Spieltriebe - Burgtheater
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Akademietheater<br />
18<br />
Der Ehrgeiz ist, Verwirrung zu stiften<br />
Ein Gespräch mit Jürgen Kuttner über seine Videoschnipselabende – die wegen der<br />
großen Publikumsnachfrage im April vom Kasino ins Akademietheater übersiedeln<br />
Wie ist die Idee zu den Videoschnipsel-<br />
Abenden entstanden?<br />
Das ist wie bei allen Sachen, die ich mache:<br />
Ich muss zum Jagen getragen werden. Ich<br />
selber käme nicht darauf. Die Idee dazu<br />
ist anlässlich eines großen zweitägigen<br />
Spektakels an der Volksbühne am Rosa-<br />
Luxemburg-Platz in Berlin entstanden.<br />
Das war 1996 – sieben Jahre Mauerfall.<br />
Als Volksbühnen-Assoziierter haben sie<br />
zu mir gesagt: »Du musst auch was machen.«<br />
Und ich: »Was soll ich denn machen?«<br />
Und die: »Zeig doch« – ich habe<br />
damals beim Fernsehen gearbeitet – »zeig<br />
doch ein paar Fernsehausschnitte und erzähl<br />
ein bisschen dazu.«<br />
Was hast Du beim Fernsehen gemacht?<br />
Ich hatte eine Art Talkshow. Im Radio<br />
mache ich das ja seit vielen, vielen Jahren:<br />
Talkradio, und das Format lief dann vier,<br />
fünf Jahre auch im Fernsehen.<br />
Ich habe zugestimmt, weil ich mir dachte:<br />
»Ja, das kann ich schon machen. Den<br />
Roten Salon in der Volksbühne bespielen,<br />
das schaffe ich. Hundert Leute zu unterhalten<br />
ist ja keine Kunst.« Mit einem Mal<br />
fand ich mich aber auf der Großen Bühne<br />
wieder, denn mein Auftritt war eingebettet<br />
in eine große Revue, wo vorher und<br />
nachher was kam, ganz verschiedene Programmpunkte.<br />
Da saßen dann also plötzlich<br />
siebenhundert Leute unten. Ich hab<br />
einfach angefangen, und zwei Stunden<br />
später sind dann sowohl ich als auch das<br />
Publikum aus so etwas wie einem Rausch<br />
erwacht. Damals ging es vor allem um<br />
den Ost-West-Vergleich: Polizisten im<br />
Westen, Polizisten im Osten, wie sieht<br />
das Bermudadreieck Mann-Frau-Auto im<br />
Westen aus, wie im Osten? Darüber ließ<br />
sich schon relativ viel erzählen, auch über<br />
die ganze Umbruchsituation in Berlin.<br />
Alle waren begeistert, deshalb sollte ich<br />
das dann noch mal wiederholen. Seit fünfzehn<br />
Jahren mache ich das nun monatlich<br />
in der Volksbühne. Mir war schnell klar,<br />
dass ich nicht ein Programm endlos wiederholen<br />
wollte und konnte, sondern mir<br />
jeden Monat ein neues Thema suchen<br />
musste, mit neuen Ausschnitten, neuem<br />
Material. Die Abende leben von der Im-<br />
provisation. Manchmal bedaure ich es natürlich,<br />
dass ich kein Programm erarbeitet<br />
habe, das sich einfach wiederholen lässt.<br />
Aber andererseits: Ich muss mir ja selber<br />
auch zuhören und da würde ich mich sehr<br />
bald langweilen.<br />
Wie triffst Du die Auswahl der Fernsehausschnitte?<br />
Über die Jahre hat sich ein relativ großes<br />
Archiv angesammelt. Ich schneide am<br />
Computer Fernsehsendungen mit, hauptsächlich<br />
Archiv-Sendungen. Ich finde älteres<br />
Material interessanter als aktuelles.<br />
Das aktuelle Material verführt nur zu einer<br />
Ironie, die den Mainstream bedient. Dass<br />
Kerner scheiße ist, Beckmann ein Idiot, ist<br />
Konsens. Das wissen alle. Dazu muss man<br />
sich nicht verhalten. Wenn das Material<br />
aber zwanzig Jahre alt ist, hat das eine<br />
überraschende Fremdheit. Das gefällt mir,<br />
weil wir in einer komisch geschichtslosen<br />
Zeit leben. Ich bin Fan von diesem großartigen<br />
Satz bzw. Buchtitel von Alexander<br />
Kluge: »Der Angriff der Gegenwart auf<br />
die übrige Zeit«. Jetzt leben wir in einer<br />
Zeit, in der die Gegenwart komplett gewonnen<br />
hat. Es gibt keine Vergangenheit<br />
und keine Zukunft mehr, höchstens noch<br />
als Exotikum. Man kann sich nicht daran<br />
erinnern, dass es mal eine Zeit ohne Handys<br />
gab oder wie in Berlin der Kudamm<br />
vor dreißig Jahren aussah. Auch nicht daran,<br />
dass die Unterschiede zwischen Ost<br />
und West gar nicht so groß waren, wie<br />
sie heute dargestellt werden. Das ist alles<br />
ideo logisch befrachtet. Ich finde es schön,<br />
zu den älteren Sachen zurückzugehen und<br />
sie zu den heutigen in Bezug zu setzen.<br />
Auf diese Weise historisierst Du in der<br />
Umkehr auch den Blick auf die Gegenwart.<br />
Was versprichst Du Dir von dieser<br />
Perspektive?<br />
Die Wut auf die Gegenwart lässt sich dadurch<br />
gut erklären. Diese ganzen Ideologien,<br />
die zu Selbstverständlichkeiten<br />
geronnen sind, werden sichtbar. Dieses<br />
Denken »Das geht doch gar nicht anders«<br />
… lässt sich widerlegen, indem man<br />
zeigt, dass es selbst da, wo wir leben, noch<br />
oder schon vor fünfzehn Jahren anders<br />
war und anders ging. Diese herrschende<br />
Vergangenheitslosigkeit hat mit der Zukunftslosigkeit<br />
zu tun. Man kann sich gar<br />
keine Zukunft mehr vorstellen. Selbst vor<br />
zwanzig Jahren gab es noch utopische Zukunftsversionen,<br />
und sei es nur »Wir werden<br />
nicht mehr laufen müssen, die Straßen<br />
werden Laufbänder sein, wir werden mit<br />
dem Hubschrauber zur Schule fliegen, es<br />
wird Atomlokomotiven geben…..«. Wenn<br />
man heute über die Zukunft redet, dann<br />
geht es um Mindestlohn, Krankenkassenbeiträge<br />
und Abgeltungssteuer. Das sind<br />
die Kategorien, in denen man heute Zukunft<br />
denkt. Offensichtlich gibt es das Bewusstsein:<br />
So schön wie jetzt wird es wohl<br />
nie wieder werden. Es herrscht ein ganz<br />
resignatives Zukunftsverhältnis: »Ach,<br />
wollen wir mal lieber alles so lassen wie<br />
es ist, wollen wir mal nicht dran rühren.«<br />
Zukunftsvorstellungen sind bestenfalls<br />
noch dumpfe, vermeintlich unabwendbare<br />
Katastrophen: Klima, Demographie<br />
und Rente.<br />
Hast Du Vermutungen, woher diese negative<br />
Sicht auf die Zukunft herrührt?<br />
Wahrscheinlich hängt das schon mit dem<br />
Zusammenbruch des Ostblocks zusammen,<br />
der ja vermeintlich die Zukunft gepachtet<br />
hatte. Der war ja etwas anderes.<br />
Nicht etwas Besseres, aber man konnte<br />
sehen, dass es auch anders geht. Vielleicht<br />
nicht besonders schön. Das hat dann zu<br />
diesem Backlash geführt, dass man sagt:<br />
»Ja, der Markt macht das, das kann nur<br />
der Markt.« Das war zumindest die letzten<br />
fünfzehn Jahre so. Jetzt wird der Markt ja<br />
auch wieder in Zweifel gezogen, weil man<br />
sieht, dass sich da auch Inder und Chinesen<br />
tummeln. So hatte man sich das ja nicht<br />
vorgestellt. Der Markt ist ja immer unser<br />
Markt. Unser Gegenwartsmarkt. Wenn<br />
da plötzlich ganz andere kommen, ist der<br />
Markt nicht mehr so schön. Da merkt<br />
man, wie diese Ideologie bröckelt.<br />
Wann hast Du Dein doch sehr auffälliges<br />
Talent des Redens entdeckt?<br />
Kunstproduktion ist ja meistens eine<br />
sublimierte Defizit-Erfahrung, und wenn<br />
man der Kleinste in der Klasse ist, hat<br />
2007/2008 Saison