Spieltriebe - Burgtheater

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IMPRESSUM titelbild: Sylvie Rohrer als a und Christian nickel als D in »Pool (kein Wasser)« von Mark Ravenhill vorspiel. Das Magazin des Wiener Burgtheaters erscheint fünfmal jährlich als Sonderbeilage der tageszeitung »Der Standard« Medieninhaber und herausgeber: Direktion Burgtheater Gesmbh 1010 Wien, Dr. Karl lueger-Ring 2 Redaktion: Dramaturgie Burgtheater Gestaltung: herbert Winkler, annika Rytterhag Collettiva Design herstellung: Goldmann-Zeitungsdruck Gesmbh 3430 tulln, Königstetter Straße 132 Saison 2007/2008 Inhalt Inhalt 4 leitartikel: »Wurzeln sind ein hindernis« aus der Rede von Jorge Semprún 6 »Ich bin alle meine Figuren auf einmal« – Yasmina Reza über »Der Gott des Gemetzels« 9 Rund um Shakespeares Geburtstag – tagung der Shakespeare Gesellschaft in Wien 10 Zu Gert Jonkes Stück »Freier Fall« – Jochen Jung über Gert Jonke 12 Robert lehniger und Johannes Schrettle über ihr neues Projekt »Ich habe King Kong zum Weinen gebracht« 15 »Das lächeln am Fluss« von henry Miller und »Die Präsidentinnen« von Werner Schwab 16 Spieltriebe: »Der mystische Grund der Zivilisation« von David lindemann, »lichtscheu« von Stephan lack und »Mein arm« von tim Crouch 18 Ein Gespräch mit Jürgen Kuttner über seine Videoschnipselabende 21 Über die Verpflichtung zur Verantwortung – henning Mankell im Burgtheater 23 Porträt: Dr. Gerhard Blasche 24 Rund um die Uhr: Das Burgtheater vor der Vorstellung – 17 bis 20 Uhr 27 Magazin Wichtiger hinweis für Wahlabonnenten! Da das Burgtheater im Juni wegen der Fan-Meile der Euro 2008 nicht bespielt werden kann, können die Wahlabonnenten ihre Schecks für das Burgtheater auch noch im September 2008 einlösen. achtung: Für das akademietheater müssen die Schecks wie bisher bis Ende Juni 2008 eingelöst werden. autoren der Gegenwart im Burgtheater Von Ingeborg Bachmann und Werner Schwab bis zur jüngsten österreichischen Dramatik ist das Burgtheater Schauplatz gegenwärtiger literarischer Unternehmungen: texte von Ingeborg Bachmann, Gert Jonke, Götz aly, henning Mankell, Werner Schwab, Yasmina Reza, tim Crouch, David lindemann, Johannes Schrettle und Stephan lack ergänzen in diesem Frühjahr den umfangreichen Spielplan des Burgtheaters. 3
Leitartikel 4 Wurzeln sind ein Hindernis Auszug aus der Rede von Jorge Semprún, gehalten im Burgtheater am 12. März 2008 Vor siebzig Jahren, als die Panzer von Hitlers Wehrmacht langsam durch die Straßen von Wien rollten, trug Sigmund Freud zwei lateinische Worte in sein Tagebuch ein, nur zwei Worte: Finis Austriae. Der Mann, der diese beiden schneidend knappen Worte schrieb, Finis Austriae, und so ein kurzes und kategorisches Epitaph für eine historische Epoche verfasste, war der Erfinder einer revolutionären Theorie, die die Beziehungen des Menschen zu sich selbst zu seinem eigenen In-der-Welt-Sein, als Individuum und als geschichtliches Wesen, substantiell und definitiv veränderte. Ich möchte zwei Aspekte dieses Werks betonen, dieses Lebens, das sich der Erforschung der Wirklichkeit verschrieben hatte, denn sie stehen in einer gewissen Beziehung zu der Erinnerung an jenes weit zurückliegende Datum, vor siebzig Jahren, das nicht nur den Untergang Österreichs, Finis Austriae, sondern auch – wie wir gleich sehen werden – den Untergang Europas anzeigt. Der erste Aspekt aus dem Werk von Sigmund Freud, den ich betonen möchte, bezieht sich auf seine stetige Anstrengung, die kontradiktorischen Umstände und Entwicklungen der gesellschaftlichen Realität zu erhellen. Ich möchte das Interesse an einem Essay aus dem Jahre 1921 hervorheben: »Massenpsychologie und Ich-Analyse« aus dem Jahr 1921 enthält in nuce durch die Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene wie der Vermassung, des Herdentriebs, des Personenkults um den Führer, eine erste und in die Zukunft weisende Analyse des Totalitarismus, der ein Jahrzehnt später Europa überrollen und vernichten würde. Neben diesem analytischen Scharfsinn Freuds möchte ich gerne einen zweiten Aspekt seines Lebens und seines Werks hervorheben: es ist seine Zugehörigkeit zum Judentum, seine Eingliederung in jene jüdische Kultur deutscher Sprache, die besonders in Wien in den 20er und 30er Jahren in Blüte stand und ohne die es unmöglich wäre, all das zu verstehen, was damals in Europa geschah. Es genügt, an die bedeutendsten Namen jener Epoche zu denken, und zwar in allen Bereichen der Wissenschaft, der Literatur und der Künste: wir öffnen ein Verzeichnis jüdischer Namen. Wir schlagen einen Almanach einer Epoche auf, in der es ei- nige Jahrzehnte lang möglich schien, dass die deutsche Sprache der universalistischen Kultur des europäischen Judentums, das sich dank des Geistes der Aufklärung und der revolutionären Utopie von seinen eigenen Beschränkungen emanzipiert hatte, eine Heimstatt bieten und Schutz gewähren würde: hier konnte man Wurzeln schlagen, dies war der fruchtbare Boden, auf dem man seinen Wohnsitz nehmen konnte. All das endet 1938, an jenem Märztag. Alle Jorge Semprún Möglichkeiten, die die Geschichte – zumindest virtuell – noch für die Aufrechterhaltung und die Entwicklung eines politischen Pluralismus und der demokratischen Vernunft anbot, alle diese Möglichkeiten wurden zerschlagen. Sigmund Freud hätte seinen kurzen Ausruf von vor siebzig Jahren, Finis Austriae, eigentlich so erweitern können, Finis Europae. Drei Jahre zuvor, 1935, hatte schon jemand die Aufmerksamkeit auf die Gefahren gelenkt, dass Europa der Barabarei nicht widerstehen könnte: der Philosoph Edmund Husserl. 1935 hatte Husserl zunächst hier in Wien, und ein paar Monate später in Prag, einen Vortrag über Europa und die Krise der Philosophie gehalten. Für mich handelt es sich hier in gewisser Weise um einen Gründungstext, weil es ein Text ist, der zum ersten Mal klar und deutlich das Projekt formuliert, die dynamische und be- wegliche Idee, die die moderne europäische Gemeinschaft begründet. Wenn wir über Europa nachdenken, wenn wir daran denken, was Europa im Lauf der historischen Entwicklung seit Jahrhunderten ausgemacht hat, werden wir gleich feststellen, dass Europa seine politisch-kulturelle Gestalt (seine geistige Figur, wie Husserl sagen würde) verändert hat. Manchmal geschah das auf radikale, revolutionäre Weise. 2007/2008 Saison
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