Rundbrief Nr. 75 - Albert-Schweitzer-Komitee eV Weimar-Startseite
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Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben<br />
Ein Beitrag von <strong>Albert</strong> <strong>Schweitzer</strong> für eine Jüdische Zeitung<br />
Vorbemerkung:<br />
Alfred Ullmann<br />
Die Zeitung „AUFBAU Reconstruktion“ ist eine jüdische Exilzeitung, die in 16<br />
Jahrgängen bis Ende 1950 in New York in deutscher Sprache erschien. In ihr<br />
sind hochinteressante Artikel über <strong>Albert</strong> <strong>Schweitzer</strong> und <strong>Albert</strong> Einstein zu finden.<br />
Ausgabe Vol. XVI No. 8, Freitag 24. Februar 1950:<br />
Der Entdecker dieser Zeitschriftenserie ist Erhard Schwarz aus Zwickau, der<br />
sich seit Jahren mit der Verbindung <strong>Schweitzer</strong>/Einstein befaßt.<br />
Er ist momentan dabei, alle Ausgaben zu sichten. Alle Beiträge von <strong>Albert</strong><br />
<strong>Schweitzer</strong> wird er aufbereiten.<br />
In unseren Zeiten der Diskussion um die Frage, ob eine so grausige Waffe wie<br />
die Hydrogen-Bombe hergestellt resp. angewandt werden soll oder nicht, geschieht<br />
es nur allzu leicht, dass die Gespräche darüber an der Oberfläche bleiben.<br />
Die kürzlich vom „Aufbau“ gebrachten Äußerungen Einsteins sind in ihrer einfachen,<br />
überzeugenden und vor allem von jeder Tagespolitik fernen Logik nur zu<br />
verstehen, wenn sie als ein Beitrag zur Ethik unserer Zeit aufgefasst werden.<br />
Ethik ist nur ohne Kompromisse, also abseits vom Gebiet der unser Leben ruinierenden<br />
Politik denkbar.<br />
Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben,<br />
dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgend etwas Lebendigem<br />
Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern<br />
dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme<br />
verdient, und auch nicht, ob es noch<br />
empfindungsfähig ist. Das Leben als solches<br />
ist ihm heilig. Er reißt kein Blatt vom Baume<br />
ab, bricht keine Blume und hat acht, dass er kein Insekt zertritt. Wenn er im<br />
Sommer nachts bei der Lampe arbeitet, hält er lieber das Fenster geschlossen<br />
und atmet dumpfe Luft, als dass er Insekt um Insekt mit versengten Flügeln<br />
auf seinen Tisch fallen sieht.<br />
Geht er nach dem Regen auf der Strasse und erblickt den Regenwurm, der sich<br />
darauf verirrt hat, so bedenkt er, dass er in der Sonne vertrocknen muss, wenn<br />
er nicht rechtzeitig auf Erde kommt, in der er sich verkriechen kann und befördert<br />
ihn von dem todbringenden steinigen Boden ins Gras. Kommt er an einem<br />
Insekt vorbei, das in einen Tümpel gefallen ist, so nimmt er sich die Zeit, ihm<br />
ein Blatt oder einen Halm zur Rettung hinzuhalten.<br />
Heute gilt es als übertrieben, die stete Rücksichtnahme auf alles Lebendige bis<br />
zu seinen niedersten Erscheinungen herab als Forderung einer vernunftgemäßen<br />
Ethik auszugeben. Es kommt aber die Zeit, wo man staunen wird, dass die<br />
Menschheit so lange brauchte, um gedankenlose Schädigung von Leben als mit<br />
Ethik unvereinbar einzusehen.<br />
Mit rastloser Lebendigkeit arbeitet die Ehrfurcht vor dem Leben an der Gesinnung,<br />
in die sie hinein gekommen ist, und wirft sie in die Unruhe einer niemals<br />
und nirgends aufhörenden Verantwortlichkeit hinein. . . .<br />
Sie braucht nicht auf die Frage Antwort zu geben, was das auf Erhaltung, Förderung<br />
und Steigerung von Leben gehende Wirken ethischer Menschen im Gesamtverlaufe<br />
des Weltgeschehens bedeuten kann. Sie lässt sich nicht irre<br />
machen durch die Erwägung, dass die von ihr geübte Erhaltung und Vollendung<br />
von Leben neben der gewaltigen, in jedem Augenblick durch Naturgewalten er<br />
25<br />
Das Leben als solches<br />
ist ihm heilig.