer Lage erst nach dem Zusammenbruch<br />

des Kapitalismus zu erwarten habe. Nachdem <strong>die</strong> SPD <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als Beschrei-<br />

bung einer durch <strong>die</strong> Arbeiterklasse unabwendbaren Entwicklung im Kapitalismus verworfen<br />

hatte, konnte sie <strong>die</strong> Eskalation bis zum Zusammenbruch nicht als Beschleunigung eines sowieso<br />

unvermeidbaren Prozesses unterstützen:<br />

»Was bedeutet denn überhaupt ein Zusammenbruch der Wirtschaft, von dein in radikalen Kreisen <strong>die</strong> Rede ist? [. . .]<br />

Ich wundere mich, daß mir niemand zuruft: Wir haben doch schon den Zusammenbruch der Wirtschaft!! Ja, den ha-<br />

ben wir, aber es reicht doch offenbar noch nicht aus, um das kapitalistische System zu erledigen. Wir müssen also<br />

einen ganz anderen Zusammenbruch haben, der etwas noch viel Schlimmeres bedeutet, als wir im Augenblick erle-<br />

ben. Wenn ich an <strong>die</strong> heutigen Leiden der Massen draußen denke, <strong>die</strong>se Leiden noch unerhört vermehren wollen,<br />

das können wir ja gar nicht! (Sehr richtig!) Und wenn wir den Mut dazu fänden, dann wären wir bald eine Bewe-<br />

gung ohne Arbeiterklasse. (Sehr richtig!)<br />

109 Ebd., S. 45.<br />

110 Ebd., S. 46.<br />

64


Denn man soll sich darüber keinen Täuschungen hingeben: Wenn man <strong>die</strong> Empfindungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> deutsche Arbei-<br />

terklasse, wenn auch manchmal nur im Unterbewußtsein, hat, ganz genau untersucht, dann will <strong>die</strong> organisierte Ar-<br />

beiterschaft den Sturz des kapitalistischen Systems, aber sie will nicht den Zusammenbruch der Wirtschaft. (Lebhaf-<br />

te Zustimmung) Sie will den Sozialismus als eine Verbesserung ihrer Lage, nicht aber als eine noch weitere Ver-<br />

schlechterung.(Lebhaftes Händeklatschen.)« 111<br />

Damit zeigt sich, daß <strong>die</strong> SPD auch in der Krise ihren Kurs des Heidelberger Programms fort-<br />

setzte, daß sie auf <strong>die</strong> Aufwärtsentwicklung setzte und dem Streben nach Verbesserungen schon<br />

im Kapitalismus und dem Selbstbewußtsein erhöhter Bedürfnisbefriedigung größere mobilisie-<br />

rende Kraft zutraute als der Verzweiflung und der Auflehnung in der Krise des Kapitalismus.<br />

Die <strong>Verelendungstheorie</strong> als Leitlinie eines strategischen Konzeptes, als Theorie über <strong>die</strong> Ent-<br />

stehung von Klassenbewußtsein, war damit selbst in der schwersten Krise nicht erneuert, son-<br />

dern vollends aufgegeben worden. Die SPD mußte demnach allein Arzt und nicht Erbe am<br />

Krankenbett des Kapitalismus spielen.<br />

Aber Tarnow hatte davon gesprochen, daß <strong>die</strong> SPD nicht nur Arzt, sondern gleichzeitig auch Er-<br />

be sein müsse. Wie sollte <strong>die</strong>ser Teil der Doppelrolle aussehen? Sie war von vornherein dadurch<br />

geprägt, daß <strong>die</strong> SPD von den Erfahrungen der russischen Revolution in ihren Vorstellungen<br />

über <strong>die</strong> Entwicklung des Sozialismus stark verunsichert war:<br />

»Das ist aber das Problem für uns. Wie man mit einem einzigen Ruck eine Industriewirtschaft<br />

vom kapitalistischen auf das sozialistische System umstellen kann, das wissen wir nicht, und da-<br />

rüber gibt uns das russische Beispiel keine andere Antwort, als daß wir es so unmöglich machen<br />

können.« 112<br />

Und deshalb wurde ganz folgerichtig der Kurs des Heidelberger und Kieler Parteitages bestätigt -<br />

der Erbe wartet.<br />

Was sich anfangs wie eine Abkehr von der Linie des Heidelberger und Kieler Parteitages anhör-<br />

te, war in Wirklichkeit eine volle Bestätigung: <strong>die</strong> SPD setzte auf den Aufschwung, auf <strong>die</strong> per-<br />

manente Verbesserung der Lage der Arbeiter, <strong>die</strong> deshalb <strong>die</strong> SPD unterstützen und durch Wah-<br />

len an <strong>die</strong> Macht bringen und damit den endgültigen Übergang zum Sozialismus möglich ma-<br />

chen würden. Die Wirtschaftskrise störte <strong>die</strong>se Entwicklung, es mußte daher als <strong>die</strong> angemessene<br />

Politik erscheinen, alles daran zu setzen, sie so schnell wie möglich zu überwinden:<br />

»Es sind bereits starke Fundamente und tragende Konstruktionen für den sozialistischen Bau der Zukunft vorhan-<br />

den, und wenn <strong>die</strong> Nebel <strong>die</strong>ser ökonomischen Krise sich verzogen haben werden, dann wird man deutlich sehen,<br />

daß auch in <strong>die</strong>ser Zeit <strong>die</strong> sozialistischen Fundamente stärker, <strong>die</strong> kapitalistischen schwächer geworden sind.« 112a<br />

111 Ebd.<br />

112 Tarnow, a.a.O., S. 47.<br />

112a Ebd., S. 50.<br />

65


SPD-Programmatik nach dem 2. Weltkrieg<br />

1951 tagte <strong>die</strong> Sozialistische Internationale in Frankfurt a. M. und beschloß <strong>die</strong> >Ziele und Auf-<br />

gaben des demokratischen SozialismusSittlichkeitMoral< und - eben - >IdealismusMaterialismus< der Arbeiterschaft und ihrer Bewegung ist eine der<br />

großen historischen Lügen unserer politischen Gegner, (Beifall) mit der sie den Aufstieg der Arbeiterschaft zu be-<br />

kämpfen und zu verhindern suchten. Hinter ihr versteckte man den eigenen Egoismus und Materialismus, und durch<br />

ihr immer erneutes Vorbringen versuchte man der sachlichen Auseinandersetzung mit<br />

113 Vgl. Referat von Erich Ollenhauer, > Das Grundsatzprogramm der SPD


dem Ziel und den Forderungen des demokratischen Sozialismus auszuweichen.« 116<br />

Und im Godesberger Programm selbst heißt es unter dem Titel >Grundwerte des SozialismusWirtschafts- und Sozialordnung


Zwischenbilanz: Die <strong>Verelendungstheorie</strong> in der gespaltenen Arbeiterbewe-<br />

gung<br />

Insgesamt setzt sich in der Entwicklung der Programmatik bis zum Godesberger Programm le-<br />

diglich in immer zugespitzterer Form der strategische Ansatz weiter fort, der bereits im Heidel-<br />

berger Programm von 1925 deutlich zum Ausdruck gekommen war:<br />

Das Setzen auf den Aufschwung, statt auf den Abschwung, auf wachsende Anhängerschaft<br />

durch steigende Bedürfniserfüllung jetzt, statt auf <strong>die</strong> mobilisierende Kraft der unerfüllten Be-<br />

dürfnisse und der Bedrohung mit der Hoffnung auf endgültige Besserung nach dem revolutionä-<br />

ren Umsturz. Dies kommt am deutlichsten in dem zusammenfassenden Schlußabschnitt des Go-<br />

desberger Programms mit dem Titel >Unser Weg< zum Ausdruck:<br />

»Die sozialistische Bewegung erfüllt eine geschichtliche Aufgabe. Sie begann als ein natürlicher und sittlicher Pro-<br />

test der Lohnarbeiter gegen das kapitalistische System. Die gewaltige Entfaltung der Produktivkräfte durch Wissen-<br />

schaft und Technik brachte einer kleinen Schicht Reichtum und Macht, den Lohnarbeitern zunächst nur Not und<br />

Elend. Die Vorrechte der herrschenden Klassen zu beseitigen und allen Menschen Freiheit, Gerechtigkeit und Wohl-<br />

stand zu bringen - das war und das ist der Sinn des Sozialismus.<br />

Die Arbeiterschaft war in ihrem Kampf nur auf sich gestellt. ihr Selbstbewußtsein wurde geweckt durch <strong>die</strong> Er-<br />

kenntnis ihrer eigenen Lage, durch den entschlossenen Willen, sie zu verändern, durch <strong>die</strong> Solidarität in ihren Akti-<br />

onen und durch <strong>die</strong> sichtbaren Erfolge ihres Kampfes.« 121<br />

Die <strong>Verelendungstheorie</strong> als Erklärung für <strong>die</strong> Entstehung von antikapitalistischem Bewußtsein<br />

wird für <strong>die</strong> frühe Zeit des Kapitalismus weiterhin akzeptiert. Dann aber wird sie mehr und mehr<br />

durch das Selbstbewußtsein als Resultat der erfüllten Bedürfnisse und der sichtbaren Erfolge<br />

verdrängt und als Erklärungsfaktor ersetzt.<br />

Und als Schlußfolgerung und gleichzeitiger perspektivischer Ausblick folgt:<br />

»Diese Erfolge sind Meilensteine auf dem opferreichen Weg der Arbeiterbewegung. Sie hat mit<br />

ihrer wachsenden Befreiung der Freiheit aller Menschen ge<strong>die</strong>nt. Die Sozialdemokratische Partei<br />

ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden.« 122<br />

Mit der Zurückweisung der <strong>Verelendungstheorie</strong>, mit dem Setzen auf den Aufschwung verbindet<br />

sich in der ganzen Geschichte der Sozialdemokratie seit dem Revisionismusstreit<br />

121 Ebd., S. 208 (Hervorh. W. W.).<br />

122 Ebd., S. 208 f.<br />

68


eine heftige Ablehnung und Denunziation derjenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> beibehalten,<br />

<strong>die</strong> weiterhin auf den Abschwung als Rekrutierungsbasis vertrauen. Im Godesberger Programm<br />

wird das so formuliert:<br />

»Zu Unrecht berufen sich <strong>die</strong> Kommunisten auf sozialistische Traditionen In Wirklichkeit haben sie das sozialisti-<br />

sche Gedankengut verfälscht. Die Sozialisten wollen Freiheit und Gerechtigkeit verwirklichen, während <strong>die</strong> Kom-<br />

munisten <strong>die</strong> Zerrissenheit der Gesellschaft ausnutzen, um <strong>die</strong> Diktatur ihrer Partei zu errichten.« 123<br />

Von der anderen Seite, von denjenigen, <strong>die</strong> an der <strong>Verelendungstheorie</strong> festhielten, <strong>die</strong> weiterhin<br />

auf <strong>die</strong> mobilisierende Kraft des Abschwungs vertrauten, wurden umgekehrt <strong>die</strong> Sozialdemokra-<br />

ten als >RevisionistenOpportunistenVerräterSozialfaschisten< und was noch alles<br />

beschimpft und bekämpft - wie in den ersten Teilen des Kapitels in aller Breite dargestellt wor-<br />

den ist.<br />

Annahme oder Ablehnung der <strong>Verelendungstheorie</strong> ist aber nicht bloß Resultat einer theoreti-<br />

schen Entscheidung, ein Glaubensakt oder eine Frage der Begrifflichkeit, sondern beides muß als<br />

Bestätigung realer Erfahrungen durch theoretische Aussagen verstanden werden: Die Annahme<br />

und Verteidigung der <strong>Verelendungstheorie</strong> entspringt der realen Erfahrung des Abschwungs, der<br />

Krisen, der Kriege, der gegen menschliche Bedürfnisse und Notwendigkeiten indifferenten Dy-<br />

namik des Kapitals und auch der selbst erlebten Empörung und radikalen Ablehnung als Reakti-<br />

on auf <strong>die</strong>se Erfahrungen. Das Verwerfen der <strong>Verelendungstheorie</strong> wird bestätigt und motiviert<br />

durch <strong>die</strong> ebenso reale Erfahrung, daß der Aufschwung möglich ist, daß es aufwärts, besser ge-<br />

hen kann schon während des Kampfes, und dem Erlebnis des Muts und des fordernden Selbst-<br />

bewußtseins, der mobilisierenden, mitreißenden Begeisterung des Erfolges.<br />

Beides, Aufschwung und Abschwung, niederdrückende Tendenzen und <strong>die</strong> Auflehnung dagegen<br />

sowie begeisternde Erfolge, sind reale Erfahrungen, <strong>die</strong> zusammengehören und, erst als Ganzes<br />

verarbeitet, Grundlage für eine Theorie und Praxis geben können, <strong>die</strong> nicht an der Wirklichkeit<br />

vorbeigeht. Seit dem Revisionismusstreit ist aber <strong>die</strong>ses Ganze der Erfahrung mit den beiden<br />

großen Fraktionen der Arbeiterbewegung aufgeteilt. Im Aufschwung denunzieren <strong>die</strong> Kommu-<br />

nisten <strong>die</strong> Erfahrung des Erfolges und der Hoffnung und das Selbstbewußtsein und den Mut, der<br />

sich daraus entwickeln will, als irreal, bestenfalls kurzfristig oder gar als Bestechung. Im Ab-<br />

schwung setzen <strong>die</strong> Sozialdemokraten alles daran, um <strong>die</strong> Agitation der Kommunisten in ihrer<br />

Wirkung abzuschwächen, <strong>die</strong> Auflehnung und Empörung abzuwiegeln und auf einen<br />

123 Ebd., S. 188.<br />

69


neuen Aufschwung zu orientieren. Mit der Aufteilung von Aufschwung und Abschwung, <strong>die</strong> ei-<br />

gentlich nur zwei zusammengehörige Seiten eines Gesamtprozesses sind, auf zwei sich heftig<br />

bekämpfende Parteien wird es denjenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Erfahrung des Gesamtprozsses machen, un-<br />

geheuer erschwert, <strong>die</strong>se Erfahrung als ein zusammengehöriges Ganzes zu verarbeiten. Das Re-<br />

sultat, so muß man annehmen, ist nicht nur eine Spaltung der Arbeiterklasse, sondern - was ent-<br />

scheidender sein könnte - eine demobilisierende und entpolitisierende Verwirrung gerade derje-<br />

nigen, <strong>die</strong> auf der Basis ihrer eigenen Erfahrungen noch zu einem Lernprozeß fähig und bereit<br />

sind.


III. Einwände gegen <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie über <strong>die</strong> Entwick-<br />

lung von antikapitalistischem Bewußtsein<br />

Nach dem bis hierher Entwickelten muß <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie über <strong>die</strong> Entwick-<br />

lung antikapitalistischen Bewußtseins Doppeltes beanspruchen: einmal erklären zu können, wa-<br />

rum und wie <strong>die</strong> Arbeiter im Kapitalismus ein rebellisches Bewußtsein, d. h. den Willen entwi-<br />

ckeln und <strong>die</strong> Aktivität entfalten können, das gesellschaftliche System des Kapitalismus von<br />

Grund auf umzuwälzen. Zum anderen muß <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> dann aber auch beanspru-<br />

chen, erklären zu können, wie <strong>die</strong> Arbeiter zu der Erkenntnis kommen, was sie verändern müs-<br />

sen, was umgewälzt werden muß, um <strong>die</strong> Situation grundlegend zu -verbessern, um den Kapita-<br />

lismus zu überwinden. Sie muß also behaupten, erklären zu können, wie <strong>die</strong> Arbeiter <strong>die</strong> durch<br />

<strong>die</strong> kapitalistische Produktionsweise erzeugte Mystifikation durchbrechen und das Spezifikum<br />

des Kapitalismus, das was den Kapitalismus zum Kapitalismus macht und ihn von anderen Pro-<br />

duktionsweisen unterscheidet, erkennen können - denn wie sollten sie sonst den gesellschaftli-<br />

chen Zusammenhang zielgerichtet verändern können.<br />

Wir wollen nun zuerst <strong>die</strong> Behauptung der <strong>Verelendungstheorie</strong> näher prüfen, eine andauernde<br />

Verschlechterung der Lage in der Produktions- und Zirkulationssphäre führe zu rebellischem<br />

Bewußtsein und sei Voraussetzung für Revolutionen.<br />

1. Historisch-empirische Einwände<br />

Die >absolute< Verelendung<br />

Zuerst einmal scheint <strong>die</strong> absolute Verelendung als Voraussetzung der Revolution auch durchaus<br />

den Ergebnissen erster naiver Selbsterforschung zu entsprechen, wenn man sich fragt, unter wel-<br />

chen Bedingungen man bereit wäre, sich an einem Aufstand zu beteiligen. Sicherlich nicht, wenn<br />

man mit allem zufrieden ist!<br />

Gurrs Darstellung der >Abnahmedeprivation< stimmt denn auch voll mit den Vorstellungen der<br />

Theorie von der absoluten Verelendung überein und scheint sie in ihrer Gültigkeit zu bestäti-<br />

gen. 124 (Abb. siehe nächste Seite)<br />

124 Ted. R. Gurr, Why men rebel, 1970; deutsche Übersetzung von Joachim Schulte: Rebellion - Eine Motivationsanalyse<br />

von Aufruhr, Konspiration und innerem Krieg, Düsseldorf und Wien 1972, 5. 54 - Die Bezeichnungen sind eigene Übersetzungen.<br />

71


Die Diskrepanz zwischen erwarteter und gewohnter einerseits und der tatsächlichen Befriedi-<br />

gung der Bedürfnisse erzeugt demnach <strong>die</strong> >relative Deprivation


schwörer ungewisser Zukunftsmöglichkeiten vorziehen.<br />

2. Bei einer absoluten Verelendung, also bei dauerhaft nach unten gerichtetem Verlauf der Kurve<br />

für <strong>die</strong> tatsächliche Bedürfnisbefriedigung, bleibt <strong>die</strong> Erwartung an <strong>die</strong> Bedürfnisbefriedigung<br />

nicht auf der gleichen Ebene bestehen, sondern paßt sich nach und nach der wirklichen Entwick-<br />

lung an.<br />

Extreme Situationen absoluter Verelendung mögen zu Hungerrevolten führen, aber nicht zu län-<br />

gerfristigen, organisierten Aktionen. Statt dessen zerfallen alle Ansätze zu koordiniertem und<br />

gemeinsamem Handeln schnell wieder unter dem Zwang des >Rette sich, wer kannDie Entstehung des Proletariats als Lernpro-<br />

zeß< (Frankfurt 1970) für den Prozeß der Herausbildung des Proletariats als Klasse sogar für <strong>die</strong><br />

Zeit der frühen Industrialisierung zu dem Ergebnis: »Die Motivation <strong>die</strong>ser verschiedenen Grup-<br />

pen, sich zur handelnden Klasse zu koalieren, kann durch verfallende materielle Lebensstandards<br />

nicht hinreichend erklärt werden« (S.106).<br />

Auch <strong>die</strong> Revolutions- und Krisenforschung kommt zu ähnlichen Ergebnissen, <strong>die</strong> als Widerle-<br />

gung der <strong>Verelendungstheorie</strong>, soweit sie beansprucht, eine Theorie über <strong>die</strong> Entstehung revolu-<br />

tionärer Mobilisation zu sein, durchaus herangezogen werden kann, obwohl sie den methodisch<br />

problematischen Weg geht, alle Revolutionen und Krisen zu vergleichen, ohne dabei auf <strong>die</strong> je-<br />

weils spezifische historische Gesellschaftsform und Interessenkonstellation einzugehen. Ihre Er-<br />

gebnisse können vor allem deshalb herangezogen werden, weil sie keinen einzigen Fall einer<br />

größeren gesellschaftlichen Umwälzung anführen konnten, auf den <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> zu-<br />

getroffen hätte. So zeigt eine empirisch-historische Analyse der gesellschaftlichen und ökonomi-<br />

schen Entwicklungen vor Ausbruch aller großen historischen Revolutionen und Revolutionsver-<br />

suche, »daß Revolutionen erst eine Periode steigender Erwartungen und dann eine Periode ent-<br />

täuschter Erwartungen vorangehen muß« 125 .<br />

So geht aus den Steuerlisten des ancien règime vor der großen Französischen Revolution von<br />

1789 hervor, daß <strong>die</strong>jenigen Menschen, <strong>die</strong> später Träger der Revolution waren, nicht nur immer<br />

höhere Realeinkommen bezogen 126 , zugleich war <strong>die</strong> vorrevolutionäre Zeit eine Zeit tiefgreifen-<br />

der Reformen, <strong>die</strong> lange hatten auf sich warten lassen und <strong>die</strong> den späteren Trä-<br />

125<br />

James C. Davies, Eine Theorie der Revolution, in: Theorien des sozialen Wandels; hg. Wolfgang Zapf, Köln-Berlin<br />

1970, S. 412.<br />

126<br />

Vgl. Crane Brinton, Die Revolution und ihre Gesetze; von Walter Theimer übersetzte deutsche Ausgabe von: The<br />

Anatomy of Revolution, Frankfurt 1959, S. 51.<br />

73


gern der Revolution ein Gefühl von Erfolg und selbstbewußter Hoffnung gegeben haben muß. 127<br />

Dasselbe gilt für <strong>die</strong> Jahrzehnte vor der russischen Revolution sowohl vor 1905 wie vor 1917,<br />

gilt für <strong>die</strong> Zeit vor der amerikanischen Revolution von 177,6 und <strong>die</strong> vor der Glorious Revoluti-<br />

on in England. Brinton zieht aus der vergleichenden Untersuchung all <strong>die</strong>ser Revolutionen den<br />

ersten verallgemeinernden Schluß:<br />

»Erstens waren alle <strong>die</strong>se Gesellschaften im großen und ganzen in wirtschaftlichem Aufstieg begriffen, ehe <strong>die</strong> Re-<br />

volution eintrat. [ ... ] Diese Revolutionen wurden nicht von Verelendeten und Verhungernden begonnen. Eine Re-<br />

volution ist nicht mit einem Wurm zu vergleichen, der sich krümmt, wenn er getreten wird. Sie ist kein Kind der<br />

Verzweiflung, sondern der Hoffnung. Ihre Weltanschauung ist ausdrücklich optimistisch. « 128<br />

Einer historisch-empirischen Überprüfung hält <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie über <strong>die</strong><br />

Entstehung von revolutionärem Bewußtsein nicht stand.<br />

Wie aber kommt es denn dann, daß <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> eine so ungeheure Verbreitung hat<br />

und <strong>die</strong> Geschichte und Strategie der Arbeiterbewegung zentral bestimmt hat und weitgehend<br />

auch heute noch bestimmt? Soll das auf Illusionismus, Borniertheit oder verbohrten Dogmatis-<br />

mus zurückgeführt werden, oder muß nicht hier wie bei allen ernstgemeinten Theorien akzeptiert<br />

werden, daß sie Ausdruck wirklicher Erfahrungen und damit auch ein Ausdruck von Wirklich-<br />

keit sind, selbst wenn sie nur einen Aspekt der Wirklichkeit und daher nur eine Teilwahrheit<br />

ausdrücken?<br />

Auf <strong>die</strong> Frage: Was ist nun richtig, <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> oder <strong>die</strong> These Brintons, das revolu-<br />

tionäre Bewußtsein sei »kein Kind der Verzweiflung, sondern der Hoffnung«? auf <strong>die</strong>se Frage<br />

kann <strong>die</strong> Antwort nur lauten: beide sind Ausdruck und Ergebnis wirklicher Erfahrungen und sind<br />

als solche richtig. Der springende Punkt ist aber, daß sie einzeln genommen falsch sind, weil sie<br />

nur einen Teil der Gesamtentwicklung verarbeiten und <strong>die</strong> auf <strong>die</strong>ser Basis entwickelte Vorstel-<br />

lung als Theorie des Ganzen ausgeben.<br />

Das oben zitierte, allgemein in der Literatur als Selbstverständlichkeit anerkannte Ergebnis der<br />

empirischen Revolutionsanalyse 129 , »daß Revolutionen erst eine Periode steigen-<br />

127 Ebd., S. 62.<br />

128 Ebd., S. 349<br />

129 Vgl. <strong>die</strong> Überblicksdarstellungen von Martin Jänicke, Krisenbegriff und Krisenforschung, in: Herrschaft und Krise -<br />

Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung; hg. v. Martin Jänicke. Dort auch Johan Galtung, Eine strukturelle<br />

Theorie der Revolution, insbes. S. 130 ff und 155 ff. In der mehrfach zitierten Aufsatzsammlung: Anger, Violence, and Politics,<br />

a.a.O., wird Davies laufend für <strong>die</strong>sen Zusammenhang zitiert (der Aufsatz ist dort auch noch einmal abgedruckt), und<br />

Ted R. Gurr (Rebellion . . ., S. 60 f) verwendet ihn explizit als <strong>die</strong> dritte Möglichkeit der relativen Deprivation.<br />

74


der Erwartungen und dann eine Periode enttäuschter Erwartungen vorangehen muß«, gibt näm-<br />

lich beiden Theorien recht, revi<strong>die</strong>rt sie aber zugleich beide, indem sie beide verbindet.<br />

»Aus <strong>die</strong>ser revi<strong>die</strong>rten Vorstellung können wir zwei generelle Schlußfolgerungen ziehen. Die erste besagt: es ist<br />

äußerst unwahrscheinlich, daß eine Revolution in einer Gesellschaft ausbricht, in der es ständig unbeschränkte Mög-<br />

lichkeiten gibt, neue Bedürfnisse, neue Hoffnungen, neue Erwartungen zu befriedigen. [ ... ] Die zweite Schlußfol-<br />

gerung besagt: es ist unwahrscheinlich, daß eine Revolution dort ausbricht, wo es nicht zuvor eine Hoffnung gege-<br />

ben hat - eine Periode, in der <strong>die</strong> Erwartungen angestiegen sind.« 130<br />

Aus <strong>die</strong>sen Erkenntnissen entwickelte Davies ein vereinfachtes Modell der vorrevolutionären<br />

Entwicklung, das <strong>die</strong> Entwicklung von revolutionärem Bewußtsein erklären soll (siehe Kurve).<br />

Es dürfte klar sein, daß <strong>die</strong>ses Modell nicht als fertige Theorie über <strong>die</strong> Entstehung von Revolu-<br />

tionen oder revolutionärem Bewußtsein, in dem Sinne von >immer wenn . . ., dann ...


<strong>die</strong> Auswirkung auf das Bewußtsein haben kann, <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> für sich als Teil allein<br />

beansprucht. Dabei', hat sie durchaus eine reale Erfahrungsbasis, nämlich den Abschwung - <strong>die</strong><br />

aber, weil sie als isolierte Erfahrung zum Ganzen verabsolutiert, im Ergebnis und in ihrer Wir-<br />

kung verhängnisvoll falsch wird. Die Aufspaltung der Arbeiterbewegung auf <strong>die</strong> beiden Pole des<br />

Gesamtprozesses, Aufschwung und Abschwung, als ein Resultat des Streites um <strong>die</strong> Gültigkeit<br />

der <strong>Verelendungstheorie</strong> und <strong>die</strong> - in der Folge - in allen Phasen des Gesamtprozesses entgegen-<br />

gesetzte Agitation der beiden Fraktionen stellt sich nun nicht nur als Verhinderung individueller<br />

Lernprozesse dar, sondern muß als möglicherweise entscheidendes - historisches Hemmnis in<br />

der Entwicklung der ganzen Arbeiterbewegung gesehen werden.<br />

Die >relative< Verelendung<br />

Nach all dem könnte man sich so verhalten, wie <strong>die</strong>s in der Geschichte der deutschen Arbeiter-<br />

bewegung häufig geschehen ist, wenn <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie über eine absolute<br />

Verschlechterung in der Lebenslage gegenüber der wirklichen Entwicklung kaum zu vertreten<br />

war: man zieht sich auf <strong>die</strong> Position zurück, Marx habe nie eine absolute Verelendung behauptet,<br />

sondern habe immer <strong>die</strong> Position vertreten, <strong>die</strong> wir gerade in der >relativen Deprivation< der<br />

Krisenforscher kennengelernt haben - er habe immer eine >relative Verelendung< im Sinn ge-<br />

habt. So argumentierte Kautsky in der Revisionismusdebatte (nur nannte er das >soziale< Ver-<br />

elendung - vgl. voriges Kapitel), und so wurde später während der Rationalisierungskonjunktur<br />

in der Weimarer Republik, vor allem aber während der anhaltenden Nachkriegskonjunktur in der<br />

BRD argumentiert.<br />

Schaut man sich aber eine der typischen Stellen an, in denen Marx eine Theorie über <strong>die</strong> relative<br />

Verelendung zum Ausdruck bringt, dann wird sofort klar, daß hier keinerlei Gemeinsamkeit mit<br />

der >relativen Deprivation< der Krisenforschung besteht:<br />

»Ein merkliches Zunehmen des Arbeitslohn setzt ein rasches Wachsen des produktiven Kapitals voraus. Das rasche<br />

Wachsen des produktiven Kapitals ruft ebenso rasches Wachstum des Reichtums, des Luxus, der gesellschaftlichen<br />

Bedürfnisse und der gesellschaftlichen Genüsse hervor. Obgleich also <strong>die</strong> Genüsse des Arbeiters gestiegen sind, ist<br />

<strong>die</strong> gesellschaftliche Befriedigung, <strong>die</strong> sie gewähren, gefallen im Vergleich mit den vermehrten Genüssen des Kapi-<br />

talisten, <strong>die</strong> dem Arbeiter unzugänglich sind, im Vergleich mit dem Entwicklungsstand der Gesellschaft überhaupt.<br />

Unsre Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus der Gesellschaft; wir messen sie daher an der Gesellschaft; wir<br />

messen sie nicht an den Gegenständen ihrer Befriedigung. Weil sie gesellschaftlicher Natur sind, sind sie relativer<br />

Natur.« 132<br />

132 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 412; weitere Stellen s. o. Fußnote 14.<br />

76


1. Es geht nicht um <strong>die</strong> Veränderungen in den eigenen Bedürfniserwartungen und Erfahrungen<br />

über tatsächliche Bedürfnisbefriedigung, sondern um den Vergleich zu fremden Gruppen und de-<br />

ren Genüsse, <strong>die</strong> dem Arbeiter aber durchaus abstrakt und fremd bleiben müssen, solange ihm<br />

nicht durch eindringliches Beschreiben und Probieren <strong>die</strong>se Genüsse zu eigenen, vertrauten und<br />

anstieren Bedürfnissen geworden sind. Das ist aber der zentrale Punkt bei der >relativen Depri-<br />

vationDeprivation<<br />

und <strong>die</strong> Unzufriedenheit entsteht, und nicht der Vergleich von eigenen und fremden Möglichkei-<br />

ten der tatsächlichen Bedürfnisbefriedigung.<br />

Im allgemeinen kann man sogar davon ausgehen, daß eine wachsende Distanz in der realen Wei-<br />

se der Bedürfnisbefriedigung zwischen zwei Klassen <strong>die</strong> Reichtümer der herrschenden Klasse in<br />

den Bereich des Mythologischen und Märchenhaften im Denken der weniger Privilegierten ver-<br />

drängt, der mit der eigenen Wirklichkeit nichts zu tun hat; und wenn wir aber plötzlich - wie im<br />

Märchen - tatsächlich in <strong>die</strong> fremde Welt der Reichtümer und Genüsse zwischen <strong>die</strong>jenigen ver-<br />

setzt werden, <strong>die</strong> ihren Gebrauch schon immer gewohnt sind, so wird <strong>die</strong> Situation Unwohlsein<br />

und Angst hervorrufen, keinesfalls aber <strong>die</strong> intensive Unzufriedenheit, <strong>die</strong> entsteht, wenn einem<br />

<strong>die</strong> Erfüllung eines liebgewordenen und gewohnten Bedürfnisses verweigert wird.<br />

Die relative Verelendung als >relative Deprivation< kann also höchstens bei eng kommunizie-<br />

renden Gruppen eintreten, wo der Unterschied in der Bedürfnisbefriedigung konkret am eigenen<br />

Leib und als überbrückbar erfahren wird.<br />

2. Meist bezieht sich <strong>die</strong> relative Verelendung auch nur auf einen Vergleich der Einkommen und<br />

wäre daher besser mit >relativer Armut< gekennzeichnet.<br />

2. Zur <strong>Verelendungstheorie</strong> bei Marx im Rahmen des Gesamtwerkes<br />

Im >Kommunistischen Manifest< ist der >Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital<<br />

in engster Verbindung mit der <strong>Verelendungstheorie</strong> das konstitutive Prinzip der Schrift. Dabei<br />

hat Anlaß und agitatorischer Zweck der Schrift zu einer Überspitzung der Formulierung geführt,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Aussage ökonomisch unhaltbar und unsinnig macht:<br />

77


»Es tritt hiermit offen hervor, daß <strong>die</strong> Bourgeoisie unfähig ist, noch länger <strong>die</strong> herrschende Klasse der Gesellschaft<br />

zu bleiben und <strong>die</strong> Lebensbedingungen ihrer Klasse als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herr-<br />

schen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven (dem Proletariat, W. W.) <strong>die</strong> Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu<br />

sichern, weil sie gezwungen ist ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm er-<br />

nährt zu werden. « 133<br />

Den Untergang der Bourgeoisie vom zu. großen Umfang der Unterstützung für <strong>die</strong> arbeitslosen<br />

Paupers zu erwarten, wäre geradezu absurd; zweifellos wußten Marx und Engels (und das irische<br />

Beispiel der Hungersnöte bewies es schlagend), daß <strong>die</strong> Bourgeoisie ohne Skrupel Millionen<br />

verhungern lassen würde, wenn sie nicht durch eigene ökonomische Notwendigkeit zur Hilfe ge-<br />

zwungen wäre. Wenn sich daher <strong>die</strong> Passage nicht auf <strong>die</strong> arbeitslosen Paupers, sondern auf <strong>die</strong><br />

beschäftigten Arbeiter bezieht, wird sie aber erst recht unsinnig: Die Bourgeoisie muß immer,<br />

auch bei normalem Gang der kapitalistischen Akkumulation <strong>die</strong> beschäftigten Arbeiter und ihre<br />

Familien >ernährenernährtvon ihm ernährtKommunistischen Manifestes< noch nicht voll erfaßt worden war.<br />

Aus dem >Kapital


Im Anschluß an <strong>die</strong>ses Zitat stellt Urban fest:<br />

»Die Marxsche <strong>Verelendungstheorie</strong> geriet jedoch im Laufe der Zeit in Schwierigkeiten, weil <strong>die</strong> zunehmende Ver-<br />

elendung einfach nicht stattfinden wollte. Da gleichzeitig <strong>die</strong> von Marx genannte Bedingung, <strong>die</strong> zunehmende Kapi-<br />

talakkumulation, realisiert war und ist, muß <strong>die</strong> Theorie strenggenommen als widerlegt angesehen werden.« 135<br />

Stellt man <strong>die</strong> zitierte Stelle aber in den Gesamtzusammenhang der Marxschen Theorie, so erge-<br />

ben sich folgende Einwände gegen <strong>die</strong> Annahme, eine <strong>Verelendungstheorie</strong> sei unverzichtbare<br />

Folgerung aus der gesamten theoretischen Konstruktion und mit ihrer Widerlegung sei sie insge-<br />

samt widerlegt:<br />

Im Hegelschen und Marxschen Sprachgebrauch heißt >absolut< soviel wie abstrakt, und abstrakt<br />

heißt wiederum anders als in unserem alltäglichen Sprachgebrauch: isoliert betrachtet. Ebenso<br />

bedeutete das >allgemeine Gesetz< soviel wie das >reine Gesetz< ohne seine Störgrößen und<br />

Modifikationen betrachtet. Demnach kann man den Satz so verstehen: Wenn man den Trieb des<br />

Kapitals ungehindert und ohne Störgrößen laufen ließe, wenn man ihm also seinen isolierten<br />

Willen ließe, dann käme das Beschriebene heraus. Diese Interpretation wird bestätigt durch den<br />

Satz, der sofort auf dem trompetensignalartigen Satz vom >Gesetz< folgt: »Es (das Gesetz, W.<br />

W.) wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände<br />

modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört. « 136<br />

Urban erwidert auf <strong>die</strong>sen Satz von Marx und <strong>die</strong> sich daran knüpfende Interpretation der Vere-<br />

lendungstheorie:<br />

»Was wird mit der Aussage erreicht, <strong>die</strong> kapitalistische Produktion enthalte <strong>die</strong> >Tendenz< zur absoluten Verelen-<br />

dung der Arbeiterklasse? Offenbar kann man jetzt etwas behaupten, ohne durch Tatsachen widerlegt werden zu<br />

können. Wenn jemand sagt, es herrsche augenblicklich eine >Tendenz< zum Regnen und es regnet nicht, dann wird<br />

er sagen, daß er ja auch nur eine >Tendenz< behauptet, nicht aber tatsächlich und definitiv Regen prophezeit habe.<br />

Andererseits: Wenn es wirklich regnen sollte, dann vermag der Wetterprophet darauf hinzuweisen, daß er also schon<br />

lange wußte, daß es regnen würde. Treffer nimmt er für sich in Anspruch, Fehlschläge treffen ihn nicht. Wenn das<br />

nicht >fröhliche Wissenschaft< ist, dann ist es zumindest Prophetie ohne Risiko. Den Grenzfall <strong>die</strong>ser vergnügli-<br />

chen Strategie stellt ein tautologischer Satz [ ... ] dar, wie ihn der Volksmund formuliert: Wenn der Hahn krähe auf<br />

dem Mist, dann<br />

135 Peter Urban, Moderne Wissenschaftslehre und marxistische Kapitalismustheorie, in: Zur Politik und Zeitgeschichte -<br />

Beilage zu: Das Parlament; Jg. 20, 1970, Nr. 39, S. 20. Urban wird hier stellvertretend für <strong>die</strong> Meere von Literatur zur<br />

nicht-marxistischen Kritik der <strong>Verelendungstheorie</strong> behandelt, weil seine Kritik besonders pointiert und bedenkenswert ist.<br />

Diese Meere wurden zwar von mir bibliographiert und bearbeitet, es wurde aber auch darauf verzichtet, sie ins Literaturverzeichnis<br />

mit einfließen zu lassen.<br />

136 MEW 23, S. 674.<br />

79


ändert sich das Wetter, oder es bleibt wie es ist. Mit Meteorologie oder Landwirtschaft oder Wissenschaft überhaupt<br />

hat das natürlich nichts zu tun.« 137<br />

Nun hat aber Bodo von Greiff in seinem Buch >Gesellschaftsform und Erkenntnisform - Zum<br />

Zusammenhang von wissenschaftlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Entwicklung< (Frank-<br />

furt/New York 1976) gezeigt, daß alle wissenschaftlichen Gesetze so formuliert sind, daß sie<br />

nach Urban also alle Ausdruck >fröhlicher Wissenschaft< sind. Die Formulierung des Fallgeset-<br />

zes z. B. setzt voraus, daß man von einer Vielzahl von Erscheinungen beim jeweils einzelnen,<br />

empirisch beobachtbaren Fall eines Gegenstandes absieht und sie nach unterschiedlichen Fakto-<br />

ren aufteilt, wobei einer der Hauptfaktor ist, der dann in der Fallformel formuliert wird, und <strong>die</strong><br />

anderen als >Störfaktoren< isoliert werden müssen. Die Formulierung eines Gesetzes ist also<br />

überhaupt nur in der Abstraktion von dem jeweils einzelnen Verhalten und der einzelnen Be-<br />

obachtung auf ein theoretisches Konstrukt hin möglich, daß das Verhalten des beobachteten Ge-<br />

genstandes verallgemeinernd in eine erklärende Theorie einfügt und damit <strong>die</strong> beim Einzelfall<br />

auftretende Abweichung als Einwirken von >Störfaktoren< erscheinen läßt. Diese >Störfakto-<br />

renStückwerkwissenschaft< ohne erklärende, zusammenfassende Theoriebil-<br />

dung stecken. Wo an einer solchen Theoriebildung gearbeitet wird, wie bei den marxistischen<br />

Theoretikern, wird dem mit Schrecken und dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit (wenn<br />

nicht Schlimmerem) begegnet.<br />

Marx stellt im ersten -Band des >Kapitals< aber tatsächlich etwas dar, das in seiner Abstraktheit<br />

und Allgemeinheit und dem Absehen von den Störfaktoren auf gleicher Ebene han-<br />

137 Urban, a.a.O., S. 21.<br />

80


delt wie das Fallgesetz oder andere Gesetze der Naturwissenschaft: mit dem Unterschied, daß<br />

<strong>die</strong>se Gesetze keine ewige Gültigkeit beanspruchen, sondern an das Vorherrschen ganz bestimm-<br />

ter historischer Bedingungen gebunden sind, nämlich an <strong>die</strong> Dominanz der -von Marx nicht um-<br />

sonst >naturwüchsig< genannten -Warenproduktion: es wird untersucht, welchen Bewegungsge-<br />

setzen das Kapital als sich selbst verwertender Wert gehorcht. Dabei fallen Staat, Klassen,<br />

Kunst, Kultur, Naturbedingungen, Weltmarkt, Gewerkschaften, Konkurrenzbedingungen wie das<br />

Verhältnis von Angebot und Nachfrage, Monopolbildung, Kriege etc. etc. unter <strong>die</strong> Kategorie<br />

zusätzlicher Faktoren, deren Einwirkung und Modifikation auf das einmal grundlegend und rein<br />

dargestellte Bewegungsgesetz in einem zweiten und dritten Schritt dargestellt und erklärt werden<br />

muß, bis schließlich <strong>die</strong> erscheinende Wirklichkeit als besondere Ausprägung unter jeweils ' be-<br />

sonderen historischen Bedingungen des allgemeinen Gesetzes erklärt werden kann, wobei <strong>die</strong>se<br />

anderen Faktoren selbst z, T. durch das Kapital erzeugt werden und in der Warenanalyse als<br />

notwendig angelegt sind.<br />

Untersucht man nun <strong>die</strong> Bewegungsweise des Einzelkapitals unter <strong>die</strong>sen Bedingungen der Abs-<br />

traktion und Isolierung von den anderen Faktoren, so kommt man tatsächlich zu der von Marx<br />

formulierten Schlußfolgerung als »das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumu-<br />

lation«: Der sich selbst verwertende Wert, der kein anderes Ziel und Kriterium kennt als <strong>die</strong>se<br />

Selbstverwertung, kann <strong>die</strong>ses Ziel nur erreichen, wenn er <strong>die</strong> Ware Arbeitskraft, den Wertbild-<br />

ner, möglichst rationell einsetzt. Das, heißt aber nicht nur, daß das Kapital danach strebt, den<br />

Preis der Arbeitskraft zu senken, sondern viel wichtiger ist der rationelle Einsatz im Produkti-<br />

onsprozeß selbst. (Beides wird durch <strong>die</strong> Existenz einer relativen Übervölkerung sehr erleich-<br />

tert.) Dabei braucht sich das Einzelkapital um <strong>die</strong> Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft<br />

genau wie <strong>die</strong>jenigen der Gesamtgesellschaft nicht zu kümmern - sie werden auf dem Markt als<br />

Marktbedingungen vorgefunden und scheinen dem Einzelkapital unbeeinflußbar wie das Wetter<br />

(man kann nur in angenehmere Klimazonen ausweichen). Es ist also tatsächlich das Bewegungs-<br />

gesetz der kapitalistischen Akkumulation, daß das Kapital als sich selbst verwertendes Einzelka-<br />

pital allein in seinem Verwertungsdrang betrachtet, allein auf Kosten des Proletariats wachsen<br />

kann und so eine mächtige Tendenz in sich trägt, das Proletariat zu verelenden, es in seinen Le-<br />

bensnotwendigkeiten innerhalb und außerhalb des Produktionsprozesses zu bedrohen.<br />

Schaut man sich den Aufbau der drei Bände >Kapital< näher<br />

81


an, so zeigt sich, daß Marx mit der Darstellung der abstrakten Kernstruktur der kapitalistischen<br />

Gesellschaft in der Warenanalyse beginnt und <strong>die</strong>se dann fortschreitend in ihrer begrifflichen<br />

Differenzierung entfaltet wird, bis am Schluß des dritten Bandes dargestellt ist, wie sich daraus<br />

<strong>die</strong> Begrifflichkeit der erscheinenden Wirklichkeit des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses<br />

ergibt. Weil <strong>die</strong>ser Aufbau des Marxschen Werkes nicht begriffen worden war, wurde in der<br />

Zeit, als nur der erste Band publiziert war, <strong>die</strong> dortige Darstellung mißverstanden als <strong>die</strong> unmit-<br />

telbare Beschreibung der erscheinenden Wirklichkeit. Die Wertbewegungen wurden als Be-<br />

schreibung der Preisbewegungen, und <strong>die</strong> Analyse der Kapitalbewegungen, <strong>die</strong> von Marx als<br />

abstrakte Herausarbeitung des allgemeinen Kapitalbegriffs angelegt war, wurde als prophetische<br />

Sicht der tatsächlichen historischen Entwicklung aufgefaßt. Gerade was <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong><br />

anging, schienen <strong>die</strong> wirklichen Verhältnisse sich auch ganz entsprechend der Marxschen Be-<br />

schreibung zu verhalten. Als <strong>die</strong>se Entwicklung aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht in<br />

gleicher Weise weiterlief, kamen Zweifel an der gesamten Marxschen Theorie auf, <strong>die</strong> in der<br />

Revisionismusdebatte geäußert und heftig diskutiert wurden.<br />

Es kann danach nicht überraschen, daß der dritte Band bei seinem Erscheinen weithin als eine<br />

Widerlegung des ersten Bandes und Widerrufung der >Arbeitswertlehre< gelesen wurde. 138<br />

Genauso wie sich der erste Band vom dritten Band her relativiert und nur als abstrakte Darstel-<br />

lung der Kernstruktur und als weit von den Einzelheiten der beobachtbaren Tageserscheinung<br />

entfernt darstellt, genauso sind <strong>die</strong> drei Bände >Kapital< insgesamt nur Teil eines umfassenden<br />

Ganzen in der Marxschen Planung der Analyse der kapitalistisichen Gesellschaft. Die drei Bände<br />

sind nur <strong>die</strong> grundlegende Analyse der Gesellschaft »nach ihrer ökonomischen Struktur betrach-<br />

tet« 139 . Daß sie mit dem fragmentarischen Kapitel mit dem Titel >Die Klassen< endet, ist ein be-<br />

sonders deutliches Zeichen für das Fragmentarische der gesamten Marxschen Analyse. Er hatte<br />

im Rahmen der ökonomischen Analyse, im Rahmen der >Kri-<br />

138 Vgl. Friedrich Engels, Ergänzung und Nachtrag zum 111. Buche des KapitalKapital


tik der politischen ÖkonomieKapital< - wie es uns heute vorliegt - analysiert <strong>die</strong> Gesellschaft allein unter dem Gesichts-<br />

punkt, das Kapital mit all seinen Differenzierungen und Bewegungsgesetzen darzustellen. Fra-<br />

gen der Konkurrenz, des Staates, des Weltmarktes etc. sind genau wie <strong>die</strong> in der Verelendungs-<br />

theorie zusammengefaßten Auswirkungen auf das Proletariat nur unter <strong>die</strong>sem Gesichtspunkt<br />

behandelt. Die <strong>Verelendungstheorie</strong> muß also lediglich als ein Teil einer umfassenden marxisti-<br />

schen Theorie über <strong>die</strong> Bestimmungsfaktoren der Lage der Arbeiterklasse und der von ihr ab-<br />

hängigen Schichten angesehen werden. Sie ist keine Prognose oder gar prophetische Voraussage<br />

über <strong>die</strong> Entwicklung der tatsächlichen Lage der Arbeiterklasse, <strong>die</strong> mit Notwendigkeit aus der<br />

gesamten Marxschen Theorie folgt und deren Nichteintreffen eine Widerlegung <strong>die</strong>ser Theorie<br />

bedeuten würde.<br />

3. Die <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie über <strong>die</strong> Durchbrechung der Mystifikation<br />

Diese Einschätzung des Stellenwertes der <strong>Verelendungstheorie</strong> innerhalb der Marxschen Theorie<br />

wird noch weiter bestätigt, wenn man den Anspruch der <strong>Verelendungstheorie</strong> untersucht, sie sei<br />

<strong>die</strong> Lösung für das Problem, wie das Proletariat durch eigene Erfahrung <strong>die</strong> Mystifikation des<br />

Kapitalverhältnisses durchbrechen könne. Wir wollen nun <strong>die</strong>sen Anspruch näher untersuchen.<br />

Dazu muß zuerst dargestellt werden, was unter >Mystifikation des Kapitalverhältnisses< zu ver-<br />

stehen ist.<br />

Die Mystifikation in ihrer Wirkung auf <strong>die</strong> Arbeiter<br />

Für <strong>die</strong> im kapitalistischen Produktions- und Zirkulationsprozeß Befangenen - dem Arbeiter wie<br />

dem Kapitalisten - stellt sich <strong>die</strong> Tatsache, daß sie als Besitzer von Produktionsvoraussetzungen<br />

aus <strong>die</strong>sem Besitz Einkommen ziehen, mit Notwendigkeit so dar, als ob sie <strong>die</strong> Geld- und Wa-<br />

renquanten des Gesamtproduktes, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen Einkommen entsprechen, auch selbst produziert<br />

hätten. Es scheint so, als ob der Industrie-<br />

140 Vgl. Witali S. Wygodski, Die Geschichte einer großen Entdeckung über <strong>die</strong> Entstehung des Werkes >Das Kapital< von<br />

Karl Marx, aus dem Russischen übersetzt von H. Friedrich und H. Richter, Berlin 1967, S. 121 ff.<br />

83


kapitalist als Besitzer der Produktionsmittel seinen eigenen Gewinn, als ob der Geldkapitalist,<br />

der sein Geldkapital gegen Zinsen verleiht, nicht nur ein Anteil am Produktionsergebnis erhält,<br />

sondern <strong>die</strong>sen Anteil ebenfalls selbst erzeuge. Genauso scheint der Grundeigentümer seinen<br />

Einkommensanteil selbst zu erzeugen. Und so erscheint es dann auch so, als ob auch der Arbeiter<br />

in seinem Lohn exakt den Anteil am Gesamtprodukt erhält, den er zu seiner Erzeugung beigetra-<br />

gen hat.<br />

Letztlich sind aber alle Produkte Resultate der Verformung von Naturstoffen durch menschliche<br />

Arbeit. Die anderen >ProduktionsfaktorenFetischisierungsein< Tier bestimmt wurde. Wenn <strong>die</strong>se Adlerklaue, <strong>die</strong>ses Ding, verloren geht, dann hat der<br />

Indianer, der lebendige Mensch, seine Seele verloren, er muß sterben. Genauso wirkt in der wa-<br />

renproduzierenden Gesellschaft <strong>die</strong> Verkehrung der gesellschaftlichen Beziehung von Produzen-<br />

ten und Konsumenten zur Überlebenssicherung in <strong>die</strong> dingliche Beziehung zwischen den Waren<br />

zur Realisierung des Tauschwerts: würden z. B. <strong>die</strong> Menschen in der Bundesrepublik ein Einse-<br />

hen mit sich selbst zeigen und endlich aufhören zu rauchen, dann würde <strong>die</strong>ser<br />

-gesundheitspolitisch überaus wünschenswerte - Akt der hier um ihre Gesundheit besorgten<br />

Menschen in den tabakproduzierenden Ländern Südamerikas auf <strong>die</strong> Arbeiter und ihre Familien<br />

wie eine schwere Naturkatastrophe zurückschlagen - weil sich Dinge, Tabak und Geld, nicht<br />

mehr gleich zueinander verhalten, müßten Tabakarbeiter sterben. Die Fetischisierung oder Ver-<br />

dinglichung der gesellschaftlichen Beziehungen ist also ein schlagend realer Prozeß.<br />

Seine Auswirkungen auf das Bewußtsein der in <strong>die</strong>sem Prozeß Befangenen nennt Marx >Mysti-<br />

fikation< der innere gesellschaftliche Zusammenhang der Verhältnisse kann nicht mehr unmit-<br />

telbar durch Anschauung erkannt werden - im Gegenteil, <strong>die</strong> unmittelbare Anschauung führt ge-<br />

rade zu verkehrten Vorstellungen. Die Mystifikation des Kapitalverhältnisses ist also laut Marx<br />

Ergebnis der unmittelbaren Erfahrungen und kann gerade auch bei den Arbeitern ein Bewußtsein<br />

bedin-<br />

84


gen, in dem sich ihre Stellung im Kapitalismus völlig verkehrt darstellt: z. B. kann es ihnen so<br />

erscheinen, als ob sie ganz entsprechend ihrer Leistung bezahlt würden, daß der Lohn also nicht<br />

der Preis ihrer Arbeitskraft, sondern der Preis ihrer tatsächlich geleisteten Arbeit sei und <strong>die</strong> üb-<br />

rigen Preiselemente am Verkaufspreis der Ware aus der Leistung der anderen >Produktionsfak-<br />

toren< entstünden. Es erscheint dann so, als ob es einen >gerechten Lohn< gebe und sich alle<br />

Kritik am Kapitalismus erübrige, sobald <strong>die</strong>ser erreicht sei.<br />

Im folgenden soll nun <strong>die</strong> Mystifikation des Kapitalverhältnisses in ihrer Wirkung auf <strong>die</strong> Arbei-<br />

ter im Produktionsprozeß dargestellt werden anhand der Aussagen von Karl Marx im >Kapital<<br />

(<strong>die</strong> römischen Ziffern geben jeweils den Band an) und in der Schrift >Resultate des unmittelba-<br />

ren Produktionsprozesses< (im Text als >Re< abgekürzt):<br />

Der kapitalistische Produktionsprozeß beginnt für den Arbeiter nicht als unmittelbarer Produkti-<br />

onsprozeß, etwa wie man sich den für <strong>die</strong> Selbstversorgung arbeitenden Bauer vorstellen kann,<br />

der <strong>die</strong> Ärmel hochkrempelt und mit der Arbeit anfängt. Damit der Produktionsprozeß als kapita-<br />

listischer Produktionsprozeß überhaupt beginnen kann, muß zuerst in der Zirkulationssphäre<br />

Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft und Kauf und Verkauf der Produktionsmittel erfolgt<br />

sein. Das ist dann auch <strong>die</strong> erste Erfahrung des Arbeiters mit dem kapitalistischen Produktions-<br />

prozeß: seine lebendige Arbeitskraft, <strong>die</strong> sich von ihm nicht trennen läßt, weil sie seine Lebens-<br />

kraft ist, also er selbst wird für <strong>die</strong>se Zeit mit Haut und Haaren zur Ware.<br />

Dieser Akt der Zirkulation ist selbst schon eine Verkehrung, denn <strong>die</strong> lebendige Arbeitskraft<br />

wird als Ware einem Ding gleichgesetzt (III, S. 55), wird Objekt, und <strong>die</strong> Produktionsmittel, <strong>die</strong><br />

vergangene, vergegenständlichte Arbeit - allgemein in der Form des Wertes, hier in der<br />

Naturalform der Produktionsmittel - tritt als Subjekt auf, das den Arbeiter beschäftigt:. »Capital<br />

employs labour. Schon <strong>die</strong>s Verhältnis in seiner Einfachheit Personifizierung der Sachen und<br />

Versachlichung der Personen.« (Re, S. 79 f, 30 f, 34 f, etwa gleichlautend; Re 35 zeigt <strong>die</strong>s be-<br />

sonders schön an der Verkehrung im Begriffspaar >Arbeitgeber< und >Arbeitnehmer


ten ihm als Verkörperungen des Kapitals entgegen. Die Produktionsmittel sind vom Kapital be-<br />

reitgestellte Waren, in der Zirkulationssphäre gekauft, ihrem Produktionsprozeß und der Tatsa-<br />

che, daß sie selbst auch nur Resultat menschlicher Arbeit sind, weit entrückt durch <strong>die</strong> gleichma-<br />

cherische Zirkulationssphäre, <strong>die</strong> alles nur noch als fertiges, gleiches Resultat setzt, ohne Anse-<br />

hung seines konkreten Entstehungsprozesses. Die Maschinen sind da, und sie sind da, weil sie<br />

das Kapital dahin gestellt hat. Man sieht ihnen ihren eigenen Produktionsprozeß nicht mehr an.<br />

Der einzelne Arbeiter hat damit nichts zu tun. Und als einzelner Arbeiter ist er eingekauft wor-<br />

den, als solcher hat er den Produktionsprozeß betreten.<br />

Der Kapitalcharakter der Produktionsmittel stellt sich im Produktionsprozeß dar, »als ihnen an<br />

und für sich zukommend [ ... ] unzertrennbar von ihnen, daher als Eigenschaft, <strong>die</strong> ihnen als<br />

Dingen, als Gebrauchswerten, als Produktionsmitteln zukommt. Diese erscheinen daher an und<br />

für sich, als Kapital und das Kapital daher, welches ein bestimmtes Produktionsverhältnis aus-<br />

drückt, ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis, worin innerhalb der Produktion <strong>die</strong> Besitzer<br />

der Produktionsbedingungen zu den lebendigen Arbeitsvermögen treten [ ... ] als ein Ding, ganz<br />

wie der Wert als Eigenschaft eines Dings und <strong>die</strong> ökonomische Bestimmung des Dings als Ware,<br />

als seine dingliche Qualität erschien, ganz wie <strong>die</strong> gesellschaftliche Form, welche <strong>die</strong> Arbeit im<br />

Geld erhielt, sich als Eigenschaften eines Dings darstellte« (Re, S. 16 f). Der Kapitalfetisch ist<br />

also <strong>die</strong> sinnliche Erfahrung des Warenfetischs im kapitalistischen Produktionsprozeß.<br />

Die sinnliche Erfahrung im Produktionsprozeß zeigt dem Arbeiter aber nicht nur <strong>die</strong> dingliche<br />

Qualität des in Wirklichkeit gesellschaftlichen Verhältnisses, sondern sie läßt ihn das Kapital als<br />

mit eigenen produktiven Kräften begabt erfahren: so, wie ihm der Zusammenhang mystifiziert<br />

wird, daß <strong>die</strong> Produktionsmittel in Wirklichkeit das vergegenständlichte Resultat vergangener<br />

Arbeit, als Ergebnis des Zusammenhangs aller Arbeiten sind, so kann er auch nicht das Produk-<br />

tionsergebnis als Ergebnis <strong>die</strong>ses Zusammenhangs identifizieren. »Der Zusammenhang ihrer Ar-<br />

beiten tritt ihnen daher ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber, als<br />

Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft« (I, S. 351). Die gesell-<br />

schaftliche Kombination ihrer Einzelarbeiten zur produktiven Gesamtarbeit erscheint historisch<br />

und aktuell immer wieder aufs neue nicht als Leistung der einzelnen gekauften Arbeitskraft,<br />

sondern als Leistung des Kapitals (Re, S. 77 f).<br />

Erst recht aber muß <strong>die</strong> gesteigerte Produktivkraft der Arbeit durch den Einsatz besserer Maschi-<br />

nerie, <strong>die</strong> größere Zahl pro-<br />

86


duzierter Gebrauchswerte z. B. durch <strong>die</strong> Ersetzung des Handtransportes durch einen Kran, muß<br />

<strong>die</strong>se Steigerung der Produktion und des Produktionsergebnisses als reine Leistung des Kapitals<br />

erscheinen (I, S. 351, III, S. 95 f).<br />

Diese Erfahrung auf der Ebene der Menge der produzierten Gebrauchswerte bestätigt sich<br />

selbstverständlich erst recht, wenn <strong>die</strong> produzierten Gebrauchswerte vom Kapitalisten auf dem<br />

Markt verkauft werden und einen gesteigerten Gesamterlös einbringen. Dadurch, daß z. B. ein<br />

Kran zur Arbeit hinzugekommen ist, hat sich <strong>die</strong> Arbeitsleistung der Arbeiter nicht verändert, im<br />

Gegenteil, <strong>die</strong> Arbeit ist eher leichter geworden. Die Steigerung in der Menge der gebauten Häu-<br />

ser pro Jahr ist also genausowenig auf <strong>die</strong> Arbeit zurückzuführen wie <strong>die</strong> höhere Preissumme,<br />

<strong>die</strong> dafür in der Zirkulationssphäre erzielt wird. Es wird ganz manifest erfahren: <strong>die</strong> Arbeiter<br />

produzieren nur einen Teil des in der Zirkulation realisierten Erlöses. Es ist also nur richtig,<br />

wenn sie auch nur einen Teil <strong>die</strong>ses Erlöses erhalten, und zwar, so muß es notwendig scheinen,<br />

ist es am gerechtesten, wenn sie entsprechend ihrer Leistung bezahlt werden: sie erhalten exakt<br />

den Teil, den sie auch beigetragen haben.<br />

So erscheint der Lohn als Entgelt für <strong>die</strong> gesamte, geleistete Arbeit des Arbeiters, als das Äqui-<br />

valent des von ihm erstellten Produktes und nicht als das Äquivalent für <strong>die</strong> zur Reproduktion als<br />

gleiche Arbeitskraft notwendigen Gebrauchswerte - eine Größe, <strong>die</strong> mit der Menge der im kapi-<br />

talistischen Produktionsprozeß produzierten Güter nichts (mit der zu ihrer Produktion aufge-<br />

wandten Arbeitskraft aber viel) zu tun hat.<br />

So kehrt sich laut Marx der Wertzusammenhang von der Arbeit als einzig wertschaffender Kraft<br />

und der bloßen Verteilung <strong>die</strong>ses Wertes unter <strong>die</strong> Eigentümer der Produktionsagentien Arbeits-<br />

kraft, Boden und 'Produktionsmittel notwendig um in das Gegenteil, in <strong>die</strong> Theorie nämlich, daß<br />

<strong>die</strong> Revenuequellen voneinander selbständige und unabhängige Wertquellen seien, <strong>die</strong> zusam-<br />

mengenommen den Preis aller Waren bestimmen. Diese Verkehrung wird nun auch noch durch<br />

eine Reihe von Zirkulationserfahrungen im Bewußtsein scheinbar bestätigt und damit noch wei-<br />

ter befestigt:<br />

»Allerdings tritt während des unmittelbaren Produktionsprozesses <strong>die</strong> Natur des Mehrwerts fortwährend in das Be-<br />

wußtsein des Kapitalisten, wie seine Gier nach fremder Arbeitszeit etc. uns schon bei der Betrachtung des Mehr-<br />

werts zeigte. Allein: 1. Es ist der unmittelbare Produktionsprozeß selbst nur ein verschwindendes M6ment, das be-<br />

ständig in den Zirkulationsprozeß, wie <strong>die</strong>ser in jenen übergeht, so daß <strong>die</strong> im Produktionsprozeß klarer oder dunk-<br />

ler aufgedämmerte Ahnung von der Quelle des in ihm gemachten Gewinns, d. h. von der Natur des Mehrwerts,<br />

höchstens als ein gleichberechtigtes Moment erscheint neben der Vorstellung, der realisierte Überschuß stamme aus<br />

der vom Produktionsprozeß<br />

87'


unabhängigen, aus der Zirkulation selbst entspringenden, also dem Kapital unabhängig von seinem Verhältnis zur<br />

Arbeit angehörigen Bewegung. [ ... ] 2. Unter der Rubrik der Kosten, worunter der Arbeitslohn fällt, ebensogut wie<br />

der Preis von Rohstoff, Verschleiß der Maschinerie etc., erscheint Auspressung von unbezahlter Arbeit nur als Er-<br />

sparung in der Zahlung eines der Artikel, der in <strong>die</strong> Kosten eingeht, nur als geringere Zahlung für ein bestimmtes<br />

Quantum Arbeit; ganz wie ebenfalls gespart wird, wenn der Rohstoff wohlfeiler eingekauft, oder der Verschleiß der<br />

Maschinerie verringert wird« (III, S. 54 f).<br />

Diese Mystifikation des Kapitalverhältnisses stellt sich aber in der in dem Marx-Zitat analysier-<br />

ten Weise nicht nur bei Kapitalisten und wissenschaftlichen Ökonomen, sondern auch bei den im<br />

kapitalistischen Produktionsprozeß beschäftigten Arbeitern ein; das - so zeigt Marx im >Kapital<<br />

- ist jedenfalls <strong>die</strong> übermächtige Tendenz, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> kapitalistische Poduktionsweise im Be-<br />

wußtsein der Arbeiter erzeugt wird.<br />

Die Zirkulationssphäre, <strong>die</strong> in der warenproduzierenden Gesellschaft zwischen Produktion und<br />

Konsumtion geschoben ist und <strong>die</strong> zersplitterte, private Produktion zur gesellschaftlichen Repro-<br />

duktion vermitteln muß, läßt also <strong>die</strong> gesellschaftlichen Verhältnisse als Eigenschaften der Din-<br />

ge, und zwar als naturgegebene und ewige Eigenschaften der Dinge erscheinen. Maschinen<br />

scheinen immer Kapital zu sein und das Produkt des Produktionsprozesses erscheint als Ergebnis<br />

des Zusammenwirkens der Produktionsfaktoren. Ohne sie -ohne das Kapital z. B. - scheint Pro-<br />

duktion nicht möglich. So erscheint das Kapital und damit <strong>die</strong> tauschwertorientierte, also kapita-<br />

listische Produktionsweise insgesamt als ewige Naturnotwendigkeit. Den Kapitalismus abschaf-<br />

fen zu wollen, stellt sich so zu Recht als der irrwitzige Wunsch dar, ><strong>die</strong> Kuh schlachten zu wol-<br />

len, <strong>die</strong> man melkt


Marx selbst sagt dazu wenig. In mehreren Schriften (z. B. >Lohnarbeit und KapitalLohn,<br />

Preis und ProfitArbeitslohnGrundwiderspruch von Lohnarbeit und Kapital<<br />

Folgt man der gängigen Ansicht, so ist es der >Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Ka-<br />

pitalGrundwiderspruch< durch <strong>die</strong> verelendende Wirkung des Kapitalismus auf<br />

<strong>die</strong> Lage der Arbeiterklasse und der von ihr abhängigen Schichten. Das Kapital könne sich nur<br />

auf Kosten der Arbeiterklasse bereichern und müsse ihr daher in der Zirkulationssphäre durch<br />

Steigerung der Konkurrenz unter den Arbeitern mittels einer wachsenden industriellen Reserve-<br />

armee den Lohn und <strong>die</strong> daraus abgeleiteten Einkommen <strong>–</strong><br />

89


heute Sozialhilfe, Rente oder Arbeitslosenunterstützung - bis auf ein unverzichtbares Minimum<br />

abspenstig machen, und in der Produktionssphäre alle Mittel zur Auspressung von Mehrarbeit,<br />

zur ökonomischsten Nutzung der eingesetzten Arbeiter anwenden, wie Intensivierung der Arbeit,<br />

Einsparung von arbeitserleichternden Mitteln, Verlängerung der Arbeitszeit etc. etc. Die Arbei-<br />

terklasse wehre sich dagegen, weil sie in ihren zentralen Lebensinteressen bedroht sei. Überall<br />

werde ihr dadurch ganz deutlich, wer der Verursacher <strong>die</strong>ses Elends sei, und in einem hin und<br />

her wogenden Kampf zwischen Kapital und Arbeit werde <strong>die</strong>se Erkenntnis gefestigt, werde das<br />

Proletariat geschult, und da es zugleich durch den Entwicklungsprozeß des Kapitalismus immer<br />

weiter zunehme, müsse es auf <strong>die</strong> Dauer den Sieg davontragen.<br />

Nach <strong>die</strong>ser Auffassung ist es <strong>die</strong> entscheidende Kritik am Kapitalismus, daß <strong>die</strong> Arbeiter >aus-<br />

gebeutet< werden, daß sie weniger erhalten, als sie produzieren; ihr Produkt, das was sie produ-<br />

ziert haben, gehört nicht ihnen, sondern wird vom Kapitalisten angeeignet, weil er über <strong>die</strong> Pro-<br />

duktionsmittel verfügt. Der >Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater<br />

Aneignung< ist also Resultat des Privatbesitzes an Produktionsmitteln. Das Resultat der Ausbeu-<br />

tung, das ständig wachsende Elend (»So wird der Wald der in <strong>die</strong> Höhe gestreckten und nach<br />

Arbeit verlangenden Arme immer dichter, und <strong>die</strong> Arme selbst werden immer magerer« 141 lehrt<br />

das Proletariat aufs eindringlichste, was <strong>die</strong> Quelle seines Elends ist, und was verändert werden<br />

muß, um <strong>die</strong>sem Elend ein Ende zu bereiten.<br />

Die bloße Verschlechterung der Lage in der Produktions- und Zirkulationssphäre macht aber den<br />

Grund für <strong>die</strong>se Verschlechterung noch nicht erkennbar. Sie kann wie ein undurchschaubares<br />

Naturereignis erfahren werden, gegen das man sich nicht gezielt wehren, sondern höchstens in<br />

einer letzten, <strong>hilflose</strong>n Verzweiflungstat, in einem Amoklauf des Umsichschlagens, das >Ich hal-<br />

te es nicht mehr länger aus< -in einer kurzlebigen und letztlich selbstzerstörerischen und resigna-<br />

tiven Revolte zum Ausdruck bringen kann. Diese Naturhaftigkeit der Entwicklung, ihre Unabän-<br />

derlichkeit ist aber gerade Inhalt der Mystifikation des Kapitalverhältnisses, wie wir gesehen ha-<br />

ben: <strong>die</strong> kapitalistische Form der Produktion erscheint als <strong>die</strong> einzig mögliche Form der Produk-<br />

tion, erscheint als identisch mit der Produktion überhaupt, erscheint als >ewige Naturnotwendig-<br />

keit


sacher <strong>die</strong>ses wachsenden Elends identifizierbar wäre, so müßt daraus noch keinesfalls <strong>die</strong> Er-<br />

kenntnis folgen, daß der gesellschaftliche Produktionsprozeß auch auf nicht-kapitalistische Wei-<br />

se stattfinden könnte, daß das Kapital keine unabdingbare Produktionsvoraussetzung ist. Der<br />

Kampf gegen <strong>die</strong> verelendende Tendenz der Kapitalakkumulation ist im Gegenteil ohne weiteres<br />

mit der Produktionsfaktorentheorie und allen anderen durch <strong>die</strong> kapitalistische Produktionsweise<br />

erzeugten Mystifikationen vereinbar, wie wir heute tagtäglich an den gewerkschaftlichen Aktio-<br />

nen und ihren theoretischen Auslassungen sehen können.<br />

Und selbst wenn man hypothetisch einmal den Fall annimmt, das Proletariat hätte in einem ver-<br />

zweifelten Aufstand <strong>die</strong> Klasse der Kapitalisten aus ihren Herrschaftspositionen vertrieben und<br />

würde daran gehen, das Privateigentum der Kapitalisten am Kapital abzuschaffen, so wäre damit<br />

noch keineswegs der Kapitalismus abgeschafft, obwohl <strong>die</strong>s nach der These vom >Grundwider-<br />

spruch zwischen Lohnarbeit und Kapital< als Spezifikum des Kapitalismus der Fall sein müßte.<br />

Ob <strong>die</strong> Produktionsmittel Eigentum des Staates oder per Anteilscheine auf alle Einwohner ver-<br />

teilt oder per Aktie auf wenige Kapitalisten verteilt sind, ändert an der Bewegung des Kapitals<br />

als sich selbst verwertender Wert im Prinzip nichts. Dazu müßte zuerst der Tauschwert als re-<br />

gelndes Gesetz der Produktion und Zirkulation modifiziert und der Tendenz nach ersetzt werden<br />

durch <strong>die</strong> Orientierung der Produktion direkt an den Bedürfnissen und Arbeitskapazitäten der<br />

Menschen. Der >Grundwiderspruch von Lohnarbeit und Kapital< ist also offensichtlich ein ab-<br />

geleiteter Widerspruch, selbst nur Ausdruck eines grundlegenderen Verhältnisses, das erst dasje-<br />

nige ist, was das Spezifikum des Kapitalismus ausmacht.<br />

Das Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert und <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong><br />

Was macht dann aber das Spezifikum des Kapitalismus aus?<br />

Marx beantwortet <strong>die</strong>se Frage im III. Band des >Kapital< 142 .<br />

In seinem Verständnis sind <strong>die</strong> Klassen der Lohnarbeiter und der Kapitalisten nur >Träger< eines<br />

Prozesses, von dem sie selbst beherrscht werden, der scheinbar unabhängig von ihnen, zwar<br />

durch ihre eigene Aktion erzeugt, aber weil <strong>die</strong>se Aktion unkoordiniert erfolgt, sich als ihnen<br />

fremdes, übermächtiges Gesetz hinter ihrem Rücken durchsetzt. Sie können sich darauf einstel-<br />

len und kalkulieren, es aber nicht beherrschen.<br />

142 MEW 25, S. 886 ff.<br />

91


»Der Charakter 1. des Produkts als Ware, und 2. der Ware als Produkt des Kapitals, schließt schon <strong>die</strong> sämtlichen<br />

Zirkulationsverhältnisse ein, d. h. einen bestimmten gesellschaftlichen Prozeß, den <strong>die</strong> Produkte durchmachen müs-<br />

sen und worin sie bestimmte gesellschaftliche Charaktere annehmen; er schließt ein ebenso bestimmte Verhältnisse<br />

der Produktionsagenten, von denen <strong>die</strong> Verwertung ihres Produkts und seine Rückverwandlung, sei es in Lebensmit-<br />

tel, sei es in Produktionsmittel, bestimmt ist. Aber auch abgesehen hiervon, ergibt sich aus den beiden obigen Cha-<br />

rakteren des Produkts als Ware, oder Ware als kapitalistisch produzierte Ware, <strong>die</strong> ganze Wertbestimmung und <strong>die</strong><br />

Regelung der Gesamtproduktion durch den Wert.«<br />

Die ganzen komplizierten Erscheinungsformen der kapitalistischen Gesellschaft sind also letzt-<br />

lich zurückzuführen auf <strong>die</strong> Form der Ware, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Produkte - und zwar <strong>die</strong> ganz überwiegende<br />

Masse aller Produkte - im Kapitalismus annehmen.<br />

Im Kapitalismus wird der Tauschwert als sich selbst verwertender Wert alleiniges Ziel der Pro-<br />

duktion und verselbständigt sich damit noch weiter vom Gebrauchswert: nicht nur <strong>die</strong> Bedürfnis-<br />

se der Individuen, sondern auch der innere Zusammenhang der qualitativ-konkreten Lebensnot-<br />

wendigkeiten der Gesellschaft als ganzer, werden zum sekundären, sogar störenden Anhängsel<br />

der produzierten Ware. Die volle Verselbständigung gegen den Gebrauchswert, <strong>die</strong> völlige Los-<br />

lösung gelingt zwar nicht, aber der Tauschwert in Form des Kapitals versucht sich das sperrige<br />

Hindernis überall gefügig zu machen und seinem Zweck zu unterwerfen.<br />

Der Tauschwert ist <strong>die</strong> in selbständiger Form auftretende abstrakte Arbeit, <strong>die</strong> zur Produktion der<br />

Waren verausgabt wurde, vertritt also -in der vergegenständlichten Arbeit und in der aktuell ver-<br />

ausgabten lebendigen Arbeit - <strong>die</strong> gesamtgesellschaftliche Produktionsfähigkeit. Der Ge-<br />

brauchswert dagegen ist Ausdruck des zu befriedigenden Bedürfnisses irgendeiner Art. Befriedi-<br />

gung von menschlichen Bedürfnissen, konkreten Wünschen und Notwendigkeiten, ist Voraus-<br />

setzung und Erfüllung der Reproduktion der Gesellschaft (womit keinesfalls gesagt werden soll,<br />

daß es keine anderen als zur Reproduktion notwendigen Bedürfnisse gäbe! Aber es ist unbe-<br />

streitbar: sich reproduzieren heißt, Bedürfnisse erfüllen!). Der Gebrauchswert vertritt - gesamt-<br />

gesellschaftlich gesehen also <strong>die</strong> Erfordernisse der Reproduktion und Bedürfniserfüllung der Ge-<br />

sellschaft. Der Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Tauschwert ist also Ausdruck des Wi-<br />

derspruchs, daß <strong>die</strong> kapitalistische Gesellschaft sich notwendigerweise in ihrer Reproduktion an<br />

den Bedürfnissen orientieren muß, in der Produktion der Güter, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Bedürfnisse befriedi-<br />

gen sollen, aber überhaupt nicht an <strong>die</strong>sen Bedürfnissen, sondern an der Aneignung eines Maxi-<br />

mums abstrakter Produktionsfähigkeit orientiert, egal was damit produziert wurde oder werden<br />

92


kann. Dieses Auseinanderfallen von Produktion und Reproduktion führt nur darum nicht zur so-<br />

fortigen Katastrophe, weil in der Warenform Gebrauchswert und Tauschwert, Bedürfnisbefriedi-<br />

gung und Produktionsfähigkeit aneinandergebunden sind. Wenn man also überhaupt von einem<br />

>Grundwiderspruch< des Kapitalismus reden will, dann ist es <strong>die</strong>ser bereits in der Warenform<br />

enthaltene Widerspruch zwischen Tauschwert und Gebrauchswert. In seiner Zuspitzung durch<br />

<strong>die</strong> Tendenz zur Verselbständigung des Tauschwertes gegen den Gebrauchswert, durch <strong>die</strong> Un-<br />

terordnung des Gebrauchswertes unter den Tauschwert, liegt das Spezifikum des Kapitalismus.<br />

Denn mit der Ersetzung der tauschwertorientierten Produktion durch eine Produktion, <strong>die</strong> direkt<br />

an den reproduktiven und subjektiven Bedürfnissen der Menschen orientiert ist, wäre auch der<br />

Kapitalismus verschwunden.<br />

Dieses Unterwerfen und Gefügigmachen des Gebrauchswertes durch den als Kapital verselb-<br />

ständigten Tauschwert kommt am deutlichsten im Produktionsprozeß zum Ausdruck: Steigerung<br />

der Intensität der Arbeit, Senkung der Löhne, Verlängerung des Arbeitstages, extremste Arbeits-<br />

teilung bis zur Monotonie, Ersetzung qualifizierter Arbeitskräfte durch weniger qualifizierte und<br />

daher billigere, Einsparung von Maßnahmen zur Erleichterung der Arbeit, zur Sicherung gegen<br />

Unfälle, zur Verhinderung von Krankheiten und Gesundheitsschäden, Einsparung von eigentlich<br />

notwendigen Hilfs- und Ersatzkräften etc. etc., und all das begleitet von dem Konkurrenzdruck<br />

durch <strong>die</strong> ausländischen oder einheimischen Arbeiter und Arbeiterinnen, der industriellen Reser-<br />

vearmee, <strong>die</strong> dazu zwingt, sich <strong>die</strong> kleinlichste Despotie des Kapitals gefallen zu lassen. Es ist<br />

also genau <strong>die</strong> Analyse der Verselbständigung des Tauschwertes als Kapital gegen den Ge-<br />

brauchswert, also <strong>die</strong> Bedürfnisse der Menschen, wodurch Marx zu den Formulierungen geführt<br />

wurde, <strong>die</strong> als <strong>Verelendungstheorie</strong> in der Geschichte der Arbeiterbewegung ein eigenes Leben<br />

und Schicksal entwickelt haben.<br />

Wenn aber <strong>die</strong> auf Verelendung drängenden Tendenzen im Kapitalismus Ausdruck der Verselb-<br />

ständigung des Tausch-, wertes sind, dann müßte in ihnen doch das Spezifikum des Kapitalismus<br />

erfahrbar sein, so müßte man meinen. Die. Wirkung der Kapitalakkumulation auf <strong>die</strong> Bedürfnis-<br />

befriedigung der Menschen innerhalb und außerhalb des Produktionsprozesses macht scheinbar<br />

<strong>die</strong> Verselbständigung der profitorientierten Produktion vom Gebrauchswert nur zu deutlich. Die<br />

Orientierung der Produktion direkt an den Bedürfnissen werde zur unmittelbar erfahrbaren Not-<br />

wendigkeit. Die Mystifikation scheint durchbrochen, Notwendigkeit und Wesen des Sozialismus<br />

spontan erkennbar zu sein, <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong><br />

93


als Theorie über <strong>die</strong> Entstehung antikapitalistischen Bewußtseins scheint gerettet.<br />

In der <strong>Verelendungstheorie</strong> wird aber allein <strong>die</strong> Verselbständigung des Tauschwertes geschildert,<br />

sie stellt nur <strong>die</strong>se Seite dar. Die Erfahrungen der Arbeiter, <strong>die</strong> in ihr wiedergegeben werden,<br />

sind allein solche der Schlechterstellung, der Unterordnung des Gebrauchswertes unter den<br />

Tauschwert. Die Erfahrung, daß es auch anders gehen kann, daß der Gebrauchswert sich gegen<br />

den Tauschwert durchsetzen kann, daß es ein anderes Prinzip geben kann, an dem sich <strong>die</strong> Pro-<br />

duktion orientieren kann, <strong>die</strong>se Erfahrung ist nach der <strong>Verelendungstheorie</strong> gar nicht möglich.<br />

Das Würde aber bedeuten, daß <strong>die</strong> Arbeiter zwar erfahren, wie ihre Lebensbedürfnisse unter dem<br />

Kapitalismus unbefriedigt bleiben, wie <strong>die</strong> profitorientierte Produktion sie verkrüppelt und ver-<br />

elendet. Sie könnten das aber nur hinnehmen als eine bedauerliche, aber eben unvermeidliche Si-<br />

tuation, denn der kapitalistische Produktionsprozeß müßte als identisch erscheinen mit dem Pro-<br />

duktionsprozeß überhaupt. Die monolithische, fugenlose, konstante Erfahrung der Verelendung<br />

würde so <strong>die</strong> entscheidende Wirkung der Mystifikation noch bestärken, den Kapitalismus als<br />

ewige Naturnotwendigkeit ohne Alternative erscheinen lassen. Es zeigt sich also auch hier: ohne<br />

den Aufschwung, ohne <strong>die</strong> positive Erfahrung der Alternative, ohne konkret erfahrbare Utopie<br />

ist <strong>die</strong> Überwindung des Kapitalismus im Bewußtsein, ist antikapitalistisches Bewußtsein nicht<br />

möglich, genau wie der revolutionäre Wille, das kämpferische Klassenbewußtsein ohne <strong>die</strong> Er-<br />

fahrung des Aufschwungs und <strong>die</strong> auf sinnliches Erleben gegründeten positiven Zukunftserwar-<br />

tungen - gegenüber dem wirklichen Rückfall im Abschwung - nicht möglich ist.<br />

4. Zusammenfassung und Fragestellungen für den Zweiten Teil<br />

Es hat sich also gezeigt, daß <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong>, als Theorie der absoluten und relativen<br />

Verelendung, nur einen Teilaspekt einer umfassenderen Entwicklung richtig wiedergibt, nämlich<br />

den Abschwung nach einem längeren Aufschwung mit gesteigerten Bedürfnissen und selbstbe-<br />

wußten Zukunftserwartungen. Weil <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> aber <strong>die</strong>sen Abschwung und <strong>die</strong><br />

empörte Reaktion darauf, <strong>die</strong> gesteigerte Klassenkampfsituation, isoliert von dem dazugehörigen<br />

Aufschwung, weil sie <strong>die</strong> Erfahrung aus dem Abschwung zu einer Theorie vom Ganzen verabso-<br />

lutiert, wird sie falsch.<br />

1. Sie kann den Anspruch nicht erfüllen, eine Theorie über<br />

94


<strong>die</strong> Entstehung von antikapitalistischem Bewußtsein durch Erfahrung im kapitalistischen Zirku-<br />

lations- und Produktionsprozeß zu sein, weil sie nur das Leiden unter dem Kapitalismus schil-<br />

dern, aber nicht erklären kann, wo <strong>die</strong> Erfahrung gemacht werden soll, daß der Kapitalismus<br />

aufhebbar und das durch ihn erzeugte Leiden abwendbar ist. Der Verweis auf den >Einfluß der<br />

sozialistischen Länder< kann hier genausowenig akzeptiert werden wie der auf <strong>die</strong> Agitation und<br />

Aufklärung durch kommunistische Organisationen. Bei beiden ist Voraussetzung für ihre Wirk-<br />

samkeit, daß sie selbstgemachte Erfahrungen aufnehmen und in einen einleuchtenden Zusam-<br />

menhang bringen.<br />

2. Darum ist auch der Anspruch der <strong>Verelendungstheorie</strong> nicht erfüllbar, sie gebe eine Theorie<br />

über <strong>die</strong> Möglichkeit der Durchbrechung der Mystifikation. Wenn <strong>die</strong> Erfahrungen der Arbeiter<br />

so wären, wie sie <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> beschreibt, dann würde sich <strong>die</strong> Mystifikation des<br />

Kapitalismus in eine ewige Naturnotwendigkeit, als einzig mögliche Form der Produktion be-<br />

ständig in den Köpfen befestigen und wäre nur durch äußerliche Aufklärung (vielleicht)<br />

durchbrechbar. Die Arbeiter würden nämlich nur <strong>die</strong> Allmacht und unabhängige Schöpferkraft<br />

des Tauschwertes als Kapital und ihre eigene Ohnmacht und Ersetzbarkeit erleben.<br />

3. Deshalb kann <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> auch nicht den Anspruch erfüllen, eine Handlungsan-<br />

leitung für <strong>die</strong> Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen das Kapital zu sein. Denn wenn sich <strong>die</strong><br />

wirkliche Entwicklung so verhielte, wie es <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> behauptet, wäre das Proleta-<br />

riat weder materiell noch psychisch oder physisch (und erst recht nicht von seinen Kenntnissen<br />

her) in der Lage einen Kampf zu führen, der über eine kurze Revolte hinausginge, geschweige<br />

denn, <strong>die</strong> gesellschaftliche Reproduktion in eigene Regie zu übernehmen. Vor allen Dingen aber<br />

ist eine Agitation, <strong>die</strong> in einer Situation, wo es sowieso immer schlechter geht, mit der Parole zur<br />

Aktivität aufrufen wollte, es gehe noch mehr bergab, ein Schlag ins Gesicht: Sie negiert <strong>die</strong> täg-<br />

lich beobachtbaren Schutzreaktionen der menschlichen Psyche: Resignation, Apathie und vor al-<br />

lem <strong>die</strong> Verdrängungsmechanismen, <strong>die</strong> bis zur völligen Verkehrung der Erfahrungsverarbeitung<br />

gehen können. Nimmt man noch hinzu, daß in einer Prestige- und Status-orientierten Gesell-<br />

schaft der Abstieg nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich im tagtäglichen Sozialver-<br />

kehr geächtet wird, dann wird schlagend deutlich, daß <strong>die</strong> Strategie der >Entlarvung< und der<br />

>Zerstörung der Illusionen der Arbeiter über ihre Lage


<strong>die</strong> Entstehung massenhaften revolutionären Klassenbewußtseins und Kampfeswillens, als Theo-<br />

rie über <strong>die</strong> Entstehung der sozialistischen Revolution jeder Basis entbehrt.<br />

4. Schließlich ist auch deutlich geworden, daß <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> kein integraler Bestand-<br />

teil der Marxschen Gesamttheorie ist und keinesfalls mit logischer Notwendigkeit aus ihr als<br />

Prognose über <strong>die</strong> Entwicklung der empirischen Wirklichkeit folgt. Vielmehr ist sie <strong>die</strong> willkür-<br />

liche Zusammenfassung all der Textstellen bei Marx, in denen <strong>die</strong> Wirkung des verselbständig-<br />

ten Tauschwertes als Kapital auf <strong>die</strong> Arbeiterklasse und ihre Bedürfniserfüllung analysiert wird.<br />

Dabei ist unbestritten, daß in den früheren Schriften von Marx extreme Formen von Verelen-<br />

dungstheorien im Mittelpunkt stehen. Weiter ist unbestritten, daß Marx sich im >Kapital< vor-<br />

wiegend mit der Verselbständigung des Tauschwertes in den unterschiedlichen Erscheinungs-<br />

weisen des Kapitals beschäftigt und damit der Interpretation, der Marxismus sei vor allem eine<br />

<strong>Verelendungstheorie</strong>, Vorschub geleistet hat. Es mag durchaus sein, daß Marx als Person - wie<br />

<strong>die</strong> meisten Sozialwissenschaftler seiner Zeit - so etwas wie eine <strong>Verelendungstheorie</strong> bis zuletzt<br />

vertreten hat. Wie dem auch sei, wenn eine Theorie einmal ihre eigene innere Logik entfaltet hat,<br />

dann ist sie genau so unabhängig von den Interpretationen und Willensäußerungen ihrer Verfas-<br />

ser wie eine Verfassung. Die innere Logik der materialistischen Geschichtsbetrachtung führt<br />

nicht zur <strong>Verelendungstheorie</strong>.<br />

Denn <strong>die</strong> in der <strong>Verelendungstheorie</strong> zusammengefaßten Aussagen sind allein solche über <strong>die</strong><br />

Wirkung des verselbständigten Tauschwertes auf den Gebrauchswert, auf <strong>die</strong> Menschen und ihre<br />

Bedürfnisbefriedigung innerhalb und außerhalb des Produktionsprozesses. Die Gegenbewegung<br />

des Gebrauchswertes fehlt fast völlig.<br />

Nun könnte man kulturkritisch argumentieren: der Tauschwert habe sich bereits den Gebrauchs-<br />

wert voll untertan gemacht; alle Bedürfnisse seien bereits so durch Werbung und durch <strong>die</strong> feti-<br />

schisierte Warenbeziehung manipuliert und verfälscht, daß sie nur noch in einer Weise auftreten,<br />

in der sie <strong>die</strong> Herrschaft des Tauschwerts bestätigen. Das Bedürfnis nach Liebe erscheine z. B.<br />

nicht mehr als das nach Zärtlichkeit und Aufgehobensein, sondern als das nach Eroberung eines<br />

Prestigegegenstandes des Konsums.<br />

Gegen <strong>die</strong>se kulturpessimistische Argumentation kann man nicht einfach ein konträres Men-<br />

schenbild setzen, denn sie führt ja gerade den wichtigen Gedanken für sich an, daß Bedürfnisse<br />

eben keine ungeschichtlichen Naturkonstanten sind, sondern sich mit der geschichtlichen Ent-<br />

wicklung und den gesellschaftlichen Verhältnissen verändern und entwickeln.<br />

96


Damit verweist <strong>die</strong>se Argumentation auch auf <strong>die</strong> reale Gefahr, <strong>die</strong> in der Tendenz zur Verselb-<br />

ständigung des Tauschwertes liegt: <strong>die</strong> Abstraktion von den konkret-sinnlichen Notwendigkei-<br />

ten, <strong>die</strong> Verdinglichung menschlicher Beziehungen und <strong>die</strong> Konkurrenzorientierungen <strong>die</strong> in der<br />

ökonomischen Warenbeziehung liegen, haben <strong>die</strong> Tendenz, sich auch auf Bereiche auszudehnen,<br />

wo gar keine unmittelbare Warenbeziehung herrscht.<br />

Diese kulturpessimistische Argumentation verkennt allerdings, daß es auch im Kapitalismus wei-<br />

te Bereiche gibt, <strong>die</strong> von der Tauschwertrelation noch nicht erfaßt sind: es gibt da z. B. den Be-<br />

reich der familialen Reproduktion. Die nächste Generation wird durch <strong>die</strong> Frauen in der Familie<br />

aufgezogen durch Arbeit, <strong>die</strong> nicht als gesellschaftliche gilt, weil sie nicht für den Markt geleis-<br />

tet wird und deshalb auch nicht in Wertbeziehungen eintritt, ohne <strong>die</strong> <strong>die</strong> Gesellschaft aber nicht<br />

weiterexistieren könnte. 143<br />

In den frühkindlichen Mutter-Kind-Beziehungen werden Erfahrungen und Interpretationsmuster<br />

geprägt, <strong>die</strong> Grundlage für spätere Bedürfnisse sind. Diese Erfahrungen und Bedürfnisse sind<br />

kein reines Produkt des Kapitalismus, wie schon <strong>die</strong> Nichtbewertung <strong>die</strong>ser Arbeit zeigt, sondern<br />

stammen aus den unmittelbaren materiellen Reproduktionsnotwendigkeiten der Gesellschaft. In<br />

der Mutter-Kind-Beziehung kann Liebe noch als Geduld, Zärtlichkeit, Zuwendung und<br />

Aufgehobenheit erfahren werden, und aus <strong>die</strong>ser Erfahrung erwächst dann auch das spätere Be-<br />

dürfnis nach Wiederholung <strong>die</strong>ser Erfahrung. Umgekehrt, wo <strong>die</strong>se Erfahrung nicht vorhanden<br />

ist, bleibt nur Leere, Mißtrauen und Feindlichkeit, <strong>die</strong> in gewalttätigem und kriminellem Verhal-<br />

ten resultiert.<br />

Am Staat, als von der >Wirtschaft< abgesonderte Form des Allgemeinen, zeigt sich darüber hin-<br />

aus, daß <strong>die</strong> am Tauschwert orientierte Produktion einen breiten Bereich von Gebrauchswerter-<br />

fordernissen, an für das Überleben der Gesellschaft unverzichtbaren Produktionsnotwendigkeiten<br />

übrigläßt, weil sie nicht profitabel und nicht mit Zahlungskraft ausgestattet sind, <strong>die</strong> sich aber als<br />

gesamtgesellschaftliche Krisen bemerkbar machen, wenn sie vernachlässigt werden. Nahezu alle<br />

Staatsfunktionen sind solche Bereiche, <strong>die</strong> entweder vom Kapital nicht ausgefüllt werden können<br />

oder <strong>die</strong> das Kapital nicht mehr ausfüllt, weil sie nicht mehr profitabel genug sind. (Dabei darf<br />

aber nicht übersehen werden, daß der Staat an das Kapital gebunden bleibt, denn <strong>die</strong> Beeinträch-<br />

143 Vgl. Ludmilla Müller, Kinderaufzucht im Kapitalismus - wertlose Arbeit; über <strong>die</strong> Folgen der Nichtbewertung der Arbeit<br />

der Mütter für das Bewußtsein der Frauen als Lohnarbeiterinnen; in: Prokla 22, 6. Jg. 1976, Nr. 1 ; S. 13-65.<br />

97


tigung der Kapitalinteressen würde <strong>die</strong> schwerste Krise heraufbeschwören - es sei denn, es ge-<br />

länge, <strong>die</strong> tauschwertorientierte Produktion überhaupt abzuschaffen.)<br />

In den Gebrauchswerterfahrungen und in den Bedürfnissen steckt also überall ein Element, das<br />

<strong>die</strong> engen Grenzen der kapitalistisch relevanten Bedürfnisse überschreitet und sich von der Be-<br />

dürfniserfahrung her kritisch gegen <strong>die</strong> Verkürzung und Verkrüppelung unter kapitalistischen<br />

Bedingungen wendet. Es muß also Aufgabe der weiteren Untersuchung sein, solche Bedürfniser-<br />

fahrungen aufzuspüren.<br />

Dabei muß nochmals deutlich ausgesprochen werden, daß in der Beschreibung einer solchen Er-<br />

fahrungsbasis nur der Ansatzpunkt für <strong>die</strong> mögliche Entwicklung von antikapitalistischem Be-<br />

wußtsein beschrieben ist. Ob es sich aus solchen Erfahrungen tatsächlich entwickelt, oder ob <strong>die</strong>-<br />

se Möglichkeit wieder durch andere, gegenläufige Erfahrungen zugedeckt wird, und auch wie<br />

aus dem Ansatzpunkt durch Lernprozesse aus gemeinsamem Widerstand möglicherweise Klas-<br />

senbewußtsein entsteht, all das kann hier nicht untersucht werden. Hier geht es allein um <strong>die</strong> Er-<br />

fahrungsvoraussetzungen, ohne <strong>die</strong> ein antikapitalistisches Bewußtsein, das an eigenem Erleben<br />

anknüpft, nicht möglich ist.<br />

Im zweiten Teil der Arbeit soll nun untersucht werden, ob im kapitalistischen Produktionsprozeß<br />

innerhalb der Industrie für <strong>die</strong> Arbeiter und Arbeiterinnen ein Erfahrungsverlauf produziert wird,<br />

der <strong>die</strong>sen allgemeinen Anforderungen entspricht. Diese Beschränkung auf <strong>die</strong> Arbeiter und Ar-<br />

beiterinnen in der Industrie soll keineswegs heißen, es werde unterstellt, nur sie könnten <strong>die</strong> Er-<br />

fahrung von Aufwärts- und Abwärtsentwicklung machen, woraus man dann wieder eine Avant-<br />

gardetheorie konstruieren könnte. Auch soll nicht behauptet werden, solche Erfahrungen könnten<br />

nur im unmittelbaren Produktionsprozeß gemacht werden, was ähnlich verhängnisvolle Avant-<br />

garde-Konstruktionen zur Folge haben müßte. Die Beschränkung im Untersuchungsgegenstand<br />

hat vielmehr außer arbeitsökonomischen zwei Gründe- einmal beziehen sich <strong>die</strong> meisten Varian-<br />

ten der <strong>Verelendungstheorie</strong> vor allem auf den Produktionsprozeß des industriellen Kapitals und<br />

seine Auswirkungen auf <strong>die</strong> Lage der Arbeiter, wobei als entscheidendes Argument immer wie-<br />

der <strong>die</strong> angeblich kontinuierlich steigende Intensität der Arbeit angeführt wird. Mit der Untersu-<br />

chung der Entwicklungen gerade an <strong>die</strong>sem Punkt wird also <strong>die</strong> Kritik der <strong>Verelendungstheorie</strong><br />

als Theorie über <strong>die</strong> Entwicklung antikapitalistischen Bewußtseins in einem zentralen Detailbe-<br />

reich fortgeführt. Zum anderen zeigt <strong>die</strong> Analyse der Mystifikationen, daß es auf dem Hinter-<br />

grund der Erfahrungen aus dem unmittelbaren Produktionsprozeß sicherlich<br />

98


leichter ist als in der verwirrenden Erscheinungswelt der Zirkulationssphäre, <strong>die</strong> Mystifikation<br />

des Kapitalverhältnisses zu durchbrechen. Damit soll aber, wie bereits gesagt, nicht behauptet<br />

werden, es sei nur hier möglich oder es müsse hier automatisch geschehen.<br />

All das klingt vorerst abstrakt, weil es zuerst noch in seinen Konkretionen entwickelt werden<br />

muß. Hier nur soviel zur Verdeutlichung der Fragestellung: Der kapitalistische Produktionspro-<br />

zeß ist nicht nur Verwertungsprozeß, sondern auch Arbeitsprozeß. Damit sein Zweck und Ziel,<br />

<strong>die</strong> Mehrwertproduktion, erreicht werden kann, müssen Gebrauchswerte hergestellt werden, zu<br />

deren Produktion konkret-nützliche Arbeit an Maschinen und mit Werkzeugen geleistet werden<br />

muß, <strong>die</strong> auch wieder in einer jeweils konkret-bestimmten Weise konstruiert und angeordnet<br />

sind, damit der Gebrauchswert mit seinen konkret-sinnlichen Eigenschaften erzeugt werden<br />

kann. Soll nun aufgrund der Konkurrenz in der Zirkulationssphäre das Wertergebnis im Produk-<br />

tionsprozeß verändert werden, z. B. ein geringerer Kostpreis einen höheren Profit ermöglichen,<br />

so bedeutet das immer (außer bei bloßen Preisschwankungen) eine Veränderung in <strong>die</strong>ser kon-<br />

kreten Seite des Produktionsprozesses. Diese Seite, also der Arbeitsprozeß, kann aber nicht be-<br />

liebig manipuliert werden. Er bietet mannigfaltige Widerstände: Maschinen zur Herstellung von<br />

Kanonen werden nicht über Nacht zu Teigknetmaschinen, aus Metallgießern nicht plötzlich Bä-<br />

cker; <strong>die</strong> Arbeiter können nicht länger und härter arbeiten als bis zu einer gegebenen Grenze, ihre<br />

Bewegungen nicht beliebig gesteuert werden etc. etc. Es gilt nun zusätzlich zu den in der Vere-<br />

lendungstheorie beschriebenen Seiten des Produktionsprozesses <strong>die</strong>se Widerstände der Ge-<br />

brauchswertseite zu analysieren, und zwar nicht nur daraufhin, wie sie den Verwertungsprozeß<br />

beeinflussen, sondern vor allem, welche Erfahrungen dabei bei den Arbeitern produziert werden.<br />

Danach müssen wir untersuchen, ob <strong>die</strong>se Erfahrungen im Bewußtsein der Arbeiter tatsächlich<br />

auch so verarbeitet werden, wie sie nach der Analyse als Basis eines selbsterfahrenen antikapita-<br />

listischen Bewußtseins verarbeitet werden können.<br />

Für <strong>die</strong>se ganze Untersuchung kann das Verhalten der Organisationen der Arbeiterklasse außer<br />

Betracht bleiben, weil es darum geht, festzustellen, welche durch den kapitalistischen Produkti-<br />

onsprozeß selbst erzeugten Erfahrungen Basis sein könnten für <strong>die</strong> spontane Herausbildung eines<br />

antikapitalistischen Bewußtseins, ob <strong>die</strong>ses spontane antikapitalistische Bewußtsein trotz der Or-<br />

ganisationen der Arbeiter entstehen kann, seien sie nun Anhänger oder Gegner der Verelen-<br />

dungstheorie.<br />

Der gesamte 2. Teil wurde weggelassen, weil <strong>die</strong> dafür ausgewertete Literatur<br />

in ihren Ergebnisse heute nicht mehr zutrifft.


Schlußbemerkungen<br />

»Solidarisierung begreife ich als den Inhalt des Prozesses, der <strong>die</strong> Prinzipien der Konkurrenz und<br />

Askese, <strong>die</strong> sozio-kulturellen Grundmuster kapitalismuskonformen Verhaltens, aufhebt.«<br />

(Michael Vester, 1970, S. 143)<br />

Am Anfang des VIII. Kapitels <strong>die</strong>ser Arbeit wurde betont, daß hier keine allgemeine Theorie<br />

über <strong>die</strong> Entstehung von antikapitalistischen Bewußtsein oder gar eine allgemeine Revolutions-<br />

theorie entwickelt werden sollte. Es ging vielmehr darum, den traditionellen Ansatz der Arbei-<br />

terbewegung, <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> als Theorie über <strong>die</strong> Entstehung antikapitalistischen Be-<br />

wußtseins einer gründlichen und umfassenden Kritik zu unterziehen. Gleichzeitig sollte in einem<br />

Bereich, an den Erfahrungen im unmittelbaren industriellen Produktionsprozeß gezeigt werden,<br />

daß der Kapitalismus weder linear einzig und allein nur Verschlechterungen in der Lebenssitua-<br />

tion produziert noch daß er dort, wo annähernd ein solch linearer Prozeß beobachtbar ist, antika-<br />

pitalistisches Bewußtsein produziert. Ohne also eine positive Kontrasttheorie konstruieren zu<br />

wollen, wurde der <strong>Verelendungstheorie</strong> ihre einfache Verneinung entgegengehalten: statt einer<br />

kontinuierlichen Abwärtsentwicklung ist ein Wechselprozeß von Aufwärts- und Abwärtsent-<br />

wicklung, von Verbesserung in der Bedürfnisbefriedigung und (durch <strong>die</strong> Kapitalbewegungen<br />

verursachter) nachfolgender Verschlechterung, eine Voraussetzung - neben anderen -für <strong>die</strong><br />

Entwicklung eines antikapitalistischen Bewußtseins, das auf eigener sinnlicher Erfahrung ba-<br />

siert. In <strong>die</strong>sem Wechselprozeß kann in der Aufwärtsentwicklung <strong>die</strong> Möglichkeit einer umfas-<br />

senderen Befriedigung der Bedürfnisse, <strong>die</strong> Möglichkeit also, <strong>die</strong> Produktion am Gebrauchswert<br />

zu orientieren, erfahren und als Notwendigkeit für eine zukünftige, glücklichere Lebensweise er-<br />

lebt werden. In der Abwärtsentwicklung dagegen, in der durch <strong>die</strong> Ökonomisierung des Kapitals<br />

entstandenen Verschlechterung der Bedürfnisbefriedigung, kann <strong>die</strong> Verselbständigung des<br />

Tauschwerts gegenüber dem besonderen Gebrauchswert in der Profitorientiertheit der kapitalisti-<br />

schen Produktion und ihrer rigiden Einschränkung der Bedürfnisbefriedigung auf <strong>die</strong> Befriedi-<br />

gung allein der zahlungskräftigen Bedürfnisse in der Konsumtionssphäre und der kostensparen-<br />

den Bedürfnisse in, der Produktionssphäre erkannt und kritisiert werden.<br />

230


Diese Kritik hat jedoch einige Konsequenzen für <strong>die</strong> Politik der sozialen Emanzipationsbewe-<br />

gung, <strong>die</strong> hier in ihren Grundlinien durch einige kurze Bemerkungen angedeutet werden sollen:<br />

Die <strong>Verelendungstheorie</strong> als Mobilisierungsstrategie führt heute zu einem asketischen Zynismus<br />

in der Argumentation ihrer Vertreter, der sie mehr und mehr in eine sektenhafte Isolierung und<br />

zu einem geschichtslosen Moralismus treibt: Da angeblich erst der Sozialismus <strong>die</strong> Verbesserung<br />

in der Lebenssituation bringen kann, geraten <strong>die</strong> Anhänger der <strong>Verelendungstheorie</strong> in das Di-<br />

lemma, daß sie einerseits ständig Forderungen nach Verbesserungen an den kapitalistischen<br />

Staat und an <strong>die</strong> Einzelkapitale stellen müssen, um so <strong>die</strong> Verelendung und ihre Unausweich-<br />

lichkeit deutlich zu machen. Andererseits: Gerade weil <strong>die</strong>se Forderungen <strong>die</strong> Unausweichlich-<br />

keit der Verelendung demonstrieren sollen, müßte ihre Erfüllung, ohne daß gleichzeitig der So-<br />

zialismus siegte, eine Niederlage bedeuten, denn nach der <strong>Verelendungstheorie</strong> würde sie zu ei-<br />

ner Demobilisierung der Massen und zur Entwicklung von Illusionen über <strong>die</strong> wahre Natur des<br />

Kapitalismus führen. Die Anhänger der <strong>Verelendungstheorie</strong> sind also zu dem Zynismus ge-<br />

zwungen, Forderungen aufzustellen, <strong>die</strong> sie . eigentlich gar nicht erfüllt haben wollen, wenn sie<br />

nicht gleichzeitig den Sieg des Sozialismus bedeuten.<br />

Hans Adamo (1974) schreibt z. B. unter dem programmatischen Titel >Die Legende von der<br />

Humanisierung und Vermenschlichung der Arbeit im Kapitalismus


friedigung ihre Ziele in immer jenseitigere Ferne rücken.<br />

Schließlich begeben sich <strong>die</strong> Anhänger der <strong>Verelendungstheorie</strong> in eine sektenhafte Isolierung,<br />

weil sie über das tatsächliche Elend anklagend jubeln und gleichzeitig tatsächliche Verbesserun-<br />

gen der Situation als Bestechung denunzieren., Ein Autorenkollektiv aus der DDR sieht zum<br />

Beispiel in den Instandhaltern, Steuerleuten und Meßwartenarbeitern auf den höheren Mechani-<br />

sierungsstufen bereits wieder eine Arbeiteraristokratie im Leninschen Sinne, und zwar stehe heu-<br />

te »in Westdeutschland beiden Versuchen der Bourgeoisie, eine neue Arbeiteraristokratie zu bil-<br />

den, <strong>die</strong> subjektive Bestechung im Vordergrund« (Automatisierung und Arbeiterklasse, 1964, S.<br />

166). So können <strong>die</strong> Vertreter der <strong>Verelendungstheorie</strong> keinem, weder dem, der im Elend steckt,<br />

noch dem, der es überwunden hat, mit wirklicher Solidarität begegnen.<br />

Deshalb nennt Andrè Gorz <strong>die</strong> <strong>Verelendungstheorie</strong> <strong>die</strong> »Sackgasse des revolutionären >War-<br />

tens-auf-<strong>die</strong>-KriseHumanisierung<br />

der Arbeit< nennt, genau <strong>die</strong> umgekehrte Konsequenz:<br />

»Damit, daß <strong>die</strong> Hilfsarbeiter und <strong>die</strong> angelernten Arbeiter, <strong>die</strong> an ihre isolierten Arbeitsplätze gebunden waren, er-<br />

setzt werden müssen durch qualifizierte Arbeitsgruppen, <strong>die</strong> selbst ihre Zusammenarbeit organisieren und sich ihrer<br />

technischen Macht und ihrer Unabhängigkeit bewußt sind, wird <strong>die</strong> Hierarchie innerhalb und außerhalb der Betrie-<br />

be in eine Krise versetzt.«<br />

Das befriedigte Bedürfnis korrumpiert nicht, sondern es ist <strong>die</strong> Basis des Selbstbewußtseins und<br />

der Hoffnung, aus denen neue, weitertreibende Bedürfnisse entstehen.<br />

So äußert Kreits, 1970, in einem Aufsatz über >Führungsstil und Arbeitsleistung< in der ar-<br />

beitswissenschaftlichen Zeitschrift Arbeit und Leistung <strong>die</strong> Befürchtung, daß solche Gruppen<br />

nicht nur leistungssteigernd wirken könnten, sondern daß sich in ihnen »für den Betrieb ungüns-<br />

tige Normen« entwickeln.<br />

Und in der Entwicklung der Bedürfnisse, in der Insistenz auf <strong>die</strong> Gebrauchswertebene, liegt <strong>die</strong><br />

entscheidende Bedrohung" für den Kapitalismus als Bewegung der Selbstverwertung des Wertes.<br />

Da aber <strong>die</strong> Bedürfnisentwicklung in sich <strong>die</strong> sprengende Kraft gegenüber dem rigiden Panzer<br />

der Tauschwertorientierung ist, kann laut Gorz nicht mehr mit einem abstrakten Sozialismus als<br />

Kontrastbegriff in der Arbeiterbewegung Mobilisierung erwartet werden:<br />

»Heute ist dagegen <strong>die</strong> Machtergreifung nur dann ein Ziel, das <strong>die</strong> Massen mobilisieren kann,<br />

wenn man genau sagt, was in der kapitalistischen Gesellschaft unmöglich ist und was durch <strong>die</strong><br />

Machtübermahme der Arbeiter möglich gemacht werden soll. Warum will man Sozialismus?<br />

Wie und auf welche Weise? Die Beantwortung <strong>die</strong>ser Fragen ist heute eine<br />

232


Vorbedingung für <strong>die</strong> Mobilisierung der Massen« (S. 17).<br />

Diese Gegenposition zur <strong>Verelendungstheorie</strong>, wie sie etwa A. Gorz vertritt, entwickelte sich<br />

auch in der Neuen Linken der BRD. Diese >hedonistische Linke< insistiert auf der sinnlichen<br />

Erfahrung und dem daraus sich entwickelnden Bedürfniszusammenhang und faßt <strong>die</strong> soziale<br />

Emanzipationsbewegung als einen Lernprozeß auf, dessen Ausgang und Ziel nicht von vornhe-<br />

rein festgelegt ist. »Ob <strong>die</strong>ser Lernprozeß aber auf <strong>die</strong> Dauer das herrschende System stärkt oder<br />

schwächt, muß ausprobiert werden. >Auf <strong>die</strong> Dauer< wird es <strong>die</strong>sen Lernprozeß jedenfalls nur<br />

geben, wenn <strong>die</strong> in ihn involvierten Gruppen auch je aktuell etwas davon haben - und sei es<br />

>nur< der Spaß an der Auflehnung oder <strong>die</strong> Selbstbestätigung, <strong>die</strong> aus der Selbstbetätigung er-<br />

wächst« (D. -Kerbs, 1970, S. 38).<br />

Diesen »Wärmestrom des Marxismus« (E. Bloch) zu stärken und argumentativ zu unterstützen,<br />

ist das Ziel <strong>die</strong>ser Arbeit gewesen. Sie sollte zeigen, daß Genuß und wachsende Bedürfnisbefrie-<br />

digung langfristig eine dynamische, befreiende Kraft werden könnten, ein Lösemittel gegen <strong>die</strong><br />

erstarrten Einstellungen des Hinnehmens und der resignativen Passivität.


Schlußfolgerungen: Sechs Thesen<br />

Zum Schluß will ich in bewußt pointierten Thesen aufzeigen, in welche Richtung <strong>die</strong> politi-<br />

schen Schlußfolgerungen aus den hier entwickelten Überlegungen gezogen werden müssen:<br />

1. Die Vertreter der <strong>Verelendungstheorie</strong> brandmarken meist <strong>die</strong> niederdrückenden Wir-<br />

kungen des Kapitalismus richtig, Weil sie sich dabei aber immer auf <strong>die</strong> übelsten und exis-<br />

tenzbedrohenden Fälle konzentrieren, denn an ihnen wird <strong>die</strong> zerstörerische Kraft des Kapi-<br />

talismus am deutlichsten, entsteht der asketische und moralisierende Eindruck, daß alle, de-<br />

nen es besser geht, bereits privilegiert sind und sich ihrer Besserstellung eigentlich schämen<br />

müßten. Dies wird durch <strong>die</strong> Annahme, <strong>die</strong> am schlimmsten unter dem Kapitalismus leiden,<br />

seien <strong>die</strong> Revolutionäre, und durch <strong>die</strong> umgekehrte Annahme für <strong>die</strong> >Arbeiteraristokratie<<br />

bestätigt.<br />

2. Dadurch werden durch <strong>die</strong> Anhänger der <strong>Verelendungstheorie</strong> zwar <strong>die</strong> Auswüchse des<br />

Kapitalismus gebrandmarkt und bewußt gemacht, aber:<br />

(a) <strong>die</strong>se Bedrohungen und Auswüchse erscheinen als geradezu erwartet (man hat sie ja<br />

auch vorhergesagt). Die Empörung erscheint deshalb unglaubwürdig und tatsächlich emoti-<br />

onal empören kann sich nur noch der >Naive< der Noch-nicht-Aufgeklärte.<br />

(b) Die <strong>Kapitalismuskritik</strong> anhand der Auswüchse und Extremfälle der Verelendung trägt<br />

dazu bei, daß nicht mehr bewußt wird, was im Kapitalismus an täglichen Genüssen und<br />

Bedürfnisbefriedigungen vorenthalten und unentwickelt bleibt. Man kann daher nicht für<br />

<strong>die</strong> eigenen Genüsse und Bedürfnisse kämpfen, denn gegenüber demjenigen, der im tiefen<br />

Elend steckt, erscheint man allemal privilegiert. Man kann nur noch für andere, als Stell-<br />

vertreter, kämpfen und kritisieren.<br />

3. Weil jeder nachhaltige Erfolg einer Reform <strong>die</strong> Situation verbessert und aus dem Bereich<br />

der extremen Bedrohung herausführt, muß man als Anhänger der <strong>Verelendungstheorie</strong> je-<br />

der Reformforderung skeptisch gegenüberstehen, denn jeder Erfolg könnte den Grundwi-<br />

derspruch von Lohnarbeit und Kapital zudecken und <strong>die</strong> Arbeiter integrieren und<br />

pazifizieren. Eine erfolgreich erkämpfte Reformmaßnahme kann also nicht selbstbewußt<br />

gefeiert und genossen werden, sondern man muß den Triumph immer gleich wegreden mit<br />

dem erhobenen Zeigefinger: Art Wirklichkeit habt ihr überhaupt nicht<br />

234


gesiegt, denn der Grundwiderspruch besteht immer noch!« Aus Sozialisten werden so sau-<br />

ertöpfische, asketische Moraliten, <strong>die</strong> nie von den konkret erlebten, den möglichen und<br />

wünschbaren Genüssen, dauernd aber vom Leiden reden und Verzicht und Opfer fordern<br />

zugunsten der Aufhebung eines abstrakten Prinzips: der Grundwiderspruch von Lohnarbeit<br />

und Kapital - den man so nicht einmal im kapitalistischen Betrieb erleben kann - erscheint<br />

als <strong>die</strong> Hauptsache. Was ihn nicht in Frage stellt, ist reformistische Lappalie und lenkt nur<br />

ab.<br />

4. Sieht man dagegen den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital als Ausprägung eines<br />

viel umfassenderen und für alle Bereiche der kapitalistischen Gesellschaft konstitutiven<br />

Widerspruches an, sieht man als eigentlich entscheidenden Widerspruch des Kapitalismus<br />

<strong>die</strong> Verselbständigung des Tauschwertes vom besonderen Gebrauchswert, d. h. <strong>die</strong> Orien-<br />

tierung der Produktion am Profit statt an den Bedürfnissen und <strong>die</strong> Reduktion der Bedürf-<br />

nisse überhaupt auf den schmalen Sektor der zahlungskräftigen und marktfähigen Bedürf-<br />

nisse, dann ergibt sich daraus eine ganz andere <strong>Kapitalismuskritik</strong>:<br />

(a) Die Kritik am Kapitalismus läuft dann nicht nur über das, was er von dem, was man be-<br />

reits hat, wegnimmt, sondern auch über das, was er von dem, was 'man genießen, woran<br />

man sich freuen könnte, verweigert.<br />

(b) Dazu ist es entscheidend, <strong>die</strong> menschlichen Bedürfnisse und Genüsse zu entwickeln und<br />

zu erkennen, <strong>die</strong> im Kapitalismus vorenthalten und unentwickelt bleiben (z. B. Kommuni-<br />

kation, Zärtlichkeit, Selbstbestätigung in der Arbeit, Freizeit für schöpferisches Verhalten<br />

etc.)<br />

(c) Damit wird Reform zur Voraussetzung von Revolution, weil sich erst auf der Erfahrung<br />

erfüllter Bedürfnisse neue Bedürfnisebenen eröffnen können, <strong>die</strong> mit den Bewegungsgeset-<br />

zen der Wertabstraktion im Profit unvereinbar werden: »Wenn wir das geschafft haben, wa-<br />

rum dann nicht auch noch ... ?«<br />

(d) Sozialismus ist dann nicht mehr <strong>die</strong> Abschaffung eines abstrakten Prinzips (Privateigen-<br />

tum an den Produktionsmitteln), sondern <strong>die</strong> lustvolle Durchsetzung der Selbstbestimmung<br />

der Menschen über ihre Bedürfnisse und deren Erfüllung.<br />

5. Da <strong>die</strong> konkreten Bedürfnisse im Mittelpunkt der Auflehnung gegen <strong>die</strong> Verselbständi-<br />

gung des abstrakten Tauschwertes stehen, kann man nicht stellvertretend kämpfen, sondern<br />

kann nur mit der Forderung nach Bedürfnisbefriedigung in seinem eigenen Bereich anfan-<br />

gen und sich mit anderen Gesellschaftsgruppen verbünden und koordinieren, wo sich <strong>die</strong>s<br />

235


als Erfordernis aus den inhaltlich-konkreten Entwicklung ergibt. Vorher ist Kaderpartei,<br />

Politbüro etc. der Situation den Bedürfnissen genauso äußerlich und abstrakt wie der<br />

Tauschwert.<br />

6. Man muß also mit den erhofften genauso wie mit den vorenthaltenen Bedürfnisbefriedi-<br />

gungen, mit Elend und dem Leiden zusammen mit den Genüssen und nicht mit dem Elend<br />

und Leiden allein argumentieren. Erst dann braucht man nicht mehr aus schlechtem Gewis-<br />

sen Sozialist zu sein und als Moralist mit stellvertretenden Kämpfen an den wirklichen In-<br />

teressen und Bedürfnissen der wirklich existierenden Bevölkerung zugunsten eines imagi-<br />

nären >Volkes< vorbeizuagieren.

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