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Das Werk - ernst wiechert im internet

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ERNST WIECHERT - DAS WERK<br />

"Wohin gehen wir?<br />

Immer nach Hause."<br />

Von Prof. Friedrich Bruns<br />

(Madison 6, Wisc. USA)<br />

<strong>Das</strong> Wort, das ich als Motto diesem Versuch voranstelle, schrieb mir<br />

Ernst Wiechert als Widmung in ein Exemplar seiner Totenmesse, und so<br />

wurde mir dieses aus dem Ofterdingen wohlbekannte Wort erst wahrhaft<br />

persönlich zu eigen. Es ist wohl die beglückendste Erkenntnis, die uns das<br />

Alter schenkt: auf den letzten Stadien unseres Lebensweges sehen wir das<br />

erreichte Ziel, und wenn es auch des Glanzes ermangelt, den die Jugend<br />

sich darum erträumt hat, so breitet sich doch wohl ein beseligender Friede<br />

darum aus, wie vielleicht ein stilles Mondlicht zurückleuchten mag auf die<br />

Tagesmühen mit Kampf und Glut, und klar liegt auch vor uns der Weg, der<br />

uns zu diesem Ziel geführt hat.<br />

In einem tieferen Sinne als für uns Alltagsmenschen gilt dies Novaliswort<br />

für die Dichter, "diese seltenen Zugmenschen, die zuweilen durch unsere<br />

Wohnsitze wandeln" (Ofterdingen I, Kap. 6). Zugmenschen ist offensichtlich<br />

eine Analogiebildung zu Zugvögeln, die mit einer uns Menschen unbegreiflichen<br />

Zielgewißheit die Wanderschaft über Gebirge und Meere<br />

antreten und den Weg nach Hause finden. Um den Sinn klarer zu erfassen,<br />

verweise ich auf ein Wort Hölderlins über das Wesen des Genies aus<br />

seinem Rheingedicht. Den Rhein treibt zunächst die königliche Seele gen<br />

Südosten nach Asien:<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

Doch unverständig ist<br />

<strong>Das</strong> Wünschen vor dem Schicksal.<br />

Die Blindesten aber<br />

Sind Göttersöhne, denn es kennet der Mensch<br />

Sein Haus, und dem Tiere ward, wo<br />

Es bauen sollte, doch jenen ist<br />

Der Fehl, daß sie nicht wissen wohin?<br />

In die unerfahrene Seele gegeben.<br />

Erklingen vielleicht diese Worte, wenn man sie mit dem Novaliswort zusammenstellt,<br />

allzudunkel, delphisch zweideutig? Sagen sie nicht sogar das<br />

Gegenteil? Und doch, bei aller Blindheit, bei allem scheinbaren Irren, wohin<br />

wandern die Dichter, diese Zugmenschen? Immer nach Hause! Nehmen wir<br />

als Beispiel Goethe. Da die Stationen seines Lebensweges so klar vor uns liegen,<br />

so ist sein Beispiel besonders geeignet, unsre Einsicht zu fördern. Goethe<br />

ist schon über die Mitte seines siebten Jahrzehnts vorgerückt, als sich<br />

ihm aus besonderer Begnadung die Verse schenken:<br />

Mich verwirren will das Irren,<br />

Doch du weißt mich zu entwirren.<br />

Wenn ich handle, wenn ich dichte,<br />

Gib du meinem Weg die Richte.<br />

So kann nur der wahrhaft Fromme sprechen, in dessen Gebet die Erhörung,<br />

die Erfüllung schon enthalten ist. Doch wenden wir nun den Blick rückwärts<br />

in das Leben Goethes: es zeigt sich uns zunächst eine Flucht nach der<br />

ändern. Aber wohin floh Goethe? Immer zu sich selbst, zu seinem innersten<br />

Wesen. "Niemand kann sich umprägen und niemand seinem Schicksal entgehen",<br />

heißt es in Italien II, am 11. August 1787 mit deutlicher Vorwegnahme<br />

des späteren berühmten Urworts. Die Reisen nach Italien und in den<br />

Orient "waren heilige Fluchten, Hegiren, ausdrücklich als solche bezeichnet.<br />

Und so seltsam es klingt: Fluchten aus dem Fremden zu sich! Einfältigen,<br />

die darüber ein Geschrei erheben, sei es gesagt: ein Dichter kann gar<br />

nicht fliehen" (E. Kommerell, Gedanken über Gedichte, S. 252, Frankfurt<br />

1943). Die Flucht von Wetzlar galt der Bewahrung seiner sittlichen Persön-<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

lichkeit, die Flucht vor Lili der Bewahrung seiner ihm nötigen vollen Freiheit,<br />

die Flucht nach We<strong>im</strong>ar war die Flucht zur vollen Entfaltung seiner<br />

Kräfte. Die Flucht nach Italien? "Ich habe mich in dieser anderthalbjährigen<br />

Einsamkeit wiedergefunden; aber als was?<br />

Als Künstler" (an den Herzog, 17. März '88). Und aus den napoleonischen<br />

Wirren floh er als "Kind des Friedens" in den Orient, die letzte ertragreichste<br />

Flucht zu sich selbst. Er erreichte da die letzte große Erweiterung seines<br />

Wesens, wie sich uns diese darstellt <strong>im</strong> Diwan und Faust H. "Wohin gehen<br />

wir? Immer nach Hause!" Wer den Lebensweg und die Entwicklung des<br />

Dichters Ernst Wiechert überschaut bis zum Einfachen Leben und den Jeromin-Kindern,<br />

kann darüber kein besseres Geleitwort setzen als dieses Novaliswort.<br />

Der Lebensgang des Menschen, die Entwicklung des Dichters: sie<br />

sind eins in einer merkwürdigen Zielstrebigkeit. Wo ist der Mensch zutiefst<br />

zu Hause? Wo er am unmittelbarsten mit der lebendigen Wirklichkeit verbunden<br />

ist, wo sein ganzes Wesen sinnvoll verankert ist. Es ist keine<br />

Abschweifung von unserm Thema, wenn wir noch einmal den Blick auf Goethe<br />

wenden. Wo war Goethe wirklich zu Hause? Man lese die wundervollen<br />

Briefe an Frau von Stein von jener Harzreise (November-Dezember 1777),<br />

deren wesentliches Ziel die Suche nach dem ihm best<strong>im</strong>mten Lebensweg,<br />

nach dem eigenen Wesen war. Man lese, was Goethe da über die sogenannte<br />

niedere Klasse von Menschen sagt, "die aber vor Gott gewiß die höchste ist."<br />

Man schaue sich sein Gartenhäuschen an der Um an, man lese seinen Wanderer.<br />

Man lese von diesem Blickpunkt aus Hermann und Dorothea und<br />

betrachte von hier aus seinen Liebesbund und seine Ehe mit Christiane.<br />

Man vergesse auch nicht die Schale mit Gartenerde vorm Fenster <strong>im</strong> Goethehaus,<br />

die er kurz vor dem Tode betrachtete. Goethe war viel bei Hofe,<br />

aber zu Hause war er da, wo die Menschen in einfach häuslichen Verhältnissen<br />

noch in innigem Zusammenhang mit der mütterlichen Erde leben, wo<br />

noch Gott, Mensch und Natur in lebendiger Wechselwirkung stehen.<br />

Sein erstes Buch betitelt Ernst Wiechert Die Flucht. Sich selbst verbirgt er<br />

unter dem Pseudonym Ernst Barany Bjell. Wie in Hölderlins Hyperion<br />

haben wir hier, was das Grundproblem angeht, eine Autobiographie in symbolischer<br />

Gestalt: Barany Bjell ist eines der he<strong>im</strong>atlichen Moore. Der Oberlehrer<br />

Peter Holm entflieht aus der toten Steinwüste der Großstadt in das<br />

Paradies seiner Kindheit, die he<strong>im</strong>atlichen Wälder, wo das Leben der Bau-<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

ern und der einfachen Dorfbewohner noch wahr und echt ist. Da herrscht<br />

noch eine schlichte Lebensweisheit, die der innigen Naturverbundenheit<br />

entquillt. Aber der Blick dieses Bauern, des Oberlehrers Peter Holm, der die<br />

unmittelbare Verbundenheit mit dem schlichten Leben eingebüßt hat, ist<br />

getrübt. Und so begegnen wir schon in diesem Erstlingswerk einem jener<br />

leisen unaufdringlichen symbolischen Züge, die so bezeichnend sind für die<br />

Dichtung Wiecherts. Der gewesene Oberlehrer hat einer Kuh be<strong>im</strong> Kalben<br />

mit den eigenen Händen helfen müssen. Als die Arbeit getan und die Hände<br />

mit Bürste und Seife gereinigt, begießt er sie mit Eau de Cologne. Ein ironisches<br />

Lächeln umspielt seine Züge: er ist kein Bauer. Deshalb verliert er die<br />

Liebe der ihm treu dienenden Magd wegen eines Liebesabenteuers mit<br />

einer an einer verrotteten Ehe zerschellten Frau aus den sogenannten höheren<br />

Kreisen. Peter Holm hat den Sinn für das Echte und Wahre eingebüßt,<br />

die innere Sicherheit ist gestört. Er ist der Zuflucht, die ihm die He<strong>im</strong>at<br />

gewährte, nicht gewachsen, und so bleibt ihm nur die Flucht in den Tod.<br />

Es dürfte sich, ehe wir weitergehen, lohnen, die Etappen von Ernst Wiecherts<br />

Lebensweg zu übersehen. Der Vater war Förster in der weiten Landschaft<br />

Ostpreußens. Die Dörfer verschwinden in der Landschaft, von den<br />

weiten russischen Ebenen weht ein Hauch tiefster Einsamkeit. Wie die Dörfer<br />

verschwindet auch der Mensch in der Größe der Landschaft. Da ist Ernst<br />

Wiechert zu Hause wie Annette von Droste in der rein bäuerischen Landschaft<br />

Westfalens. Die bezeichnendste Gestalt der Dichtung Wiecherts ist<br />

der Bauer hinter seinem Pfluge. Er reißt die Scholle mit dem Pfluge auf, mit<br />

der Hand vertraut er ihr den Samen an, um schließlich das reife Getreide mit<br />

der Sense zu mähen. Sein Leben ist in den ewigen Kreislauf eingebettet, die<br />

Scholle selber ist ihm Geburtsschoß und Grab, und so sichtbare Gewähr der<br />

Ewigkeit. Zum Bauern gesellt sich der Fischer auf den weiten stillen Seen,<br />

der Förster als der Hüter der Wälder, und in einem der letzten <strong>Werk</strong>e des<br />

Dichters noch der Kohlenbrenner, dessen Leben sich abseits vom Menschen<br />

am Rande des Waldes vollzieht. Vollzieht, nicht abspielt! Alles durch<br />

waltet ein stiller feierlicher Ernst. Und wie sich das glühende Holz in Kohle<br />

verwandelt, das wird dem Kohlenbrenner, der nur ein Buch hat, die Bibel,<br />

von selber zum Sinnbild des menschlichen Lebens. Derselbe Läuterungs-<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

prozeß hier wie dort, nur be<strong>im</strong> Holze klarer ersichtlich: die Kohle bleibt.<br />

Be<strong>im</strong> Menschen schwindet manchmal der Ertrag, und am Ende sind nur die<br />

Schlacken sichtbar.<br />

"Es ist viel Brot in den Furchen der Armen", war ein Lieblingszitat des bibelkundigen<br />

Vaters. Man beachte das Beiwort viel bei Brot. Alles sinnvolle<br />

Leben ist Dienst am Leben und so wahrer Gottesdienst. So gesellt sich zum<br />

Bauern, der mit seinem Pfluge die magere Scholle wendet, gleichsam von<br />

selber der Wald als ein hehres Heiligtum. Longfellow sagt einmal: "The groves<br />

were God's first temples." Doch das ist irreführend für den Wiechertleser.<br />

Näher kommt man, wenn man den Wald auffaßt als die lebendige<br />

Wirkungsstätte Gottes, die unberührt von allem kleinlich menschlichen Tun<br />

das göttliche Urleben am reinsten offenbart. Da sind - das ahnt man an so<br />

mancher Stelle - Geschöpf und Schöpfer noch eins.<br />

Aus dem Kindheitsparadies der Wälder und Seen wird Ernst Wiechert <strong>im</strong><br />

Alter von elf Jahren in die Steinwüste der Großstadt verbannt: es kamen "die<br />

schwermütigen Jahre der städtischen Verbannung" (Wälder und Menschen,<br />

S. 15). "Auf Stein gingen die müden Füße, über Steine glitten die müden<br />

Augen, und der ,Löwe' [der Gymnasialdirektor] war nicht der einzige, dessen<br />

Gesicht steinern war." Schon die Fahrt durch die abendliche Stadt bleibt<br />

dem Knaben "als ein Ertrinken in einem Meer von Licht, Donner und Lärm<br />

<strong>im</strong> Gedächtnis." Dagegen die Ferien zu Hause <strong>im</strong> Wald, "der stillen Wohnund<br />

<strong>Werk</strong>statt Gottes". Einmal will der Schüler die Schule verlassen, um Förster<br />

zu werden. Der Vater aber erklärt lakonisch, er würde seinem Sohne lieber<br />

als diese Erlaubnis einen Strick zum Erhängen geben. So bleibt er in der<br />

Schule, rückt in die Universität ein, um endlich Lehrer zu werden. "Vielleicht<br />

ein schlechter Lehrer, aber ein guter Erzieher." Man denkt an die wenigen<br />

vorbildlichen Erzieher in der Dichtung Ernst Wiecherts. "Die Sehnsucht ist<br />

die Mutter aller großen Dinge", sagt Richard Muther von der modernen<br />

Landschaftsmalerei, die der Großstadt entsprang. So ist auch die Dichtung<br />

Ernst Wiecherts mit ihrem Drange zum Walde, zur bäurischen Scholle das<br />

Kind einer tiefen Sehnsucht. Die Verbannung in die Großstadt bedeutete die<br />

erste Lockerung des seelischen Grundes. Und ehe noch Ernst Wiechert in<br />

seinem Lehrberuf ein Zuhause hatte finden, ehe er sich als Schriftsteller ein<br />

zweites Zuhause in der Phantasie hatte schaffen können, kam der Krieg, die<br />

große Pflugschar eines mitleidlosen Schicksals und zerwühlte und zerriß<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

bis in die letzten Tiefen den seelischen Untergrund. Jahre mußten vergehen,<br />

vieles mußte zunächst verharschen, ehe die wirkliche Heilung einsetzen und<br />

sich vollenden konnte.<br />

Wenden wir wieder den Blick auf Goethe, um die Richtung zu gewinnen: Der<br />

Weg von Götz und Wert her zur Iphigenie, von Wanderers Sturmlied und<br />

Prometheus zu Grenzen der Menschheit, das Göttliche und Zueignung -<br />

auch dieser Weg erstreckt sich über lange Jahre, er war nicht ohne Mühen<br />

und Kämpfe. Und doch ragten nicht in diese Jahre des inneren Wandels die<br />

Wirrnisse und die heillosen Auswirkungen eines Weltkrieges hinein. Der<br />

Sucher nach Frieden Ernst Wiechert zieht in die Schützengräben und unterweist,<br />

da er Förstersohn war, Scharfschützen. Wie unterbricht all dies das<br />

natürliche Reifen. "Es scheint allen meines Blutes gegeben zu sein, erst später<br />

zu einer best<strong>im</strong>mten Ruhe des Lebens zu kommen", berichtet der Dichter,<br />

als er von seinen Vorfahren erzählt. Und noch schwerer wiegt wohl in<br />

diesem Zusammenhang ein anderes Wort: der Dichter erzählt, wie ihm, da<br />

er noch ein Kind war, die klagenden Rufe verlaufener Tiere die Seele zerrissen.<br />

Und er bekennt: "Es scheint mir kein Zufall, daß alles Leiden in meinem<br />

Leben nicht mit dem Leiden, sondern mit dem Mitleiden begann" (Wälder<br />

und Menschen, S. 47). Versteht man nun, warum <strong>im</strong> Lebenswerk Ernst Wiecherts<br />

über ein Jahrzehnt vergeht, ehe darin die ruhige reife Milde klar aufleuchtet<br />

und alles verklärt? Der Weg von der Flucht bis zum Silbernen<br />

Wagen war schwerer zu durch wandeln als der von Götz bis zur Iphigenie.<br />

Als Siebenundzwanzig-jähriger war Ernst Wiechert in den Krieg gezogen,<br />

nun ist die erste Lebenshälfte abgeschlossen, und noch <strong>im</strong>mer umbrandet<br />

ihn das Chaos. Es bedroht den Bauer hinterm Pfluge, es schrillt in die heilige<br />

Waldesstille. Wohl ist das Leid das schnellste Tier, das uns zur Vollendung<br />

trägt. Aber der Ritt auf diesem gewaltigen Renner dauert diesmal ein wenig<br />

lang, streift hart bis an die Grenze menschlicher Ertragfähigkeit, überschreitet<br />

diese schier. Vier Jahre eines Krieges, der sich auch dem Kriegsfreiwilligen<br />

<strong>im</strong>mer mehr als ein mechanisiertes sinnloses Töten und<br />

Vernichten enthüllt, und dann ebenso viele und noch mehr Jahre eines sinnlosen<br />

Elends. Alle Werte wanken, das Leben selber, zumal in der Großstadt,<br />

wird sinnlos. Und wie <strong>im</strong>mer leidet der Dichter stellvertretend für die<br />

Menschheit. Er muß den Leidensbecher bis auf den Grund leeren und so bis<br />

zu dem tiefsten Sinn dieses Leidens vorstoßen. Ist der Dichter doch der Die-<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

ner am Leben, ist doch das dichterische Wort Sinngebung des scheinbar<br />

Sinnlosen! Er muß seinen Glauben an die Heiligkeit des Lebens bewahren,<br />

will er sich selber treu bleiben. "<strong>Das</strong> eigentliche, einzige und tiefste Thema<br />

der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind,<br />

bleibt der Konflikt des Unglaubens und des Glaubens. Alle Epochen des<br />

Glaubens sind fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt, alle Epochen des<br />

Unglaubens sind unfruchtbar." Dieses Goethewort steht an wenig beachteter<br />

Stelle, denn nur wenige Leser lesen die an tiefer Einsicht so reichen<br />

Noten und Abhandlungen zum Diwan.<br />

Woher Rettung finden vor dem Chaos, das draußen alles umbrandet und in<br />

seine Urbestandteile aufzulösen droht? Wo Heilung finden vor dem Chaos<br />

der Seele, der furchtbaren Auswirkung der äußeren Auflösung? Dunkelste<br />

Hölderlinverse umraunen den Dichter: "Warum schläft n<strong>im</strong>mer nur mir in<br />

der Brust der Stachel?" Wie das Kind und der Jüngling in den Ferien <strong>im</strong><br />

Walde Zuflucht suchte und fand, wie ihm da Geist und Seele und Sinne heilten,<br />

so ist auch jetzt wieder die Flucht in den Wald die Einkehr in die lebendige<br />

sinnvolle Wirklichkeit. Frei von jedem so oft törichten menschlichen<br />

Tun offenbart sich <strong>im</strong> Walde unmittelbar das lebendige sinnvolle Wirken<br />

Gottes. So ist der Wald, in viel tieferem Sinne als bei Eichendorff ein hehres<br />

Heiligtum, und darum zerstören Henner und Genossen in Wiecherts drittem<br />

Roman Der Wald lieber ihren Wald, als daß sie ihn zur bloßen Nutznießung<br />

den vermaterialisierten Menschen jener Tage ausliefern, denn das<br />

wäre Gottesschändung. In diesem Buche, gleich nach dem Kriege während<br />

des Umsturzes entstanden, ist noch viel Gewaltsames, Ungeläutertes. Ernst<br />

Wiechert ist dreiunddreißig Jahre alt. Goethe war fast dreißig, als er die Iphigenie<br />

gestaltete: das Orestesleid hatte sich in Segen verwandelt. Aber bei<br />

Wiechert liegen die Dinge anders: allzutief hatte die gewaltige Pflugschar<br />

den seelischen Urboden aufgerissen, als daß das alles zermürbende Leid<br />

sich hätte in Segen wandeln können. Im Kampfe mit Gott und um Gott ist<br />

mehr als die Hüfte verrenkt. Weder der Dichter noch seine Gestalten haben<br />

sich in diesem Jakobskampf den Segen erringen können. Aber sie bleiben<br />

bei dem Jakobswort: "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn." Merkwürdig<br />

ist, wie zukunftsträchtig dieses Buch für die weitere Entwicklung des<br />

Dichters ist. <strong>Das</strong> Psalmistenwort: "Wir bringen unsere Jahre zu wie ein<br />

Geschwätz", das fast zwei Jahrzehnte später Thomas von Orla aus dem toten<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

Kinopanoptikum der Großstadt in die östlichen Wälder treibt, durchhallt als<br />

Leitmotiv diese Dichtung, an deren Eingang der bei Nacht pflügende Bauer<br />

steht, da streikende Kommunisten die Naturordnung freventlich zerbrechen<br />

wollen. Der Acker und der Pflug, nur sie haben Bestand. "Der Mensch vergeht,<br />

der Wald vergeht. Aber der Acker bleibt, die Erde, Gott." (Der Wald, S.<br />

235) Und doch: von dieser ausgeglichenen ruhigen Reife ist der Dichter<br />

noch weit entfernt. Noch ist er der Diener, ja, der Knecht seiner Zeit. Seine<br />

Seele ist zerrissen von Liebe und Haß. <strong>Das</strong> bezeugt Der Totenwolf, der <strong>im</strong><br />

Jahre 1922 entstand, als die wirtschaftliche Misere <strong>im</strong>mer höher stieg und<br />

jede Sicherheit, die äußere materielle wie die innere seelische, aufzuheben<br />

drohte. "Es war eine große Zeit für alle, die die Herzen anzurühren vermochten,<br />

denn die Herzen hungerten nach Brot. Eine große Zeit für die Prediger<br />

der Liebe wie für die des Hasses, denn die Schalen standen <strong>im</strong> Gleichgewicht."<br />

(Rede an die deutsche Jugend, 1945. S. 3) Auch <strong>im</strong> Dichter standen<br />

in jenen Jahren die Schalen <strong>im</strong> Gleichgewicht. Und auch in seiner Dichtung.<br />

Ein tiefer Riß geht durch dieses Buch. <strong>Das</strong> gärende Chaos der Zeit spiegelte<br />

sich wieder in dem Vielerlei seiner Gestalten. Da ist der vorwärtsdrängende<br />

Held, der letzte Abkömmling eines sich auflösenden Geschlechtes, in dem<br />

sich noch einmal die Tugenden seiner östlichen Vorfahren von der Großmutter<br />

her zusammenballen. Die Signatur dieses Charakters aber ist chaotische<br />

Unruhe, wie eine aufgeregte Mischung widerstrebender unvereinbarer<br />

Elemente sie auslöst. Sein Losungswort ist Kampf. Von glühender Liebe für<br />

sein Volk verzehrt, sucht er das Heil <strong>im</strong> Haß und <strong>im</strong> Schwerte, nur um sich<br />

am Ende umsonst zu opfern. Daneben der Volksschullehrer, der, als er auf<br />

dem Schlachtfelde verblutet, das Vaterunser spricht und <strong>im</strong> Pfluge das Heil<br />

erblickt. Oder der stille Reg<strong>im</strong>entspfarrer, der bekennt, wie der sterbende<br />

Krieger am Ende doch nach seiner Mutter ruft und den Weg zum Kreuze findet.<br />

Oder die Worte, die des Helden Großmutter, eine der vielen großen<br />

Frauengestalten Wiecherts, zu der Geliebten ihres Enkels spricht, als dieser<br />

in den Krieg zieht: "Dann sage ich dir, daß Gott ihm mit seinen eignen Händen<br />

die Augen zudrücken und lächelnd bei ihm niedersitzen wird." (S. 140)<br />

Aber erhebt man die Frage, wo drückt sich die eigene Überzeugung des<br />

Dichters aus, so fragt man umsonst. <strong>Das</strong> Gottesbild ist verworren schwankend<br />

wie die Zeit selbst. Aber alle diese Menschen sind Gottsucher, wie es<br />

der Dichter selbst ist. Die schmale Wand, mit Rilke zu sprechen, die uns von<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

Gott trennt, ist aus den Bildern aufgebaut, die wir in unserer Not selber<br />

haben erschaffen müssen. Und aus Rilkes Stundenbuch stammt auch das<br />

Motto, das Wiechert vielsagend vorangestellt hat:<br />

Ich bin derselbe noch, der bange<br />

Dich manchmal fragte, wer du seist.<br />

Nach jedem Sonnenuntergänge<br />

Bin ich verwundet und verwaist,<br />

Ein blasser allem Abgelöster<br />

Und ein Verschmähter jeder Schar,<br />

Und alle Dinge stehn wie Klöster,<br />

In denen ich gefangen war.<br />

Dann brauch ich dich, du Eingeweihter,<br />

Du sanfter Nachbar jeder Not,<br />

Du meines Leidens leiser Zweiter,<br />

Du Gott, dann brauch ich dich wie Brot.<br />

<strong>Das</strong> Buch ist für jeden Leser, der von den reifen <strong>Werk</strong>en des Dichters zu ihm<br />

kommt, von einer quälenden Zwiespältigkeit und Ungeklärtheit, die sich<br />

auch <strong>im</strong> Stil auswirkt. Dieser ist nicht Ausdruck eines erschütterten, sondern<br />

eines qualvoll ringenden Lebens. Man denkt, was die gequälte Unruhe<br />

anbetrifft, an Goethes erstes Wanderers Nachtlied. Bis zum zweiten liegt<br />

noch ein weiter Weg. Dazu ist das Buch stilistisch mehr das <strong>Werk</strong> eines Artisten,<br />

der bewußt auf seine Effekte hinarbeitet, als das eines reifen Künstlers,<br />

der in seinem Schaffen tief in den schöpferischen Urgrund hinabgetaucht<br />

ist. Und warum das Rilkezitat mit seinem schlichten Schluß? "Du Gott, dann<br />

brauch ich dich wie Brot?" Nun, Wiechert ist ein Gottsucher wie Rilke, aber<br />

die sich von Zeit zu Zeit enthüllenden Umrisse Gottes verschwinden <strong>im</strong>mer<br />

wieder. So kann auch der Dichter in seinem Schaffen noch nicht bis zum stillen<br />

schöpferischen Urgrund vordringen. Man sieht, wie auf den Totenwolf<br />

aus innerer Notwendigkeit, gewissermaßen als Fortsetzung des Kampfes,<br />

der Knecht Gottes Andreas Nyland folgen mußte, und zwar erst nach einer<br />

längeren Periode des inneren Heranreifens folgen konnte. Anscheinend ist<br />

in den Jahren von 1922-1925 nur die kleine Novelle Die Legende vom letzten<br />

Wald entstanden, und diese ist ein zusammenfassender Nachklang des<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

Romans Der Wald. Die Ernte kann erst nahen, wenn der umgepflügte Acker,<br />

geebnet und gelockert durch menschliche Arbeit unter steter Mitwirkung<br />

der mütterlichen Natur, aufnahmebereit die Saat empfangen hat. Nur wenn<br />

die Zeit erfüllet ist, kann die Saat gedeihen und reifen.<br />

<strong>Das</strong> neue Buch trägt die Bezeichnung Roman und ist - bis zu den Jeromin-<br />

Kindern - das bei weitem umfangreichste <strong>Werk</strong> des Dichters, voll bunter Verwicklungen,<br />

weiter Verzahnungen und zugleich wohl das unruhigste, leidenschaftlichste,<br />

ja gequälteste Buch Wiecherts. Kein anderes ist nach Form<br />

und Gehalt so sehr Zeugnis innerer seelischer Qual. Die Effekte sind manchmal<br />

grell, gesucht, das Böse, das sich dem Helden auf seinem Lebens- und<br />

Leidenswege entgegensetzt, allzuteuflisch, urböse, in Menschen der höheren<br />

Kreise verkörpert. Der Roman ist ungewöhnlich stark ich-bezogen, was<br />

sich schon <strong>im</strong> Titel andeutet. Andreas hatte dem Dichter jene Tante Veronika<br />

benannt, die so nachhaltig durch ihre phantasiereiche Erzählungsgabe<br />

auf die Entwicklung des Kindes eingewirkt hatte. Der Name Nyland ist<br />

natürlich symbolisch für den Sucher nach geistigem Neuland. Stellte Wiechert<br />

dem Totenwolf die Verse aus Rilkes Stundenbuch voran, so spricht<br />

hier in dem vorangestellten Gedicht der Dichter selber. Der Titel Dem unbekannten<br />

Gott fällt wohl kaum zufällig mit dem des berühmten Gedichts des<br />

jungen Nietzsche zusammen. Diese Verse sind ein weit unmittelbareres<br />

Bekenntnis Wiecherts als die Rilkeverse, die doch, als Zitat, mehr einen<br />

ersehnten Zustand ausdrücken als einen wirklichen Tatbestand. Diesen stellen<br />

die eigenen Verse dar, sie führen uns näher an Wiecherts Gottesbild<br />

heran, aber Gott bleibt fern, unerreichbar, unendlich fremd, furchtbar und<br />

rätselhaft. Die Verse wirken wie ein Vorklang des Hiobswortes, das Wiechert<br />

seinen Jeromin-Kindern vorangestellt hat: "Um Gott her ist schrecklicher<br />

Glanz". Gott ist nicht mehr der sanfte Nachbar jeder Not, diese Worte<br />

erklingen wie aus einer für den Dichter vollständig versunkenen Welt. <strong>Das</strong><br />

neue Gottesbild, das sich dem Dichter ankündet, ist umstrahlt von einem<br />

furchtbaren Glanz. Der junge Luther hatte aus inneren und äußeren Nöten<br />

heraus Ähnliches erlebt.<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

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Friedrich Bruns<br />

Dem unbekannten Gott<br />

Und willst du weiter dich versagen:<br />

Versage dich .... ich kann nicht mehr.<br />

Ich hab' die Schale dir gefüllet<br />

Mit Blut und Leid .... jetzt bin ich leer.<br />

Ich hab' das Schwert auf dich geworfen,<br />

Ich nahm das Kreuz: dein Lächeln blieb.<br />

Mein Haß wie meine Liebe gingen<br />

Durch deine Ferne wie ein Sieb.<br />

Ein Bettler bin ich ganz geworden,<br />

Von keinem Sterne fällt mir Glanz,<br />

Und stäubend über meine Stirne<br />

Geht deiner ewigen Füße Tanz.<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

Zu dem wuchtigen Titel vom unbekannten Gott gesellt sich der Gedanke des<br />

sich versagenden Gottes wie eine gewaltige Steigerung: Gott versagt sich,<br />

wie auch der Mensch um ihn ringen, was ihm der Mensch auch opfern mag.<br />

Und doch geht über die Stirne des Suchers der ewige Tanz der Füße Gottes,<br />

"stäubend"; es fällt kein klares Licht. So geht Andreas Nyland seinen Leidensweg.<br />

Mit gewaltigem Auftakt setzt die Dichtung ein. Über die tote Erde<br />

brausen die verspäteten Stürme der Tag- und Nachtgleiche, der heiße Atem<br />

neuen Lebens. Ist es der Atem Gottes, der neues Leben wecken will, der<br />

Andreas Nyland zwingt, die eingekerkerten Tiere zu befreien, die sich so<br />

vom Leide losreißen, während der Mensch, weil er ewig den Mitmenschen<br />

quält, dem Leide unlösbar verhaftet bleibt? So tritt Andreas Nyland seinen<br />

Leidensweg an, in Konflikt mit menschlichen Satzungen. Aus dem Kanditaten<br />

der Theologie wird der Pfarrer, der sich nicht in die Bestallung des<br />

Berufs einfügen kann, und so wird aus dem Pfarrer der "Knecht Gottes".<br />

Aber er sucht Gott umsonst. Über den Essen des Ruhrgebiets blicken ihn die<br />

toten Augen Gottes an, wie aus den blinden Augen seines Kindes, blind<br />

wegen der Sünden seiner Vorfahren. Wie hat doch die Menschheit an sich<br />

und an der Erde gefrevelt! Der Krieg war nur die letzte Steigerung, der letzte<br />

Ausfluß des Urfrevels. Am Ende des Buches verschwindet Andreas Nyland<br />

in die Einsamkeit der Wälder: da sucht er Heilung nach einem verfehlten<br />

53<br />

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54<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

Leben, weniger verfehlt aus eigener Schuld als aus der gottfremden Unnatur<br />

der Menschenwelt, die er zu Gott führen will. Mitschuldig aber ist Andreas<br />

Nyland: die lebensfremde, ja lebensfeindliche Askese hat ihm den Weg versperrt.<br />

Den Gegenpol bilden Jons und Grita, die sich nach schweren Kämpfen<br />

ein Stück Scholle errungen haben, Kinder zeugen und so der Erde und<br />

dem Leben dienen. Aus der von der Maschine entstellten Gesellschaft geht<br />

der Weg in das lebendige Wirken und Weben der Natur. In der Einsamkeit<br />

der Moore und Wälder mag der Knecht Gottes den Gott finden, den er bisher<br />

umsonst in sehnsuchtsvoller Qual gesucht.<br />

Trotz des Dichters Zeugnis, der in diesem <strong>Werk</strong> den inneren Umbruch sieht<br />

(und der innere Umbruch, der sich in den früheren <strong>Werk</strong>en andeutet, ist hier<br />

vollendet) verkörpert sich in diesem <strong>Werk</strong>e mehr der gewaltsame Abschluß<br />

der alten als die sieghaft klare Verkündigung der neuen Epoche. Die Dichtung<br />

vom Knecht Gottes bringt kaum mehr als das noch mit dem Dunkel ringende<br />

Herandämmern des noch fernen klaren Tages, während<br />

gewitterschwangere Sturmwolken den Horizont verdüstern. Bezeichnend<br />

ist auch, daß zwei Jahre vergehen, ehe das nächste <strong>Werk</strong> Wiecherts sich<br />

vollendet: Die Novellensammlung Der silberne Wagen. Von den sieben<br />

Novellen gehört eine, die Legende vom letzten Wald - wie schon der Stil zeigt<br />

- der Vergangenheit an: sie ist eine Umdichtung des Romans Der Wald. Die<br />

sechs anderen Novellen sind in den beiden Jahren nach der Vollendung des<br />

Romans entstanden. Ruht sich die Seele des Dichters vielleicht in diesen<br />

Novellen aus nach der Wirrsal und der bis aufs äußerste getriebenen An<br />

Spannung, wie Kleist sich von der erschütternden Tragik und der künstlerisch<br />

straffen Form der Penthesilea in die aufgelöste freie Märchenwelt seines<br />

Käthchens flüchtet, um da auszuruhen? In diesen Novellen zeigt sich<br />

zum ersten Mal in einer ruhigen Beschaulichkeit das große epische Talent<br />

Wiecherts in seiner Vollendung. Der Epiker hat Zeit: alles atmet beschauliche<br />

Ruhe. In keinem von den früheren <strong>Werk</strong>en des Dichters zeigt sich diese.<br />

Hier tritt sie in die Erscheinung, da das vierte Lebensjahrzehnt so gut wie<br />

abgeschlossen ist. Im Osten reifen die Menschen spät, nach Wiecherts<br />

Wort. So heißt es in seinem Selbstbildnis, das uns sowohl vorwärts weist als<br />

auch die bisher durchmessene Strecke aufhellt: "Ich begann mit dem Wald<br />

und der Bibel, und damit werde ich auch wohl aufhören. Ich komme aus der<br />

,ostischen' Welt, und viele meinen, das sei eine dumpfe, gebeugte Welt. Aber<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

diese wissen nichts von der ,magischen' Welt, die dort noch lebt. Aus ihr<br />

ging ich in die westliche, in die der ratio, und daraus erklären sich alle .Interferenzen'<br />

des Lebens und des <strong>Werk</strong>es. Ich habe mit vielen schlechten<br />

Büchern begonnen. <strong>Das</strong> Wort überwog, der Klang, das gehäufte Attribut.<br />

Wir wachsen sehr langsam <strong>im</strong> Osten." Wir sehen: zu den Wirrnissen der<br />

Zeit, die das natürliche langsame Heranreifen störend hemmen, gesellen<br />

sich die inneren Widerstände, die "Interferenzen", die sich dadurch ergeben,<br />

daß ein Kind der magischen Welt des Ostens in die westliche Welt der<br />

ratio verpflanzt wird. Im Andreas Nyland trägt sich dieser Kampf aus. Als<br />

Ernst Wiechert zu der Gestaltung der Novellen schritt, war der Kampf beendet.<br />

<strong>Das</strong> erreichte Ziel zeigt sich klar an in der Schlichtheit und Ruhe des<br />

Stils. Wie Wilhelm Meister sich von Werthers Leiden unterscheidet, so diese<br />

Novellen von den früheren Romanen Wiecherts. Sie sind Gebilde eines<br />

erschütterten Lebens, das Ruhe gefunden hat wie die See nach dem Sturm.<br />

Aus dieser Seelenlage ersteht die sprachliche Gewandung. Jede Spur von<br />

bewußtem Artistentum ist verschwunden, diese Gebilde spiegeln die schwer<br />

errungene neue Seelenlage wieder: "Vom erschütterten Leben", heißt das<br />

Nachwort. Die Titelnovelle vom Silbernen Wagen eröffnet den Reigen (der<br />

bestirnte H<strong>im</strong>mel spannt seinen Bogen über das ganze) und dazu bildet die<br />

Schlußnovelle Die Flucht ins Ewige das positive Gegenstück, wie auch zum<br />

Knecht Gottes Andreas Nyland. Der Held der Titelnovelle ist der 45 Jahre<br />

alte Staatssekretär Hermann Gieseking, der Sohn eines ostpreußischen Bauern,<br />

der kalt berechnend, vollkommen schwindelfrei den steilen Weg zur<br />

Höhe "eher vorwärtsstürzte als ging". Jede natürliche Herzenswärme, ja<br />

jede Freude am Leben oder an der Kunst hat sich seinem Ehrgeiz unterzuordnen.<br />

Überarbeitung veranlaßt ihn, da ihm das höchste erreichbare Ziel<br />

winkt, in der ostpreußischen He<strong>im</strong>at die nötige Erholung zu suchen. Doch<br />

hier vollendet sich sein Geschick. Sobald er erschauernd den lebendigen<br />

Atem der he<strong>im</strong>atlichen Wirklichkeit spürt, mehrt sich die innere Unruhe<br />

und Wirrnis, die ihn schon in der Reichshauptstadt bei der Betrachtung des<br />

kleinen Gemäldes befallen: es stellte ein Stück he<strong>im</strong>atlicher Landschaft dar.<br />

Sein Urteil spricht ihm die Tochter jener Landschaft. Sie hat ein Kind von<br />

ihm, er hat sie gefühllos beiseite liegen lassen als einen lästigen Hemmschuh<br />

in seinem jähen Aufstieg. Sie spricht: "Dein Gericht hat angefangen,<br />

und ich werde meine Hand nicht aufheben zu deiner Gnade. Mein Leben<br />

geht um einfache Dinge, um ein Roggenfeld, um eine Fohlenkoppel, ein Blu-<br />

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56<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

menbeet oder eine Handvoll Mehl. Sie lügen nicht, und ich habe nur zu<br />

sagen, ob sie gut sind oder schlecht. Sie können nicht sprechen, verstehst<br />

du? Ich sehe auf dich wie auf eine Roggenähre, und die Ähre ist taub. Wir<br />

sammeln hier keine tauben Ähren." Es ist die schlichte Weisheit des erdverbundenen<br />

Lebens, die das Urteil spricht, als ob die Landschaft selber spräche.<br />

Als er vorm Abschied noch einmal sein Kind gesehen und in dessen<br />

Augen denselben Spruch gelesen, fragt er sie: "Weshalb bist du so fern wie<br />

alles das? Wie das Kind und der Wald und jenes Tier?" (Im Wald ertönt der<br />

Brunftschrei eines Hirsches, der Lockruf des Lebens!) da sagt sie langsam:<br />

"Weil wir leben." Als er dann <strong>im</strong> ersten Morgen-lichte <strong>im</strong> Walde dem gewaltigen<br />

Hirsche gegenübersteht und die Büchse erhebt, da fällt die letzte<br />

Bestätigung des Urteilsspruches. Es ist ihm, als ob er die Büchse ins Antlitz<br />

der He<strong>im</strong>at erhebt, die sich in diesem Tier vor ihm verkörpert; von innerer<br />

Qual zerrissen, wirft er die Büchse herum, sein Gesicht wie von furchtbarem<br />

Schmerz zerrissen, und die Kugel zersplittert die Äste. Hermann Gieseking<br />

hat an der He<strong>im</strong>at gefrevelt, und nun zerbricht er an dem Urteil, das<br />

ihm die He<strong>im</strong>at spricht. Die einfache Linienführung, die Schlichtheit der<br />

sprachlichen Darstellung bezeugen: ein großer Epiker spricht hier, der aus<br />

tief erschütterter Seele sich zur Ruhe emporgeläutert hat. Der Dichter selber<br />

bekennt in dem vorangestellten Begleitwort, diese Novellen sind seines<br />

Blutes und stehen in sieben Spiegeln um die vier letzten Jahre seines<br />

Lebens. Merkwürdig schon, wie in allen das Thema des Krieges mitschwingt,<br />

den er nun endlich wie einen Baustein in sein <strong>Das</strong>ein eingeordnet<br />

hat. In den ersten drei Novellen schwingt die Nachwirkung des Krieges und<br />

seiner Folgen in steter Steigerung mit, dann in der vierten Novelle, die<br />

Schmerzensreiche, die unmittelbare unendlich leidvolle Auswirkung desselben<br />

in einer zartempfindlichen Frauenseele, da der Gatte in den Krieg zieht,<br />

als sie sich Mutter fühlt, dann <strong>im</strong> Kinderkreuzzug die grausame Verhärtung<br />

der Bauernseele der Not der eigenen Enkelkinder gegenüber (der einfache<br />

Schaferknecht bildet die für Wiechert so bezeichnende Kontrastgestalt),<br />

dann die Einkehr in die vom Menschen kaum berührte Natur (Der Wolf und<br />

sein Bruder). Und nun rundet sich der Kreis in der Schlußnovelle: Die<br />

Flucht ms Ewige. Sie ist das positive Gegenstück zum Silbernen Wagen, die<br />

unmittelbarste künstlerische Ausgestaltung des erschütterten Lebens, das<br />

sich in dunklem Drange und doch zielbewußt aus der Erschütterung zur<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

Ruhe und Reife emporläutert. Man denkt an das Wort Nietzsches von der<br />

"wunderbaren Meeresstille der Seele, die die Griechen Sophrosyne nannten."<br />

Der Held der Novelle ist der Bauer Michael Anders, jetzt Kanonier an der<br />

flandrischen Front. Eine englische Flachfeuergranate brauste hernieder und<br />

riß einen verschütteten Pflug aus der sinnlos verwüsteten Erde. Da<br />

erwachte die Seele des Bauern aus dem Grauen mörderischer Unwirklichkeit.<br />

Seither sitzt er jede dienstfreie Stunde am Rand des Granattrichters,<br />

"eine Hand auf den Pflug gelegt und die Augen auf dem erstorbenen Land",<br />

bis ein neuer Bombenregen die letzten Überbleibsel seiner Kompagnie vernichtet.<br />

Vom furchtbaren Schrei eines Pferdes, das mit zerrissenem Leibe<br />

seinen Jammer über die Erde hinausschrie, erwachte Michael Anders. Er<br />

erschießt das gequälte Tier, erblickt daneben das edle und verstörte Antlitz<br />

eines anderen Pferdes, er schlingt die Arme um den zitternden Hals und<br />

wärmesuchend schmiegt sich seine kalte Wange daran. So findet er Trost<br />

und reitet davon, weglos in die Nacht, der dunkelsten Stelle des Horizonts<br />

zugewendet. In Mensch und Tier lebt gleicherweise nur noch der Drang<br />

nach dem Leben. So vergehen Tage und Nächte. Da sieht der Bauer Stoppelfelder,<br />

die des Pflügers harren, und an der Wand eines Schuppens einen<br />

Pflug. Da findet die junge Bauersfrau den Wirren und Verwundeten und<br />

trägt ihn, als er ohnmächtig zusammenbricht, ins Haus, während er murmelt:<br />

"<strong>Das</strong> Feld, das Feld, - Mutter! Hilf!" Tage vergehen, da geht Michael<br />

Anders hinter dem Pflug, und so naht seiner von den Schrecknissen des<br />

Krieges noch <strong>im</strong>mer verstörten Seele die Genesung, da er wieder der Erde<br />

und dem Leben dient. Und der Erde und dem Leben dient auch das junge<br />

Weib, das ihr Kind säugt. Der gemeinsame Dienst am Leben zwingt sie<br />

zusammen, und die Liebe des Weibes vollendet die Heilung. Aber als <strong>im</strong> folgenden<br />

Herbst das geschlagene deutsche Heer zurückflutet, da reitet<br />

Michael in die He<strong>im</strong>at, sich als Fahnenflüchtiger dem Kriegsgericht zu stellen.<br />

Als Pfand neuen Lebens aber gibt ihm die Frau ihrer beider Kind. So<br />

n<strong>im</strong>mt sein Schicksal eine andere Wendung, als er es in seiner schlichten<br />

Ehrlichkeit erwartet hatte. Er sucht sein Urteil, aber ein einsichtsvoller<br />

Major - er hat <strong>im</strong> Krieg einen Arm verloren - schickt Michael in die He<strong>im</strong>at<br />

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58<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

zum Dienst an der Erde. Diese Novelle, in der Form und Inhalt restlos eins<br />

sind, ist die erste Gestaltung des Problems, das, <strong>im</strong> Einfachen Lehen weiter<br />

und erschöpfender ausgestaltet, seine endgültige Lösung gefunden hat.<br />

Da das Kriegserlebnis in diesen Novellen seine erste positive Auswertung<br />

gefunden hat, meldet sich der Drang, es von der jetzt gewonnenen Einsicht,<br />

aus der neu errungenen Seelenlage in einer größeren Dichtung zu gestalten.<br />

Der Dichter ist nicht mehr der Knecht der Zeit, wie er es trotz des sichtbaren<br />

Zwiespalts <strong>im</strong> Totenwolf gewesen. Der große Umbruch, den Wiechert <strong>im</strong><br />

Knecht Gottes sieht, vollendet sich nun und trägt Früchte. Mit der dunklen<br />

Sturmesnacht der Seele, die ihn umfangen, sind auch die Furien gewichen,<br />

die ihn verfolgt, wie die Orestesgestalt Andreas Nyland. Der Dichter plant<br />

eine Trilogie, deren erster Teil: Die Passion eines Kindes (1928-29 entstanden)<br />

das Leben der Generation gestaltet, die sich als Abiturienten <strong>im</strong> Herbst<br />

1914 in den Dienst des Vaterlandes stellte. <strong>Das</strong> Stoffliche zwingt scheinbar<br />

den Dichter in seine frühere Art zurück: wieder taucht die sittlich verwilderte<br />

Welt der Jahrhundertwende vor uns auf, mit ihrer Verlogenheit eine<br />

Wiederspiegelung des Urbösen. Scheut sich der Dichter noch vor der Darstellung<br />

des Krieges, vor der notwendigen Erschütterung, dieser ein ganzes<br />

Buch zu widmen? Wenigstens entsteht gleichzeitig mit der Kleinen Passion<br />

ein neuer Kreis von sieben Novellen, in denen das Kriegserlebnis nur von<br />

ferne leise berührt wird. Der Titel: Die Flöte des Pan ist ebenso sinnbildlich<br />

für diese neue Sammlung wie der Silberne Wagen für die frühere. Wie über<br />

dieser das Sternbild des silbernen Wagens als Zeichen des Ewigen steht, so<br />

erklingt hier schicksalraunend die Flöte des Pan. Wie der Dichter <strong>im</strong> Vorwort<br />

sagt, kann keine der sieben Novellen den Ursprung aus dem dunkel<br />

Tönenden dieses Instruments "verhehlen, das unter Gottes Hand ein Schicksal<br />

wird." Leise andeutend enthüllt sich dem ahnenden Leser die Silhouette<br />

gesetzmäßiger Verknüpfung, enthüllt sich dämmernd und entschwindet wieder<br />

dem wachen Blick als ein offenbares Gehe<strong>im</strong>nis. Der Titel ist noch in<br />

anderer Hinsicht bedeutungsvoll: zum erstenmal berührt hier der Dichter<br />

das Mysterium der Musik. Schon dem Kinde Ernst Wiechert "blieb nicht<br />

der Weg zu ,den schrecklichen Engeln' verschlossen, die bei Beethoven, bei<br />

Schubert oder bei Wolf von den schleierlosen Dingen sprachen, die keiner<br />

anderen Kunst zugänglich oder verkündbar waren." Man denkt unwillkürlich<br />

an Jons Jeromin <strong>im</strong> Konzert des Wunderkindes, wohl ein Zeichen unter<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

vielen wie tief das künstlerische Schaffen Ernst Wiecherts aus dem seelischen<br />

Mutterboden emporquillt und daß eben deshalb sich Motive, Gestalten,<br />

Geschehnisse in stetig wachsendem und höher steigendem Kreise<br />

wiederholen, empor zu den Jeromin-Kindern, dem umfassendsten <strong>Werk</strong>e<br />

des Dichters. Aus diesem Zyklus von sieben Novellen sind zwei von besonderer<br />

Bedeutung für das tiefere Erfassen dieses Dichters: die erste und die<br />

vorletzte des Bandes. Jene heißt Der Hauptmann von Kapernaum. <strong>Das</strong><br />

Thema: ein Bibelwort trifft den Hauptmann Christoph von Soden in die<br />

Lebensmitte, das Wort <strong>im</strong> Evangelium vom Hauptmann von Kapernaum:<br />

"Gehe hin, dir geschehe, wie du geglaubt hast." Es trifft ihn, wie das Wort<br />

des Psalmisten "Wir bringen unsere Tage zu wie ein Geschwätz" Thomas<br />

von Orla trifft. Um sein vierzigstes Jahr hatte dieses Bibelwort den Hauptmann<br />

getroffen gleich einem Pfeil, "der durch den Panzer eines ganzen<br />

Lebens, eines verhärtenden Berufs, eines abschließenden Kastengefühls<br />

gedrungen war, und dessen Schaft nicht aufhören wollte, leise nachzubeben."<br />

(S. 21.) Man beachte: die Schranken des Berufes und des Standes fallen,<br />

nur der Mensch, das <strong>Werk</strong>zeug Gottes bleibt. Christoph von Soden<br />

übersteht den Krieg. Wir treffen ihn am Anfang der Novelle, als eine Schar<br />

von Gefangenen an seiner Truppe vorüberzieht. Von dem begleitenden Offizier<br />

erfährt er das Los, das den Gefangenen bevorsteht. Der Blick eines<br />

Gefangenen hat den Hauptmann von Kapernaum, wie er seit diesem Erlebnis<br />

heißt, ins Innerste getroffen. In der Nacht reitet er dem Gefangenen<br />

nach, erlangt in seiner Dienstuniform Zutritt zu ihm, verhilft ihm, indem er<br />

dem Gefangenen die Hauptmannsuniform gibt, zur Flucht. Die Worte des<br />

Arbeiterführers, den er befreit, vollenden die innere Wandlung, und damit<br />

erfüllt sich das Schicksal des Hauptmanns. Die Schande, sich gegen das<br />

Kriegsgesetz vergangen zu haben, bleibt ihm erspart: er stirbt für den Arbeiterführer,<br />

für den Glauben, dessen Gefäß dieser ist. So spricht er zum Hauptmann:<br />

"Der Mensch ist wieder auf der Erde. Der Krieg hat ihn aus der Erde<br />

gegraben, und nun geht er. Er taumelt noch, er stammelt noch. Aber er geht,<br />

über die Steine, über die Paläste, über die Kirchen, <strong>im</strong>merzu ... <strong>im</strong>merzu ..."<br />

<strong>Das</strong> brüderliche Du ist nicht Zufall: Mensch spricht zum Menschen: nur so<br />

ist die Erlösung möglich für den Einzelnen wie für die Menschheit. Von diesem<br />

Blickpunkt aus hat diese Novelle dasselbe Thema wie die andere: Der<br />

Schnitter <strong>im</strong> Monde. Diese ist künstlerisch wohl die bei weitem Bedeutendere.<br />

Der Held ist ein Industriearbeiter, den sein Bauernblut um die Ernte<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

auf den Acker treibt: er kann nicht anders, er muß dem lebendigen Leben<br />

dienen. Allnächtlich mäht er mit der Sense auf dem Riesenacker eines adligen<br />

Gutsherrn. Die nächtlich geschnittenen Schwaden erregen Aufsehen,<br />

und so findet eines Nachts die Schwester des Gutsherrn ihn bei der Arbeit.<br />

Sie beugt sich der schlichten naturverbundenen Einfachheit seines Wesens,<br />

sie bindet für ihn die Garben. Der gemeinsame Dienst an der mütterlichen<br />

Erde gibt auch ihrem Leben Sinn und Gehalt. So finden sich der Arbeiter<br />

und die adelsstolze Gräfin zusammen in sinnvollem Tun und dann in der<br />

Liebe. Monate vergehen. Da bäumt sich das Standesbewußtsein der Gräfin<br />

auf gegen die hereindrohende Schande, als sie ein Kind erwartet. Sie klagt<br />

den Arbeiter Malte an: er habe ihr Gewalt angetan. Malte aber verweigert in<br />

seinem schlichten Edelmut vor Gericht jedes verteidigende Wort: wie kann<br />

er die Geliebte angreifen! Da zwingt die Einsicht des ihn verteidigenden<br />

Rechtsanwalts die Gräfin zum Geständnis: die schmale Ährenkette, die der<br />

Angeklagte verborgen um den Hals trug, mit der die Gräfin den Liebesbund<br />

besiegelt, kommt ans Licht, und sie bekennt die Wahrheit. Die schlichte<br />

Güte, die jedem Dienst an der Erde innewohnt, hat gesiegt über die Verharschung<br />

gesellschaftlicher lebensfeindlicher Unnatur.<br />

Während der Arbeit an diesem Novellenkreis, worin das Nachwirken des<br />

Krieges zurücktritt, vollendet sich Ernst Wiecherts innere Abrechnung mit<br />

seinem Erleben des Krieges in Jedermann. Geschichte eines Namenlosen,<br />

<strong>Das</strong> hier geschilderte Einzelschicksal hat allgemeine symbolische Bedeutung.<br />

Darum der Titel. Es ist der zweite Band einer Romantrilogie von der<br />

Passion eines Kindes. Es ist bezeichnend, daß der Held dieser Dichtung den<br />

Namen Johannes trägt: in der Einsamkeit dieser Kinder -seele klingt viel<br />

Selbsterlebtes mit. Was der einsichtsvolle Lehrer gegen Ende der Passion<br />

eines Kindes zu Johannes sagt, gilt vom Dichter selber, der so rückblickend<br />

seine eigene Entwicklung schildert: "Du bist kein Mensch der Leitern, der<br />

auf jeder Sprosse ausruht. Du bist ein Mensch der Stürze. Jedes Jahr wirst<br />

du höher steigen, und jedes Jahr wirst du tiefer stürzen. Alle Dichter haben<br />

so gelebt, und nur so haben sie von H<strong>im</strong>mel und Hölle gewußt." Man denkt<br />

an das Wort Oscar Wildes:<br />

For he who lives more lives than one<br />

More deaths than one must die.<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

Wir stehen hier vor dem Gehe<strong>im</strong>nis dichterischen Schaffens: die rätselhafte<br />

Verbundenheit des wahrhaften Dichters mit seinem Geschöpf, verästelter<br />

und verwickelter <strong>im</strong> Drama und besonders <strong>im</strong> Epos als in der Lyrik, ist<br />

abgründiger als die Verbundenheit der Mutter mit dem werdenden Kinde,<br />

wozu die Wissenschaft, was die leibliche Verbundenheit angeht, weit eher<br />

Zugang hat. Die Geschichte von Johannes Karsten ist die Geschichte eines<br />

Einsamen, zart Empfindlichen. Er stößt sich am Leben wund, er stürzt in<br />

<strong>im</strong>mer neue Abgründe, um nach jedem Sturz geläutert, gestärkt höher zu<br />

steigen. So ist das Endergebnis des zweiten Bandes schon hier angedeutet,<br />

vorgebildet. Als Freiwilliger, der seinem Schicksal entgegengeht, da die<br />

Stunde gekommen, erlebt er nun den Sturz in den Krieg. Ein Ungeheures<br />

packt ihn, und er lebt es zu Ende. Gleich zu Anfang zeigt sich ihm das Seelenlose<br />

des modernen Krieges: schon <strong>im</strong> Drill wird der Mensch zum Automaten.<br />

In der Schlacht vollendet sich diese Umprägung. Und doch: das<br />

innere Ringen der Einzelseele geht um die Bewahrung der eigenen Persönlichkeit.<br />

Die Losung bleibt: sich nicht selbst verlieren. Die einmal geprägte<br />

Form entwickelt sich nach dem ihr innewohnenden Gesetz. So überlebt<br />

Johannes nicht nur diesen tiefsten Sturz in das Seelenlose, sondern er kehrt<br />

aus diesen vier Schreckensjahren gereift und geläutert ins Leben zurück: er<br />

hat das Kriegserlebnis als Baustein seinem weiteren Leben eingefügt. So ist<br />

Johannes Karsten ein Bild seines Schöpfers. Auch Jedermann ist ein Bruchstück<br />

einer großen Konfession, wie letzten Endes jede Dichtung. Der Wert<br />

der jeweiligen Konfession wird einzig best<strong>im</strong>mt durch Wert und Tiefe und<br />

Größe des Beichtenden. Ex nihilo nihil fit.<br />

Die seelische Erschütterung, aus der dieses Kriegsbuch entstand und die es<br />

wiederum in der Arbeit auslösen mußte, zwang wohl den Dichter, sollten<br />

Geschöpf und Schöpfer der notwendigen Vollendung entgegenreifen, in seinem<br />

nächsten <strong>Werk</strong>e vorn Kriege vollständig abzusehen. So entstand Die<br />

Magd des Jürgen Doskocil. Es muß jedem Leser, der weiß, wie sehr die<br />

Dichtung Ernst Wiecherts <strong>im</strong> Kriege verankert ist, auffallen, daß sich in diesem<br />

Roman nicht der geringste Hinweis auf den Krieg findet, trotzdem die<br />

Zeit der Handlung anscheinend Ende der zwanziger Jahre ist. Wie der<br />

schwergeprüfte Held dieser Dichtung auf seinem Acker und bei schuldlosen<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

Kindern Trost und Heilung findet, so findet der Dichter die nötige Seelenruhe<br />

für sein kommendes <strong>Werk</strong> durch die Gestaltung dieses "einfachen<br />

Lebens".<br />

Der Held des Romans ist einer der Stillen <strong>im</strong> Lande, ein Kleinbauer und<br />

Fährmann, dem das Leben bitter mitgespielt hat und der sich trotzdem oder<br />

daraus zur reinen Güte emporadelt. Jürgen Doskocil ist für mich eine der<br />

ergreifendsten Gestalten Ernst Wiecherts, das rein bäuerliche Gegenstück<br />

zu Johannes Rarsten. Sucht man in der neueren Dichtung ähnliches, so muß<br />

man zu Hermann Stehr oder zu einzelnen Dramen Gerhart Hauptmanns<br />

gehen.<br />

Fast zwei Jahre vergehen, ehe der Dichter sich wieder an die weitere schöpferische<br />

Ausgestaltung des Krieges wagt. <strong>Das</strong> Vorspiel haben wir <strong>im</strong> Spiel<br />

vom deutschen Bettelmann (1932). Und wieder vergeht ein Jahr, ehe sich<br />

der Dichter an die volle Ausgestaltung eines Problems wagt, das schon in<br />

den Schlußpartien von Jedermann und in der Flucht ins Ewige angegriffen<br />

wird: wie kann der he<strong>im</strong>kehrende Soldat, den innere Qualen seelisch zerreißen,<br />

wirklich gesunden? Kehrt er doch als ein moderner Orest in die He<strong>im</strong>at<br />

zurück, die ihm zur Fremde geworden. Die Menschen weichen vor ihm<br />

zurück oder, was schl<strong>im</strong>mer, sie betasten ihn als ein Kuriosum. Bewußt<br />

treibt Wiechert das Problem in der Majorin auf seinen höchsten Gipfel. Der<br />

Soldat Michael Fahrenholz kehrt nicht unmittelbar aus dem Kriege zurück;<br />

vier Jahre lassen sich überstehen, wie aber zwanzig Jahre? Wie können dann<br />

noch die verrenkten Sehnen der Seele in ihre natürliche, gottgewollte Lage<br />

zurückkehren? Wie können die zerrissenen dann noch heilen? Wie kann die<br />

Hand, die aus freiem Antrieb (oder aus innerem Drang) nur noch die tötende<br />

Waffe umspannt hatte, während sie sonst dem mitleidlosen Sklavenvogt in<br />

der afrikanischen Wüste zur mechanischen Zwangsarbeit unterstellt war,<br />

nun frei wieder die Sense schwingen, um das Getreide zu ernten für das<br />

Sakrament des täglichen Brotes? Kann ein Orest, den zwanzig Jahre die<br />

Furien umgetrieben, noch den Weg zurückfinden in den ruhigen Kreislauf<br />

schöpferischen Lebens? Wie tief muß die Iphigenie, die diesen Orest zur<br />

Gesundung führen soll, am Leben gelitten haben, um zu solcher einsichtsvollen<br />

Hilfsbereitschaft reif, entsagungsvoll geläutert zu sein? Die jungfräuliche<br />

Priesterin, die von den Göttern vom schnellen Opfertode gerettet,<br />

müßte vor dieser Aufgabe versagen. Die ewigen Gesetze, nach denen sich<br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

des <strong>Das</strong>eins Kreise vollenden, kennen keine Ausnahme. Wohl mag die Goethesche<br />

Heldin die starre Haltung des Königs Thoas zu erschüttern, aber die<br />

vielgliederige menschliche Gesellschaft kann sich nicht so wandeln: der<br />

Bauer hinterm Pfluge, der Landrat und der Pfarrer in den Stricken der<br />

Bestallung und des Standes - sie wandeln sich nicht. Der alte Bauer, den<br />

<strong>im</strong>mer wieder seine drei <strong>im</strong> Kriege gefallenen Söhne besuchen, geht friedlich<br />

seinem Tagewerk nach: er hat die wiedererscheinenden Toten seinem<br />

Leben eingeordnet. Und den nach zwanzig Jahren wiedererscheinenden<br />

Michael reiht er auch hier ein als vierten. Steht doch dessen Name seit Jahren<br />

mit den anderen eingemeißelt auf dem Totendenkmal. Der Wahn ist zur<br />

Wirklichkeit geworden: Michael ist tot, wie die anderen, sein Wiedererscheinen<br />

beweist das. Als der Pfarrer ihn von diesem Wahn befreien will, stürzt<br />

dem Schwergeprüften seine ganze Welt zusammen - er versinkt in geistige<br />

Umnachtung. Michael Fahrenholz, der am Leben gelitten hat, zieht das<br />

Fazit: "Der Herr Pfarrer hat wohl keine glückliche Hand für solche, die<br />

innerlich verbluten." Nein, dieser Pfarrer hat nie innerlich geblutet. Er ist<br />

zwar Zögling eines humanistischen Gymnasiums, aber trotzdem lebensfremd.<br />

Warum versagen manche Pfarrer Wiecherts? Sie haben den theologischen<br />

Lehrgang absolviert, sie kennen Gott theoretisch aus den<br />

theoretischen Vorlesungen theoretisch geschulter Theologen. Sogar in der<br />

Kunst des Tröstens sind sie theoretisch wohl geschult. Aber ihr <strong>Das</strong>ein ist<br />

allzu wohlumfriedet. Vor Versuchungen schützt sie ihr Beruf, vor Leid und<br />

Sorgen ihr Amt. Sie sind lebensfremd und deshalb gottfremd. Sie haben die<br />

großen Wahrheiten der Bibel nie am Leibe erfahren. Der gewaltige Vers <strong>im</strong><br />

Buche Hiob: "Um Gott her ist schrecklicher Glanz" ist nie wie ein versengender<br />

Blitzstrahl in ihre Seele geschlagen. Und auch der schreckvolle Glanz<br />

des Lebens hat nie ihre sanftblickenden Augen geblendet und erleuchtet.<br />

Die Dichtung Wiecherts kennt auch echte Pfarrer, treue Diener nicht nur<br />

am Wort, sondern auch <strong>im</strong> Leben. Den ersten haben wir in der Magd des Jürgen<br />

Doskocil; in den <strong>Werk</strong>en der Reife überwiegt deren Zahl.<br />

Wirkliche Dichtung ist Gestaltung eigenen Erlebens oder intensiven Miterlebens.<br />

Bei zunehmender Reife gesellt sich in der Dichtung zum Erleben<br />

mehr und mehr das Miterleben. Ich verweise auf das schon einmal zitierte<br />

Wort: "Es scheint mir kein Zufall, daß alles Leiden in meinem Leben nicht<br />

mit dem Leiden, sondern dem Mitleiden begann." Der Dichter war zutiefst<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

ergriffen, als ich ihm das Wort von James Branch Cabell mitteilte: "Lord,<br />

what a deal of ruined life it takes to make a little art." Wiechert beginnt, wie<br />

wohl jeder Dichter, als Lyriker, wendet sich dann, mehr aus innerem Zwang<br />

als aus freier Wahl, der Epik zu. Was sonst schönstes Vorrecht des Lyrikers<br />

ist, aus der allmählich angestauten inneren Fülle zu gestalten, tritt uns hier<br />

bei einem Epiker entgegen. Erlebnisse und Erkenntnisse, die schon in das<br />

Reich des Unbewußten versunken und verschwunden schienen, drängen<br />

wieder ans Licht zur Stunde der Ernte. (Man denke an Rilkes Brief an einen<br />

jungen Dichter, an seine Bekenntnisse über die Entstehung der Elegien, der<br />

Sonette an Orpheus.) <strong>Das</strong> Erbgut des Lyrikers schwingt in der Epik Wiecherts<br />

in jeder Zeile mit; der Rhythmus dieser Prosa ist nicht erkünsteltes<br />

Produkt eines Artisten, sondern ist echte Rhythmik, die nur aus erschüttertem<br />

Leben emporquellen kann. Sie wurzelt <strong>im</strong> Unbewußten; das bloß Metrische<br />

ist erlernbar. Bei aller lyrischen Bedingtheit ist die Erlebnisfähigkeit<br />

Wiecherts von ungewöhnlicher Spannweite. So gesellte sich in seiner Dichtung<br />

zum eigenen Erleben Fremdes. Neben die großen Romane, die mehr<br />

eigenes Erleben gestalten, treten die Novellen, die weniger ichbezogen sind.<br />

Sie umranken die großen Romane, füllen die Lücken zwischen denselben,<br />

sind auch wohl ab und zu Nebenprodukte. Wenige ich-bezogen; sie entstammen<br />

dem Mit-leiden, d. h. der Gabe intensivsten Miterlebens.<br />

Überblickt man die Reihe der späteren Novellen, so steht eine, auf den<br />

ersten Blick, fremdartig stark abseits: Atli der Bestmann. Hier herrscht<br />

ungezügelt und ungehemmt der Drang in die Ferne, und er rast sich erfolgreich<br />

aus. Nach dem Tode des geneverfreudigen Kapitäns übern<strong>im</strong>mt der<br />

Bestmann die Führung des Schiffes und steuert nach wilder Fahrt den Amazonenstrom<br />

hinauf, trotz seiner Fracht, dem Sinnbild behäbigen Bürgertums,<br />

wie die Fahrt Sinnbild jugendlichen Überschwangs ist, der seine<br />

Erfüllung sucht. Wiechert liebte Atli: "Er war der wilde Bruder meiner<br />

gezähmten Seele.... die furchtlose Verwirklichung gestaltloser Träume."<br />

Wiechert kannte diese Jugendnöte, und darum vereinigte er später diese<br />

Novelle mit Tobias, der Erzählung von dem jungen Studenten, der aus unerfüllbarem<br />

Tatendrang der "Bewegung" verfällt, Fememörder wird, dessen<br />

besseres Selbst ihn aber zum Bekenntnis seiner Tat treibt. Tief aus dem<br />

Unbewußten heraus drängt ihn das Verlangen nach Sühne zu der alten bäuerlichen<br />

Großmutter, deren ganzes Wesen in Gott ruht. Fast am Ende seiner<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

Laufbahn hat Wiechert dasselbe Problem in der Novelle Der Richter gestaltet,<br />

noch gewaltiger und ergreifender. Dem Dichter fehlte es nicht, wie eine<br />

oberflächliche und voreingenommene Kritik behauptete, an Verständnis für<br />

die Nöte einer Jugend, die in der "Bewegung" einen Ausweg aus einem<br />

zwecklosen <strong>Das</strong>ein zu finden wähnte. Diese Jugend hat er nie angegriffen.<br />

Nur die bodenlose Gemeinheit des Antisemitismus, die giftige Frucht einer<br />

aufgeblasenen Selbstsucht hat er schonungslos an den Pranger gestellt, so<br />

in der 1932 geschriebenen Novelle Die Gebärde, die erst 1947 gedruckt<br />

wurde. Der ungestillte Drang nach einem erfüllten Leben, der Drang zur<br />

wahren Menschwerdung <strong>im</strong> Sinne Goethes: "Edel sei der Mensch, hilfreich<br />

und gut" ist das Grundmotiv vieler dieser Novellen. Da ist Demetrius: "Er<br />

war einfacher Leute Kind, aber die Natur hatte ihn als Herrenkind erschaffen".<br />

Er wird zum liebenswürdigen Schwindler, er spielt sich ein in die Rolle<br />

eines anderen, eines Dichters, kann aber, fast am Ziel, die Rolle nicht zu<br />

Ende spielen. Er beichtet und flieht. So umwittert Tragik eine Gestalt, die<br />

sonst an Kellers Seldwyler Schneidergesellen gemahnt. Ein leichteres Seitenstück<br />

zu der früheren tieftragischen Novelle Der Mann von vierzig Jahren,<br />

die in Wiecherts eigenem Leben wurzelt, erhalten wir in Joneleit. Er ist<br />

<strong>im</strong> Grunde eine Künstlernatur, aber er ist Schreiber bei einem Richter und<br />

stellt sein Leben selbstlos in den Dienst seines Brotherrn. Ihm droht eine<br />

Ehe, in der sein Leben völlig versanden würde. Da schickt ihn sein einsichtsvoller<br />

Brotherr in seine ersten Ferien: allein. Nun lebt er sich selber: die<br />

spießbürgerliche Braut verliert ihr Spiel. Eine Malerin, die Verständnis hat<br />

für diese eigenartige Menschenblüte, befreit und beglückt ihn. Zu einer Ehe<br />

aber fehlt für die beiden jede Vorbedingung. Im Leben erfüllen sich nicht alle<br />

Träume, und Joneleit bleibt Schreiber. Nur die Sehnsucht nach dauerndem<br />

Erfülltsein bleibt. Und was ist der tiefere Sinn der Skizze <strong>Das</strong> Fenster der<br />

Andromeda, aus dem Tagebuch eines Schwärmers, die das Bändchen<br />

beschließt? Der versemachende Schwärmer, der das Leben, das er nicht zu<br />

greifen wagt, in Versen zu einem Traum von vergangener Schöne umgestaltet,<br />

lebt nicht nur am Leben vorbei, er betrügt es. Was in Demetrius angedeutet,<br />

ist hier bis zur tragischen Konsequenz ausgestaltet. So haben diese drei<br />

Novellen ihren inneren Zusammenhang, wie in noch höherem Maße die<br />

unter dem Titel Der Todeskandidat zu einem wirklichen Triptychon vereinigten<br />

drei Novellen. <strong>Das</strong> Mittelstück ist La ferme morte. Was einst ein Bauernhof<br />

war, ist nun Wohnstätte des Grauens, ein von Menschen in ihrer<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

Gottverlassenheit heraufbeschworenes Inferno. Über das Grauen der von<br />

der Materialschlacht verwüsteten Landschaft fällt der Riesenschatten eines<br />

Kreuzes: der Zufall hatte zwei Balken zu einem Kreuze zusammengeworfen.<br />

<strong>Das</strong> Ende? "In der Nacht schlugen wir vier Kreuze zusammen und stellten<br />

sie über die Gräber, die wir mit unseren grauen Händen gegraben hatten."<br />

Die beiden anderen Novellen, die in diesem Triptychon dies Mittelstück flankieren,<br />

zeigen, wie dieses Inferno zum Purgatorio wird. Auch ein Obermaß<br />

von Leid und Grauen kann zur segnenden Läuterung werden. Die erste, die<br />

Titelnovelle, bereitet auf das Inferno vor. Es wird berichtet, wie einst Schülergrausamkeit<br />

einen Lehramtskandidaten in frevlem Tun in die Verzweiflung<br />

getrieben. Aus einer Klasse von sechsundvierzig Schülern - dreißig<br />

haben es wieder gutgemacht: sie fielen <strong>im</strong> Kriege - kommen nun sechzehn<br />

zu einer Erinnerungsfeier für die Gefallenen zusammen. Der Rädelsführer<br />

von einst - ein Ärmel hängt leer - berichtet. Ihrer vier fanden das Opfer ihrer<br />

kindischen Grausamkeit an der Front als ihren Vorgesetzten wieder. Sie<br />

beugten sich vor seiner sittlichen Größe. Er fiel. Am Morgen nach dieser<br />

Feier erstrahlt der Name in mattem Gold. Leitet die Titelnovelle mit ihrem<br />

grausamen Auftakt zum Mittelstück, so klingt das ganze versöhnend aus in<br />

der reifmilden Schlußnovelle Der Vater, die der Dichter mit Recht zu seinen<br />

liebsten zählt. Was hindert nicht alles in unserem Leben die volle Entfaltung<br />

der ursprünglichen Anlage, die ke<strong>im</strong>artig, in uns schlummert? Gesellschaftliche<br />

Bande, Standesvorurteile, Pflichten, die das Leben mit sich bringt, die<br />

der Beruf uns aufzwingt. Diese alle verhindern die volle Entfaltung zum reinen<br />

gütigen Menschentum, in dem allein doch unser Leben zu Glück und<br />

Segen emporreifen kann. Mitspricht auch die "allmächtige Zeit". Der<br />

Lebensherbst erschwert, ja macht fast unmöglich die Erfüllung mancher<br />

Pflichten, die in den Frühling gehören. Der Freiherr Ägidius hat als Fünfzigjähriger<br />

geheiratet. Nun findet er nicht den Weg zu seinen Kindern, denn die<br />

Kluft der Jahre läßt sich nicht überbrücken. Dazu stellt er, durch Herkunft<br />

und die lange Schulung eines preußischen Offiziers unmerklich verleitet,<br />

Wortkargheit und Strenge als einen Schild vor sich. So wird den Kindern der<br />

Zugang zum väterlichen Herzen versperrt. Schwerste Erschütterungen<br />

müssen diesen Schild zerbrechen, bis die "natürlich menschliche Güte siegt<br />

und der mehr als siebzigjährige Greis als Vater den Weg zu seinem Sohne<br />

findet. "Die Liebe suchet nicht das ihre." Noch zwei weitere Novellen gestalten<br />

die endgültige Läuterung, das Aufsteigen zur höchsten Güte durch das<br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

Leiden des Krieges: Der brennende Dornbusch und Die Pfingsten des Musketiers<br />

Wiedegang. Tragik von verfehlten oder nach schwerem Irrgang spät<br />

erfüllten Menschenleben umwittert die meisten dieser Novellen. In anderen<br />

erkennt der Mensch nicht den Sabbath seines Herzens oder wagt ihn nicht<br />

zu feiern, und ein Leben verebbt ziellos. Da mußte es den Dichter locken,<br />

einmal <strong>im</strong> Idyll das Ideal darzustellen, es darzustellen aus seines Herzens<br />

Wunsch und aus den Erinnerungen der eigenen Jugend. Wie bei Goethe<br />

Hermann und Dorothea sich als Idealbild glücklichen Menschentums zu<br />

Faust und Wilhelm Meister gesellt, so hier bei Wiechert zu der Majorin und<br />

zu den tragischen Novellen Die Hirtennovelle. Wer von Anfang an bereit ist,<br />

den ihm best<strong>im</strong>mten Lebensweg zu wandern, ohne Zagen und Zögern die<br />

ihm gestellte Lebensaufgabe auf sich zu nehmen und deren Pflichten freudig<br />

zu erfüllen, der ist selig zu preisen. So steht der Hirtenknabe Michael vor<br />

uns in Wiecherts Lieblingsnovelle. Eine Idylle? Am Anfang steht der Tod des<br />

Vaters und am Ende die schlichte Grabschrift für den kaum achtzehnjährigen:<br />

Michael, einer Witwe Sohn. Eine Idylle! Man lese den ersten Satz: "Seinen<br />

Vater erschlug ein stürzender Baum um die Mittagszeit eines blauen<br />

Sommertages." Alles atmet epische Beschaulichkeit. <strong>Das</strong> tragische<br />

Geschehnis künden die ersten drei Worte. Mit der feierlichen Stille eines<br />

blauen Sommertages um die Mittagszeit klingt der Satz mit unbetonter Silbe<br />

leise aus. Man vergleiche diesen Satz mit dem ersten von Kleists tragischer<br />

Meisternovelle von dem Roßhändler: der Rhythmus staccato, fünf Kommata<br />

zwingen den Leser zu diesem Rhythmus. Der Satz endet abrupt mit betonter<br />

Silbe, er gipfelt in der Vorwegnahme des kommenden Unheils. Bei Kleist<br />

erfüllt sich - darauf deutet schon der erste Satz - ein fürchterliches Schicksal;<br />

bei Wiechert gipfelt die Novelle in der Seligpreisung eines gesegneten<br />

Lebens. Diese Idylle darf sich neben Goethes Hermann und Dorothea stellen;<br />

neben das Epos, das <strong>im</strong> Glück der Liebenden gipfelt, die Prosaidylle, die<br />

in der Seligpreisung eines Frühverblichenen ausklingt. Alles hat diesem<br />

zum Segen gereicht. Der frühe Tod des Vaters ist Vorbedingung für das frühzeitige<br />

Ergreifen des Hirtenamts: das Kind hat eine schwere Probe bestanden.<br />

So stellt es sein Leben in den Dienst der Gemeinschaft. Vor Not schützt<br />

es die Mutter, in deren Haus man das Gefühl hat, hier ist die Armut nur ein<br />

Gast, dem man jederzeit die Türe weisen kann. Kein anderes <strong>Werk</strong> Wiecherts<br />

ist so unmittelbar Selbstbekenntnis wie dieses. Gleichzeitig mit der<br />

Hirtennovelle entsteht das Erinnerungsbuch seiner eigenen Kindheit und<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

frühen Jugend. Auch Wiechert hat seinen Lebensgang barfuß angetreten,<br />

auch er war Kuhhirt wie Michael. Beiden war das Hirtenamt nicht nur ein<br />

großer Erzieher, in diesem Amt tat sich beiden auch das Gehe<strong>im</strong>nis des Waldes<br />

kund. Die beste Charakteristik steht in Wälder und Menschen. Ich<br />

zitiere wörtlich, ersetze nur das Pronomen der ersten Person durch das der<br />

dritten und streiche einige Modalzeitwörter, was durch diesen Wandel von<br />

der ersten zur dritten Person bedingt ist: "Gut war es ihm, barfuß seinen<br />

Lebensweg zu beginnen und die Kühe zu hüten. Weil er in der Stille anfing,<br />

konnte er dem Lauten nie verfallen. Weil er als Kind die Wälder schweigen<br />

und wachsen sah, hatte er nur ein stilles Lächeln für das aufgeregte Treiben,<br />

mit dem die Menschen ihre vergänglichen Häuser bauten. Es war, als trüge<br />

er andere Gesetze in sich, größere und strengere. Er konnte nie aus dem<br />

Kreis der Natur herausfallen, und <strong>im</strong>mer hielt ein letztes Band ihn am Kreis<br />

der Schöpfung fest." Der Hirte Michael, dessen Leben sich restlos <strong>im</strong> Dienst<br />

an seiner He<strong>im</strong>at erfüllt, ist das geläuterte Wunschbild seines Schöpfers.<br />

Was Michael als Hirte erreicht hat, das möchte er als Dichter erreichen.<br />

Diese Dichtung bezeichnet das Ende eines langen Ringens. Sie bedeutet den<br />

Abschluß einer Epoche. Der erste große Gipfel ist erklommen. Darum<br />

ersteht gleichzeitig oder in unmittelbarer Folge der Rückblick auf seine<br />

Kindheit, Wälder und Menschen: "Mir will scheinen, als gehe ich <strong>im</strong> Leben<br />

und <strong>Werk</strong> unaufhaltsam zu mir zurück, nachdem ich vierzig Jahre von mir<br />

fortgegangen bin." Die Novelle und die Autobiographie sind eines Geblüts.<br />

Am Ende des Geleitwortes zu dieser steht das von kirchlichen Ereiferern<br />

viel zu wenig beachtete Wort. Der Dichter wendet sich an die Leser: er hat<br />

ein Gewebe gesponnen und breitet es nun am Straßenrande aus. "Wer stehenbleibt<br />

und sich niederbeugt, wird vielleicht erkennen können, gleich mir,<br />

was Gott geplant hat mit der Mühe und Arbeit einer Menschenhand." Dies<br />

schrieb Ernst Wiechert Januar 1936, Zeugnis des endlich errungenen Friedens.<br />

Zu Ostern erscheint die Novellensammlung <strong>Das</strong> heilige Jahr. <strong>Das</strong><br />

Grundmotiv ist die Ehrfurcht vor dem Leben, am eindrucksvollsten und<br />

klarsten in der Eingangs- und in der Schlußnovelle gestaltet: Regina Amstetten<br />

und Die Magd. <strong>Das</strong> Schicksal, heißt es <strong>im</strong> Vorwort, erhebt sich nicht aus<br />

den Zeiten des heiligen Jahrs. Es offenbart sich <strong>im</strong>mer erst dort, "wo Gottes<br />

Hand sich unsichtbar schon neigt, indes der Mensch seine Arme noch ins<br />

Hoffnungslose hebt." Im folgenden Jahre erscheint Von den treuen Begleitern.<br />

Schon die Reihenfolge der Gedichte ist bezeichnend. Zu dem Kinde<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

kommt Matthias Claudius' Mondlied: innige Verbundenheit mit der Natur,<br />

wie sie dem Kinde vertraut ist, und stiller Gottesglaube. In der qualvollen<br />

Unruhe der Jünglingsjahre wird ihm Goethes Der du von dem H<strong>im</strong>mel bist<br />

zum Erlebnis. In dem weglosen Dunkel zwischen Haß und Liebe der Nachkriegsjahre<br />

trifft ihn der bittere Vers Hölderlins: "Warum schläft denn n<strong>im</strong>mer<br />

nur mir in der Brust der Stachel?" Doch aus dem ganzen Gedichte naht<br />

ihm tröstend die Hoffnung auf ein Alter "friedlich und heiter". Nun kann der<br />

Kreis sich runden: Hölderlins Abendphantasie ist die Vorbereitung auf Mörikes<br />

Verborgenkeit. Unseres Amtes ist, Schmerz und Freude, die uns unser<br />

Leben lang das Herz bewegen, in das Bleibende zu verwandeln. Der Aufsatz<br />

schließt mit den Worten: "Wir aber glauben, daß Gott zu allen Zeiten seine<br />

Engel niedersteigen läßt zu den Wandernden und Durstigen in der Wüste."<br />

Wiechert fühlte sich damals schon bedroht. Die Haft von Buchenwald stand<br />

bevor. Darum schrieb er 1937 die Märchenlegende Der weiße Büffel oder<br />

Von der großen Gerechtigkeit. Märchen, Legende -und persönliches<br />

Bekenntnis in der Stunde der Gefahr. Hermann Hesse überliefert uns ein<br />

Wort Christoph Schrempfs: "Glaube und Zweifel sind einander entsprechend,<br />

sie gehören komplementär zueinander. Wo nie gezweifelt wird, da<br />

wird auch nicht richtig geglaubt." Der Glaube entspringt aus dem Leben, so<br />

kann er auch vom Leben her erschüttert werden. Sogar Dogmen wanken in<br />

den großen Krisen der Geschichte. Für Wiechsrt stehen neue Erschütterungen<br />

bevor. Buchenwald kam sc wenig unerwartet wie der zweite Weltkrieg.<br />

Nun erstehen in Wiecherts Dichtung die Kämpfer gegen Gott, die in der<br />

Gestalt des Pfarrers Agricola gipfeln. Auch hier schwingt "persönliches Erleben<br />

Wiecherts mit. In Briefen an mich stellte Wiechert selbst ähnliche Fragen<br />

wie Agricola. Doch auch in Gestalten wie Dr. Lawrenz, Jakob und<br />

Michael Jeromin spricht sich Wiechert selber aus. Seine innerste Bewegtheit<br />

drückt sich aus in dem Hiobsverse "Um Gott her ist schrecklicher<br />

Glanz". Nur der blinde Fanatiker kann mit Jokaste hadern, als sie sieht,<br />

wohin die von ihr verehrten Götter sie geführt haben. Eins ist bezeichnend:<br />

Auch bei Agricola wankt nicht der Glaube an den Sinn des Lebens, der<br />

Glaube an die eingeborene Güte des Menschen. Selbst aus dem Preise des<br />

Todes be<strong>im</strong> Begräbnis von Jons Bruder Friedrich erhebt sich die Seligpreisung<br />

der Liebe, des erbarmenden Mitleids und der Kunst. "Wie es auch sei,<br />

das Leben, es ist gut." Mir wird <strong>im</strong>mer ein Wunder bleiben, daß es einem<br />

Menschen gegeben war, unmittelbar nach dem Martyrium von Buchenwald<br />

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70<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

<strong>Das</strong> einfache Leben zu schreiben. Als ich September 1949 dies dem Dichter<br />

aussprach, sagte er nur: "Ich mußte das tun. <strong>Das</strong> war meine Rettung." Der<br />

weiße Büffel war das notwendige Präludium zu einer seelischen Läuterung,<br />

<strong>im</strong> Einfachen Leben wirkt sie sich weiter aus, in der Missa sine nomine findet<br />

sie ihre Vollendung. Buchenwald und <strong>Das</strong> einfache Leben: hier sieht auch<br />

der aufmerksamste Leser zunächst keinen Bezug. Und doch: der Abgrund<br />

des Leidens der Förstersfrau, die entsagende Güte des Försters <strong>im</strong> Ertragen<br />

des Leidens und sein Glaube, der nicht wankt; wer den Totenwald liest, wird<br />

die Nachklänge hören. <strong>Das</strong> vorangestellte Motto aus den Reden und Gleichnissen<br />

des Tschuang-Tse ist persönliches Vorwort des Dichters, Selbstbekenntnis.<br />

"Ich komme weiter", bekennt der chinesische Weise. Er ist alles<br />

losgeworden. Was heißt das? "Ich habe mich von meinem Körper freigemacht.<br />

Ich habe meine Gedanken entlassen. Und da ich des Leibes und des<br />

Geistes ledig wurde, bin ich eins mit dem Alldurchdringenden geworden.<br />

<strong>Das</strong> ist es, was ich damit meine, daß ich alles losgeworden bin." Thomas von<br />

Orla steht am Anfang des Weges, den der Freiherr Amadeus - der Name ist<br />

symbolisch - zu Ende geht: Der Mensch wird Gefaß der Gottheit. Man denke<br />

an Verse Rilkes. Man versteht auch, wie ein führender Theologe mir schreiben<br />

konnte - lange vor der Missa, sine nomine -, in Wiechert öffne sich eine<br />

neue tiefe Religiosität. Wolle man sie erfassen, so müsse man über alle theologischen<br />

Fachausdrücke zurückgreifen auf die tiefsten Offenbarungen des<br />

Urchristentums.<br />

Die Dichtung klingt mit einem Psalmenverse an. "Wir bringen unsere Tage<br />

zu wie ein Geschwätz." Aus der Weisheit vieler Bücher, am Rande eines<br />

fruchtlos vertanen Lebens trifft den Korvettenkapitän Thomas von Orla dies<br />

Wort und läßt ihn nicht mehr los. Die Riesenstadt ein Tohuwabohu von Sinnlosigkeit:<br />

laute Feste mit Glücksspielen, Alkohol, Rauschgift, Morphiumspritzen;<br />

geistig gestörte, seelisch leere Menschen, die durch das<br />

Manipulieren mit unaufhörlich stürzenden Markscheinen in Luxus lärmend<br />

weiterleben wie Belsazars Knechte. Diesen Vergleich macht der Pfarrer, zu<br />

dem die innere Rastlosigkeit Thomas um Mitternacht treibt. Dieser Pfarrer<br />

steht vor uns wie vom Griffel Käthe Kollwitz' gezeichnet. Sein Evangelium<br />

ist "Arbeit". Thomas' Erlebnis mit dem Verse ist kein Zufall: der Vers hat<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

gewartet, "bis es Zeit geworden ist, der Vers auf seinen Menschen, und der<br />

Mensch auf seinen Vers". Hier spricht Wiechert selber. Man vergleiche das<br />

Vorwort zum Heiligen Jahr.<br />

In der Nacht unter den Sternen sah Thomas Berlin an der Spree. Die Sterne<br />

und der Strom als Sinnbild des Dauernden: die Stadt sah aus, als ob sie am<br />

Strome zu Gaste wäre. Der Vers klingt zusammen mit Erinnerungen aus früher<br />

Kindheit: sein Weg geht nun in die Stille der Natur, nach Ostpreußen.<br />

Hier, nicht aber in dem lautgrellen städtischen Phantom umfängt ihn sinnvolle<br />

Wirklichkeit: der Mensch ist eingebettet in die nährende Natur. Auf<br />

einer Insel findet Thomas als Fischer Arbeit und Brot bei einem adligen<br />

Gutsherrn. So wird das Leben zum Idyll. Aber auch hier ragt Leid empor. "Et<br />

in Arcadio ego." Und vor der Größe dieses Leids beugt sich Thomas<br />

erschauernd. Der einzige Sohn des Försters, bei dem Thomas auf dem Wege<br />

Einkehr fand, ist bei Skagerrak <strong>im</strong> Geschützturm zu Asche verbrannt.<br />

Die Förstersfrau spricht das Tischgebet:<br />

Lieber Gott, sei unser Gast<br />

Und sieh, was du angerichtet hast.<br />

Sollen die Toten dir gut bekommen,<br />

Alle Heiden und alle Frommen,<br />

Und was du ertränkt hast und verbrannt,<br />

N<strong>im</strong>m es fröhlich in deine Hand!<br />

Amen!<br />

"Sieben Jahre, lieber Herr", sagt der Förster, habe er diese Marter ertragen.<br />

Für Thomas eine eindringliche Mahnung zu geduldigem Bescheiden. Was<br />

ist sein Los, seine nicht glückliche Ehe <strong>im</strong> Vergleich mit diesem! Nicht <strong>im</strong><br />

Idyll allein reift Thomas zur verstehenden und entsagenden Güte. In sinnvollere<br />

Arbeit aber verebbt die Unruhe: sein Leben wird fruchtbar. Er erlebt die<br />

höchste Begnadung, die einem Menschen zuteil werden kann: die Enkelin<br />

seines Brotherrn, ein eben erwachsenes Kind, wendet ihm ihr Herz zu. <strong>Das</strong><br />

Leben hat solche Gaben, und sie segnen nie Unwürdige. Thomas offenbart<br />

ihr nur, was in ihres eigenen Wesens Kern schlummert: "<strong>Das</strong> Letzte, was<br />

man <strong>im</strong> Leben gewinnen kann, ist nichts haben zu wollen." Und nach einer<br />

Weile setzte er hinzu: "Auch in der Liebe." Und der Dichter fährt fort: "Sie<br />

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72<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

saß ganz regungslos, und Thomas glaubte zu sehen, wie das Wort in sie hineinfiel,<br />

tiefer und tiefer, wie in einen Brunnen, auf dessen Grund die Dämmerung<br />

ist und ein goldener Schein des Tages hoch oben." Seinen<br />

dichterischen Höhepunkt findet dieses Idyll genau in der Mitte des Buches,<br />

als das Kind in der Stunde des Pan zu Thomas auf die Insel rudert. Eine<br />

Traumvision von verklärter Schöne ersteht unmittelbar aus der Wirklichkeit,<br />

verläßt diese nie und mündet wieder in sie. Wer ähnliches in der deutschen<br />

Dichtung sucht, gehe zu Hölderlin.<br />

Zum Glück aber gesellt sich gerne das Leid: sie sind ein "Geschwisterpaar,<br />

unzertrennlich beide". Wie das Glück sucht sich auch das Leid die Stunde,<br />

da es sich frei entfalten kann. "Nun ist die Sonne unter, Kapitän", sagt Bildermann,<br />

Orlas treuer Bursche, als Marianne auf zwei Jahre fortgeht. "Nun<br />

müssen wir nach den Sternen steuern'', erwidert Thomas. "Aber die Sterne<br />

scheinen nur in der Nacht." Die letzten zehn Jahre waren hart für seinen<br />

Glauben gewesen, für den an die göttliche Weltordnung wie für den an die<br />

Menschen. Weder Mensch noch Gott tragen für ihn mehr das gleiche<br />

Gesicht. Bald nach Weihnachten kommt Frau von Orla schwerkrank auf die<br />

Insel, um dort zu sterben. In ihren Mundwinkeln sieht Thomas, "daß das<br />

Weinen ihnen <strong>im</strong>mer näher war als das Lachen". Er mit seinem schweren<br />

Ernst war nicht der geeignete Gatte dieses Kindes. Er trägt Schuld an diesem<br />

Schicksal. Recht und Unrecht sind unlösbar verflochten. Schuld ist<br />

schon in jeder Berührung des Lebens. Sie stirbt, und Thomas erkennt, daß<br />

man nicht "ohne Schuld in die Stille geht", und doch muß der Mensch diese<br />

Schuld auf sich nehmen, um sich selbst zu bewahren. Tragisches Lebensgesetz!<br />

Im Winter gräbt Bildermann ein Grab. Im Frühjahr gräbt der Förster<br />

ein zweites: der verstörte Sinn seiner Frau hatte so lange um den Feuerturm<br />

gekreist, worin ihr Sohn umgekommen, bis sie selbst <strong>im</strong> Brand der Scheune<br />

ihren Tod suchte. In einer Meuterei ereilt den jungen Grafen Perneins ein<br />

jäher, vorgeahnter Tod. Von ihm hat Thomas gelernt, daß der Mensch wie in<br />

der Liebe auch in der Weisheit verzichten lernen muß: unser Denken dringt<br />

nicht bis zur letzten Tiefe. Er hat Thomas' Blick auf das rätselhafte Ganze<br />

gelenkt: ob er wisse, daß das menschliche Herz <strong>im</strong> Brustkorb <strong>im</strong> gleichen<br />

Winkel aufgehängt sei, wie ihn die Ekliptik der Erde bildet. Er öffnet Thomas<br />

den Blick für das Wunder der Schöpfung in jedem Blütenblatt. Nun will<br />

Thomas den Blick soweit vorwärts senden, wie es uns gegeben ist, und dann<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

verzichten. Bescheiden und gehorsam will er sich in den Kreis der Schöpfung<br />

einfügen. Er sucht noch <strong>im</strong>mer die menschlichen Ziele. Die soziale<br />

Frage? Er bekennt, "man müsse langsam lernen, <strong>im</strong> ganzen Volke lernen,<br />

daß die Menschenhand nicht das geringste <strong>Werk</strong> der Schöpfung sei, auch<br />

wenn sie nur Schwielen erwerbe anstatt Verse zu schreiben". Gewähr der<br />

Zukunft sieht er in der heranwachsenden Jugend, die er gewähren läßt: "Die<br />

Schöpfung wird schon dafür sorgen, daß nichts abreißt, was nach ihrem<br />

Wesen sucht." So spricht Ernst Wiechert durch Thomas von Orla. Es wäre<br />

ein eitles Unterfangen, auszuschöpfen, was uns in diesem <strong>Werk</strong> an Güte und<br />

Weisheit gegeben ist. <strong>Das</strong> Buch muß den treuen Begleitern durchs Leben<br />

zugesellt werden. Da die Frage nach Wiecherts Religion noch <strong>im</strong>mer die<br />

Gemüter beschäftigt, so sei hier gesagt: man löst sie nicht durch Hinweis auf<br />

einzelne Sätze, nicht durch Herausheben einer Gestalt. Neben die Förstersfrau<br />

tritt der frommkatholische Förster. Drei Geistliche begegnen uns in diesem<br />

Buch: würdig stellt sich neben den Berliner Pfarrer der einarmige<br />

Pfarrer, der am Grabe der Förstersfrau und am Massengrabe spricht. Was<br />

will neben diesen der redesüchtige, eitle Superintendent besagen? Ehrfurcht<br />

vor dem Leben, Ehrfurcht vor jeder echten Religiosität liegen dieser<br />

Dichtung zu Grunde. Ein Psalmenvers best<strong>im</strong>mt den Lebensweg Thomas<br />

von Orlas am Anfang der Dichtung. Gegen Ende sind ihm die drei Kreuze<br />

über dem Massengrab "ewige Sinnbilder des Opfertodes aus der Schuld der<br />

menschlichen Kreatur". Thomas von Orla ist ein Gottsucher, sein "alter Gott<br />

ist gestorben und der neue ist noch nicht auf den Thron gestiegen". Er wird<br />

ihn finden. Was wird er sein? "Ein Gesicht jenseits von Fluch und Dank, ja,<br />

nicht einmal ein Gesicht, sondern ein Gesetz", dem der Mensch sich zu<br />

fügen hat. Als aber Thomas gegen Ende der Dichtung Marianne sieht und<br />

ihre Zukunft bedenkt, da werden seine Gedanken zu einem Wunschgebet:<br />

"Lieber Gott, manchmal wäre es doch schön, an dich zu glauben und an<br />

deine allmächtige schützende Hand." <strong>Das</strong> Gebet ist der Ausfluß selbstloser<br />

Güte. Im Durchbruch selbstloser Güte <strong>im</strong> Menschen haben wir die Aufhebung<br />

des starren Gesetzes. <strong>Das</strong> Leben nährt sich nicht vom Gesetz allein.<br />

Hier klingt die "Missa sine nomine" schon an. Wiechert war ein Bewunderer<br />

von Albert Schweitzer. Den alles überragenden Gipfel von Wiecherts Epik<br />

haben wir in den Jeromin-Kindern. Wie in einem riesigen Staubecken hat<br />

sich eine Fülle der Erinnerungen, Einsichten, Motive und Gestalten angesammelt,<br />

und diese tritt nun, zum reinen Kunstwerk emporgeläutert, ans<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

Licht. Die Worte des Dichters über Jons Jeromins Dissertation sind ein<br />

Selbstbekenntnis: "Erst be<strong>im</strong> Arbeiten merkte er, daß eigentlich schon alles<br />

fertig war und er nur zu ordnen und zu formen brauchte. Zum erstenmal war<br />

ihm, als fiele ihm eine reife Frucht in den Schoß, die er nicht hatte reifen<br />

sehen." Um seine ersten <strong>Werk</strong>e hatte Wiechert in harter Verbissenheit<br />

gerungen. Nun gestaltet sich ein <strong>Werk</strong> wie von selbst aus der angesammelten<br />

Fülle, so wie mir der Dichter von seinem nächsten <strong>Werk</strong> <strong>im</strong> September<br />

1949 sagte, er warte nur noch auf die Stunde, wo sich ihm der Anfangs- und<br />

der Endsatz einstelle.<br />

Früheste Erschütterungen, die, wie Theodor Storm bekennt, für unser<br />

Leben etwas Ewiges haben, best<strong>im</strong>mten des Hirten Michael wie auch Jons<br />

Jeromins Weg. Im Roman wie in der Novelle ersteht des Dichters Kindheit<br />

und Jugend: in beiden gewandelt, <strong>im</strong> Roman mehr als in der Novelle, aber<br />

der Roman verfolgt den Lebensweg seines Schöpfers ein beträchtliches<br />

Stück weiter. So manches persönliche Bekenntnis des Dichters könnte man<br />

als Leitwort über diese Dichtung setzen. So das Gebet: "Gott, gib mir, daß<br />

ich ein Mensch werde, ehe ich sterbe." Nur die gänzlich Verlorenen in diesem<br />

Roman gehen nicht diesen Weg. "Von dem Walde und der Bibel bin ich<br />

ausgegangen, und dahin werde ich auch wohl am Ende zurückkehren." Hier<br />

ist dies Wort erfüllt. Hier ist auch das Ziel seines dichterischen Strebens<br />

erreicht: "das Trübe klar, das Kreisende still, das Verwirrte einfach zu<br />

machen". Still, schlicht und einfach ist alles, und doch von einer Tiefe, die<br />

man nie ausschöpft: alles getragen vom Gehe<strong>im</strong>nis des Lebens und des Ewigen.<br />

Die Bilder sind von einer eindringlichen Einfachheit, wie sie nur dem<br />

begnadeten Dichter gelingen. So wenn es von dem siebzehnjährigen<br />

Michael Jeromin heißt, dessen kurzes Leben steil zur Tragik emporgipfelt,<br />

"düster und schweigsam wie ein Novemberwald", oder <strong>im</strong> Bild des Dorfes,<br />

wie es die aus der Stadt zurückkehrende Marthe Jeromin sieht: "Aus allen<br />

Schornsteinen stieg der Rauch in die Höhe, und sie glaubte die Armut der<br />

Herde zu schmecken, an denen müde Frauen standen." Wir sehen nicht nur<br />

das Dorf; mit ihm enthüllt sich uns Frau Marthes ganzes Wesen und ihr<br />

schweres Schicksal. Zu ihr sagt mahnend der alte Großvater: "Eine Frau am<br />

Abend soll sein wie das Abendbrot, eine Verheißung für Mensch und Vieh."<br />

Aber dies, wissen wir, ist ihr nicht gegeben. Die Einprägsamkeit verdanken<br />

solche Worte ihrer anschaulichen Bildhaftigkeit. Sie erstehen aus einer<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

gegebenen Situation und werfen darauf ein helles Licht. Man muß sie <strong>im</strong><br />

Zusammenhang lesen, um sie ganz zu erfassen. Agricola, der um Gott ringende<br />

Pfarrer, hat dem Lehrer Stilling seine Not geklagt und sagte dann<br />

lächelnd: "Ein schlechter Pfarrer, der seine Sorgen auf Menschenschultern<br />

legt." Der Lehrer erwiderte nur, "daß auf seine Schultern schon viel abgeladen<br />

worden sei ... Und wer alt werde und es zuerst in den Schultern sei, der<br />

sei nicht richtig alt geworden." Es gehört einige Lebenserfahrung zu solchen<br />

Sätzen; sie schicken sich nicht für einen jungen Mund. Auch sind sie<br />

mehr <strong>im</strong> Erziehungsroman am Platz als in der dramatisch bewegten Novelle.<br />

Aus solchen Sätzen erhellen sich uns auch die Charaktere. Mit wenigen<br />

sicheren Strichen gezeichnet, wie mit Käthe Kollwitz' Griffel, stehen die<br />

Gestalten vor uns, z. B. Jakob Jeromin am Kohlenmeiler am Abend: "Wie er<br />

so dasaß, die Hände zwischen den Knien, lag eine solche Verlassenheit über<br />

seinen gebeugten Schultern, als sei er an den Meiler gebannt und werde niemals<br />

mehr zu den Menschen zurückkehren." Die Jerominkinder schließen<br />

sich durchaus würdig der stolzen Reihe deutscher Entwicklungs- und Erziehungsromane<br />

an. Parzival, S<strong>im</strong>pliziss<strong>im</strong>us, Wilhelm Meister, Der grüne<br />

Heinrich, Der Nachsommer. Wenn wir von Stifters Roman absehen, so deuten<br />

schon die Titel den Unterschied an. Von Parzival bis zum Grünen Heinrich<br />

zentriert alles um einen Helden, bei Wiechert geht es um eine Familie.<br />

In den anderen Romanen tritt die Familie stark zurück, oder der Held bricht<br />

mit ihr, setzt sich sogar zu ihr in Gegensatz. In Wiecherts Romanen bildet<br />

die Familie eine lebendige Einheit. Die Familie aber ist in das Dorf eingebettet,<br />

und das Dorf best<strong>im</strong>mt den Gang des Lebens. Sogar Marthe Jeromin<br />

erkennt: "Vielleicht konnte man gegen einen Mann und seine Kinder leben,<br />

wenn es nottat, aber gegen ein Dorf konnte man nicht leben." <strong>Das</strong> Dorf wiederum<br />

ist eingebettet in die Landschaft: Wald, See, magere Felder. Sie<br />

schwingt in den Geschehnissen mit, bedingt sie sogar. Wer dem stillen Rufe<br />

willig folgt, erfüllt am reinsten sein Schicksal. Der nur auf sich selbst<br />

bedachte Rebell gegen Dorf und Familie geht zugrunde wie Gotthold Jeromin.<br />

Wer sich sträubt, trägt um so schwerer an der Bürde, die er doch nicht<br />

abwerfen kann wie Marthe Jeromin. In ihrer Ehe ist ihr Jugendtraum zerronnen.<br />

Erst <strong>im</strong> Tode fügt sie sich ein. Endlich sieht sie, ihre Ehe war doch<br />

gesegnet: ihr Jüngster, der echte Sohn seines Vaters und doch ihr Kind, ist<br />

des Namens Ehrenreich würdig. Ihre Sehnsucht hat sich erfüllt, und nun<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

erstrahlt voll ihre Liebe zu Jakob Jeromin. In einem alten litauischen Volksliede<br />

offenbart die Wortkarge ihres Herzens Sehnen: "Wandte sein Roß und<br />

ritt davon." Sie denkt an den Gatten, als er in den Tod nach Rußland zog.<br />

Die sieben Jerominkinder stammen aus einer sehr merkwürdigen Ehe. Die<br />

Mutter, Frau Marthe, bleibt <strong>im</strong> Dorf eine Fremde, aus den litauischen Mooren.<br />

Und doch beugen sich ihr alle und nicht nur die Dörfler. In der Ehe mit<br />

Jakob Jeromin suchte sie Größe, er aber Kinder und ein frommes Haus. <strong>Das</strong><br />

Fazit zog Jakob <strong>im</strong> letzten Gespräch mit Marthe, ehe er in den Tod zog. "Du<br />

warst wie die Frau <strong>im</strong> Märchen, die zuviel haben wollte, und ich war nicht<br />

der, der es dir geben konnte... und das war meine Schuld. Du dachtest, als<br />

du mich nahmst, ich wäre ein König, aber als die Kleider abfielen, war ich<br />

nur ein Köhler." Drei der Kinder schlagen der Mutter nach: der älteste Sohn<br />

Michael stirbt eines gewaltsamen Todes, Gotthold wird Hochstapler, Zuchthäusler,<br />

Parteibonze, Gina eine Gräfin. Vier schlagen dem Vater nach. Friedrich<br />

ereilt ein tragisches Geschick, Maria wird eine Heilige, der verkrüppelte<br />

Christian wird ein begnadeter Künstler, der jüngste der ganzen Reihe ist<br />

Jons Ehrenreich.<br />

Die Mutter hat ihm diesen zweiten Namen mit auf den Lebensweg gegeben;<br />

von ihm erhofft sie die Erfüllung ihres Lebenstraumes. Sie entsagt diesem,<br />

wie sie allem entsagt: es ist fremdes Blut zu dem ihren geflossen, Waldblut<br />

und Träumerblut; er wird nicht Ehrenreich heißen. Fast am Ende ihres<br />

Weges sieht der Landjäger Korsanke sie vor der Meilerhütte sitzen. Es fröstelt<br />

ihn unter ihrem Blick wie in einem Totenland, aber er "fragte doch nach<br />

ihrer Gesundheit. Sie wendete langsam ihre Augen nach ihm, diese erloschenen<br />

und von Gram leergetrunkenen Augen, vor denen das Dorf sich<br />

fürchtete, aber sie antwortete nicht. Er wußte auch nicht, ob sie ihn<br />

erkannte, ja, ob sie ihn auch nur sah ..." "Wie schwer konnte Gottes Hand<br />

sein, auch in einem kleinen Leben." Ein Born tiefer Liebe konnte erst <strong>im</strong><br />

Tode voll hervorbrechen durch den harten Panzer eines enttäuschten<br />

Lebens. So liegt viele Jahre lang ein dunkler Schatten über dem Leben Jons'<br />

wie auch über dem des Vaters. Jons schließt sich dem Vater an, der ihm der<br />

erste große Erzieher wird. Er tadelt nicht, er verbietet nicht. Er sieht nur, wie<br />

diese Kinderseele sich entfaltet, und ist dem Kinde ein stilles Vorbild an Lauterkeit<br />

und einsichtsvoller Güte. Jakob Jeromin hat nur ein Buch, die Bibel,<br />

und die schweren großen Worte des alten Testaments senken sich tief in die<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

Seele des Kindes, als lebendiges väterliches Erbe. Neben den Vater tritt der<br />

greise Großvater, in Rede, Haltung und Wesen ein Prophet des alten Bundes,<br />

ohne Menschenfurcht, unbeirrbar. Zu diesen gesellt sich der Dorfschullehrer<br />

Stilling. Wesenseins mit dem Dorfe sieht er auf diesem kleinen Acker<br />

seine Früchte reifen. Er feiert seine große Ernte, als er Jons nach Königsberg<br />

begleiten kann; sein Zögling wird reif für die Quarta des Gymnasiums<br />

befunden. Der Ordinarius der Quarta tritt an die Stelle Stillings als Berater<br />

und Führer. Noch in seinen Gymnasialjahren findet Jons einen weiteren<br />

Erzieher: Jumbo, einen Studenten älteren Semesters, der von der Theologie<br />

zur Jurisprudenz umgesattelt hat, um sich dann dem Studium der Medizin<br />

zu widmen. Auch er ist ein Erzieher, wie es der Vater und Stilling waren.<br />

Jumbo fällt in Rußland. Seine Bücher vermacht er Jons. In diesen Büchern<br />

erlebt Jons später die Unsterblichkeit des Wortes, das in ein empfangsbereites<br />

Herz fällt. Als Student der Medizin hält er jetzt jeden Morgen kurze<br />

beschauliche Einkehr in Jumbos Büchern. Er liest am Seitenrande die Bleistiftnotizen<br />

in winziger Schrift, frühe Früchte eines stillen, tapferen, nachdenklichen<br />

Lebens: "Laufe nicht, denn du überholst das Schicksal nicht."<br />

Oder: "Wenn der Tod kommt, so reiche ihm noch den Schleifstein, damit er<br />

sieht, daß du bereit bist." Es ist nicht eine Gesellschaft vom Turm, die, ohne<br />

einzugreifen, Jons Leben überwacht. Nicht durch Irren kommt Jons zu Verstand,<br />

wie Faust oder Wilhelm Meister. Immer stehen am Wege Führer, weil<br />

er empfangsbereit vom Vater und vom Walde her ist. Empfangsbereit und<br />

würdig. Seine jungen Schultern tragen willig jede Last. Denn in ihm gesellt<br />

sich zum Wald- und Träumerblut des Vaters die Zielbewußtheit und der<br />

klare Blick der Mutter. <strong>Das</strong> sieht Herr von Balk, der einst zu Jons gesagt<br />

hatte: "Du weißt wohl nicht, daß dein Vater ein Edelmann ist?" Auch Herr<br />

von Balk, für den des Adels schönstes Vorrecht ist, über das Dorf schützend<br />

den Schild zu halten, wird vorbildlich für Jons: "Und als nach dem Kriege<br />

Stillings mühsam erdarbter Nobelfond" jeden Wert verliert, greift Herr von<br />

Balk ein - er hat Vieh und Waldbestände - und ermöglicht Jons, sein Studium<br />

abzuschließen.<br />

Liest sich das nicht, wie eine zum Roman ausgesponnene Version eines schönen<br />

Märchens? Ein Lehrer folgt dem anderen, zum ersten Wohltäter gesellt<br />

sich der zweite. Man beachte aber eines: hier verketten sich Verdienst und<br />

Glück. Nur der innerlich Empfangsbereite findet die ihm nötige Hilfe:<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

"Suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch auf getan." Auch Wiechert<br />

hat ähnliches erlebt wie Jons. Ich verweise auf das Vorwort zum Heiligen<br />

Jahr und auf den Aufsatz Von den treuen Begleitern. In Mephistos<br />

Worten spricht sich dieselbe Einsicht rein weltlich aus.<br />

Noch eins kommt hinzu. <strong>Das</strong> Leben Wilhelm Meisters entwickelt sich<br />

abseits von der Familie und der gesellschaftlichen Gemeinschaft, der er entstammt.<br />

Dazu ist er wohlhabend. Bedrückende Armut bleibt seinem ganzen<br />

Kreise fern. <strong>Das</strong> Leben Jons Jeromins aber bleibt stets mit dem armen Dorfe<br />

und besonders mit dem Geschick seiner Familie verbunden. So hat auch das<br />

Leid von vielen Seiten Zugang. Jons trägt schwer an der Einsamkeit des<br />

Vaters, an der unbeugsamen Starrheit der Mutter. Als dem Gastwirt die<br />

große Summe gestohlen wird, womit Herr von Balk die Schulden des Dorfes<br />

beglichen hat, hört die Mutter die La<strong>im</strong>a klopfen: sie erahnt, wie Herr von<br />

Balk, wer der Täter ist. Und Frau Marthe weiß, die La<strong>im</strong>a wird wieder klopfen.<br />

Zwe<strong>im</strong>al fährt Jons mit dem Vater <strong>im</strong> Leiterwagen einen Toten nach<br />

Hause, jedesmal einen Bruder. <strong>Das</strong> unnachsichtige Verhalten der Mutter<br />

häuft Leid auf Leid. Der Vater fällt in Rußland. Auf der Insel ragt zum Andenken<br />

an den Großvater, das Opfer russischer Bomben, ein Kreuz in den H<strong>im</strong>mel.<br />

Frau Marthe verbittert mehr und mehr. Jons selber zieht in den Krieg.<br />

Schwer verwundet verdankt er sein Leben nur dem großen Oberstabsarzt,<br />

der in Jons den Menschen sieht. Als Student der Medizin kehrt er nach<br />

Königsberg zurück. In sein Leben greift das Leid viel tiefer ein als in das Wilhelm<br />

Meisters oder des Grünen Heinrich. Aber Jons bleibt empfangsbereit.<br />

Und so findet er <strong>im</strong> letzten Semester seines Studiums auch den Erzieher zu<br />

seinem Beruf: den jüdischen Arzt Lawrenz, der eine Klinik für die Armen<br />

hat, einen Arzt und Seelenhelfer. Er hilft einzig den Armen; er mißbraucht<br />

sein Wissen und Können nicht <strong>im</strong> Dienste Mammons, er stellt es nicht einmal<br />

in den Dienst der Wissenschaft. So kehrt auch Jons, allen Verlockungen<br />

zum Trotz, in sein Dorf zurück als Arzt und Geburtshelfer. Er ist Dorfarzt<br />

wie Stilling Dorflehrer war. <strong>Das</strong> Leben will sich zum Idyll runden, aber da<br />

droht eine neue Finsternis, die La<strong>im</strong>a pocht wieder: die braune Flut. Feige<br />

Schüsse strecken Herrn von Balk nieder. Dr. Lawrenz kommt zu Jons, als<br />

Flüchtling, und findet <strong>im</strong> Sande des Seeufers ein stilles Grab. Dann dröhnen<br />

die Panzerwagen. Die Dorfbewohner wissen, daß sie <strong>im</strong> Abendrot keinen<br />

Engel mit Silberflügeln erblicken werden. "Aber auf der Schwelle des Bojar-<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

hauses sahen sie Jons Ehrenreich stehen, und er hielt das Enkelkind der<br />

Witwe Bojar auf der linken Schulter. Er hatte die nackten schmutzigen Füße<br />

des Kindes in seine Hände genommen ..." Er war einer der Ihrigen, das Klügste<br />

und Beste auf der Welt, das sie kannten, und damit war es eben gut. So<br />

"endet nicht mit Fluch der Sang". Wie aus den Trümmern Trojas die Ilias, so<br />

erhebt sich die Sage von den Jerominkindern und ihrem Dorfe aus dem<br />

Untergang Ostpreußens. Neben Jons Jeromin tritt eine Fülle der Gestalten.<br />

Wir erleben nicht nur ein Schicksal, sondern das eines ganzen Dorfes. Und<br />

viele Gestalten stellen sich würdig neben Jons Ehrenreich, tief in Leid<br />

getaucht und doch gesegnet. Viele enden tragisch. Mit der einzigen Ausnahme<br />

Gotthold Jeromins kommt das Böse nur von außen über das Dorf,<br />

über das nicht allein Herr von Balk seinen Schild gehalten hat. Der Roman<br />

gestaltet ein vielseitiges Bild des Lebens und verlangt unvoreingenommene<br />

Leser, wie <strong>im</strong> Grunde jede <strong>ernst</strong>e Dichtung. Wer mit vorgefaßter Meinung<br />

an eine Dichtung herantritt, wird nie ihren Sinn erfassen. Dieser Roman hat<br />

viel Staub aufgewirbelt. Dem einen ist er zu unzeitgemäß <strong>im</strong> Zeitalter der<br />

Maschine, dem ändern irreligiös, dem dritten sogar unsittlich. Sagt nicht die<br />

arme Näherin, die Jons mit ihrer Liebe beglückt: "Ein Kind ist nichts für<br />

uns"? Und nennt sie nicht diese Liebe, die mit dem kurzen Lebensfrühling<br />

der Armen vergeht, "den H<strong>im</strong>mel der Armen"? Die Rezensentin (Frankfurter<br />

Hefte) übersieht, daß diese Näherin das Opfer unserer sozialen Ordnung<br />

ist, daß sie <strong>im</strong> selben Zusammenhang sagt: "Wir wollen Kinder haben, nicht<br />

tote Helden ... Viele Kinder, denn dazu sind wir da." Unzeitgemäß? Eine<br />

Dichtung greift tiefer als nur in die Tagesnöte einer Schicht, sonst hätte<br />

selbst Homer für uns jede Bedeutung verloren. Und ebenso Hermann und<br />

Dorothea. Irreligiös? Nur tiefste Ehrfurcht vor jeder echten Religion findet<br />

hier Ausdruck. In Gott ruhen nicht nur die katholischen Schwestern in der<br />

Armenklinik; auch Michael und Jakob Jeromin, und der jüdische Arzt Dr.<br />

Lawrenz ruhen in Gott. Diese Gestalt kann man ruhig neben Lessings<br />

Nathan stellen. Echte Religiosität quillt aus dem Leben und mündet wieder<br />

ins Leben. <strong>Das</strong> ist des Dichters eigene Einstellung, und darin ist Jons sein<br />

Ebenbild. Von einer reichen Patientin erbittet er sich eine Kirche für sein<br />

Dorf, und sein Kriegskamerad Tobias, dessen Glaube sich an der Front<br />

bewährt hat, wird da Pfarrer. Auch das ärmste Haus kann den Kindern das<br />

ganze Wort Gottes mit auf den Weg geben, heißt es in den Treuen Begleitern.<br />

<strong>Das</strong> erweist sich an Jons. Dem schamlos witzelnden Gynäkologen ruft<br />

79<br />

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80<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

er mitten in der Vorlesung zu: "Gehorche deinem Vater, der dich gezeugt hat,<br />

und verachte deine Mutter nicht, wenn sie alt wird." Zu geeigneter Stunde<br />

hatte er dies Wort von seinem Vater gehört: nun stellt es sich wieder ein.<br />

Und doch verweigert Jons nach dem Konfirmandenunterricht die Annahme<br />

des Abendmahls. Warum? Be<strong>im</strong> Vater waren Religion und Leben eines. Er<br />

las die Bibel, um des Lebens Sinn tiefer zu erfassen, und die Deutung der<br />

Bibel erstand aus dem Leben. Im Konfirmandenunterricht herrschte Schablone,<br />

wie sie die ewige Wiederholung mit sich bringt. Statt der Bibel gab es<br />

Bibelfruchte, die Bergpredigt wurde dem Status quo schonend angepaßt,<br />

und die Schüler saßen nach Rang und Stand geordnet. Von dem Konsistorialrat,<br />

der am Sarge Agricolas sprach, hätte er das Abendmahl angenommen,<br />

sagt Jons auf die Frage Herrn von Balks. Die Religiosität Jons' ist wie die<br />

Kunst Christians. Sie stammt aus dem Leben und wirkt ins Leben zurück. An<br />

Christians Kruzifix für die Dorfkirche trägt der Gekreuzigte die Züge Agricolas.<br />

Als Christian dem Bruder das Grabmal für die Eltern zeigt, eine Pietä,<br />

sieht dieser, zutiefst ergriffen, die schmerzerfüllten Züge von Marthe und<br />

Jakob Jeromin. Kunst und Religion gebären sich in tiefem Schmerz täglich<br />

aus dem Leben.<br />

"Um Gott her ist schrecklicher Glanz", und diesem Glanz ist nicht jeder zu<br />

jeder Stunde gewachsen. In christlicher Nächstenliebe verzehrt sich Agricolas<br />

Herz. Er verkauft seine Möbel, um den kranken Kindern den Wein zu<br />

kaufen, den der Arzt verschreibt. Er ringt <strong>im</strong> Gebet mit Gott um das Leben<br />

der Kinder, und 71 Gräber aus zehn armen Dörfern sind Gottes Antwort.<br />

Nun hadert er gewaltig mit Gott. Aber <strong>im</strong> Grunde erklingt in diesem Hadern<br />

doch nur die alte Klage: "Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"<br />

Ja, warum? Seine Gemeinde hält zu ihm, in ihrer schlichten Frömmigkeit<br />

weiß sie, Gott, der für ihre Kirche gesorgt hat, wird auch für ihren Pfarrer<br />

sorgen. Die Feier der Einweihung der neuen Dorfkirche kann erst beginnen,<br />

als der Pfarrer von seiner Insel kommt: die offiziellen Würdenträger<br />

müssen warten. Und so hält auch zu ihm der wundervolle Konsistorialrat:<br />

Gott wird seinen jungen Bruder, der auf eine Weile in die Fremde gegangen,<br />

und dem er nicht helfen kann, he<strong>im</strong>rufen. Nur die Menschen richten ihn,<br />

denn sie können nicht verzeihen, daß jemand aufhört zu glauben, was sie<br />

glauben. So spricht der Konsistorialrat am Sarge Agricolas, als dieser sein<br />

Leben geopfert hat, um das Leben eines Kindes zu beschützen. "Keiner hat<br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

so um Gott gerungen wie er. Sein letzter nicht mehr gewußter Gedanke war:<br />

,Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen'." Auch hier spricht<br />

Wiechert mit. Die "Jeromin-Kinder" sind vollendet: sie bezeichnen wie Die<br />

Hirtennovelle das Ende einer Epoche, und wieder hält der Dichter Einkehr<br />

bei sich selbst: Jahre und Zeiten. Wie anders schon der Titel als die frühere<br />

Selbstschau. Aus der Stille der Wälder ersteht ein Idyll, vom Glanz der Erinnerung<br />

verklärt, wie die Dichtung vom Hirtenknaben. Hier dagegen geht es<br />

weniger um Menschen als um die großen und schweren Geschehnisse. Die<br />

Menschen sind zum wesentlichen Teil der Widerschein der Jahre und Zeiten.<br />

Kommende Geschehnisse zeigen sich in den Menschen an, bilden sich<br />

in ihnen vor. Es ist ein Buch tiefster Einsicht, für künftige Historiker ein<br />

Dokument von Bedeutung. Der Dichter hat schwerstes erlebt: Buchenwald,<br />

den zweiten Weltkrieg, der aus der Gewaltsamkeit des großen Umbruchs<br />

hervorging, schwerste Enttäuschungen am Menschen, wie Thomas von<br />

Orla. Doch selbst aus dem erschütternden Bericht des Totenwaldes erklingt<br />

uns Wiecherts Bekenntnis zu dem Glauben an die Güte des einfachen Mannes.<br />

Die meisten Lagergefangenen waren ja einfache Menschen. Weil sie<br />

weniger an materiellen Gütern, an Wohlleben und gesellschaftlicher Stellung<br />

zu verlieren hatten, hatten sie eher den Mut zur Tat. Und von diesen<br />

hielten viele zu Wiechert, ihnen verdankte er sein Leben. Der Oberarzt<br />

gehörte zur geistigen Elite! Wer will es dem Menschen Wiechert verargen,<br />

daß eine gewisse Enttäuschung und Verbitterung, der Zweifel am eigenen<br />

Volk, die in den "Jeromin-Kindern" nur selten Ausdruck finden, in der unmittelbaren<br />

Darstellung des eigenen Lebens und Erlebens manchmal die Haltung<br />

best<strong>im</strong>men, zu Einseitigkeit und nicht <strong>im</strong>mer gerechtfertigten Urteilen<br />

verleiten? Hier zeigt sich der alte Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit,<br />

zwischen Dichtung und Leben. Es ist der unüberbrückbare Abgrund,<br />

der <strong>im</strong>mer zwischen Ideal und Wirklichkeit klafft. Wer darob mit dem Dichter<br />

und Menschen Ernst Wiechert hadern und über ihn den Stab brechen<br />

will, kennt diesen Abgrund nicht und hat nie Einkehr bei sich selbst gehalten.<br />

Und wer von diesen Richtern ist den schweren Weg nach Buchenwald<br />

gegangen? Die reine und verklärende Güte Wiecherts erstrahlt in den wenigen<br />

Gedichten und besonders in den Märchen, die er <strong>im</strong> letzten Kriegswinter<br />

schrieb. Da ertönt wieder die Botschaft von der "großen Gerechtigkeit",<br />

von Mitleid, Güte und verstehender Liebe. Noch einen Schritt weiter in diese<br />

Richtung geht die letzte Novelle Die Mutter. Auf dieser wankenden Erde<br />

81<br />

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82<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

genügen nicht bloßes Gericht und Gerechtigkeit. Wir tragen alle mit an der<br />

gleichen großen Schuld. Nur in der alles verzeihenden, den Sünder schützend<br />

umhüllenden Liebe dieser Mutter findet wahre Gerechtigkeit ihre<br />

Erfüllung. Der Dichter gibt uns ein Gleichnis göttlichen Erbarmens, und am<br />

Ende der Novelle bettet sich die Mutter in ihrem schwarzen Mantel unter<br />

der bäuerlichen Mutter Gottes <strong>im</strong> Herrgottswinkel der Bau<strong>ernst</strong>ube. Die<br />

Missa sine nomine bereitet sich <strong>im</strong> Dichter vor.<br />

Den dritten Band der Jeromin-Kinder "hat die Geschichte geschrieben, mit<br />

schweren und grauenvollen Buchstaben, und es ist keiner Dichtung das<br />

Recht gegeben, über dieses Grauen den Sch<strong>im</strong>mer der Verklarung zu<br />

legen", sagt der Dichter <strong>im</strong> Nachwort. Doch sein innerstes Wesen bleibt mit<br />

dieser ostpreußischen He<strong>im</strong>at eins. Sie ist der natürliche Schauplatz der<br />

Märchen, man kann sie nicht in eine andere Landschaft verlegen. Und so<br />

mußte es den Dichter drängen, von dieser He<strong>im</strong>at in einer Dichtung<br />

Abschied zu nehmen und sie so zu segnen. Da ihm die Rückkehr in die He<strong>im</strong>at<br />

versperrt ist, verlegt er die neue Dichtung in die Hochmoore um den<br />

Vogelsberg, wo eine ähnliche Weite der Landschaft und dieselbe Einsamkeit<br />

waltet. Da haben drei ostpreußische Freiherren ein Erbgut. Da finden sie,<br />

nachdem Ostpreußen untergegangen, eine Zuflucht. Zu ihnen gesellen sich,<br />

so weit sie dem Verderben entflohen sind, ihre Gutsleute. So ersteht hier ein<br />

Stück ostischen Lebens. Hier kann sich auch, je nach Charakter und Anlage,<br />

das Schicksal der drei Freiherren, dreier Brüder, erfüllen. So entstand Wiecherts<br />

letzter großer Roman: Missa sine nomine. Keine Messe gibt uns der<br />

Dichter hier. Wir wohnen keiner religiösen Kulthandlung bei, wir treten in<br />

keine Kirche zu feierlichem Gottesdienst, und doch liegt über dem Ganzen<br />

der Sch<strong>im</strong>mer frommer Verklärung, den schon der Titel ankündigt. Wenn<br />

die drei Brüder, die <strong>im</strong> Mittelpunkt dieser Dichtung stehen, zusammen<br />

einen feierlichen Satz aus Mozart oder Scarlatti spielen, so werden sie den<br />

Zuschauern zu einem Triptychon, wie man es wohl über dem Altar einer<br />

alten Dorfkirche findet. So innig klingt ihre Musik zusammen, so sehr sind<br />

sie eines. Wir hören einen schweren Vers aus dem Propheten Jeremias:<br />

"Herr, du hast mich überredt, und ich hab mich überreden lassen." Auf des<br />

Vaters Schreibtisch liegt ein großer Foliant. Und daneben liegt ein kleiner<br />

Zettel: darauf steht mit des Vaters mittelalterlicher zierlicher Schrift dieser<br />

Vers. Der Vater ist in die Stille gegangen, zur letzten Einkehr. Die alte litaui-<br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

sche Kinderfrau - wir sind in der ostischen Welt -, sagt der Freiherr von Liljecrona,<br />

"hat zu Ende gesponnen und er hat eine neue Spindel genommen.<br />

Gott hat ihm einen neuen Faden gereicht". Keine Kunde kommt von ihm. Er<br />

hatte gelesen und sinniert, er hatte das Senfkorn gesammelt, die anderen<br />

sammelten nur das Fett der Erde. Wie der Vater sollen auch die Söhne das<br />

Senfkorn sammeln. Als die drei Brüder einst nach einer Beerdigung - sie hatten<br />

am Sarge eines der Gutsleute ein trauriges litauisches Volkslied gespielt<br />

- "an dem großen Fenster ihres Musikz<strong>im</strong>mers gestanden hatten, war der<br />

Vater leise hereingekommen, hatte sich hinter sie gestellt und mit seiner<br />

sanften, wie aus der Ferne kommenden St<strong>im</strong>me gesagt: "Wer den Armen<br />

eine Brücke baut, ist mehr als wer den Königen ein Reich baut ...". Dieser feierliche<br />

und doch einfache Ton beherrscht den ganzen Roman. Wir hören die<br />

Botschaft, die bei Hölderlin aus der Tiefe des Leids erklingt:<br />

"daß unsterblicher doch, denn Sorg" und Zürnen, die Freude und ein goldener<br />

Tag täglich am Ende noch ist".<br />

Wohl kein deutscher Dichter stand Wiechert näher als Friedrich Hölderlin.<br />

Die Verklärung am Lebensabend, die diesen Roman wie mit sanftgoldenem<br />

Sch<strong>im</strong>mer überstrahlt, erglänzt auch aus den vorangestellten Hölderlinversen:<br />

In jüngeren Tagen war ich des Morgens froh,<br />

des Abends weinte ich; jetzt, da ich älter bin,<br />

beginn ich zweifelnd meinen Tag, doch<br />

heilig und heiter ist mir sein Ende.<br />

Was ich oben aus dem Leben der drei Freiherrn berichtet habe, ersteht uns<br />

aus den Erinnerungen des Jüngsten, als er nach vier Jahren Konzentrationslager<br />

zu den Brüdern zurückkehrt: Amadeus, d. h. Gottlieb. Er ist der empfindlichste<br />

der drei Brüder und der entschlssenste: er schlägt am meisten<br />

dem Vater nach. Dunkel und schwer setzt der Bericht ein: Vorklang schwersten<br />

Schicksals, Nachklang kaum überstandener Leiden. Von der Schwelle,<br />

zu der er jetzt zurückkehrt, hatten ihn vor vier Jahren die Häscher geholt.<br />

Nur der alte Schäfer hatte den Stab erhoben und ihnen nachgerufen mit feierlicher<br />

St<strong>im</strong>me: "So jemand in das Gefängnis führt, der wird in das Gefängnis<br />

gehen; so jemand mit dem Schwert tötet, der muß mit dem Schwert<br />

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84<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

getötet werden. Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen." Amadeus hatte<br />

vier Jahre vergeblich gesucht nach diesem Glauben und dieser Geduld. Mit<br />

geschändetem vernarbtem Leibe kehrt er nun mit zerrütteter Seele he<strong>im</strong>.<br />

Die Hand, die getötet hat, wird nie wieder den Bogen führen können. Sogar<br />

die Gesellschaft der Brüder muß er meiden. Alles wankt. Um diesen Orest<br />

bemüht sich keine Majorin wie um Michael Fahrenholz. Langsam und allmählich<br />

ringt sich wie von selber, wenn auch <strong>im</strong> schwersten Kampfe, die<br />

innere Güte durch, zuerst in kleinstem Dienste an den Kindern. Jede gute<br />

Tat segnet den Täter. Güte - ändern erweisen ist mehr als Lethe des Vergessens.<br />

Aus solcher Liebe und Güte ersteht jede seelische Läuterung, und in<br />

Liebe und Güte findet sie ihre Vollendung. Vor vier Jahren hatte ihn der Förster<br />

bei den Behörden verklagt, nur aus dem Drange, dem Staate, dem er<br />

sich eidlich verpflichtet hatte, restlos seine Pflicht zu erfüllen. Jetzt tritt Amadeus<br />

für den einstigen Ankläger vor dem Gericht ein, das ein hartes Urteil<br />

erzwingen möchte. Ist es doch ein menschlich allzumenschliches Gericht.<br />

"Ach, Herr", sagte der greise Kutscher Christoph, "sie sind geschlagen worden,<br />

und nun schlagen sie wieder." Amadeus' Güte erzwingt Verständnis für<br />

die Lage des Angeklagten, der seine Schuld vollkommen auf sich n<strong>im</strong>mt.<br />

Und am Ende des Buches umschlingt die Försterstochter erlöst und glückselig<br />

Amadeus' Knie: "Ich will dir dienen ..., dir dienen mein Leben lang."<br />

Einst hatte sie am Moore gesessen, um ihn, den Verächter ihres Abgotts,<br />

sterben zu sehen, er aber, schon der Bewußtlosigkeit nahe, hatte sie an das<br />

Kind gemahnt, das sie von einem Totschläger erwartete, und sie - sie wußte<br />

nichts von der Neigung, die in ihrem Herzen schlummerte - hatte sich auf<br />

den Weg gemacht, ihm Hilfe zu holen. Dann war sie in geistige Umnachtung<br />

versunken: die Gestalt des Totschlägers wurde von einem anderen verdrängt:<br />

von Amadeus. Ihr Geist bleibt umnachtet. Um sie zu retten, sie und<br />

das Kind, läßt er sie in dem Wahn, daß er der Vater des Kindes sei. Nur so<br />

kann sie gerettet werden, sagt Christoph. Gott hat ihn auf diesen Weg gewiesen,<br />

sagt der Pfarrer, den Amadeus am Moore kennengelernt hat; der Pfarrer<br />

gräbt Torf, damit die Kinder es <strong>im</strong> eisigen Winter hier warm haben<br />

werden. Während die hohe Geistlichkeit Gott hat, sucht er nur dessen Spuren,<br />

aber er setzt das Evangelium in die Tat um. Darum darf er so raten. Von<br />

Amadeus' Liebe umhegt, findet das Mädchen endlich den Weg zurück in die<br />

Wirklichkeit. Aber nun ist der das Grauen verhüllende Schleier zerrissen,<br />

sie sieht den Irrweg, den sie gegangen. Sie hat gefrevelt und kann und darf<br />

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Friedrich Bruns<br />

ERNST WIECHERT Der Mensch und sein <strong>Werk</strong><br />

Eine Anthologie<br />

Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong><br />

nun nicht mehr ihrem Herzen folgen, wie sie es in ihrer geistigen Umnachtung<br />

getan. Über dies Schuldgefühl siegt aber in neuen seelischen Erschütterungen<br />

schließlich Amadeus' Liebe. Man lese die letzten Seiten dieses<br />

Romans. Ein Dichter und Seelenkenner voll verstehender Güte hat sie<br />

gestaltet. Still und verhalten endet das Buch. Aus den Schlußsätzen ertönt<br />

der Glaube an die Unvergänglichkeit des Lebens. Amadeus blickte hinaus in<br />

das Abendrot, ihm stellte sich nicht das Wort von der Unvergänglichkeit des<br />

Lebens ein. "Aber sein Herz schlug so gewaltig, als wenn er es so benennen<br />

könnte." Mit diesem Bekenntnis klingt Wiecherts Leben und Dichten aus. -<br />

Als ein von Ernst Wiecherts Dichtung Erfüllter und Ergriffener habe ich<br />

diese Seiten geschrieben. Ich bin nie vergeblich bei ihm eingekehrt. Dies<br />

Bekenntnis zwingt mich zu einer grundsätzlichen Betrachtung. Max Kommereil<br />

sagt in seinem schönen Buche Gedanken über Gedichte: "Was wir<br />

mit Dichtungen wollen, ist schon ein Mißverständnis - es geschieht etwas an<br />

uns: das ist das Wesentliche und kann nicht festgesetzt werden." Anders ausgedrückt:<br />

gerade das, was das Weiterleben einer Dichtung bedingt, liegt jenseits<br />

aller rationalen Erkenntnis und verliert sich ins Dunkel, wo allein das<br />

wahrhaft Schöpferische waltet. Und doch: Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen<br />

Betrachtung muß bleiben, was durch eine Dichtung an uns<br />

geschieht. Nur in die aufnahmebereite, um mit Hölderlin zu reden, in "die<br />

offene Seele" kann eine Dichtung lösend und befruchtend eindringen und da<br />

ihre Wunder wirken. Auch Goethe bekannte, Leser, die sich ganz einer Dichtung<br />

hingeben, seien ihm die liebsten.<br />

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Ernst Wiechert - <strong>Das</strong> <strong>Werk</strong> Friedrich Bruns<br />

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