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Spieltriebe - Burgtheater

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<strong>Burgtheater</strong><br />

6<br />

Ich bin alle meine Figuren auf einmal<br />

Yasmina Reza im Gespräch über »Der Gott des Gemetzels«<br />

Sie ist die erfolgreichste Gegenwartsdramatikerin weltweit: Yasmina Reza. Mit ihren<br />

wenigen Stücken, darunter den beiden am <strong>Burgtheater</strong> aufgeführten »Kunst« und »Drei<br />

Mal Leben«, eroberte sie in kürzester Zeit die Bühnen und wurde in drei Dutzend Sprachen<br />

übersetzt. Sie ist eine Autorin, die aus der Praxis kommt, eine Schauspielerin, die<br />

um die Notwendigkeit funktionierender Dialoge weiß und um die Unabdingbarkeit von<br />

Psychologie und Atmosphäre, damit aus Figuren Menschen werden. Die österreichische<br />

Erstaufführung ihres jüngsten Stückes »Der Gott des Gemetzels«, in dem ein Nachmittag<br />

heillos aus den Fugen gerät, wird in der Inszenierung von Dieter Giesing im <strong>Burgtheater</strong><br />

zu sehen sein.<br />

Yasmina Reza, die nur selten Interviews gibt, sprach mit dem Nouvel Observateur über<br />

ihr kürzlich auch auf Deutsch erschienenes Buch über Nicolas Sarkozy »Frühmorgens,<br />

abends oder nachts« und ihr Stück »Der Gott des Gemetzels«.<br />

Haben Sie sich von dem Sturm erholt, den<br />

Ihr Buch über Nicolas Sarkozy im vergangenen<br />

August entfesselt hat?<br />

Es war wohl Naivität oder Arroganz meinerseits,<br />

dass ich dachte, das Buch würde<br />

nicht auf sein Thema reduziert. Aber<br />

das Thema ist stärker gewesen. Es hat die<br />

Oberhand gewonnen. Ich hatte geschrieben:<br />

»Ich glaube nicht, dass der Innenminister<br />

[Sarkozy war zu dieser Zeit Innenminister<br />

und noch nicht Präsident] stärker ist als<br />

ich.« Er war es nicht während des Schreibens,<br />

aber bei der Aufnahme des Buches<br />

durch die Medien. »Frühmorgens, abends<br />

oder nachts« befindet sich paradoxerweise<br />

in einer sehr zwiespältigen Situation. Das<br />

Buch hat einen enormen kommerziellen<br />

Erfolg, der aber leider auf einem Missverständnis<br />

beruht, weil das Buch aus einer<br />

sehr eingeschränkten Perspektive rezipiert<br />

wird. Dabei ist dieses Buch sehr persönlich,<br />

es offenbart intime Dinge durch den<br />

Versuch, wie Sie bemerkt haben werden,<br />

in der Hohlform seines Gegenstandes ein<br />

Selbstporträt zu entwerfen. Das ist auch<br />

der Grund, weswegen es mich ein wenig<br />

schmerzt, in diesem Zusammenhang karikiert<br />

oder als Mittelmaß eingestuft zu werden.<br />

Ich spreche erst gar nicht von all diesen<br />

Schnüfflern, die so weit gegangen sind, die<br />

Angehörigen des Präsidenten zu befragen,<br />

wie »sich das mit mir abgespielt hätte«. Ich<br />

habe wirklich viele Dummheiten und Unwahrheiten<br />

gelesen.<br />

Haben Sie Sarkozy seither gesehen?<br />

Nein. Wir haben uns ein einziges Mal am<br />

Telefon gesprochen, einen Monat nach dem<br />

Erscheinen des Buches. Ich glaube, er denkt<br />

– übrigens gerade aufgrund des Titels –, das<br />

Buch handle nicht wirklich von ihm. Ich<br />

sehe »Frühmorgens, abends oder nachts«<br />

als eine Art Kohlezeichnung, mit klaren Linien<br />

und unscharfen oder radierten Linien.<br />

Ich habe einen Mann im Aufstieg »gezeichnet«,<br />

während einer bestimmten<br />

Zeit – die zentrale Figur einer Gruppe<br />

von Männern, die ich seit langer Zeit beobachte<br />

und zu verstehen versuche. Es ist<br />

weder ein politisches Buch noch ein Buch,<br />

das auf die Konjunktur dieses bestimmten<br />

Politikers schielte.<br />

Selbst wenn die Politik nicht das Thema<br />

Ihres Stückes »Der Gott des Gemetzels«<br />

ist, illustriert sie perfekt dessen zentrales<br />

Thema: das zivilisierte Wesen ist nur ein<br />

Wilder, der sich beherrscht, und es genügt<br />

ein Nichts, damit die falsche Höflichkeit in<br />

die wahre Barbarei kippt.<br />

Ich glaube nicht, dass der Mensch friedliebend<br />

ist. Ich glaube, dazu haben wir uns seit<br />

der Steinzeit nicht entwickelt, und der Lack<br />

der Zivilisiertheit, der uns vor der Rohheit<br />

bewahrt, ist so beunruhigend dünn, dass er<br />

nur darauf wartet, jeden Moment zu platzen.<br />

Stecken Sie vier Leute in einen Lift, der<br />

eine Panne hat, und die werden verrückt.<br />

Es genügt der Ausbruch von Panik, und alle<br />

zertrampeln einander. Beobachten Sie Kinder<br />

in der Sandkiste, sie haben keine andere<br />

Wahl als sich gegenseitig zu schlagen, um<br />

irgendetwas, irgendein Ding zu behalten.<br />

Ich schreibe darüber, wie wir von unseren<br />

Nerven gesteuert werden. Alle Figuren, die<br />

ich bislang geschaffen habe, sind wohlerzogene<br />

Leute, die einander versprochen haben,<br />

sich gut zu benehmen. Aber sie sind<br />

zugleich so impulsiv, dass es ihnen nicht ge-<br />

lingt, den Kurs zu halten, den sie sich selbst<br />

vorgegeben haben. Sie entgleisen, gegen ihren<br />

Willen, um den sie selbst im Affekt noch<br />

wissen. Dieser Kampf gegen sich selbst ist<br />

genau der Punkt, der mich interessiert.<br />

Woher kam Ihnen die Idee für dieses<br />

Stück?<br />

Mein Sohn erzählte mir, als er zwölf war,<br />

die Geschichte eines seiner Freunde, dem<br />

ein Klassenkamerad mit einem Stock den<br />

Zahn ausgeschlagen hat. Nach der Schule<br />

traf ich auf die Mutter des Opfers und<br />

fragte sie, ob es ihrem Sohn schon besser<br />

ginge. Da antwortete sie: »Stellen Sie sich<br />

vor, wir haben den Eltern des Jungen, der<br />

unseren Sohn angegriffen hat, eine Nachricht<br />

auf dem Anrufbeantworter hinterlassen,<br />

und sie haben uns nicht einmal zurückgerufen!«<br />

Ich habe gespürt, dass das ein<br />

ideales Thema für mich ist.<br />

Es ist das beklemmende Porträt von Eltern,<br />

die – wie es Annette in dem Stück sagt –<br />

»absolut kindisch die Partei ihrer Kinder<br />

ergreifen.«<br />

Eltern von Schulkindern bilden zum Teil einen<br />

etwas terroristischen Menschenschlag.<br />

In den Elternversammlungen interessieren<br />

sich gewisse Eltern mit verblüffender Ernsthaftigkeit<br />

dafür, das Gemeinschaftsleben<br />

ihrer Kinder zu organisieren.<br />

Verkürzt gesagt: Ihre beiden Paare sind<br />

eher »links« und tragen ihre gute Gesinnung<br />

stets vor sich her.<br />

Ich habe meine Figuren niemals politisch<br />

eingeordnet, und ich bin nicht sicher, ob<br />

die gute Gesinnung das Vorrecht der Linken<br />

ist. Es ist insofern wahr, als die Linke es<br />

besser als die Rechte verstand, das Gute zu<br />

repräsentieren – ein Nachteil, den die Rechte<br />

niemals aufholen wird. In dem Stück stellen<br />

die vier Personen anfangs, ich würde sagen:<br />

den guten Willen zur Zivilisiertheit zur<br />

Schau. So wie ich es an ihrer Stelle auch tun<br />

würde. Ich schreibe nämlich nicht, um mit<br />

dem Finger auf andere zu zeigen, im Gegenteil,<br />

ich entziehe mich selbst auch nicht der<br />

Bewertung. Ich betrachte meine Figuren<br />

niemals aus der Warte des Moralisten oder<br />

2007/2008 Saison

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