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2007-1 - NaturFreunde Deutschlands

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ZEITSPRUNG<br />

Karl Renner (1870-1950)<br />

Naturfreund, Staatskanzler, Visionär und Europäer<br />

bDie erste Ausgabe der Zeitschrift „Der Naturfreund“<br />

druckte einen Beitrag von Karl Renner.<br />

Unter der Überschrift „Der Arbeiter als Naturfreund<br />

und Tourist“ beschrieb Renner im<br />

Januar 1898 die katastrophalen Lebensbedingungen<br />

der Arbeiterschaft: „Kein Fleckchen der<br />

Erde gehört uns. Das Haus in dem wir wohnen,<br />

die Werkstatt in der wir fronen, gehören anderen,<br />

die Fluren, durch die wir wandern, eignen<br />

nicht uns; der Baum, unter dem wir rasten, die<br />

Höhle, in die wir vor dem Unwetter fl üchten,<br />

der Wald, der mit harziger Luft unsere Lungen<br />

stärkt, Alles, alles, betrachtet uns als fremd. Wir<br />

sind Fremdlinge auf dieser Erde, wir haben keinen<br />

Teil an ihr.”<br />

Karl Renner hat sich nie mit dieser Situation<br />

abgefunden, sondern mit seinem sprühenden<br />

Geist immer nach Verbesserungen, nach Lösungen<br />

gesucht. Er war auch als Intellektueller<br />

immer ein Teil der Arbeiterklasse. Im Juni wird<br />

sich eine Tagung in Berlin mit Renners Leben befassen<br />

(s. Seite 27).<br />

Karl Renner hielt zuerst Vorträge über die Natur.<br />

Dann gründete er mit dem Sensenschmied<br />

Alois Rohrauer und dem Volksschullehrer Georg<br />

Schmiedl den Touristenverein „Die Naturfreunde”.<br />

Ihr Ziel: Die Arbeiter aus den Wirtshäusern zu holen<br />

und ihnen das freie und politische Denken<br />

1<br />

I Karl Renner (1) mit einer Ausfl ugsgruppe der Naturfreunde (ca. 1925).<br />

beizubringen. Außerdem sah Renner die Naturfreunde<br />

auch als eine Gegengründung zu den bürgerlichen<br />

Wander- und Bergsteigervereinen.<br />

Um eine demokratische Wirtschaftsordnung<br />

aufzubauen, strebte er die Verwirklichung des<br />

genossenschaftlichen Selbsthilfeprinzips an.<br />

Später gründete er für die Arbeiter die Genossenschaftsbewegung,<br />

der er 20 Jahre lang vorstand.<br />

Er half, die Arbeiterbank, die heutige Bank für<br />

Arbeit und Wirtschaft, zu errichten und engagierte<br />

sich auch in den Bereichen Wohnungsbau<br />

und Landwirtschaft. Außerdem hat er in Arbeiterbildungseinrichtungen<br />

den Arbeitern Wissen<br />

vermittelt.<br />

Im Oktober 1918 bot ihm Kaiser Karl I. das<br />

Amt des Ministerpräsidenten an, doch der große<br />

österreichische Vielvölkerstaat war dem Zusammenbruch<br />

geweiht. Renner strebte deshalb die<br />

Schaffung eines Staates Deutsch-Österreich als<br />

Teil einer Deutschen Republik an. Als Staatskanzler<br />

der ersten Republik Österreich leitete er<br />

die Delegation bei den Friedensverhandlungen<br />

in St. Germain, allerdings lehnten die Siegermächte<br />

fast alle seine Vorschläge ab. Übrig blieb<br />

ein kleines, neutrales Land Österreich. Die Zeit<br />

war noch nicht reif für die Visionen von einem<br />

friedlichen Europa.<br />

Ausdrücklich würdigte das Prager Abendblatt<br />

NATURFREUNDE AKTIV<br />

1928 Renner als einen „… Rufer in der Wüste,<br />

der Annäherung predigt und Brücken zu schlagen<br />

versucht, auch außenpolitisch weitesten<br />

Blick bekundet und hoffentlich nicht den Mut<br />

und die Geduld verlieren möge.“ Auch als Präsident<br />

des Österreichischen Nationalrats konnte<br />

er allerdings die kommende Entwicklung nicht<br />

verhindern. Auf den Austrofaschismus folgte der<br />

Nationalsozialismus. Österreich wurde 1938 an<br />

das Deutsche Reich angeschlossen. Bei der sehr<br />

kritischen Haltung Renners zum Nationalsozialismus<br />

und seinem sonstigen politischen Weitblick<br />

bleibt seine öffentliche Unterstützung des<br />

Anschlusses unverständlich.<br />

1945 wurde Dr. Karl Renner auf Weisung von<br />

Stalin zum ersten Bundeskanzler der zweiten Republik<br />

ernannt. Dem Verwaltungsfachmann Renner<br />

wurde schließlich im Dezember 1945 das Amt<br />

des Bundespräsidenten angeboten. Im selben<br />

Jahr wurde ihm auch eine Gedenkschrift zum 50jährigen<br />

Bestehen der Naturfreunde überreicht.<br />

Er antwortete mit einem Brief, aus dem die Begeisterung<br />

der Jugendjahre mitschwang: „Juhu!<br />

Hurrah! Bergfrei! Ich bin begeistert von der Festschrift.<br />

Welcher Wirbelsturm der Jugenderinnerungen!<br />

War das schön… Man wiegt sich in dem<br />

Traum, wieder jung zu sein. Berg frei den Mitgliedern<br />

des Vorstands. Berg frei allen Mitgliedern!<br />

Euer Staatskanzler Renner.“c<br />

BRUNO-KLAUS LAMPASIAK / DR. OLIVER KERSTEN<br />

LEBENSWEG<br />

Kurzbiographie<br />

Karl Renner<br />

Geboren 1870 im südmährischen Unter-<br />

Tannowitz in der damaligen Donaumonarchie<br />

(heute Tschechien) als 18. Kind einer<br />

verarmten Bauernfamilie. Aus eigener<br />

Kraft Besuch des Gymnasiums, Jurastudium.<br />

1895 Untermieter bei Alois Rohrauer<br />

in Wien, mit dem er später „Die Naturfreunde”<br />

gründet. Am 31. Oktober 1918<br />

wurde der Sozialdemokrat erster Staatskanzler<br />

Österreichs. Politisches Ziel ist<br />

die Schaffung einer Republik Deutsch-Österreich.<br />

Dozent, Schriftsteller, Jurist, Verfassungsrechtler,<br />

Wirtschaftspolitiker. 1931<br />

Präsident des Reichsrats, 1934 Verhaftung,<br />

1938 trotz Ablehnung des Hitlerregimes<br />

problematische Empfehlung für den Anschluss<br />

Österreichs an Deutschland. 1945<br />

zunächst Staatskanzler der zweiten Republik<br />

Österreich, anschließend Bundespräsident<br />

bis zu seinem Tod 1950. c<br />

1-<strong>2007</strong> NATURFREUNDiN SEITE 23

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