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KULTUR & GESELLSCHAFT<br />
umstadtläufer<br />
Von Andy Limacher (Text) und Raphael Hünerfauth (Bil<strong>der</strong>)<br />
Nr. 46 // Vierte Etappe. Ausgangspunkt dieser<br />
vierten Etappe unserer Grenzwan<strong>der</strong>ung ist <strong>der</strong><br />
Israelitische Friedhof. Ein friedlicher kleiner Ort,<br />
wenn man bedenkt, dass er direkt neben dem Autobahnkreuz<br />
und unweit des Wankdorfplatzes liegt,<br />
wo die Bauar<strong>bei</strong>ten zum neuen doppelstöckigen<br />
Kreisel bereits begonnen haben. Die alten, mit Moos<br />
überwachsenen Grabsteine und das ungemähte<br />
Gras erinnern mich an Friedhöfe im hohen Norden –<br />
<strong>der</strong> Lärm <strong>der</strong> Motoren hingegen nicht.<br />
Gegen Mittag machen wir uns auf den Weg. Nach<br />
einem knappen Kilometer entlang <strong>der</strong> Worblaufenstrasse<br />
knickt die Stadtgrenze nach Südwesten ab.<br />
Wir schlagen uns durchs Unterholz, stapfen über<br />
die feuchte Wiese und stehen schliesslich vor einer<br />
steilen, mit Dornen überwucherten Böschung. Der<br />
Uferweg liegt nur wenige Höhenmeter unter uns,<br />
aber wir wollen nichts riskieren. Ein paar Schritte<br />
weiter, <strong>bei</strong>m Schmiedeweg, führt sowieso eine Treppe<br />
zur Aare runter.<br />
Wir passieren das Hammerwerk, das Clubhaus<br />
des Ponto<strong>nie</strong>r-Fahrvereins und verweilen für einen<br />
Moment <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Slalomanlage des Paddelclubs unter<br />
<strong>der</strong> Tiefenaubrücke. Die Gegend ist wie ausgestorben.<br />
Die Menschen, so scheint es, verkriechen<br />
sich <strong>bei</strong> den ersten Anzeichen des Herbstes in ihren<br />
Wohnungen. Wir sind uns sicher, dass wir uns auf<br />
dem ruhigsten Abschnitt unserer Stadtumwan<strong>der</strong>ung<br />
befi nden: Für die nächsten zwölf Kilometer<br />
verläuft die Stadtgrenze mitten in <strong>der</strong> Aare.<br />
Ursprünglich hatten wir geplant, diesen Streckenabschnitt<br />
mit dem Gummiboot zu bewältigen, aber <strong>der</strong><br />
Wasserstand, die damit verbundene hohe Fliessgeschwindigkeit<br />
und <strong>der</strong> Temperatursturz haben uns<br />
davon abgehalten. Als Alternative werden wir dem<br />
Uferweg folgen und ab und zu die Seite wechseln.<br />
Wir nehmen uns Zeit für den Baumlehrpfad, <strong>der</strong><br />
kurz nach <strong>der</strong> Ara Worblaufen beginnt. Ich notiere<br />
mir Trauerweide, Platane, Spitzahorn, Feldahorn<br />
und Akazie. Die Sonne kommt und geht, <strong>der</strong> Wind<br />
frischt auf, einige Exemplare verlieren bereits ihre<br />
Blätter. Wir schwelgen in Kindheitserinnerungen<br />
und erzählen uns, wie gern wir als Kin<strong>der</strong> das Laub<br />
am Wegrand zum Rascheln gebracht haben. Und<br />
wie sehr sich die Erwachsenen darüber ärgerten,<br />
wenn wir in Laubhaufen spielten, die sie mühsam<br />
zusammengetragen hatten. Dann hängen wir für<br />
eine Weile unseren Gedanken nach. Wir begegnen<br />
kaum jemandem: Einem älteren Fischer hier, einer<br />
jungen Studentin da; sie ist in ihr Buch vertieft.<br />
Das äussere Ufer <strong>der</strong> Engehalbinsel teilen sich<br />
die Gemeinden Ittigen, Zollikofen und Bremgarten;<br />
die Halbinsel selbst ist auf Berner Boden. Dass wir<br />
uns in Zollikofen befi nden, realisieren wir erst kurz<br />
vor <strong>der</strong> Reichenbach-Fähre: Ein Schild weist uns<br />
auf den ortsansässigen Angelfi scherverein hin. Auf<br />
dem Baumlehrpfad haben wir unmerklich die Gemeinde<br />
gewechselt.<br />
Auf <strong>der</strong> leeren Gartenterrasse des Restaurants<br />
Schloss studiere ich die Speisekarte und male mir<br />
aus, was ich bestellen würde: Einen Nüsslersalat<br />
mit Ei und eine Bauernbratwurst mit Zwiebelsauce<br />
und Rösti für insgesamt 30 Franken (mit Trinkgeld).<br />
Lei<strong>der</strong> ist die Beiz montags geschlossen. Auch die<br />
Fährfrau hat zum Wochenbeginn Ruhetag. Raphi<br />
schiesst ein paar Fotos vom Schloss, während ich<br />
mir vorstelle, von einem <strong>der</strong> grossen Fenster zum<br />
Reichenbachwald rüberzublicken.<br />
Eine halbe Stunde später lassen wir uns von <strong>der</strong><br />
Fähre <strong>bei</strong>m Zehn<strong>der</strong>mätteli zum an<strong>der</strong>en Ufer übersetzen.<br />
Wir setzen uns auf einen Holzbank im Garten<br />
des Restaurants und ge<strong>nie</strong>ssen ein Stück Zwetsch-<br />
Magazin<br />
genkuchen und Tee unter den Bäumen. Wir sind die<br />
einzigen Gäste und schätzen die Exklusivität, die<br />
uns zu Teil wird: Während <strong>der</strong> Hauptsaison ist es<br />
für gewöhnlich schwierig, einen Platz zu fi nden. Wir<br />
gehen eine Weile zwischen den Gewächshäusern<br />
umher, schauen uns die Hängebauchschweine und<br />
Sandsteinfelsen an und versäumen viel zu viel Zeit.<br />
Aber dafür ist <strong>der</strong> Herbst ja schliesslich bestens geeignet:<br />
Um sich Dinge vorzunehmen und sie dann<br />
wie<strong>der</strong> zu verschieben.<br />
Irgendwie gewinne ich den Eindruck, dass diese<br />
Etappe unserer Stadtumwan<strong>der</strong>ung nur aus Pausen<br />
besteht, aber was gibt es Schöneres, als die Landschaft<br />
im Herbstlicht zu betrachten? Wir tun dies<br />
für heute zum letzten Mal unterhalb des Rossfelds<br />
und blicken zur kleinen Kirche auf Bremgartener<br />
Boden hinüber. Wir ritzen unsere Namen in einen<br />
grossen Sandsteinblock, wie es schon viele vor<br />
uns getan haben. Wenig später erreichen wir unser<br />
Etappenziel: Die Felsenaubrücke, die Bern mit<br />
Bremgarten verbindet.<br />
Die Sonne geht bereits unter und lässt die Aare<br />
glitzern – sie wird uns auf unserer Reise noch für<br />
eine Weile begleiten.<br />
Mehr Fotos <strong>der</strong> Expedition unter:<br />
www.tink.ch/bernaround<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 70 | Oktober 08 39