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Literatur<br />
36<br />
McGinnis Jr., Joe: The Delivery Man.<br />
Roman. Englisch. Atlantics Book.<br />
London 2008.<br />
ISBN 978 1 84354 731 0.<br />
In <strong>der</strong> Wüste gestrandet<br />
Joe McGinnis Jr.: The Delivery Man. Roman.<br />
■ <strong>Sie</strong> sind jung, sie sind schön, die Welt steht ihnen<br />
offen. Und doch scheinen sie aus unerfi ndlichen<br />
Gründen und entgegen aller guten Vorsätze ihre<br />
Heimatstadt Las Vegas nicht verlassen zu können.<br />
Allen voran Chase, Antiheld in McGinnis phantastischem<br />
Debütroman, auf welchen in San Francisco<br />
die schöne Julia wartet. Doch gerade weil er, potenzieller<br />
Kunstmaler, frustrierter High-School-Lehrer,<br />
allen Grund hat, <strong>der</strong> Wüstenstadt, die ihn immer<br />
weiter ins Ver<strong>der</strong>ben zieht, den Rücken zu kehren,<br />
will ihm das nicht gelingen. Die Angst, da draussen<br />
in <strong>der</strong> wirklichen Welt, wo das Leben nicht allein am<br />
Roulette-Tisch und in auswechselbaren Hotelsuiten<br />
stattfi ndet, wo einer wie Chase sich mit seinem Talent<br />
beweisen müsste, lähmt ihn und seine Freunde.<br />
Immer weiter wird er durch Michele, Busenfreundin<br />
seiner unter tragischen Umständen verstorbener<br />
Schwester Carly, und <strong>der</strong>en fl orierendem Massage-<br />
Service, vorwiegend bestehend aus High-School-<br />
Schülerinnen, nach unten gezogen. Beschleunigt<br />
wird sein Abstieg durch die üblichen Ingredienzien<br />
Sex, Drugs and Rock’n’Roll.<br />
Eine tätliche Auseinan<strong>der</strong>setzung mit einem<br />
Schüler kostet ihn nicht nur seinen Job an <strong>der</strong> Centennial<br />
High, son<strong>der</strong>n <strong>bei</strong>nahe auch seinen Kopf. Er,<br />
<strong>der</strong> delivery man, <strong>der</strong> die Mädchen in seinem Mustang<br />
zu ihren Dates bringt und in <strong>der</strong> kalten Wüstennacht<br />
im Wagen auf ihre Rückkehr wartet, wird zur<br />
Zielscheibe eines Gewaltakts, <strong>der</strong> in seiner Sinnlosigkeit<br />
seinesgeleichen sucht.<br />
Joe McGinnis Jr. ist ganz nah an seinen Charakteren<br />
und lässt zu, dass wir ihnen auch als Leser nahekommen,<br />
so nahe, dass sie uns am Ende das Herz<br />
zu brechen vermögen. Denn «The Delivery Man» ist<br />
eindeutig kein Roman mit einem Happy End, einer<br />
jedoch, dessen scharf gezeichnete Bil<strong>der</strong> uns noch<br />
lange begleiten. (sw)<br />
Sperr, Franziska: Das Revier <strong>der</strong> Amsel.<br />
Roman. Fahrenheit. München 2008.<br />
ISBN 978 3 940813 12 1.<br />
Neben <strong>der</strong> Spur<br />
Franziska Sperr: Das Revier <strong>der</strong> Amsel. Roman.<br />
■ Was wie ein Krimi beginnt, entpuppt sich als Familientragödie:<br />
Klara wird, nachdem sie das Baby<br />
ihres Stalking-Objekts, eines Mannes in <strong>der</strong> Öffentlichkeit,<br />
entführt hat, in die psychiatrische Klinik<br />
eingewiesen. Ihr dementer Vater, den sie nach dem<br />
Tod <strong>der</strong> Mutter jahrelang gepfl egt hat, ist im Heim<br />
untergebracht. Einzig die in Wien lebende Schwester<br />
Sonja scheint auf <strong>der</strong> Sonnenseite des Lebens<br />
zu stehen. Glücklich mit dem um Jahre jüngeren<br />
Schuhhändler Ivo verheiratet, ist sie mit ihm für einen<br />
einzigen Tag nach München gereist, um nicht<br />
nur das elterliche Haus zu verkaufen, son<strong>der</strong>n auch<br />
ihrer Schwester einen Geburtstagsbesuch abzustatten<br />
und ihren Vater zu besuchen. Ein dicht gedrängtes<br />
Programm, welches keine unvorhergesehenen<br />
Zwischenfälle zulässt. Doch gerade diese lassen<br />
sich nicht umgehen.<br />
In <strong>der</strong> Klinik versucht <strong>der</strong> junge Psychiater Dr.<br />
Schöpf in <strong>der</strong> Zwischenzeit hinter des Rätsels Lösung<br />
in Sachen Klara zu kommen.<br />
Franziska Sperr gelingt es mit <strong>der</strong> wechselnden<br />
Erzählperspektive zwischen den <strong>bei</strong>den Schwestern<br />
tatsächlich die Spannung eines Kriminalromans zu<br />
erzeugen. Atemlos warten wir auf die Enthüllung<br />
des grossen Geheimnisses, welches Klara entgleisen<br />
liess. Doch gerade in dieser Beziehung macht es<br />
sich die Autorin nicht einfach, im Bewusstsein, dass<br />
<strong>der</strong> Grat zwischen Normalität und Wahnsinn <strong>bei</strong> uns<br />
allen ein schmaler ist. Lediglich ein Tag im Leben<br />
von Klara und Sonja wird beschrieben, dennoch tun<br />
sich Abgründe in mehrere Jahrzehnte Familienhistorie<br />
auf. Der Pianisten-Vater und die Femme-fatale-<br />
Mutter scheinen das Ihrige zum Jetzt-Zustand von<br />
Klara <strong>bei</strong>zutragen. Auch <strong>der</strong> Nennonkel Bert, <strong>der</strong>,<br />
obwohl er eigentlich mit Klara zum Skilaufen fahren<br />
will, stets mit Sonja fährt, ist eine prägende Figur.<br />
Diesem intelligenten Debüt könnte einzig vorgeworfen<br />
werden, dass sein Ende so bar je<strong>der</strong> Hoffnung<br />
ist. (sw)<br />
www.artensuite.ch<br />
Die Schweizerreise. Erzählungen aus<br />
den Kantonen, hrsg. von Dirk Vaihinger.<br />
Nagel & Kimche. München 2008.<br />
ISBN 978 3 312 00421 8.<br />
Die positive Seite des Kantönligeists<br />
Die Schweizerreise. Erzählungen aus den Kantonen,<br />
hrsg. von Dirk Vaihinger.<br />
■ «Der Kanton ist in Bezug auf die Nation jene<br />
gemeinsame Grösse, die, konkret genug, um das<br />
Lebensgefühl auszudrücken, und abstrakt genug,<br />
um den politischen und geographischen Überblick<br />
zu sichern, mit <strong>der</strong> Identität des einzelnen vital verknüpft<br />
ist.» So schreibt Dirk Vaihinger, Herausgeber<br />
einer literarischen Reise durch die schweizerischen<br />
Kantone anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des<br />
Verlags Nagel & Kimche. Und 25, zumeist essayistische,<br />
Erzählungen von durchwegs namhaften Autoren<br />
sind es auch, die Vaihinger in <strong>der</strong> vorliegenden<br />
Anthologie versammelt hat. Der bevölkerungsreichste<br />
Kanton Zürich sowie <strong>der</strong> zweisprachige<br />
Kanton Graubünden sind jeweils mit zwei Beiträgen<br />
vertreten.<br />
Nicht alle <strong>der</strong> Erzählungen spielen in den Heimatkantonen<br />
<strong>der</strong> Autoren und nicht alle Autoren<br />
sind, aufgrund ihrer regen Mobilität, mit ihrem Heimatkanton<br />
vertreten. Manche <strong>der</strong> Erzählungen, wie<br />
etwa <strong>der</strong> Schwyzer Beitrag von Gertrud Leutenegger<br />
«Eine Million Rosen aus Odessa», sind, wie <strong>der</strong><br />
Name bereits andeutet, sogar an einem ganz und<br />
gar unschweizerischen Ort angesiedelt.<br />
Ein Grossteil <strong>der</strong> Erzählungen ist auch nicht<br />
eigens für «Die Schweizerreise» entstanden. Und<br />
dennoch vermittelt die Auswahl ebendieser Autoren<br />
mit ebendiesen Geschichten, welche alle in den<br />
letzten fünfundzwanzig Jahren entstanden sind,<br />
einen guten Eindruck in das literarische Schaffen<br />
<strong>der</strong> Schweiz. Dieses zeichnet sich unter an<strong>der</strong>em<br />
gerade dadurch aus, das es die Vielfalt <strong>der</strong> Schweiz<br />
in seiner Vielfältigkeit wie<strong>der</strong>spiegelt. So reisen wir<br />
mit diesem Buch von A wie Aarau nach Z wie Zürich<br />
und nehmen es im hoffentlich goldenen Herbst<br />
vielleicht sogar zum Anlass zu einer tatsächlichen<br />
Reise durch die Schweiz. (sw)<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08