Formale oder materiale Topik? - KOPS - Universität Konstanz
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<strong>Formale</strong> <strong>oder</strong> <strong>materiale</strong> <strong>Topik</strong>?<br />
Kontroversen und Perspektiven der neueren<br />
literaturwissenschaftlichen <strong>Topik</strong>-Forschung<br />
Magisterarbeit<br />
von<br />
Ralf Boscher
Magisterarbeit<br />
von<br />
Ralf Boscher<br />
Hindenburgstraße 18<br />
78467 <strong>Konstanz</strong><br />
Matr.-Nr.: 01/387606<br />
<strong>Formale</strong> <strong>oder</strong> <strong>materiale</strong> <strong>Topik</strong>?<br />
Kontroversen und Perspektiven der neueren<br />
literaturwissenschaftlichen <strong>Topik</strong>-Forschung<br />
vorgelegt im März 1999<br />
an der <strong>Universität</strong> <strong>Konstanz</strong><br />
Philosophische Fakultät<br />
Fachgruppe Literaturwissenschaft<br />
Prüferin: Frau Prof. Dr. Almut Todorow<br />
Prüfer: Herr Prof. Dr. Gerhart von Graevenitz
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorbemerkung S. 3<br />
Einleitung ›Curtius und die Folgen!?‹ S. 5<br />
Erstes Kapitel ›Die ‘formale <strong>Topik</strong>’‹ S. 17<br />
Ein Ausgangspunkt für eine Aktualisierung der <strong>Topik</strong> S. 17<br />
Merkmale der <strong>Topik</strong> aus der Perspektive der ‘formalen <strong>Topik</strong>’ S. 19<br />
Aktualisierung der <strong>Topik</strong> als Instrument der Interpretation S. 31<br />
Zweites Kapitel ›Die ‘<strong>materiale</strong> <strong>Topik</strong>’‹ S. 36<br />
Materiale <strong>Topik</strong>! S. 36<br />
Materiale <strong>Topik</strong>? S. 38<br />
Die Unschärfe von Ciceros <strong>Topik</strong>-Auffassung S. 42<br />
Die Unschärfe des aristotelischen <strong>Topik</strong>- bzw. Topos-Begriffes S. 45<br />
Aktualisierung eines allgemeinen <strong>Topik</strong>- bzw. Topos-Begriffs S. 54<br />
Schluß ›Der Streit um einen angemessenen <strong>Topik</strong>-Begriff‹ S. 62<br />
Literaturverzeichnis S. 76
Vorbemerkung<br />
Das Thema meiner Abhandlung ist die neuere literaturwissenschaftliche <strong>Topik</strong>-<br />
Forschung. Gegenstand von <strong>Topik</strong>-Forschung ist - wie der Name schon sagt - <strong>Topik</strong>,<br />
wobei unter <strong>Topik</strong> ein Zusammenhang verstanden wird, der Einzelelemente umfaßt, die<br />
Topoi genannt werden. Diese Topoi (der Plural des altgriechischen Wortes Topos, wel-<br />
ches Ort, Stelle, Rang bedeutet) gaben der <strong>Topik</strong> ihren Namen.<br />
Wie Uwe Hebekus in einer Einführung für Literaturwissenschaftler neueren Datums<br />
schreibt, sei <strong>Topik</strong> „gegenwärtig sicherlich kein Leitbegriff, den eine der diversen litera-<br />
turtheoretischen Richtungen sich auf ihre Fahnen geschrieben hätte“ 1 . Gleichwohl merkt<br />
Conrad Wiedemann in einer Veröffentlichung des Jahres 1981 mit kritischem Unterton<br />
an, daß <strong>Topik</strong> in den sechziger und siebziger Jahren „[...] zu einem Modebegriff gewor-<br />
den [sei]. Die Neigung, sich seiner vertrauensvoll zu bedienen, [...gehe] quer durch die<br />
Fächer der Geistes-, Geschichts- und Sozialwissenschaften“ 2 .<br />
Wiedemann bemängelt hier vor allem die Vagheit, mit der die Begrifflichkeit <strong>Topik</strong><br />
verwendet werde. Damit aber ist nun auch das engere Thema meiner Arbeit angespro-<br />
chen: denn, was genau unter <strong>Topik</strong> und Topoi zu verstehen ist, ist bis in die jüngste Zeit<br />
umstritten. Dies ist vielleicht auch der Grund dafür, daß <strong>Topik</strong> - wie Hebekus schreibt -<br />
nicht zu einem Begriff mit zentraler Bedeutung für die Literaturwissenschaft geworden<br />
ist, obwohl wesentliche Ansätze - wie wir sehen werden - gerade die zentrale Bedeutung<br />
der <strong>Topik</strong> für die Literaturwissenschaft betonen.<br />
Dieser Streit wird jedoch nicht nur innerhalb der literaturwissenschaftlichen <strong>Topik</strong>-<br />
Forschung geführt. Vielmehr reiche der „[...] historische und interdisziplinäre Umkreis<br />
der <strong>Topik</strong>-Forschung [...- wie Lothar Bornscheuer schreibt -] seit geraumer Zeit weit<br />
über den der ›europäischen Literatur und des lateinischen Mittelalters‹ hinaus, in dem sie<br />
Ernst Robert Curtius vor einem halben Jahrhundert (seit 1938) ins Leben gerufen hatte:<br />
nämlich sowohl über das Mittelalter als auch über die lateinische Literatur und nicht zu-<br />
letzt über den Disziplinenkreis der Literaturwissenschaften“ 3 .<br />
1 Hebekus, Uwe: <strong>Topik</strong>/Inventio, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hrsg. von Miltos Pechlivanos/Stefan<br />
Rieger/Wolfgang Struck/Michael Weitz, Stuttgart/Weimar 1995, 82–96, hier: S. 82.<br />
2 Wiedemann, Conrad: <strong>Topik</strong> als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Toposkatalogen,<br />
in: <strong>Topik</strong>. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, hrsg. von Dieter Breuer/Helmut Schanze,<br />
München 1981, 233–255, hier: S. 235.<br />
3 Bornscheuer, Lothar: Neue Dimensionen und Desiderata der <strong>Topik</strong>-Forschung, in: Mittellateinisches<br />
Jahrbuch, Bd. 22 (1987), hrsg. von Karl Langosch/Fritz Wagner, Stuttgart 1989, 2-27, hier: S. 2.<br />
3
Diese Entwicklung manifestierte sich z.B. in der 1978 in Aachen veranstalteten in-<br />
terdisziplinären <strong>Topik</strong>-Tagung. Wenn man die veröffentlichen Beiträge 4 dieser Tagung<br />
ver-folgt, so zeigt sich, daß der Streit um ein angemessenes Verständnis der <strong>Topik</strong> nicht<br />
nur in den einzelnen Disziplinen, sondern auch interdisziplinär geführt wird. Und es er-<br />
scheint mir eher unwahrscheinlich, daß dieser Streit auf der neuerlichen - auch interdis-<br />
ziplinär orientierten - Tagung zu ‘Rhetorik und <strong>Topik</strong>’, die vom 9. bis 12. Oktober 1997<br />
in Blaubeuren stattfand, beigelegt worden ist. Das Zustandekommen dieser Tagung zeigt<br />
aber auch, daß <strong>Topik</strong> nicht einfach nur ein ‘Modebegriff’ war, sondern daß <strong>Topik</strong> immer<br />
noch ein Thema ist, welchem Bedeutung für die aktuelle Diskussion in den verschiede-<br />
nen Wissenschaften zugesprochen wird 5 .<br />
Da meine Arbeit aber aus dem Interesse eines Literaturwissenschaftlers entstand, be-<br />
schränkt sie sich auf einen verglichen mit dem Gesamtkomplex <strong>Topik</strong> relativ kleinen<br />
Bereich 6 . Diese Beschränkung gilt sowohl für die diachrone als auch für die synchrone<br />
Perspektive: die mehr als zweitausendjährige Geschichte der <strong>Topik</strong> kommt so nur teils-<br />
weise und vor allem aus der Perspektive literaturwissenschaftlicher Forschungsbeiträge<br />
in den Blick. Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit <strong>Topik</strong> und To-<br />
poi werden dann vor allem zwei Ansätze untersucht, die auf unterschiedliche Weise die<br />
Bedeutung der <strong>Topik</strong> für die Literaturwissenschaft hervorgehoben haben.<br />
Zunächst aber möchte ich in einem einführenden Kapitel den Streit um einen ange-<br />
messenen Begriffsgebrauch innerhalb der Literaturwissenschaft Revue passieren lassen,<br />
um dann - ausgehend von dem Kernpunkt dieses Streites - im weiteren Verlauf meiner<br />
Arbeit die Bedeutung der <strong>Topik</strong> für die Literaturwissenschaft, die sich gerade auch an<br />
diesem Kernpunkt ablesen läßt, herauszustellen.<br />
4<br />
vgl. Breuer, Dieter/Schanze, Helmut (Hrsg.): <strong>Topik</strong>. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, München<br />
1981.<br />
5<br />
Die Tagungsbeiträge in Blaubeuren waren in folgende Sektionen unterteilt: „<strong>Topik</strong> in der Antike“, „<strong>Topik</strong><br />
in der Literatur und anderen Künsten der Spätantike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit“, „<strong>Topik</strong> in<br />
der Literatur und anderen Künsten der Neuzeit“, „<strong>Topik</strong> in der Philosophie und in der Rechtswissenschaft“,<br />
„Argumentations- und kommunikationstheoretische <strong>Topik</strong>forschung“. Bislang ist ein zusammenfassender<br />
Tagungsband noch nicht erschienen. Die hier wiedergegebenen Informationen habe ich dem -<br />
mir freundlicherweise von Frau Prof. Dr. Todorow überlassenen - Tagungsprogramm entnommen.<br />
6<br />
einen Überblick über die Geschichte der <strong>Topik</strong> - und das interdisziplinäre Interesse an ihr - gibt etwa:<br />
Bornscheuer, Lothar: <strong>Topik</strong>, in: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, Bd. IV, hrsg. von Klaus<br />
Kanzog/Achim Masser, Berlin/New York 1984, 2. Auflage, 454–475; <strong>oder</strong> auch: Sprute, Jürgen: Die<br />
Enthymemtheorie der aristotelischen Rhetorik, Göttingen 1982, 9–31 (Einleitung).<br />
4
Einleitung<br />
Curtius und die Folgen!?<br />
Wie Dieter Breuer und Helmut Schanze in der Einführung zur Veröffentlichung der Bei-<br />
träge der Aachener <strong>Topik</strong>-Tagung ausführen, zeige schon „eine vorläufige und eigentlich<br />
nur sichtende Kenntnisnahme der Forschungsbeiträge zum Thema ›<strong>Topik</strong>‹ [...], daß die<br />
Einheit eines Themas <strong>Topik</strong> keineswegs vorauszusetzen“ 1 sei. Über die Beantwortung<br />
der Frage, was unter <strong>Topik</strong> <strong>oder</strong> unter einem Topos zu verstehen ist, „[...] scheint Einig-<br />
keit nicht zu bestehen, vielmehr der Satz von den vielen Köpfen und vielen Meinungen<br />
zu gelten“ 2 .<br />
Ein Umstand, dessen Auswirkungen Josef Kopperschmidt wie folgt charakterisiert:<br />
„Wer sich mit <strong>Topik</strong> befaßt, gerät leicht in die Gefahr, sich im begriffsgeschichtlichen<br />
Gestrüpp zu verfangen [...]“ 3 .<br />
Daß dies ein Ärgernis darstellt, welches überwunden werden muß, bestimmt den<br />
Habitus vieler Beiträge zur <strong>Topik</strong>-Forschung - seit Ernst Robert Curtius 4 den Anstoß zu<br />
einer neuerlichen Beschäftigung mit <strong>Topik</strong> und Topos gegeben hatte. Man könnte sogar<br />
sagen, daß die Suche nach einem eindeutigen (und konsensfähigen) Begriff von <strong>Topik</strong><br />
und Topos geradezu kennzeichnend für die m<strong>oder</strong>ne <strong>Topik</strong>-Forschung ist: „Die gesamte<br />
auf Curtius folgende Toposforschung erscheint zu einem gewichtigen Teil als hartnäckig<br />
geführte Diskussion um eine eindeutige und klare Definition des Topos“ 5 .<br />
Eine Suche, die ihren Anfang nahm, als Curtius sich in den dreißiger und vierziger<br />
Jahren „[...] in obstinanter Polemik [...] gegen eine geistesgeschichtlich bodenlos speku-<br />
lierende Literaturwissenschaft wandte“ 6 und sein Konzept der ‘historischen <strong>Topik</strong>’ sowie<br />
1<br />
Breuer, Dieter/Schanze, Helmut: <strong>Topik</strong>. Ein interdisziplinäres Problem, in: <strong>Topik</strong>. Beiträge zur interdisziplinären<br />
Diskussion, hrsg. von Dieter Breuer/Helmut Schanze, München 1981, 9–13, hier: S. 9.<br />
(nachfolgend zit. als: Breuer/Schanze, <strong>Topik</strong>. Ein interdisziplinäres Problem)<br />
2<br />
ebd.<br />
3<br />
Kopperschmidt, Josef: <strong>Formale</strong> <strong>Topik</strong>. Anmerkungen zur ihrer heuristischen Funktionalisierung innerhalb<br />
einer Argumentationsanalytik, in: Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als<br />
Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“ (=Rhetorik-Forschungen Bd. 1), hrsg. von Gert<br />
Ueding, Tübingen 1991, 53–62, hier: S. 53. (nachfolgend zit. als: Kopperschmidt, <strong>Formale</strong> <strong>Topik</strong>)<br />
4<br />
vgl. vor allem: Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/Mün-chen<br />
1984, 10. Auflage (zuerst Bern 1948). (nachfolgend zit. als: Curtius, Europäische Literatur)<br />
5<br />
Baeumer, Max L.: Vorwort, in: Toposforschung, hrsg. von Max L. Baeumer, Darmstadt 1973, VII–XVII,<br />
hier: S. X. (nachfolgend zit. als: Baeumer, Vorwort)<br />
6<br />
Jehn, Peter: Ernst Robert Curtius. Toposforschung als Restauration (statt eines Vorwortes), in: Toposforschung.<br />
Eine Dokumentation, hrsg. von Peter Jehn, Frankfurt 1972, VII–LXIV, hier: S. VIII.<br />
(nachfolgend zit. als: Jehn, Toposforschung als Restauration)<br />
5
seine Begrifflichkeit von <strong>Topik</strong> und Topos mit dem Anspruch entwickelte, es den exak-<br />
ten Wissenschaften gleichzutun 7 . Wenn Curtius also kritisierte, daß die m<strong>oder</strong>ne Litera-<br />
turwissenschaft es bis dahin versäumt hätte, „den Grund zu legen, auf dem alleine sie ein<br />
haltbares Gebäude errichten könnte: eine Geschichte der literarischen Terminologie“ 8 ,<br />
dann sollte man davon ausgehen, daß er selbst Termini nicht grundlos verwendet hat, er<br />
also seine Begrifflichkeit von ‘<strong>Topik</strong>’ und ‘Topos’ als philologisch gesichert und damit -<br />
seinem eigenen Anspruch nach - als exakt und verifizierbar angesehen hat.<br />
Die schon bald einsetzende Kritik an der Curtius’schen Fassung von <strong>Topik</strong> und Topos<br />
gab nun der m<strong>oder</strong>nen <strong>Topik</strong>-Forschung ihre eigentümliche Dynamik und Prägung: Cur-<br />
tius’ eigener Anspruch der philologischen Exaktheit wurde und wird gegen seine Auffas-<br />
sung von <strong>Topik</strong> und Topos ins Feld geführt, die historische <strong>Topik</strong> gegen Curtius’ Metho-<br />
de der ‘historischen <strong>Topik</strong>’ und seine Bestimmung von <strong>Topik</strong> und Topos ausgespielt.<br />
Letztere hätten - so etwa Mertner - „mit der zweitausendjährigen Bedeutungsgeschichte<br />
des Begriffs schlechterdings nichts mehr zu tun“ 9 .<br />
Ein apodiktisches Urteil, das - wie auch andere kritische Einsprüche - der allgemeinen<br />
Wirkung der Curtius’schen Bestimmung von <strong>Topik</strong> und Topos allerdings keinen Ab-<br />
bruch getan hat, was ‘<strong>Topik</strong>-Forschende’ immer wieder zu emotionalen Ausbrüchen<br />
verleitete. Dazu einige Beispiele: für Walter Veit ist damit „[...] das Dilemma offensicht-<br />
lich geworden. Der [Curtius’sche] Begriff Topos [...habe] einerseits [...] keine Berechti-<br />
gung, andererseits [...sei] er in der Literaturwissenschaft heimisch geworden [...] und<br />
[...werde] in anderen Disziplinen mehr und mehr aufgegriffen“ 10 . Ludwig Fischer kriti-<br />
7 vgl. Curtius, Europäische Literatur, S. 9 (Vorwort zur zweiten Auflage): “Um meine Leser zu überzeugen,<br />
mußte ich die wissenschaftliche Technik anwenden, die das Fundament aller Geschichtsforschung ist: die<br />
Philologie. Sie bedeutet für die Geisteswissenschaften dasselbe wie die Mathematik für die Naturwissenschaften.<br />
[...] Sie ist die Magd der historischen Wissenschaften. Ich habe versucht, sie mit derselben Präzision<br />
und Stringenz zu handhaben wie die Naturwissenschaften ihre Methoden handhabt. Die Geometrie<br />
demonstriert an Figuren, die Philologie an Texten. Die Mathematik darf sich mit Recht ihrer Exaktheit<br />
rühmen. Aber auch die Philologie ist der Strenge fähig. Sie muß Ergebnisse liefern, die verifizierbar sind“.<br />
8 Curtius, Europäische Literatur, S. 155.<br />
9 Mertner, Edgar: Topos und Commonplace, in: Strena Anglica. Otto Ritter zum 80. Geburtstag am 9. Januar<br />
1956, hrsg. von Gerhard Dietrich/Fritz W. Schulze, Halle 1956, 178–224, hier: S. 185. (nachfolgend<br />
zit. als: Mertner, Topos und Commonplace)<br />
Einer - so Jehn, Toposforschung als Restauration, S. VIII - „zu wenig berücksichtigten“ - und nach<br />
Pöggeler - „zu wenig beachteten“ Arbeit (Pöggeler, Otto: Dialektik und <strong>Topik</strong>, in: Hermeneutik und Dialektik.<br />
Aufsätze II [Sprache und Logik. Theorie der Auslegung und Probleme der Einzelwissenschaften].<br />
Hans-Georg Gadamer zum 70. Geburtstag, hrsg. von Rüdiger Bubner/Konrad Cramer/Reiner Wiehl, Tübingen<br />
1970, 273–310, hier: S. 293).<br />
10 Veit, Walter: Toposforschung. Ein Forschungsbericht, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft<br />
und Geistesgeschichte 37 (1963), hrsg. von Richard Brinkmann/Hugo Kuhn, Stuttgart, 120–<br />
163, hier: S. 146. (nachfolgend zit. als: Veit, Toposforschung)<br />
6
siert, daß „Arbeiten in Curtius’ Nachfolge [...] den Wechselbalg [von Curtius’ Konzepti-<br />
on], ihn ihrerseits weiter verunstaltend, ohne Zögern [...aufnehmen würden]“ 11 . Und ob-<br />
wohl Peter Jehn wünschte, dazu beizutragen, „[...] das Kapitel ›Topos-Begriff bei Curti-<br />
us‹ allmählich zu den Akten [...] zu legen“ 12 , war der Wirkungsgeschichte von Curtius’<br />
Konzeption auch mit dieser Zusammenstellung der gegen sie sprechenden Argumente<br />
kein Ende gesetzt, so daß etwa Conrad Wiedemann 1981 der - seiner Auffassung nach -<br />
„falsche[n] <strong>Topik</strong>“ 13 von Curtius zugestehen mußte, daß sie „nicht nur in der Literatur-<br />
wissenschaft vorherrschend geblieben [wäre], sondern [...] sich auch in den Nachbarwis-<br />
senschaften durchgesetzt“ 14 hätte:<br />
„<strong>Topik</strong> ist in den vergangenen zwanzig Jahren bekanntlich zu einem Modebegriff geworden.<br />
Die Neigung, sich seiner vertrauensvoll zu bedienen, geht quer durch die Fächer der Geistes-,<br />
Geschichts- und Sozialwissenschaften. Weniger gut steht es hingegen um eine konsensfähige<br />
Definition. Hier gibt es viel Ungenauigkeit, Naivität und Widersinn, aber auch objektive<br />
Schwierigkeiten, denn im Grunde kursieren zwei Auffassungen von <strong>Topik</strong>, eine theoriegeschichtlich<br />
angemessene und eine theoriegeschichtlich unangemessene, wobei es aparterweise<br />
die zweite ist, die sich wissenschaftlich durchgesetzt hat, während die andere als die begrifflich<br />
genauere und substantiellere entweder ganz unbekannt ist <strong>oder</strong> als besserwisserischer<br />
Einspruch empfunden <strong>oder</strong> nur als epistemologische Antiquität wahrgenommen wird. Schuld<br />
an dieser paradoxen Situation ist bekanntlich die philologische Autorität von E.R. Curtius,<br />
dem Vater des aktuellen Toposbegriffs, und die schier grenzenlose Assoziierbarkeit seiner<br />
irrtümlichen Neudefinition“ 15 .<br />
Curtius Verständnis der Topoi habe sogar - wie Wiedemann bedauernd konstatiert -<br />
„beste Chancen, in die gehobene Umgangssprache einzudringen“ 16 . Und angesichts der<br />
mittlerweile erschienenen 11. Auflage (1993) von ‘Europäische Literatur und lateinisches<br />
Mittelalter’ ist es leicht nachvollziehbar, wenn Stefan Goldmann schreibt, daß dieses<br />
Buch „noch immer das Standardwerk der Toposforschung und ein Klassiker der Litera-<br />
turwissenschaft“ 17 sei, und er von einer „uns Nachgeborenen tief eingeprägte[n] Assozia-<br />
11<br />
Fischer, Ludwig: <strong>Topik</strong>, in: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft. Band 1: Literaturwissenschaft,<br />
hrsg. von Heinz Ludwig Arnold/Volker Sinemus, München 1973, 157–164, hier: S. 158.<br />
(nachfolgend zit. als: Fischer, <strong>Topik</strong>)<br />
12<br />
Jehn, Toposforschung als Restauration, S. LV.<br />
13<br />
Wiedemann, Conrad: <strong>Topik</strong> als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Toposkatalogen,<br />
in: <strong>Topik</strong>. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, hrsg. von Dieter Breuer/Helmut Schanze,<br />
München 1981, 233–255, hier: S. 233. (nachfolgend zit. als: Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule)<br />
14<br />
ebd., S. 236.<br />
15<br />
ebd., S. 235.<br />
16<br />
ebd., S. 236.<br />
17<br />
Goldmann, Stefan: Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius, in: Euphorion. Zeitschrift<br />
für Literaturgeschichte 90. Band (1996), hrsg. von Wolfgang Adam, Heidelberg, 134–149, hier: S. 134.<br />
7
tion von ›Topos‹ und dessen engagierten, populären Verfechter Curtius“ 18 spricht. Eine<br />
Einschätzung, die man mit Blick auf ein Standardwerk der Literaturwissenschaft, Hans-<br />
jürgen Blinns ‘Informationshandbuch Deutsche Literaturwissenschaft’, wird teilen müs-<br />
sen. Denn Blinn verzeichnet sowohl in der 1. Auflage aus dem Jahr 1982 19 als auch in der<br />
1994 erschienenen dritten, neu bearbeiteten und erweiterten Auflage 20 unter dem Stich-<br />
wort ‘Toposforschung’ nur einen einzigen Beitrag: Curtius’ Buch ‘Europäische Literatur<br />
und lateinisches Mittelalter’, das zudem in der 3. Auflage noch mit dem Zusatz<br />
„›Geisteswissenschaftlicher Klassiker‹“ 21 bezeichnet wird.<br />
Dabei „hätte es durchaus nicht zu dieser Fehlentwicklung kommen müssen“ 22 , meint<br />
Wiedemann und führt eine ganze Reihe von Wissenschaftlern an, die sich gegen diese<br />
irrtümliche Entwicklung gewandt hätten. Er stellt also gewissermaßen einen ‘Positiv-<br />
Katalog’ für eine angemessene Beschäftigung mit <strong>Topik</strong> auf: nämlich die Arbeiten von<br />
Theodor Viehweg 23 und Edgar Mertner 24 , deren Kritik weitestgehend folgenlos geblieben<br />
sei, ähnlich wie auch die Kritik von Ludwig Fischer 25 , Joachim Dyck 26 , Peter Jehn 27 ,<br />
Josef Kopperschmidt 28 , Dieter Breuer 29 , Heinrich Plett 30 .<br />
18<br />
ebd.<br />
19<br />
vgl. Blinn, Hansjürgen: Informationshandbuch Deutsche Literaturwissenschaft, Frankfurt 1982, hier: S.<br />
70.<br />
20<br />
vgl. Blinn, Hansjürgen: Informationshandbuch Deutsche Literaturwissenschaft, Frankfurt 1994, dritte,<br />
neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe, hier: S. 74.<br />
21 ebd.<br />
22 Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 235.<br />
23 vgl. Viehweg, Theodor: <strong>Topik</strong> und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagen-<br />
forschung, München 1974, 5. und erw. Aufl. (zuerst 1953).<br />
24 vgl. Mertner, Topos und Commonplace.<br />
25 vgl. Fischer, Ludwig: Curtius, die <strong>Topik</strong> und der Argumenter, in: Sprache im technischen Zeitalter 42<br />
(1972), hrsg. von Walter Höllerer, 114–143.<br />
26 vgl. Dyck, Joachim: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition, (=Ars Poetica. Texte<br />
und Beiträge zur Dichtungslehre und Dichtkunst, hrsg. von August Buck/Heinrich Lausberg/Wolfram<br />
Mauser, Bd. 1), Bad Homburg/Berlin/Zürich 1966, insbes. Kap. III (Erfindung und <strong>Topik</strong>), 40–65, und:<br />
Exkurs I, 174. (nachfolgend zit. als: Dyck, Ticht-Kunst)<br />
27 vgl. Jehn, Toposforschung als Restauration.<br />
28 vgl. Kopperschmidt, Josef: Allgemeine Rhetorik. Einführung in die Theorie der Persuasiven Kommunikation,<br />
Stuttgart etc. 1973, insbes. Kap. 6.4. (Die Renaissance der <strong>Topik</strong>), Kap. 6.5. (Die Methode der<br />
<strong>Topik</strong>), Kap. 6.6. (Die Rationalität der <strong>Topik</strong>), 136–149.<br />
29 Breuer, Dieter: Einführung in die pragmatische Texttheorie, München 1974, insbes. Kap. 3.2.2.1<br />
(Invention), 159–165. (nachfolgend zit. als: Breuer, Pragmatische Texttheorie)<br />
30 Plett, Heinrich F.: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 1973, 2. durchgesehene Aufl.<br />
(zuerst 1971), insbes. Kap. B.I (Inventio), 12–16.<br />
8
Worin aber bestand nach Ansicht der Kritiker nun der „prominente[...] Irrtum“ 31 , der<br />
im Laufe der m<strong>oder</strong>nen Auseinandersetzung mit <strong>Topik</strong> von so vielen Kritikern „mit wün-<br />
schenswerter Klarheit korrigiert“ 32 worden wäre, ohne daß dies einen Einfluß auf die<br />
Karriere des Curtius’schen <strong>Topik</strong>- und Topos-Begriffs gehabt hätte?<br />
Ludwig Fischer ist der Auffassung, daß Curtius die <strong>Topik</strong> zwar korrekt als grundle-<br />
genden Abschnitt der rhetorischen Findungslehre beschreibt, die dann von der griechi-<br />
schen Antike bis zum Untergang der Rhetorik am Ende der Aufklärung einen entschei-<br />
denden Bestandteil des Normenkomplexes der Rhetorik mit all ihren Geltungsbereichen,<br />
also auch der Poetik, gebildet hätte. Wenn Curtius aber schreibe, <strong>Topik</strong> sei im antiken<br />
Lehrgebäude der Rhetorik das Vorratsmagazin gewesen, in welchem man Gedanken all-<br />
gemeinster Art finde, die bei allen Reden und Schriften angewandt werden könnten 33 ,<br />
dann sei dies falsch. <strong>Topik</strong> sei kein Vorratsmagazin mit den Topoi als fertigen Argumen-<br />
ten in seinen Schränken: „Die <strong>Topik</strong> ist eine Methode, zu Beweisen zu gelangen - die<br />
Topoi, die Loci sind nie die Argumente selbst, sondern die ›Örter‹, an denen man sie fin-<br />
den kann“ 34 .<br />
Auf „[...] Curtius’ Gleichsetzung von Topos/locus mit dem dadurch gebildeten Argu-<br />
ment selbst [...]“ 35 beruhe dann - so Jehn - „auch die falsche und von Curtius gar nicht<br />
bewiesene Behauptung, daß mit der Rhetorisierung der Literatur die Topoi ›Klischees‹<br />
werden, die ›literarisch allgemein verwendbar sind‹“ 36 . Wenn Curtius als Aufgabe der<br />
Toposforschung - wie Fischer weiter ausführt - also die „Untersuchung der Tradition lite-<br />
rarischer Klischees, Formeln, Bilder, Gedanken, Themen [ansehe...], da sich in der Kon-<br />
stanz und im historischen Wandel solcher Elemente die Kontinuität und ›Sinneinheit‹ 37<br />
der europäischen Literatur erkennen lasse“ 38 , dann sei es Etikettenschwindel, wenn er<br />
sich auf die antike <strong>Topik</strong> und den Begriff des Topos berufe 39 .<br />
31<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 235.<br />
32<br />
ebd.<br />
33<br />
vgl. Curtius, Europäische Literatur, hier: S. 89.<br />
34<br />
Fischer, <strong>Topik</strong>, S. 159.<br />
35<br />
Jehn, Toposforschung als Restauration, S. LVI-LVII.<br />
36<br />
ebd., LVIII.<br />
37<br />
vgl. Veit, Toposforschung, S. 123.<br />
38<br />
Fischer, <strong>Topik</strong>, S. 157.<br />
39<br />
Diese „falsche Namensgebung“ (Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 236) ist - laut Wiedemann - der<br />
„fruchtbare[...] Irrtum [...], denn auf unerklärliche Weise hat die falsche Namensgebung eine neue wissenschaftliche<br />
Identität hervorgebracht und den bis dahin wenig entwickelten und disparaten Sparten der<br />
sprachlichen, Motiv-, Metaphern- und Schlagwortforschung eine unerwartete Blüte beschert“ (ebd.).<br />
9
Die Sichtung der antiken <strong>Topik</strong> zeige somit, daß Curtius’ ausdrückliche Anknüpfung<br />
an diese Findungslehre, mit dem Ziel, „den normativen Charakter der antiken <strong>Topik</strong> als<br />
heuristisches Prinzip benutzend, den ›Grund zu einer historischen <strong>Topik</strong>‹ 40 [zu] legen“ 41 ,<br />
jeglicher Grundlage entbehre.<br />
Dazu Joachim Dyck: „Der Toposbegriff von E. R. Curtius wird [...] mit Recht inkri-<br />
miniert [...]. Curtius will zwar an dem antiken Begriff <strong>Topik</strong> festhalten [...], er behält<br />
jedoch nur das Wort bei und verengt dessen Bedeutung zu ›festes Klischee, konventionel-<br />
les Gedankenschema, Gemeinplatz, tradierte Formel‹ (vgl. Mertner, S. 178–185) [...]“ 42 .<br />
Curtius nehme - wie Dyck in einer neueren Arbeit zusammenfaßt - die rhetorische Bedeu-<br />
tung des Begriffs nicht zur Kenntnis und setze den Fundort mit dem dadurch gebildeten<br />
Argument gleich: „Der Vorwurf an die Philologien, sie lösten sich ›von dem tragenden<br />
Grund der Geschichte‹ 43 und neigten dazu, ›die eigene Unwissenheit durch in-existente<br />
Abstraktionen zu ersetzen‹ 44 [...], schlägt auf Curtius selber zurück“ 45 .<br />
Aber Curtius’ Begriff von Topos wird nicht nur deswegen kritisiert, weil er material<br />
bestimme, was formal zu fassen sei (weil er das, was gefunden werden soll, mit dem<br />
Hilfsmittel identifiziert, welches der Suche dient), sondern auch deswegen, weil er äu-<br />
ßerst unscharf wäre. Der angewandte Begriff sei - so Fischer - „kaum identifizierbar“ 46 :<br />
„Man erkennt, daß der Begriff Topos verschiedenartigen tradierten Elementen der Litera-<br />
tur übergestülpt wird, als da sind Motiv, Bild, Emblem, Zitat, Klischee, Formel, Phrase<br />
und dergleichen“ 47 . Und - wie Fischer Mertner zitiert -: „Einmal auf diese Weise einge-<br />
führt, wird der Begriff Topos bedenkenlos auf alles literarische Gut angewendet, dessen<br />
Überlieferungscharakter sich mehr <strong>oder</strong> weniger deutlich nachweisen läßt“ 48 .<br />
Und so klingt es schon ein wenig resigniert, wenn Josef Kopperschmidt 10 Jahre nach<br />
Wiedemanns energischer Zurückweisung der ‘falschen’ <strong>Topik</strong>-Auffassung schreibt: „[...]<br />
allen philologischen Bedenken gegen eine Begriffsausfransung zum Trotz - <strong>Topik</strong> ist<br />
40<br />
vgl. Curtius, Europäische Literatur, S. 92.<br />
41<br />
Fischer, <strong>Topik</strong>, S. 157.<br />
42<br />
Dyck, Ticht-Kunst, S. 174.<br />
43<br />
vgl. Curtius, Europäische Literatur, S. 507.<br />
44<br />
vgl. ebd.<br />
45<br />
Dyck, Joachim: <strong>Topik</strong>, in: Fischer Lexikon Literatur, Bd. 3 (N-Z), hrsg. von Ulfert Ricklefs, Frankfurt<br />
1997, 1844–1856, hier: S. 1851. (nachfolgend zit. als: Dyck, <strong>Topik</strong>)<br />
46<br />
Fischer, <strong>Topik</strong>, S. 157.<br />
47 ebd., S. 157–158.<br />
48 Mertner, Topos und Commonplace, S. 183.<br />
10
nicht zuletzt durch die Autorität von E.R. Curtius in den verschiedenen Disziplinen<br />
(Literaturwissenschaft, Jurisprudenz, Soziologie, Politologie, Ideologiekritik, Psychoana-<br />
lyse usw.) so erfolgreich rezipiert worden, daß die Relevanz der unter diesem Titel ge-<br />
führten innerwissenschaftlichen Diskussionen die Frage nach der jeweiligen Legitimität<br />
der Begriffsverwendung als obsolet erscheinen läßt“ 49 . Und so zieht Kopperschmidt - um<br />
nicht „der Versuchung zu erliegen, sich durch dogmatische Begriffsnormierungen ge-<br />
waltsam einen Weg durch dieses Gestrüpp zu schlagen“ 50 - aus „dem notorischen Streit<br />
über ein angemessenes <strong>Topik</strong>verständnis die irenische Lehre [...], daß dieser Streit nicht<br />
zu schlichten [...sei], weil er mittlerweile selbst Teil der Begriffsgeschichte der <strong>Topik</strong><br />
geworden [...sei]“ 51 .<br />
Kopperschmidt schlägt dann vor, daß unter „›Topoi‹ sowohl die allgemeinsten Form-<br />
prinzipien möglicher Argumente zu verstehen [seien], wie [auch] die zu Motiven, Denk-<br />
formen, Themen, Argumenten, Klischees, loci communes, Stereotypen usw. stabilisierten<br />
<strong>materiale</strong>n Gehalte [...]“ 52 . Letztere faßt er - um eine „Unterscheidung zwischen diesen<br />
beiden Begriffsverständnissen terminologisch zu erleichtern“ 53 - unter dem „Begriff ma-<br />
teriale <strong>Topik</strong> zusammen und [...grenzt] sie gegenüber einer formalen <strong>Topik</strong> ab, die [...er]<br />
ihrer Funktion entsprechend genauerhin als Heuristik [...begreift], d.h als eine Heuristik<br />
möglicher Argumente“ 54 .<br />
Meiner Auffassung nach folgt Kopperschmidt somit der Sache nach der Einteilung,<br />
die auch Wiedemann vorgenommen hatte, mit dem Unterschied allerdings, daß er die<br />
verschiedenen Begriffsverständnisse nicht unter wertende Titel rubriziert, wie es Wiede-<br />
mann mit seiner Einteilung in ‘wahre’ und ‘falsche’ <strong>Topik</strong> getan hatte. Aber gerade an<br />
dieser terminologischen, nicht wertenden Einteilung von Kopperschmidt wird deutlich,<br />
warum es durchaus nicht obsolet ist, sich dem Streit um die Frage eines angemessenen<br />
Begriffsverständnisses zu stellen.<br />
Denn bemerkenswert erscheint mir, daß Kopperschmidt mit dieser Unterscheidung die<br />
Kontrahenten im Streit um ein angemessenes Begriffsverständnis in einer gewissen Wei-<br />
se feststellt, festschreibt: wenn er sagt, daß der Streit nicht zu schlichten ist, weil er<br />
49 Kopperschmidt, <strong>Formale</strong> <strong>Topik</strong>, S. 53.<br />
50 ebd.<br />
51 ebd.<br />
52 ebd.<br />
53 ebd.<br />
54 ebd., 53–54.<br />
11
„mittlerweile selbst Teil der Begriffsgeschichte der <strong>Topik</strong> geworden [...sei]“ 55 , dann sagt<br />
er erstens, daß die hier angesprochene Frontstellung neueren Datums ist, zweitens, daß<br />
der Streit sich in der unversöhnlichen Opposition von formaler und <strong>materiale</strong>r <strong>Topik</strong> er-<br />
schöpft, und man drittens wählen muß, welcher Auffassung man sich anschließt.<br />
Meiner Meinung nach verkennt diese hier skizzierte Sicht des Streites aber die eigent-<br />
liche Dimension der Auseinandersetzung: denn ich denke nicht, daß der Streit sich in der<br />
Alternative <strong>materiale</strong> <strong>oder</strong> formale <strong>Topik</strong> erschöpft.<br />
Der Streit scheint mir eher damit zusammenzuhängen, daß Vertreter einer eindeutigen<br />
und enggefaßten Begriffsbestimmung Vertretern gegenüberstehen, die der Auffassung<br />
sind, daß eine allzu scharfe Trennung zwischen ‘formaler’ und ‘<strong>materiale</strong>r’ <strong>Topik</strong> (<strong>oder</strong><br />
‘wahrer’ und ‘falscher’ <strong>Topik</strong>) dem Komplex <strong>Topik</strong> nicht angemessenen sei.<br />
Wenn Conrad Wiedemann kritisiert, daß sich selbst Kenner, „[...] die um den Wider-<br />
spruch sehr wohl [...wüßten], neuerdings immer weniger auf Kritik ein[ließen], sondern<br />
[eher] versuch[t]en [...,] die historische Einheit der beiden Auslegungen zu retten [...], [...<br />
was sich u.a. an den Arbeiten von] Walter Veit 56 , Berthold Emrich 57 , August Obermay-<br />
er 58 , Max. L. Baeumer 59 [...und - am flagrantesten - bei Lothar Bornscheuer 60 zeige, des-<br />
sen] anspruchsvolle[...] Arbeit [...] in ihrem ersten Teil die schärfsten Waffen der Kritik<br />
schmiede[...], um in ihrem zweiten [Teil] der Curtius’-schen Vagheit und deren Folgen<br />
mit hoher begriffsbildender Anstrengung beizuspringen [...]“ 61 , dann stellt Wiedemann<br />
hier nicht nur einen ‘Negativ-Katalog’ auf, sondern er legt - meiner Meinung nach - den<br />
Finger auch auf die richtige Stelle.<br />
Allerdings denke ich nicht, daß die hier von Wiedemann kritisierte versuchte Aufhe-<br />
bung des Widerspruchs ein mangelndes Kritikbewußtsein an der vorherrschenden Lehr-<br />
meinung zeigt. Vielmehr deutet sich hier meiner Ansicht nach vor allem eine andere Auf-<br />
fassung von den objektiven Schwierigkeiten, die das Thema <strong>Topik</strong> in sich birgt, an:<br />
55<br />
ebd., S. 53.<br />
56<br />
vgl. Veit, Toposforschung. Ein Forschungsbericht.<br />
57<br />
vgl. Emrich, Berthold: <strong>Topik</strong> und Topoi, in: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen<br />
Grundlegung Jg.18, Heft 6 (1966), mit dem Titel: Beiträge zur literarischen Rhetorik, hrsg.<br />
von Robert Ulshöfer, Stuttgart, 15–46. (nachfolgend zit. als: Emrich, <strong>Topik</strong> und Topoi)<br />
58<br />
vgl. Obermayer, August: Zum Toposbegriff der m<strong>oder</strong>nen Literaturwissenschaft, in: Jahrbuch des Wiener<br />
Goethe-Vereins 73 (1969), 107–116.<br />
59<br />
vgl. Baeumer, Vorwort.<br />
60<br />
Bornscheuer, Lothar: <strong>Topik</strong>. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt 1976.<br />
(nachfolgend zit. als: Bornscheuer, <strong>Topik</strong>)<br />
61 Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 236.<br />
12
Sehen etwa Wiedemann und Kopperschmidt vor allem in Curtius den Schuldigen für<br />
die objektiven Schwierigkeiten bei der Bestimmung eines angemessenen - nicht ausfran-<br />
senden - <strong>Topik</strong>-Begriffs, da ja - ihrer Auffassung nach - ein klarer und eindeutiger Begriff<br />
in der historischen <strong>Topik</strong> (wie sie z.B. Mertner dargestellt hat) vorliegt 62 , so sehen andere<br />
die Schwierigkeiten einer Begriffsbestimmung schon durch das Thema <strong>Topik</strong> und durch<br />
die wechselvolle Geschichte dieses Themas vorgegeben.<br />
So schreibt Emrich, daß schon bei Aristoteles „der Bedeutungsumfang des Begriffes<br />
‘Topos’ so sehr [wuchs], daß er in keine Definition hineinpassen wollte“ 63 , und mit Blick<br />
auf die gesamte Antike spricht er von der „Vielfalt der Aspekte, die <strong>Topik</strong> und Topoi in<br />
der Antike boten“ 64 . Jozef A. R. Kemper macht darauf aufmerksam, „wie gefährlich es<br />
[...sei], mit ganz scharfen Definitionen an den aristotelischen τóπoς-Begriff heranzutre-<br />
ten“ 65 und verweist auf den bei Aristoteles „typisch unscharfen Begriff des τóπoς“ 66 . Und<br />
auch für Bornscheuer wird schon bei einem bruchstückhaften Überblick über die Ge-<br />
schichte der <strong>Topik</strong> deutlich, daß es von „[...] der <strong>Topik</strong> des Aristoteles aus der Mitte des<br />
4. Jh.s v. Chr. als der ältesten Grundlagenschrift bis in die gegenwärtigen T[opik]-<br />
Diskussionen verschiedener Fachwissenschaften [...] bislang zu keiner eindeutigen und<br />
zugleich umfassenden Definition der Begriffe <strong>Topik</strong> und Topos gekommen“ 67 sei, auch<br />
62 Auch wenn dieser „Begriff im Altertum selbst nicht zu ganzer Klarheit gekommen ist“ (Mertner, Topos<br />
und Commonplace, S. 185), was dann allerdings für diese Forschungstradition nur ein terminologisches<br />
Problem darstellt.<br />
63 Emrich, <strong>Topik</strong> und Topoi, S. 29.<br />
64 ebd., S. 46. Ausgehend von dieser Beobachtung kommt Emrich auch zu einer anderen Sicht von Curtius’<br />
<strong>Topik</strong>-Auffassung: „Die Berechtigung für die historische <strong>Topik</strong> von Curtius sehe ich einmal in der Vielfalt<br />
der Aspekte, die <strong>Topik</strong> und Topoi in der Antike boten, und in der Auswirkung der Rhetorik auf die<br />
Texte begründet, vor allem aber in der Umkehrung eines Systems, das der literarischen Produktion diente,<br />
zu einem Instrument des Textverständnisses“ (ebd.)<br />
65 Kemper, Jozef A. R.: <strong>Topik</strong> in der antiken rhetorischen Techne, in: <strong>Topik</strong>. Beiträge zur interdisziplinären<br />
Diskussion, hrsg. von Dieter Breuer/Helmut Schanze, München 1981, 17–32, hier: S. 19. (nachfolgend<br />
zit als: Kemper, <strong>Topik</strong> in der antiken rhetorischen Techne)<br />
66 ebd., S. 20. Kemper kommt im Anschluß an diese typische Unschärfe dann auch zu einer anderen Wertung<br />
von Mertner’s Aufsatz: „Fast völlig unverständlich ist es, wie ein nur auf wenige in der aristotelischen<br />
Tradition stehende, ausgewählte Zitate sich stützender Aufsatz so lange fast unangefochten geherrscht<br />
hat, wie der Aufsatz ‘Topos und Commonplace’ von Mertner, dessen Interpretation von Fischer<br />
und anderen fortgeführt wurde und sogar im 1. Buch der ‘Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft’<br />
als Standardinterpretation in Erscheinung treten durfte. Die Hauptthese: ›Die topoi, die loci sind<br />
nie die Argumente selbst‹, die bereits die natürliche Metonymie zwischen ›Behälter‹ und ›Inhalt‹ verkennt,<br />
ist so einfach zu widerlegen (bereits Emrich hatte einen Ansatz dazu gegeben, in dessen Spuren<br />
auch Bornscheuer sich begeben hat), daß ich eine peinlich genaue philologische Falsifizierung nicht für<br />
nötig halte. (Es sollte trotzdem nocheinmal geschehen angesichts der offensichtlichen Vitalität der These!“<br />
(ebd., S. 28).<br />
67 Bornscheuer, Lothar: <strong>Topik</strong>, in: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, Bd. IV, hrsg. von Klaus<br />
Kanzog/Achim Masser, Berlin/New York 1984, 2. Auflage, 454-475, hier: S. 454.<br />
13
wenn eine „[...] zusammenhängende Darstellung der zweieinhalbjahrtausend alten fä-<br />
cherübergreifenden Bedeutungsgeschichte des Komplexes T[opik] [...] bislang noch<br />
nicht“ 68 existiere.<br />
Die Schwierigkeiten eines angemessenen Begriffsgebrauchs ließen sich demnach nicht<br />
einfach nur dadurch lösen, daß man die Tradition befrage, um von dort eindeutige,<br />
‘wahre’ Antworten über den Gegenstand <strong>Topik</strong> zu erhalten. Die Begriffe <strong>Topik</strong> und To-<br />
pos hätten immer schon eine gewisse Unschärfe gehabt 69 : „Es gibt keine präzise histori-<br />
sche Definition des Topos“ 70 . Oder wie es Peter Hess mit Blick auf Wiedemanns Unter-<br />
scheidung eines ‘wahren’ und eines ‘falschen’ <strong>Topik</strong>-Begriffes schreibt: „Demgegenüber<br />
soll hier die These vertreten werden, daß ›richtiger‹ und ›falscher‹ Toposbegriff schon<br />
seit der Antike nebeneinander existieren und daß die Geschichte des ›falschen‹ Topos-<br />
Begriffs auf die Antike zurückgeht“ 71 . Hess weist dann noch in einer Fußnote darauf hin,<br />
daß diese Diskussion in der amerikanischen Rhetorikforschung kaum eine Rolle spiele:<br />
„Vielmehr hat sich die Einsicht, daß <strong>Topik</strong> ein vielschichtiger, vieldimensionaler und<br />
historisch wandelbarer Begriff ist, [dort] schon lange durchgesetzt“ 72 .<br />
Auch Wiedemann scheint diese hier skizzierte Unschärfe zu sehen, wenn er davon<br />
spricht, daß die Rettung der „historische[n] Einheit der beiden Auslegungen [...] bedingt<br />
möglich“ 73 sei. Allerdings paßt eine solche Möglichkeit nicht zu seiner Ansicht, daß es<br />
„eine wahre und eine falsche <strong>Topik</strong> [...gebe]“ 74 , daß also die Begriffe <strong>Topik</strong> und Topos in<br />
ihrer „ursprünglichen und wesentlichen Bedeutung“ 75 in aller Eindeutigkeit vorlägen.<br />
68 ebd.<br />
69 Eine Unschärfe, die auch von einem der von Wiedemann als Beleg für seine Unterscheidung zwischen<br />
„wahre[r]“ und „falsche[r]“ (Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 233) <strong>Topik</strong>-Auffassung angeführten<br />
Kritiker gesehen wurde: „Topoi in diesem engeren Sinne des Begriffs sind die Adressen für Teilmengen<br />
von gespeicherten Gedanken [also nicht die Gedanken selbst...]. Diesem Toposbegriff steht schon seit<br />
den Anfängen der rhetorischen Theorie eine andere Auffassung gegenüber, derzufolge die Topoi die<br />
fungiblen inhaltlichen Elemente (res) selbst sind. [...] Seit[... Curtius’ Veröffentlichungen] gibt es zahlreiche<br />
Versuche, zunächst einmal den ›richtigen‹ Toposbegriff zu ermitteln. Doch haben solche Versuche<br />
bestenfalls weiteres Belegmaterial für die Historizität der Begriffsbildung erbracht“ (Breuer, Pragmatische<br />
Texttheorie, S. 160–162).<br />
70 Bornscheuer, Lothar: Zehn Thesen zur Ambivalenz der Rhetorik und zum Spannungsgefüge des Topos-<br />
Begriffs, in: Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung, hrsg. von Heinrich F. Plett, München<br />
1977, 204-212, hier: S. 206.<br />
71 Hess, Peter: Zum Toposbegriff der Barockzeit, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 10<br />
(Rhetorik der frühen Neuzeit), hrsg. von Joachim Dyck, Tübingen 1991, 71–88, hier: S. 76.<br />
72 ebd.<br />
73 Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 236.<br />
74 ebd., S. 233, Hervorhebung R.B.<br />
75 ebd.<br />
14
Nimmt man aber diese Unschärfe der auch schon in den verfügbaren historischen<br />
Quellen feststellbaren Begriffsbestimmungen ernst - sieht in ihnen kein Manko, sondern<br />
Vielschichtigkeit -, dann führt dies dazu, anzuerkennen, daß das Thema <strong>Topik</strong> sich einer<br />
strengen Eindeutigkeit und engen Begriffsbestimmung sperrt.<br />
Hier wird deutlich, daß die Frage nach einem angemessenen Begriffsverständnis von<br />
<strong>Topik</strong> nicht deswegen jenseits von „dogmatische[n] Begriffsnormierungen“ 76 angegan-<br />
gen werden müßte, weil man sich dem Streit um ein angemessenes Begriffsverständnis<br />
entziehen möchte, sondern weil es die Thematik selbst verlangt. Oder wie es das Motto<br />
von Lothar Bornscheuers Arbeit ausdrückt: „Man sollte nie exakter <strong>oder</strong> genauer sein<br />
wollen, als das vorliegende Problem verlangt“ 77 .<br />
Bevor ich anhand Bornscheuers einflußreicher 78 <strong>Topik</strong>-Auffassung aber untersuche,<br />
warum die <strong>Topik</strong> ein Problem darstellt, das sich strenger Eindeutigkeit sperrt, möchte ich<br />
zuvor der gegenläufigen Auffassung Raum geben, indem ich der Frage von Conrad Wie-<br />
demann nachgehe, welchen Sinn es haben könnte, den „historisch zwar genuinen, doch<br />
76<br />
Kopperschmidt, <strong>Formale</strong> <strong>Topik</strong>, S. 53.<br />
77<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 7.<br />
78<br />
vgl. z.B. die produktiven (auch kritischen) Anknüpfungen an Bornscheuers <strong>Topik</strong>-Auffassung im Rahmen<br />
der Aachener <strong>Topik</strong>-Tagung (veröffentlicht in: <strong>Topik</strong>. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, hrsg. von<br />
Dieter Breuer/Helmut Schanze, München 1981): Kemper Jozef A. R: <strong>Topik</strong> in der antiken rhetorischen<br />
Techne, 17–32; Schumann, Hans Gerd: <strong>Topik</strong> in den Sozialwissenschaften?, 191–199; Spillner, Bernd:<br />
Thesen zur Zeichenhaftigkeit der <strong>Topik</strong>, 256–263; Allgaier, Karl: Toposbewußtsein als literaturwissenschaftliche<br />
Kategorie, 264–274.<br />
Vgl. auch: Haberkamm, Klaus/Richartz, Heinrich: Rhetorik und <strong>Topik</strong>, in: Literaturwissenschaft, Grundkurs<br />
1, hrsg. von Helmut Brackert/Jörn Stückrath in Verbindung mit Eberhard Lämmert, Reinbek bei Hamburg<br />
1981, 298–320; Graevenitz, Gerhart von: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart<br />
1987; Moos, Peter von: Geschichte als <strong>Topik</strong>. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und<br />
die historiae im „Policraticus“ Johanns von Salisbury, (Ordo, Studien zur Literatur und Gesellschaft des<br />
Mittelalters und der frühen Neuzeit, Band 2, hrsg. von Ulrich Ernst/Christel Meier), Hildesheim/Zürich/New<br />
York 1988; Beetz, Manfred: Rhetorisches Textherstellen als Problemlösen. Ansätze zu<br />
einer linguistisch orientierten Rekonstruktion von Rhetoriken des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Rhetorik<br />
(Erster Band, Rhetorik als Texttheorie), hrsg. von Josef Kopperschmidt, Darmstadt 1990, 155-193; Neuber,<br />
Wolfgang: Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur <strong>Topik</strong> der deutschen Amerika-Reiseberichte<br />
der Frühen Neuzeit, (Philologische Studien und Quellen, hrsg. von Hugo Steger/Hartmut Steinecke, Heft<br />
121), Berlin 1991; Göttert, Karl-Heinz: Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe - Geschichte - Rezeption,<br />
München 1991; Neuber, Wolfgang: <strong>Topik</strong> und Intertextualität. Begriffshierarchie und ramistische Wissenschaft<br />
in Theodor Zwingers METHODVS APODEMICA, in: Intertextualität in der Frühen Neuzeit :<br />
Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, hrsg. von Wilhem Kühlmann/Wolfgang Neuber,<br />
(Frühneuzeit-Studien, hrsg. von Institut für die Erforschung der Frühen Neuzeit, Wien, Band 2), Frankfurt<br />
etc. 1994, 253–278; Hebekus, Uwe: <strong>Topik</strong>/In-ventio, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hrsg.<br />
von Miltos Pechlivanos/Stefan Rieger/Wolf-gang Struck/Michael Weitz, Stuttgart/Weimar 1995, 82–96;<br />
Todorow, Almut: „Stürmisches Bravo von der Galerie“. Redner und Publikum in der Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
: Ein Bericht aus dem Ersten Deutschen Parlament von Heinrich Laube (1849), in: Rhetorik. Ein<br />
internationales Jahrbuch, Band 14 (Angewandte Rhetorik), hrsg. von Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding,<br />
Tübingen 1995, 1–13.<br />
15
wissenschaftsgeschichtlich unterlegenen Begriff, der im Gegensatz zum Curtius’schen<br />
eine rhetorisch-dialektische bzw. hermeneutische Verfahrensweise bezeichnet, [- also die<br />
seiner Meinung nach ‘richtige’ und ‘angemessene’ <strong>Topik</strong>-Auffassung -] wieder ins Spiel<br />
zu bringen, noch dazu in aktualisierender Absicht?“ 79<br />
Auf diesem Wege soll zweierlei deutlich werden: zum einen die unterschiedliche Be-<br />
deutung für die Literaturwissenschaft, die der <strong>Topik</strong> jeweils zugesprochen wird. Zum<br />
anderen - und daran anknüpfend -, daß die Auseinandersetzung über <strong>Topik</strong> ihren tieferen<br />
Grund in einer unterschiedlichen Auffassung von den Prinzipien literaturwissenschaftli-<br />
cher Forschung hat. Denn der Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung um ein<br />
angemessenes <strong>Topik</strong>-Verständnis scheint mir nicht so sehr die Frage zu sein, inwieweit<br />
der historische Begriff von <strong>Topik</strong> in der m<strong>oder</strong>nen Forschung adäquat wiedergegeben<br />
wird, sondern eher die Frage, welche Bedeutung das Phänomen <strong>Topik</strong> für die Literatur-<br />
wissenschaft hat bzw. haben soll.<br />
Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Wiederentdeckung der <strong>Topik</strong>? An der Be-<br />
antwortung dieser Frage - so denke ich - scheiden sich die Geister, aus ihr ergeben sich -<br />
meiner Auffassung nach - die nicht zu schlichtenden Meinungsverschiedenheiten über<br />
das Thema <strong>Topik</strong>.<br />
Demnach wäre dann auch die fehlende Einheit der Thematik <strong>Topik</strong> nicht als Resultat<br />
fehlerhafter wissenschaftshistorischer Weichenstellungen zu verstehen, sondern als Aus-<br />
druck einer wissenschaftshistorischen Situation, in welcher sich innerhalb einer wissen-<br />
schaftlichen Disziplin die Frage nach dem herrschenden Wissenschaftsverständnis stellt.<br />
Das ‘Gestrüpp’ unterschiedlicher Meinungen, das für Kopperschmidt die Gefahr in<br />
sich birgt, sich leicht darin zu verfangen, wäre somit zunächst als eine adäquate Erschei-<br />
nungsweise einer Disziplin zu verstehen, in der „der Satz von den vielen Köpfen und<br />
vielen Meinungen“ 80 deswegen gilt, da sich in ihr ein Streit um das die Disziplin leitende<br />
Prinzip entzündet hat.<br />
79 Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 237. Wobei Wiedemann in seinem - wie Gerhart von Graevenitz<br />
anmerkt - „bislang nur von <strong>Topik</strong>-Spezialisten wahrgenommenen Artikel die Verwandtschaften von literaturwissenschaftlichem<br />
Interpretieren und topischen Techniken herausarbeite[...], immer vorausgesetzt,<br />
daß man ‘<strong>Topik</strong>’ nicht gleichsetz[...e] mit ihrer Curtiusschen Entstellung. Auch Wiedemann leite[...] aus<br />
diesen Beziehungen natürlich kein ‘topisches Programm’ für die Literaturwissenschaft ab“ (Graevenitz,<br />
Gerhart von: Apparatband zu: Graevenitz, Gerhart von: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit,<br />
Tübingen 1987 [Kopien in der <strong>Universität</strong>sbibliothek Tübingen unter der Signatur Um 10517 deponiert<br />
und ausleihbar], hier: S. 240).<br />
80 Breuer/Schanze, <strong>Topik</strong>. Ein interdisziplinäres Problem, S. 9.<br />
16
Erstes Kapitel<br />
Die ‘formale <strong>Topik</strong>’<br />
Ein Ausgangspunkt für eine Aktualisierung der <strong>Topik</strong><br />
Conrad Wiedemann geht bei seinem Aktualisierungsversuch der <strong>Topik</strong> als einer<br />
„Vorschule der Interpretation“ 1 von dem „leidigen Wahrscheinlichkeitscharakter der<br />
meisten unserer Aussagen“ 2 aus, die innerhalb der Literaturwissenschaft (und den im<br />
weiteren Sinne hermeneutischen Wissenschaften) getroffen werden können.<br />
In diesem „relativen Gewißheitsgrad“ 3 dürften, wie er ausführt, „Glanz und Elend un-<br />
serer Fächer [...] zu gleichen Teilen verwurzelt sein“ 4 . Dies sei „die philologische All-<br />
tagserfahrung, <strong>oder</strong> genauer noch: unsere alltägliche wissenschaftliche Anfechtung“ 5 , die<br />
- so Wiedemann - vermutlich so alt sei wie die „aristotelische Unterscheidung 6 eines<br />
apodiktischen und eines dialektischen Schlußverfahrens“ 7 .<br />
Wiedemann spricht vom „Trauma eines schwankenden Selbstwertgefühls“ 8 ange-<br />
sichts des ‘Wahrscheinlichkeitscharakters’ der hermeneutischen Wissenschaften gegen-<br />
über den apodiktischen, exakten Wissenschaften: „wir spüren [...], wie groß die Gel-<br />
1<br />
Wiedemann, Conrad: <strong>Topik</strong> als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Toposkatalogen,<br />
in: <strong>Topik</strong>. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, hrsg. von Dieter Breuer/Helmut Schanze,<br />
München 1981, 233–255, hier: S. 233. (nachfolgend zit. als: Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule)<br />
2<br />
ebd., S. 233.<br />
3<br />
ebd.<br />
4<br />
ebd.<br />
5<br />
ebd.<br />
6<br />
Gleich zu Beginn seiner <strong>Topik</strong>-Schrift (Top. I, 1 100a, 32 – 100b, 31) unterscheidet Aristoteles verschiedene<br />
Arten von Schlüssen anhand des Stellenwertes der Prämissen, auf denen sie beruhen: „Es ist nun<br />
eine Demonstration (Apodeixis), wenn der Schluß aus wahren und ersten Sätzen gewonnen wird <strong>oder</strong> aus<br />
solchen, deren Erkenntnis aus wahren und ersten Sätzen entspringt. Dagegen ist ein dialektischer Schluß<br />
ein solcher, der aus wahrscheinlichen Sätzen gezogen wird. Wahre und erste Sätze sind solche, die nicht<br />
erst durch anderes, sondern durch sich selbst glaubhaft sind. Denn bei den obersten Grundsätzen der Wissenschaft<br />
darf man nicht erst nach dem Warum fragen, sondern jeder dieser Sätze muß durch sich selbst<br />
glaubhaft sein. Wahrscheinliche Sätze aber sind diejenigen, die Allen <strong>oder</strong> den Meisten <strong>oder</strong> den Weisen<br />
wahr scheinen, und auch von den Weisen wieder entweder Allen <strong>oder</strong> den Meisten <strong>oder</strong> den Bekanntesten<br />
<strong>oder</strong> Angesehensten. Ein eristischer Schluß (Streitschluß) aber ist ein solcher, der auf nur scheinbar,<br />
nicht wirklich wahrscheinlichen Sätzen fußt, und ein solcher, der auf wahrscheinlichen <strong>oder</strong> scheinbar<br />
wahrscheinlichen Sätzen zu fußen scheint“ (Aristoteles: <strong>Topik</strong>. Organon V, übersetzt und mit Anmerkungen<br />
versehen von Eugen Rolfes, Hamburg 1968, unveränd. Nachdruck der 2. Auflage 1922 [zuerst 1919],<br />
hier: S. 1-2 [nachfolgend zit. als: Übersetzung Rolfes]).<br />
7<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 233.<br />
8 ebd., S. 234.<br />
17
tungsdifferenz zwischen beiden Aussagenbereichen realiter ist und wie anders unsere<br />
Legitimationen beschaffen sein müssen“ 9 . Denn anders als in den „messenden“ 10 Wis-<br />
senschaften, die aufgrund „rigorose[r] Einengung des Frageansatzes (bzw. der Ver-<br />
suchsanordnung)“ 11 zu exakten Aussagen kämen - so Wiedemann -, würde ein solcher<br />
„barer Reduktionismus in den interpretierenden Wissenschaften [...] Gefahr [laufen],<br />
seinen lebensweltlichen Gegenstand zu degradieren, wenn nicht gar zu verfehlen“ 12 .<br />
Kategorien wie „Genauigkeit, Abgrenzung, Eindeutigkeit etc.“ 13 hätten zwar auch in den<br />
interpretierenden Wissenschaften ihren Sinn, aber viel mehr schienen<br />
„Argumentationsfülle, Perspektivenvielfalt, Zusammenschau, Universalität [...] eins der<br />
Qualitätskriterien interpretierender Wissenschaftlichkeit zu sein“ 14 .<br />
Um nun dieser auf Universalität angelegten Forschungspraxis ein Fundament zu ge-<br />
ben, welches den unvermeidlichen Wahrscheinlichkeitscharakter der hermeneutischen<br />
Disziplinen methodisch diszipliniert, um also die Vielfalt möglicher Interpretationen<br />
nicht dem Zufall <strong>oder</strong> dem plötzlichen Einfall zu überlassen, sondern in einer reflektier-<br />
ten einheitlichen Methode zu verankern, möchte Wiedemann mit seinem Aktualisie-<br />
rungsversuch an die historische <strong>Topik</strong> in ihrer „ursprünglichen und wesentlichen Bedeu-<br />
tung“ 15 anknüpfen. Diese Anknüpfung hält er zum einen für notwendig, da „ein ange-<br />
messener Kritizismus in den hermeneutischen Disziplinen 16 auf den Bezugsrahmen eines<br />
Denkens in kategorialen ›Reihen‹ angewiesen [...sei]“ 17 , und zum anderen für legitim, da<br />
„dieses Prinzip in der historischen ›<strong>Topik</strong>‹ vorgeprägt [...sei]“ 18 : denn <strong>Topik</strong> stehe für<br />
das „Ideal einer universalen Kompetenz qua Methode“ 19 und biete damit einen Ansatz<br />
für „einen den nichtexakten Wissenschaften angemessenen Kompetenzbegriff“ 20 .<br />
9<br />
ebd.<br />
10<br />
ebd., S. 235.<br />
11<br />
ebd., S. 234.<br />
12<br />
ebd., S. 235.<br />
13<br />
ebd.<br />
14<br />
ebd..<br />
15<br />
ebd., S. 233.<br />
16<br />
vgl. ebd., S. 249: „falls wir nicht wissenschaftliche Kritik überhaupt mit aktualistischem Räsonnement<br />
verwechseln“.<br />
17 ebd., S. 233.<br />
18 ebd.<br />
19 ebd., S. 249.<br />
20 ebd., S. 237.<br />
18
Merkmale der <strong>Topik</strong> aus der Perspektive der ‘formalen <strong>Topik</strong>’<br />
Im folgenden möchte ich vor allem anknüpfend an Wiedemann und die von ihm in sei-<br />
nem ‘Positiv-Katalog’ genannten Autoren einen kurzen Abriß der <strong>Topik</strong> aus dem<br />
Blickwinkel der ‘formalen <strong>Topik</strong>’ geben, um daran anschließend Wiedemanns Aktuali-<br />
sierungsversuch und die von ihm herausgestellte Bedeutung der <strong>Topik</strong> für die Litera-<br />
turwissenschaft darzustellen.<br />
Die antike Rhetorik, und mit ihr die <strong>Topik</strong>, habe - wie Joachim Dyck ausführt 21 - weit<br />
bis über das Mittelalter hinaus die literarische Praxis geprägt. Bis tief in das 18. Jahrhun-<br />
dert hinein sei sie eine Bildungsmacht geblieben, der die europäische Literatur in Geist<br />
und Form nachhaltig verpflichtet gewesen wäre. Die Voraussetzungen und Begleitum-<br />
stände, die zum Ende dieser Tradition geführt hätten, der „Paradigmenwechsel [...] in der<br />
Literatur um 1700“ 22 , seien - wie Wiedemann schreibt - „bis heute kaum geklärt“ 23 . Die<br />
auf „wahrscheinlichen Sätzen“ 24 basierende <strong>Topik</strong> hätte jedenfalls im kritischen Ver-<br />
stande ihre Dignität verloren: nun galt sie z.B. als eine Denkungsart, „deren sich Schul-<br />
lehrer und Redner bedienen konnten, um unter gewissen Titeln des Denkens nachzuse-<br />
hen, was sich am besten für [...die] vorliegende Materie schickte, und darüber, mit einem<br />
Schein von Gründlichkeit, zu vernünfteln <strong>oder</strong> wortreich zu schwatzen“ 25 .<br />
Allerdings hätte die <strong>Topik</strong> - wie Wiedemann weiter ausführt - im Gegensatz zu<br />
manch anderem Theorem, das damals sein (wissenschaftliches) Ansehen verloren hätte<br />
(wie etwa der Autoritätsbeweis <strong>oder</strong> der Altersbeweis), „äußerst prominente Verteidiger<br />
[gefunden], ja man [...könne] sagen, daß gerade die kompliziertesten und weitsichtigsten<br />
Köpfe dieser Umbruchzeit vor ihrer Suspendierung [...]“ 26 gewarnt hätten.<br />
Als solch einen ‘komplizierten Kopf’ sieht Wiedemann Gian Battista Vico an, der<br />
selbst in dem Bewußtsein, daß „die Auseinandersetzung zwischen Cartesianismus und<br />
alter Methode“ 27 - zwischen m<strong>oder</strong>ner kritischer und alter topischer Methode - „längst<br />
21<br />
vgl. Dyck, Joachim: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition, (=Ars Poetica.<br />
Texte und Beiträge zur Dichtungslehre und Dichtkunst, hrsg. von August Buck/Heinrich Lausberg/Wolfram<br />
Mauser, Bd. 1), Bad Homburg/Berlin/Zürich 1966, hier: S. 7. (nachfolgend zit. als: Dyck,<br />
Ticht-Kunst)<br />
22<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 246.<br />
23<br />
ebd.<br />
24<br />
Top. I, 1 100a, Übersetzung Rolfes, S. 1.<br />
25<br />
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe hrsg. von Jens<br />
Timmermann, Hamburg 1998, hier S. 385 (KrV, B 324-325).<br />
26 Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 237.<br />
27 ebd., S. 238.<br />
19
zugunsten der ersteren entschieden“ 28 ist, meine, „beschwörend an den Eigenanspruch<br />
der letzteren erinnern zu müssen [...]“ 29 . So kritisiere Vico, daß die <strong>Topik</strong> „[...] ganz und<br />
gar vernachlässigt“ 30 werde, da die Anhänger der kritischen Wissenschaft, „[...] um ihre<br />
erste Wahrheit nicht nur vom Falschen, sondern auch vom bloßen Verdacht des Falschen<br />
frei zu halten, alle sekundäre Wahrheit, sowie alles Wahrscheinliche genau so wie das<br />
Falsche aus dem Denken entfernt wissen [...wollten]“ 31 .<br />
Wie Wiedemann schreibt, zweifle Vico nicht daran, daß es den „Cartesianern mit ih-<br />
rer mathematischen Methode gelänge, gültige Wahrheiten zu ermitteln [...]“ 32 , doch fra-<br />
ge er erschreckt: „Allein, wie können sie gewiß sein, alles gesehen zu haben?“ 33 . Denn<br />
für Vico widersprächen sich die beiden Methoden nicht - wie Wiedemann weiter darlegt<br />
-, sondern würden sich vielmehr ergänzen 34 : „[...] wie die Auffindung der allgemeinen<br />
Beweisgründe naturgemäß früher [...sei] als das Urteil über ihre Wahrheit, so [...müsse]<br />
die Lehre der <strong>Topik</strong> früher sein als die der Kritik“ 35 .<br />
„Die ›topische‹ liege der ›kritischen‹ Methode [also] gleichsam voraus [- wie Wiede-<br />
mann Vicos Auffassung zusammenfaßt -], denn sie aktiviere Phantasie und Gedächtnis<br />
und erschließe mehr <strong>oder</strong> minder vollständig den ›natürlichen Allgemeinsinn‹ [sensus<br />
communis], d.h. den konventionellen Fundus des gesellschaftlichen Kollektivwissens<br />
über den Gegenstand“ 36 . Mit seiner Auffassung, daß die <strong>Topik</strong> der Kritik vorausliege,<br />
schließt Vico an die ‘Topica’ Ciceros an 37 . Denn Cicero schreibt in seiner Altersschrift:<br />
„Jede sorgfältige Methode eines Vortrags besitzt zwei Teilaspekte, einmal den des Auffindens,<br />
zum anderen den des Beurteilens; [...] die Methodik der Auffindung, die ›<strong>Topik</strong>‹ heißt,<br />
[...ist] eigentlich für die Praxis wichtiger und der gegebenen Reihenfolge der Begriffe nach<br />
fundamentaler [...als die Wege der Beurteilung]“ 38 .<br />
28<br />
ebd.<br />
29<br />
ebd.<br />
30<br />
Vico, Gian Battista: De nostri temporis studiorum ratione (Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung),<br />
zweisprachige Ausgabe, Übertragung von Walter F. Otto, Godesberg 1947, hier: S. 29. (nach-folgend<br />
zit. als: Vico, De nostri)<br />
31<br />
ebd., S. 27.<br />
32<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 238.<br />
33<br />
Vico, De nostri, S. 30.<br />
34<br />
vgl. Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 239.<br />
35<br />
Vico, De nostri, S. 29.<br />
36<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 239.<br />
37<br />
vgl. Kopperschmidt, Josef: <strong>Topik</strong> und Kritik. Überlegungen zur Vermittlungschance zwischen dem Prius<br />
der <strong>Topik</strong> und dem Primat der Kritik, in: <strong>Topik</strong>. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, hrsg. von<br />
Dieter Breuer/Helmut Schanze, München 1981, 171–187. (nachfolgend zit. als: Kopperschmidt, <strong>Topik</strong><br />
und Kritik)<br />
38<br />
Topica II, 6, zit. nach: Cicero, Marcus Tullius: Topica, zweisprachige Ausgabe, übersetzt und mit einer<br />
Einleitung hrsg. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1983, hier: S. 5 u. 7. (nachfolgend zit. als: Übersetzung<br />
Zekl)<br />
20
Daher nehme - wie Dyck ausführt - die „[...] erste und wichtigste Stelle in der Syste-<br />
matik der Rhetorik [...] die inventio ein“ 39 , wobei unter „Inventio (griech. ›heuresis‹, dt.<br />
›Erfindung‹) [...nach Plett] die Kunst [zu verstehen sei], wahre <strong>oder</strong> wahrscheinliche<br />
Stoffmomente aufzufinden, die den Redegegenstand glaubhaft machen. [Damit seien<br />
diese...] Stoffmomente [...] nicht einem zufälligen Suchen anheimgegeben [...]“ 40 , denn<br />
wer „etwas finden [...wolle, müsse - wie Joachim Dyck schreibt -] im groben wissen, wo<br />
er suchen soll. Die Aufgabe, das Suchen zu systematisieren und eine Lehre über das<br />
‘Wo’ des Suchens zu entwickeln, [...habe] innerhalb der Inventio die vieldiskutierte To-<br />
pik zu leisten. Sie [...sei] die Lehre von den ›Örtern‹ (τóπoι, loci), die die Argumente<br />
beherberg[t]en, mit deren Hilfe der Redner die von ihm vorgetragene Sache zu beweisen<br />
und glaubwürdig zu machen [...habe]“ 41 .<br />
Es war Aristoteles, der der <strong>Topik</strong> „ihren Namen“ 42 gab. Auch wenn er mit der <strong>Topik</strong><br />
„offensichtlich eine rhetorische Angelegenheit“ 43 angesprochen hätte, nämlich den Be-<br />
reich des Wahrscheinlichen und nicht der Wahrheit, so bleibe - wie Theodor Viehweg<br />
schreibt - „das erste Anliegen des großen Philosophen [allerdings] ein philosophi-<br />
sches“ 44 . Die <strong>Topik</strong> des Aristoteles diene - so Wiedemann - „der Auffindung [...] der<br />
besten und angemessensten Argumentationsformen. D.h. sie [...versammle] alle nur<br />
halbwegs vorstellbaren Modi des logischen Demonstrierens und Widerlegens. Aristote-<br />
les [...meine] damit ein Verfahren zu beschreiben, mit dem man in der dialektischen<br />
Erörterung ›über jedes (!) aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse<br />
bilden‹ 45 könne“ 46 . Es sei zwar - wie Fischer anmerken muß - „bei Aristoteles nicht ganz<br />
einfach, eine klare Kontur des Begriffs ›Topos‹ zu bestimmen“ 47 . Aber da Aristoteles<br />
39<br />
Dyck, Joachim: <strong>Topik</strong>, in: Fischer Lexikon Literatur, Bd. 3 (N-Z), hrsg. von Ulfert Ricklefs, Frankfurt<br />
1997, 1844–1856, hier: S. 1844. (nachfolgend zit. als: Dyck, <strong>Topik</strong>)<br />
40<br />
Plett, Heinrich F.: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 1973, 2. durchgesehene Aufl.<br />
(zuerst 1971), hier: S. 12. (nachfolgend zit. als: Plett, Rhetorische Textanalyse)<br />
41<br />
Dyck, Ticht-Kunst, S. 42-43.<br />
42<br />
Viehweg, Theodor: <strong>Topik</strong> und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung,<br />
München 1974, 5. und erw. Aufl. (zuerst 1953), hier: S. 19. (nachfolgend zit. als: Viehweg, <strong>Topik</strong><br />
und Jurisprudenz)<br />
43<br />
ebd., S. 21.<br />
44<br />
ebd.<br />
45<br />
Wiedemann zitiert hier den Eingangssatz der Aristotelischen <strong>Topik</strong>-Schrift (Top. I, 1 100a) in der Übersetzung<br />
von Rolfes: „Unsere Arbeit verfolgt die Aufgabe, eine Methode zu finden, nach der wir über jedes<br />
aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse bilden können und, wenn wir selbst Rede<br />
stehen sollen, in keine Widersprüche geraten“ (Übersetzung Rolfes, S. 1).<br />
46<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 240.<br />
47<br />
Fischer, Ludwig: <strong>Topik</strong>, in: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft. Band 1: Literaturwissenschaft,<br />
hrsg. von Heinz Ludwig Arnold/Volker Sinemus, München 1973, 157–164, hier: S. 158.<br />
(nachfolgend zit. als: Fischer, <strong>Topik</strong>)<br />
21
auch im Zuge der erneuten Behandlung der Topoi in seiner Rhetorik-Schrift „in breiter<br />
Form die konkrete Vielfalt möglicher Argumente auf konstitutive Muster (tópoi) von<br />
Argumenten [...zurückführe - so Kopperschmidt -], die innerhalb einer Argumentation<br />
jeweils aktualisiert werden könn[t]en“ 48 , behalte - wie Fischer betont - „[...] der Topos<br />
im wesentlichen seine formale Struktur“ 49 .<br />
„Größere geschichtliche Wirkung als die <strong>Topik</strong> des Aristoteles [...hätte - laut Viehweg<br />
- allerdings] Ciceros <strong>Topik</strong>“ 50 gehabt. Entwerfe Aristoteles „in seiner <strong>Topik</strong> eine Theorie<br />
der Dialektik (hier im Sinne von Unterredungskunst [...])“ 51 , so sei Cicero vor allem an<br />
der Wirksamkeit der <strong>Topik</strong> und der Topoikataloge für die rhetorische Praxis interessiert:<br />
er verstehe „unter <strong>Topik</strong> eine Praxis der Argumentation, die einen solchen Topoikatalog<br />
[...handhabe]“ 52 . „Das philosophische Anliegen [...sei somit] in seiner Wirkung [...]“ 53<br />
verblaßt.<br />
So leite sich dann - wie Dyk zusammenfaßt - die „wichtige schul- und traditionsbil-<br />
dende Begrifflichkeit der <strong>Topik</strong> [...] von Cicero und [dann auch von ] Quintilian her“ 54 :<br />
die „klassische Definition“ 55 der Topoi, von der - wie ich meine - die ‘formale <strong>Topik</strong>’<br />
ausgeht, finde sich „bei Quintilian, der die Topoi ›sedes argumentorum‹ (Fundstellen der<br />
Beweise) [...nenne] und zur Illustration den Vergleich mit den Tieren [...gebrauche], die<br />
man nur dann [...antreffe], wenn man [...wisse], wo sie leben: So verhalte es sich auch<br />
mit den Argumenten (inst. or. 5, 10, 22)“ 56 . „Die lokale - <strong>oder</strong> im übertragenen Sinne,<br />
formale - Bedeutung des Begriffs [locus ... stehe also - wie Mertner betont -] bei einer<br />
solchen Definition ganz außer Frage“ 57 . Auch Cicero erkläre - so Dyck - die Funktion<br />
der Topoi metaphorisch, in dem er auf das Gold verweise, „das jeder ohne große Mühe<br />
finden und ausgraben könne, wenn man ihm die Kennzeichen des Ortes anzeige (de or.<br />
2, 41, 174)“ 58 . Oder wie Cicero es an anderer Stelle formuliert:<br />
48<br />
Kopperschmidt, Josef: Allgemeine Rhetorik. Einführung in die Theorie der Persuasiven Kommunikation,<br />
Stuttgart 1973, hier S. 142. (nachfolgend zit. als: Kopperschmidt, Allgemeine Rhetorik)<br />
49<br />
Fischer, <strong>Topik</strong>, S. 158.<br />
50<br />
Viehweg, <strong>Topik</strong> und Jurisprudenz, S. 25.<br />
51<br />
ebd., S. 29.<br />
52<br />
ebd.<br />
53<br />
ebd.<br />
54<br />
Dyck, <strong>Topik</strong>, S. 1846.<br />
55<br />
ebd., S. 1844.<br />
56<br />
Dyck, <strong>Topik</strong>, S. 1844.<br />
57<br />
Mertner, Edgar: Topos und Commonplace, in: Strena Anglica. Otto Ritter zum 80. Geburtstag am 9.<br />
Januar 1956, hrsg. von Gerhard Dietrich/Fritz W. Schulze, Halle 1956, 178–224, hier: S. 187. (nachfolgend<br />
zit. als: Mertner, Topos und Commonplace)<br />
58<br />
Dyck, <strong>Topik</strong>, S. 1844.<br />
22
„Also: Ebenso wie die Auffindung von Dingen, die versteckt sind, dann leicht ist, wenn ihr<br />
Ort bezeichnet und bekannt ist, genauso muß man, wenn man irgend ein Argument auffinden<br />
will, solche Stellen kennen. Mit diesem Namen - ›Stelle‹ - sind nämlich von Aristoteles diese,<br />
wenn man so will, ›Wohnsitze‹ bezeichnet, aus denen man sich Argumente holt [sedes, e<br />
quibus argumenta promuntur]. Man kann also folgendermaßen definieren: Stelle ist der Sitz<br />
eines Arguments [locum esse argumenti sedem...]“ 59 .<br />
Nach Maßgabe der beiden entscheidenden, schulbildenden Autoren Cicero und<br />
Quintilian stelle sich also - so Mertner - als die „ursprüngliche [...] Bedeutung des Wor-<br />
tes locus“ 60 die „lokale“ 61 heraus, „die schließlich dem Wort von Haus aus [...inne-<br />
wohne]“ 62 , so daß sich über einen authentischen Topos-Begriff sagen lasse, daß die De-<br />
finition des locus als ‘Stelle’, ‘Ort’, ‘Sitz’ und ‘Fundort’ der Argumente die „inhaltliche<br />
Bestimmung dessen, was an dem Ort gefunden werden [...könne]“ 63 , ausschließe.<br />
Die <strong>Topik</strong> ist also - wie sich meiner Meinung nach aus dem Blickwinkel der<br />
‘formalen <strong>Topik</strong>’ sagen läßt - ein Erschließungsinstrument (im Sinne der oben in Bezug<br />
auf Vico angedeuteten allein von <strong>Topik</strong> geleisteten Erschließung des sensus communis),<br />
eine Findesystematik von Argumenten aus diesem „Fundus des gesellschaftlichen Kol-<br />
lektivwissens“ 64 , also auf jeden Fall „- allen Mißdeutungen zum Trotz - nicht das En-<br />
semble solcher sozialer Gewißheiten [selbst], sondern die Methode ihrer situativen Ak-<br />
tualisierung für die Lösung praktischer Problemlagen“ 65 .<br />
Um diese Methode der <strong>Topik</strong> zu einem effektiven Instrument der Findekunst werden<br />
zu lassen, müßten - wie Dyck Cicero wiedergibt - diese Fundstellen „dem Redner voll-<br />
kommen vertraut sein. Wie beim Schreiben die Buchstaben ohne Anstrengung aus der<br />
Feder fließen [würden], so soll[t]en ihm auch die loci jederzeit präsent sein (de or. 2, 30,<br />
130)“ 66 . Durch die routinierte Handhabung der Topoi - der Redner <strong>oder</strong> Dichter müsse<br />
„die Fundstätten [...] systematisch abfragen“ 67 - gelange die <strong>Topik</strong> - wie Wiedemann<br />
schreibt - an ihr Ziel:<br />
59 Topica II, 7, 4–8, 1 (Übersetzung Zekl, S. 7).<br />
60 Mertner, Topos und Commonplace, S. 179.<br />
61 ebd.<br />
62 ebd., S. 181.<br />
63 ebd.<br />
64 Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 239.<br />
65 Kopperschmidt, <strong>Topik</strong> und Kritik, S. 177.<br />
66 Dyck, <strong>Topik</strong>, S. 1844. Was Cicero hier noch als Anweisung formuliert, ist für Vico ein herausragendes<br />
Merkmal der topischen Wissenschaft gegenüber der kritischen Wissenschaft: „Die in der <strong>Topik</strong> [...] Geübten<br />
[...] besitzen, da sie gewohnt sind, beim Reden alle Punkte, wo Argumente bereit liegen, wie die<br />
Buchstaben des Alphabets zu durchlaufen, damit schon die Fähigkeit, ohne weiteres zu sehen, was jeweils<br />
in der vorliegenden Sache überzeugend gemacht werden kann“ (Vico, De nostri, S. 31).<br />
67 Plett, Rhetorische Textanalyse, S. 12.<br />
23
„Sie gewährleistet Reichhaltigkeit (copia) und Variabilität (varietas) der argumentativen<br />
Mittel in allen lebensweltlichen Fragen, <strong>oder</strong> anders ausgedrückt, sie ordnet und aktiviert<br />
Einbildungskraft und Gedächtnis, wobei offensichtlich der Umgang mit vorgegebenen Fragereihen<br />
(topoi, loci) <strong>oder</strong> Frageinventaren eine entscheidende Rolle spielt“ 68 .<br />
Diese systematische „Suche nach Gedanken (res), die zur Bewältigung der speziellen<br />
Situation im Hinblick auf die intendierte Wirkung geeignet [...seien]“ 69 , setze - wie Die-<br />
ter Breuer bemerkt - „voraus, daß der ›Redner‹ aufgrund einer entsprechenden Vorbil-<br />
dung [...] über eine ausreichende Menge von Gedanken (Copia rerum) verfügen<br />
[...könne]“ 70 . ‘Reichhaltigkeit’ und ‘Variabilität’ würden also nicht „im freien Spiel der<br />
Phantasie <strong>oder</strong> in visionären Zuständen“ 71 , sondern „planvoll durch [in ständiger Übung<br />
verfeinerter] Erinnerung an Gelerntes“ 72 erreicht werden. Invention heiße „also ›Finden<br />
durch Erinnerung‹ [- wie Breuer weiter schreibt -] mit Hilfe einer optimalen Erinne-<br />
rungstechnik. Dem [...liege] eine bestimmte [...] Vorstellung vom Gedächtnis zugrunde:<br />
das Gedächtnis als räumliches Ganzes, in dessen einzelnen Raumteilen (Örter, Topoi,<br />
Loci) die einzelnen Gedanken gespeichert [...seien]“ 73 . Die Gesamtheit der Topoi würde<br />
somit - wie Breuer ausführt - die Copia rerum enthalten, wobei hier die Betonung auf<br />
‘enthalten liegt: die Topoi sind für ihn die „Sitze der Gedanken bzw. Argumente [...],<br />
nicht die konkreten Argumente selbst“ 74 . Topoi seien somit quasi „Adressen für Teil-<br />
mengen von gespeicherten Gedanken“ 75 . Der Begriff <strong>Topik</strong> bezeichne also nicht die Ge-<br />
samtheit der Gedanken, sondern „die Summe der Adressen (Abrufschemata) für die je-<br />
weilige Grundmenge der gespeicherten Gedanken (Argumente)“ 76 . Diese ‘Adressen’<br />
würden dann methodisch durchlaufen, die Stellen der Argumente systematisch aufge-<br />
sucht werden, um die „zum situationsbedingten Redeanlaß (Thema) passenden Gedan-<br />
ken und Materialien (Stoffsammlung)“ 77 zu finden.<br />
Gleichwohl aber fehle laut Dyck eine „eindeutige Systematik“ 78 der <strong>Topik</strong>. Die Zahl<br />
der Topoi schwanke je Autor, bleibe äußerst variabel, wie Fischer mit folgenden Beispie-<br />
68 Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 239.<br />
69 Breuer, Dieter: Einführung in die pragmatische Texttheorie, München 1974, hier: S. 159. (nach-folgend<br />
zit. als: Breuer, Pragmatische Texttheorie)<br />
70 ebd., S. 160.<br />
71<br />
ebd., S. 159.<br />
72<br />
ebd.<br />
73<br />
ebd., S. 160.<br />
74<br />
ebd.<br />
75<br />
ebd.<br />
76<br />
ebd.<br />
77<br />
ebd.<br />
78<br />
Dyck, <strong>Topik</strong>, S. 1846.<br />
24
len aufzeigt: „Cicero etwa teilt zunächst nach Loci auf, die sich aus der Sache selbst er-<br />
geben (Definition, Aufteilung, Name) und nach solchen, die an die Sache herangetragen<br />
werden (Verwandtes, Gattung, Art, Ähnlichkeit, Gegensatz usw.); Quintilian unterschei-<br />
det Loci im Bezug auf die Person [loci a persona] von anderen im Bezug auf die Sache<br />
[...loci a re]“ 79 . So könne man, um von einer Person zu reden - wie Breuer ausführt -,<br />
Argumente für diese Rede etwa herausholen aus den Stellen: „genus (Abkunft), natio<br />
(Stammeszugehörigkeit), patria (Staatsangehörigkeit), sexus (Geschlecht), aetas (Le-<br />
bensalter), educatio et disciplina (Erziehung, Ausbildung) [...usw]“ 80 . Argumente für<br />
eine Rede zur Sache finde man etwa an den Stellen: „a causa (Tatmotiv, Ursache-<br />
Wirkungs-Verhältnis), a loco (Ort des in Frage stehenden Geschehens), a modo<br />
(Durchführung der Tat), a facultate (hilfreiche Umstände, Hilfsmittel), a finitione (partei-<br />
ische Umschreibung des Tatbestandes) [...usw.]“ 81 .<br />
Die hier zuletzt angesprochene „sog. Sachtopik (›a re‹) [...sei - wie Wiedemann<br />
schreibt -] zu einer Art Identifikationsformel für <strong>Topik</strong> überhaupt geworden. Und tat-<br />
sächlich [...müsse sie seiner Ansicht nach] als die bis heute praxiswirksamste und zeit-<br />
unabhängigste <strong>Topik</strong> gelten“ 82 . Ein beliebte Fassung dieser Art von <strong>Topik</strong> wäre - so Plett<br />
- z.B. der hexametrische „Merkspruch des Matthieu de Vendòme (12. Jh.): ›Quis, quid,<br />
ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando‹ (wer, was, wo, wodurch, warum, auf welche<br />
Weise, wann)“ 83 gewesen.<br />
Die handliche Dimension einer solchen Reihe sei laut Wiedemann natürlich nicht<br />
naturbedingt, sondern das Ergebnis einer methodisch-zweckhaften Reduktion. Katego-<br />
riallogisch ließe sich eine Reihe „sehr viel umfänglicher, ja sogar unabschließbar vorstel-<br />
len, einzelne Topoi könn[t]en ausgetauscht, spezifiziert und unterteilt werden, vor allem<br />
aber [...könne] jeder Topos wiederum eine eigene Reihe von Unterkategorien ausbil-<br />
den“ 84 . Aber topische Kategorienbildung dürfe - wie Wiedemann betont - „nicht mit<br />
einer beliebigen ›Topographie‹ des Interessanten und Einprägsamen verwechselt werden,<br />
sondern [...stelle] ein auf argumentative Vielfalt und Kompetenz ausgerichtetes Denken<br />
in Reihen dar. Rhetorische Toposkataloge [...würden] dementsprechend alle diejenigen<br />
Bereiche [erschließen], in denen argumentative Qualitäten verborgen [...lägen]“ 85 . Hi-<br />
79<br />
Fischer, <strong>Topik</strong>, S. 159.<br />
80<br />
Breuer, Pragmatische Texttheorie, S. 160.<br />
81<br />
ebd.<br />
82<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 240.<br />
83<br />
Plett, Rhetorische Textanalyse, S. 12.<br />
84<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 240.<br />
85 ebd., S. 242.<br />
25
storische <strong>Topik</strong> könne sich also „auf ganz unterschiedliche Aspekte des rhetorisch-<br />
argumentativen Prozesses beziehen, auf die abgehandelte Sache 86 so gut wie auf die Ar-<br />
gumentationsweisen 87 <strong>oder</strong> die denkbaren Argumentationsquellen 88 , wobei freilich zeit-<br />
und disziplinenspezifische Interessen in Rechnung zu stellen [...seien]“ 89 .<br />
<strong>Topik</strong> wäre somit- um Wiedemann weiter zu folgen - „nach ihrem höchsten Ver-<br />
ständnis als ›Techne des Problemdenkens‹ (Theodor Viehweg) 90 definiert, und ihre ent-<br />
sprechende Aufgabe bestünde darin, durch die Analyse der Problemlage (mit Hilfe kate-<br />
gorialer Inventarien) verläßliche Argumentationshilfe zu geben“ 91 .<br />
„Reichhaltigkeit (copia) und Variabilität (varietas) der argumentativen Mittel“ 92 errei-<br />
che die <strong>Topik</strong> aber nicht nur dadurch, daß sie helfe, Argumente aufzufinden. Wie Dyck<br />
darlegt, liege ihre Aufgabe darüberhinaus „[...] darin, einen Satz, eine Sache, ein Thema<br />
zu amplifizieren“ 93 , wobei die Amplifikation ein Mittel zur Überzeugung der Hörer sei<br />
und pathoserregend wirke. Heinrich Lausberg schreibt dazu: „Der amplificatio dienen<br />
res et verba [...], also die Mittel der inventio [...] und der elocutio [...]“ 94 . Durch diese<br />
Trennung zwischen der Inventio und der Elocutio auch im Bereich der Amplifikation<br />
werde aber deutlich, daß die Topoi als Hilfsmittel der Amplifikation nicht als schon fer-<br />
tige Versatzstücke, als wörtlich vorliegende Argumente zur Steigerung der Wirkung<br />
vorlägen: „Die Inventionsmittel der amplificatio sind [vielmehr] identisch mit den Be-<br />
weis-loci [...]“ 95 . In der Amplifikation werden laut Wiedemann die „kategoriale[n] Such-<br />
formel[n]“ 96 nun allerdings nicht dazu benutzt, um „das eine treffende, sondern viele<br />
86<br />
Im Sinne der „sog. Sachtopik (›a re‹) [..., die] zu einer Art Identifikationsformel für <strong>Topik</strong> überhaupt<br />
geworden [ist]. Und tatsächlich muß sie mit ihren Suchörtern an persona, a re, a loco, a circumstantiis, a<br />
causa, a modo, a tempore als die bis heute praxiswirksamste und zeitunabhängigste <strong>Topik</strong> gelten“ (ebd.,<br />
S. 240).<br />
87<br />
Wiedemann bezieht sich hier auf Aristoteles’ „Modaltopik“ (ebd.).<br />
88<br />
Wiedemann gibt „die loci-Reihe eines jesuitischen Theoretikers aus dem 17. Jhdt. [...als Beispiel an, mit]<br />
11 ›fontes inventionis‹ [..., die deutlich machen, daß es hierbei] nicht darum[gehe], den Problemgehalt<br />
eines Falles zu erschließen <strong>oder</strong> den Fundus möglicher Argumentationsweisen, sondern vielmehr um den<br />
Nachweis all derjenigen Quellen, die auf Grund ihrer autoritativen <strong>oder</strong> traditionellen Geltung überzeugungskräftige<br />
Argumente bereithalten [...]“ (ebd., S. 240-241).<br />
89<br />
ebd., S. 241.<br />
90<br />
vgl. Viehweg, <strong>Topik</strong> und Jurisprudenz, S. 14 u. S. 31ff.<br />
91<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 244.<br />
92<br />
ebd., S. 239.<br />
93<br />
Dyck, Ticht-Kunst, S. 53.<br />
94<br />
Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1973, 2. Auflage (zuerst 1960 in<br />
zwei Bänden erschienen), hier: S. 145 (§ 259). (nachfolgend zit. als: Lausberg, Handbuch der literarischen<br />
Rhetorik)<br />
95<br />
ebd.<br />
96 Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 245.<br />
26
gleichartige Argumente zu finden“ 97 . Vielmehr diene <strong>Topik</strong> hier der „Breite“ 98 der Dar-<br />
stellung, die - um an Dyck anzuknüpfen - z.B. durch die Anwendung des ‘locus ex simi-<br />
libus’ 99 erreicht werde: dieser stütze die Suche nach geeigneten Argumenten, die „von<br />
außen an die Sache herangetragen werden. [...Solche Argumente seien beispielsweise]<br />
Vergleiche, Parabeln, Exempla, historische Parallelen, Allegorien, poetische Fabeln“ 100<br />
<strong>oder</strong> auch Metaphern, die „dazu beitragen [würden], eine Sache eindringlicher zu ma-<br />
chen, sie ins rechte Licht zu heben und dem Zuhörer den Sachverhalt anschaulich und<br />
deutlich vor Augen zu stellen“ 101 . „Beweiskraft und Autorität [...erhielten] diese Argu-<br />
mente [...] allein dadurch, daß sie mit der zu beweisenden Sache in einer Beziehung<br />
[...stünden]. Diese Beziehung [...werde] durch die Ähnlichkeit (similitudo [...]) herge-<br />
stellt, der Topos, aus dem diese Argumente zu beziehen [...wären, sei] der ›locus ex<br />
similibus‹“ 102 . Er leite - so Dyck - die Suche nach Analogien, „die aus der Natur und<br />
dem allgemeinen menschlichen Leben entnommen [...würden], also aus Bereichen, die<br />
der Erfahrung jedes Publikums [...entsprächen]“ 103 .<br />
Eine „besondere Erscheinung der amplificatio“ 104 sei nun aber - wie Dyck an Mertner<br />
anknüpfend ausführt - der „locus communis ([griech.] koinos topos), der englisch mit<br />
›common-place‹ und nach dem Englischen im Deutschen mit ›Gemeinplatz‹ wiederge-<br />
geben [...]“ 105 worden sei. Es hätte - wie Dyck fortfährt - in der Antike verschiedene<br />
Auffassungen von locus communis gegeben, aber wie im Falle der loci der Inventio fin-<br />
de sich auch „die traditionelle [...] bei Cicero und Quintilian“ 106 . Demnach erschienen<br />
bei „[...] näherer Betrachtung [...] diese einzelnen loci nicht so sehr als Fundörter für<br />
Argumente, sondern als allgemeine Erwägungen, die freilich aus dem speziellen Einzel-<br />
fall erwachsen“ 107 und „sich besonders gut zur Überzeugung [...eignen würden]“ 108 . „Die<br />
Bedeutung ‘allgemeine Erwägung, die sich besonders gut zu rednerischer Bearbeitung<br />
eignet’ für locus communis [...scheine - so Mertner -] weit verbreitet gewesen zu<br />
97<br />
ebd.<br />
98<br />
ebd.<br />
99<br />
vgl. Dyck, Ticht-Kunst, S. 54.<br />
100<br />
ebd.<br />
101<br />
ebd., S. 55.<br />
102<br />
ebd., S. 54.<br />
103<br />
ebd.<br />
104<br />
Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 221 (§ 400).<br />
105<br />
Dyck, <strong>Topik</strong>, S. 1847.<br />
106<br />
ebd.<br />
107<br />
Mertner, Topos und Commonplace, S. 189.<br />
108 Dyck, <strong>Topik</strong>, S. 1847.<br />
27
sein“ 109 . So daß er zusammenfaßt, es seien „im wesentlichen diese beiden Bedeutungen<br />
von Topos <strong>oder</strong> locus communis [gewesen], die lokale der sedes argumentorum und die<br />
des allgemeinen Themas, die sich über das Mittelalter bis zum Absterben der Rhetorik<br />
überhaupt in der Neuzeit fortgesetzt“ 110 hätten. Diese beiden Bedeutungen seien ausein-<br />
anderzuhalten: denn der „locus communis [...werde] nicht beim Beweis, sondern bei der<br />
Erweiterung und Intensivierung einer bereits bewiesenen Sache eingesetzt“ 111 . Die „Be-<br />
schränkung auf [...] die amplificatio [...liege] damit fest“ 112 , so daß sich eine Verwässe-<br />
rung der lokalen Bedeutung der Beweis-loci (verstanden als ‘sedes argumentorum’) aus-<br />
schließen lasse. Diese Trennung gelte, obwohl - wie Mertner zugibt - „natürlich nicht<br />
übersehen werden [solle], daß es zwischen diesen beiden ein Feld [...gebe], auf dem sich<br />
manche Bedeutungsnuancen des Begriffs angesiedelt [...hätten]“ 113 .<br />
Allerdings werfen - meiner Ansicht nach - auch diese ‘Bedeutungsnuancen’ kein an-<br />
deres, kein materielles Licht auf die ursprüngliche, lokale Bedeutung der loci 114 , denn es<br />
ist für die formale Lesart der Geschichte der <strong>Topik</strong> deutlich, daß auch im Falle der loci<br />
communes an der ursprünglichen und formalen Bedeutung festzuhalten ist. Denn bei den<br />
loci communes handle es sich - wie Mertner darlegt - „genauer gesagt [... um] Themen<br />
für allgemeine Erwägungen“ 115 , also um Klassifikationen, unter denen allgemeine Ar-<br />
gumente zu finden seien: Argumente, die über den Einzelfall hinausweisen würden. In<br />
diesem Sinne spräche etwa Quintilian von den loci communes, mit denen man „über die<br />
Personen hinaus abschließend gegen die Laster selbst wie gegen Ehebruch, Würfelspiel<br />
<strong>oder</strong> Wollust rede[...]“ 116 .<br />
Darum sage Cicero - wie Dyck schreibt -, „daß loci communes auf viele Fälle ange-<br />
wendet werden könn[t]en (de inv. 2, 15, 48)“ 117 . Und Mertner betont, daß die „formale<br />
Bedeutung [des locus communes (koinos topos, Gemeinplatzes)] ‘Thema für allgemeine<br />
Erwägungen für <strong>oder</strong> gegen eine Sache’ [...] damit fest[liege]“ 118 . Ludwig Fischer faßt<br />
109<br />
Mertner, Topos und Commonplace, S. 189.<br />
110<br />
ebd, S. 191.<br />
111<br />
ebd., S. 190.<br />
112<br />
ebd.<br />
113<br />
ebd., S. 191.<br />
114<br />
Obwohl meiner Meinung nach die Bedeutung ‘allgemeine Erwägung’ durchaus eine <strong>materiale</strong> Deutung<br />
der loci zuläßt: Dyck selber schreibt, daß solch „allgemeine Erwägungen [...] als Versatzstücke in Reden<br />
über bestimmte Fälle [dienten. Sie] wurden auch zum Auswendiglernen aufgegeben und in Mustersammlungen<br />
veröffentlicht“ (Dyck, <strong>Topik</strong>, S. 1848). Aber unter ‘Versatzstücke’ sind - so wie ich dieses<br />
Wort verstehe - durchaus materielle, inhaltliche Bestandteile einer Rede zu verstehen.<br />
115<br />
Mertner, Topos und Commonplace, S. 189.<br />
116 ebd.<br />
117 Dyck, <strong>Topik</strong>, S. 1848.<br />
118 Mertner, Topos und Commonplace, S. 190.<br />
28
dann zusammen, daß in jedem Falle gelte:<br />
„Nie [...] meinen die Loci die Inhalte der Argumente, selbst wo sie ›loci communes‹ heißen -<br />
Topoi, die nicht nur auf eine bestimmte Sache zutreffen, sondern zu Argumenten allgemeinster<br />
Art führen [...]. Sogar als im Humanismus die Verwendung von ›locus [communis]‹ im<br />
Sinne von ›Rubrik‹, ›titulus‹, unter dem man Exzerpte, Zitate, Gedanken einträgt, im akademischen<br />
Unterricht wichtig wird, sind die Loci Einteilungskategorien, nicht aber die Inhalte<br />
des gesammelten Traditionsgutes“ 119 .<br />
Fischers letzter Hinweis auf die Verwendung der loci communes als Einteilungskate-<br />
gorien weist auf die weitere Aufgabe hin, die der <strong>Topik</strong> in ihrer langen Geschichte zu-<br />
gewiesen wurde. Die „Schemata der rhetorischen Findungslehre [...seien - so Dyck -]<br />
auch in den Dienst einer Materialsammlung von Zitaten, Einfällen <strong>oder</strong> Exempeln ge-<br />
stellt“ 120 worden. Die loci communes der Amplifikation würden dabei nicht benutzt<br />
werden, um eine Rede zu ‘verbreitern’, ihre Wirkung zu steigern, sondern um der sich<br />
stetig verbreiternden Basis an materiellem Wissenszuwachs mittels des formalen Rüst-<br />
zeugs der <strong>Topik</strong> eine Struktur zu geben, die es erlaube, die Gesamtheit des Wissens ver-<br />
fügbar zu halten: „Die Fülle an Wissen, die das intensive Studium der antiken Texte her-<br />
vorgebracht hatte, bedurfte seit dem Humanismus dringend der Gliederung und der Or-<br />
ganisation“ 121 , schreibt Dyck.<br />
Auch im Rahmen dieser Instrumentalisierung als Ordnungsschemata seien die Topoi<br />
loci communes genannt worden, da sich unter ihnen als Titel viele ‘Fälle’ subsumieren<br />
ließen, „weil sie sowohl alles, was sich über eine Sache sagen läßt, wie auch alle Argu-<br />
mente in sich enthalten [würden]“ 122 :<br />
„Hatte die <strong>Topik</strong> ursprünglich den Sinn, das Suchen und Auffinden zu erleichtern, so liegt<br />
ihre Hauptfunktion nun darin, als Einteilungsschema für gesammelten geistigen Vorrat zu<br />
dienen, der, in Schatzkammern, Goldgruben, Promptuarien und Florilegien aufbewahrt und<br />
unter die Loci communes verteilt, in dauernder Bereitschaft darauf wartet, genutzt zu werden“<br />
123 .<br />
Die Betonung liegt - meiner Auffassung nach - (mit Blick auf die formale Bestim-<br />
mung der Topoi) aber auch hier auf ‘unter die Loci communes verteilt’, da all das, was<br />
laut Fischer „[...]seit der Antike in Kollektaneen, Florilegien, Thesauren zusammenge-<br />
tragen [...werde,] nie die Topoi selbst, sondern nur die einmal als Argumente verwandten<br />
119<br />
Fischer, <strong>Topik</strong>, S. 159.<br />
120<br />
Dyck, <strong>Topik</strong>, S. 1849.<br />
121<br />
ebd.<br />
122<br />
Dyck, <strong>Topik</strong>, S. 1850.<br />
123<br />
Dyck, Ticht-Kunst, S. 64.<br />
29
Exempla, Sentenzen, Bilder und dergleichen [seien]“ 124 . So lautet nun Mertners eindeu-<br />
tiges Resümee aus zweitausend Jahren <strong>Topik</strong>-Geschichte folgendermaßen:<br />
„[...] ob die <strong>Topik</strong> nun eine Technik war, Argumente zu finden, <strong>oder</strong> ein Mittel, bestimmte<br />
Darlegungen auszuweiten <strong>oder</strong> zu intensivieren, <strong>oder</strong> eine Methode, überhaupt Dinge zu<br />
entdecken, ob der locus nun weit <strong>oder</strong> eng gefaßt wurde, als großer Schrank mit vielen Fächern<br />
gewissermaßen <strong>oder</strong> nur als einzelnes Fach in dem Schrank (<strong>oder</strong> beides zu gleicher<br />
Zeit), die Grundbedeutung wurde in keinem Falle verlassen. Locus bezeichnet eine Methode,<br />
Technik <strong>oder</strong> Norm, ein Instrument zur Auffindung einer Sache, niemals aber die Sache<br />
selbst“ 125 .<br />
Eine Bestimmung, an der nach Auffassung der ‘formalen <strong>Topik</strong>’ festzuhalten ist,<br />
damit sich - wie Kopperschmidt es ausdrückt - der „grundsätzlich heuristische[...] Cha-<br />
rakter der <strong>Topik</strong> [erweise. ...] Heuristisch [...aber sei] dieses Verfahren, insofern es An-<br />
weisungen zum erfolgreichen Auffinden von Argumenten [...formuliere], die innerhalb<br />
des argumentativen Begründungszusammenhanges eine bestimmte Problemlösung stüt-<br />
zen sollen. Als heuristisches Verfahren [...weise] sich die <strong>Topik</strong> als eine Methode [...]<br />
aus, die eo ipso formal, nicht inhaltlich bestimmt [...sei]“ 126 .<br />
Diese „begrifflich genauere und substantiellere“ 127 Bestimmung nicht anerkennen zu<br />
wollen, denn laut Wiedemann gebe es hier „viel Ungenauigkeit, Naivität und Wider-<br />
sinn“ 128 , führe also zu der von ihm als „objektive Schwierigkeit[...]“ 129 bezeichneten<br />
Situation, daß neben der „wahr[en]“ 130 <strong>Topik</strong>-Auffassung auch eine „falsch[e]“ 131 kur-<br />
siere.<br />
124 Fischer, <strong>Topik</strong>, S. 159. Dieser generelle formale Charakter bleibt unangetastet, auch wenn - wie Wiedemann<br />
ausführt - solche topischen Einteilungsschemata u.a durch die Tendenz charakterisiert seien,<br />
sich kategorial zu präzisieren, zu wuchern und in Unterkataloge abzuspalten, was die Gefahr mit sich<br />
brächte, „daß bei fortschreitender Unterteilung und Verfeinerung der Topoi diese ihren begrifflichkategorialen<br />
Charakter verlieren und in die Argumente selbst übergehen“ (Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule,<br />
S. 243)<br />
125 Mertner, Topos und Commonplace, S. 191.<br />
126 Kopperschmidt, Allgemeine Rhetorik, S. 140.<br />
127 Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 235.<br />
128 ebd.<br />
129 ebd.<br />
130 ebd., S. 233.<br />
131 ebd.<br />
30
Aktualisierung der <strong>Topik</strong><br />
als Instrument der Interpretation<br />
In Anbetracht einschlägiger Topoikataloge wie etwa des Hexameterverses des Matthieu<br />
de Vendòme 132 meint Uwe Hebekus in einer Einführung in die Literaturwissenschaft,<br />
daß solche „bündiges Handbuchwissen aufnehmende Reduktion der <strong>Topik</strong> [...] nicht<br />
darüber zu belehren [vermöge], worin der literaturwissenschaftliche Nutzen fundierter<br />
<strong>Topik</strong>-Kenntnis liegen könnte. Eher fühle man sich, namentlich durch den Blick auf die<br />
genannten Toposkataloge, an die triviale Richtigkeit des Erkennungsliedes erinnert, das<br />
die zahlreichen Folgen einer einstmals sozialisationsprägenden TV-Kinderserie eröffne-<br />
te: ›Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum!/Wer nicht fragt, bleibt dumm‹“ 133 .<br />
Und in der Tat sei - wie Wiedemann schreibt - das „methodische Phänomen der To-<br />
pik, so wie es hier entfaltet worden ist, [...] ja tatsächlich trivial“ 134 , aber trivial - wie er<br />
betont - „im historisch besten Sinne des Wortes, nämlich dem der Vorschule“ 135 . Die<br />
‘nicht-exakten Wissenschaften’ seien auf diese ‘Vorschule’ angewiesen, und deshalb<br />
hätte eine angemessene Aktualisierung der <strong>Topik</strong> an den ursprünglich inventorischen,<br />
heuristischen Charakter anzuknüpfen.<br />
Denn <strong>Topik</strong> sei als „Methode des Erkennens“ 136 im Bereich der konsensorientierten<br />
‘nicht-exakten Wissenschaften’ definiert, wie Peter Hess die formale, sogenannte „›rich-<br />
tige‹“ 137 Auffassung von <strong>Topik</strong> zusammenfaßt. Als ‘Methode des Erkennens’ sei <strong>Topik</strong> -<br />
wie Wiedemann betont - angewiesen auf den „Umgang mit vorgegebenen Fragereihen<br />
(topoi, loci)“ 138 , denn in der Organsisationsfigur der kategorialen ›Reihe‹ - „<strong>oder</strong> genauer<br />
noch: des kategorialen Inventars [... - müsse] das Grundkonstituens einer wesentlich<br />
verstandenen <strong>Topik</strong> liegen - <strong>oder</strong> es [...gebe] keines“ 139 .<br />
„Topoi sind also Kategorien zur Befragung, Bewältigung und Einordnung von Wirk-<br />
lichkeit“ 140 , schreibt Hess. Der reflektierte und routinierte Umgang mit ihnen verspreche<br />
132<br />
„›Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando‹ (wer, was, wo, wodurch, warum, auf welche<br />
Weise, wann)“, zit. nach: Plett, Rhetorische Textanalyse, S. 12.<br />
133<br />
Hebekus, Uwe: <strong>Topik</strong>/Inventio, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hrsg. von Miltos Pechlivanos/Stefan<br />
Rieger/Wolfgang Struck/Michael Weitz, Stuttgart/Weimar 1995, 82-96, hier: S. 82.<br />
134<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 251.<br />
135<br />
ebd.<br />
136<br />
Hess, Peter: Zum Toposbegriff der Barockzeit, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch Bd. 10<br />
(Rhetorik der frühen Neuzeit), hrsg. von Joachim Dyck, Tübingen 1991, 71–88, hier: S. 75. (nachfolgend<br />
zit. als: Hess, Zum Toposbegriff der Barockzeit)<br />
137<br />
ebd.<br />
138<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 239.<br />
139<br />
ebd.<br />
140<br />
Hess, Zum Toposbegriff der Barockzeit, S. 73.<br />
31
laut Wiedemann, zumindest der Idee nach, „[...] einem Autor (Redner) <strong>oder</strong> einem Inter-<br />
preten den Umfang aller realen <strong>oder</strong> denkbaren Alternativen zu einem jeweils zu aktua-<br />
lisierenden <strong>oder</strong> bereits aktualisierten Textphänomen zu erschließen“ 141 .<br />
Allerdings sei diese Idee - wie Wiedemann feststellt - nicht realisiert, denn ein „to-<br />
pisches Bewußtsein, das uns die Aspekte des ästhetischen Kommunikationsprozesses in<br />
einem System von kategorialen Fragebögen vollständig erschlösse, [...gäbe es] weder in<br />
der m<strong>oder</strong>nen Ästhetik noch Hermeneutik“ 142 . Ja, es wäre - wie Wiedemann sogar<br />
schreibt „- realiter - auch ein Hirngespinst. Kein Dichter und wohl auch kein Interpret<br />
[...durchlaufe] bei seiner Arbeit eine planmäßig angeordnete Reihe von Fragebö-<br />
gen[...]“ 143 .<br />
Gleichwohl sei an der topischen Methode als einer „Produktions- und Verstehenshil-<br />
fe“ 144 festzuhalten, denn „überall in unserer Lebenswelt, wo Entscheidungen fallen, und<br />
erst recht auf literarischem Felde, [seien] Toposkataloge bewußt <strong>oder</strong> unbewußt im Ge-<br />
brauch, wenn auch meist in willkürlicher Sortierung“ 145 . Wiedemann spricht in diesem<br />
Zusammenhang von den „topischen Strukturen der Wirklichkeit“ 146 , denn jede Zeit und<br />
jede Gesellschaft hätte „eine Unzahl von Sonderrhetoriken und Sonderhermeneutiken,<br />
also sprachlichen Produktions- und Verstehensanweisungen, und in ihrem Rahmen wie-<br />
derum Sondertopiken ausgebildet, in denen sich das Bezugsgeflecht der kurrenten Ideen,<br />
Dogmen, Ideologeme und Interessen [...widerspiegeln würde]“ 147 . Wobei für ihn - mei-<br />
ner Auffassung nach - die Betonung auf dem Wort ‘widerspiegeln’ liegt, denn - wie ge-<br />
sagt - erschließe <strong>Topik</strong> zwar „mehr <strong>oder</strong> minder vollständig [...] den konventionellen<br />
Fundus des gesellschaftlichen Kollektivwissens [...]“ 148 , sei aber nicht dieser Fundus<br />
selbst.<br />
Die Beschreibung dieser topischen Strukturen falle nun „in die Zuständigkeit des<br />
<strong>Topik</strong>ers, der als Verfügungsgewaltiger über die universalen Reihen allein den Selekti-<br />
ons- und Akzentuierungscharakter der jeweiligen Sonder- <strong>oder</strong> Realtopiken nachzuwei-<br />
sen [...vermöge]“ 149 . So sei zwar „natürlich auch der methodenbewußte <strong>Topik</strong>er vom<br />
141 Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 243.<br />
142<br />
ebd., S. 247.<br />
143<br />
ebd.<br />
144<br />
ebd., S. 244.<br />
145<br />
ebd., S. 247<br />
146<br />
ebd., S. 248.<br />
147<br />
ebd.<br />
148<br />
ebd., S. 239.<br />
149<br />
ebd., S. 248-249.<br />
32
Zeitgeist nicht unabhängig und [...könne] sein Frageverlangen stillen und in die Zucht<br />
nehmen nach Wunsch <strong>oder</strong> Willen“ 150 , da er aber gleichwohl stets in der Lage sei, „die<br />
methodische Universalreihe zu rekonstruieren, aus der seine Vorzugskategorien stam-<br />
men [würden], bzw. von der die aktuell sortierte Reihe [...abweiche]“ 151 , vermöge er<br />
diese strukturelle Beschreibung zu leisten. Das von Wiedemann angestrebte „Ideal einer<br />
universalen Kompetenz qua Methode“ 152 besteht - wie ich meine - also offensichtlich in<br />
dem von ihm angenommenen Vermögen, universale - d.h. nicht zeitabhängige und nicht<br />
als Widerspiegelung gerade kurrenter Ideen, Normen und Interessen zu verstehende -<br />
Topoikataloge zu konstruieren. So verfüge der ‘methodenbewußte <strong>Topik</strong>er’ laut Wiede-<br />
mann „gewissermaßen immer über zwei Reihen, eine zeit- und interessenabhängige und<br />
eine methodisch-universale, von welcher letzteren sein Vermögen zur kritischen Relati-<br />
vierung [...abhänge]“ 153 .<br />
Als zeit- und interessenabhängige Reihe sieht er z.B. das bereits oben zitierte Erken-<br />
nungslied der Sesamstraße an. In diesem Lied scheine sich „der berühmte mittelalterliche<br />
Merkvers zur Sachtopik [des Matthieu de Vendòme] konserviert zu haben: Wer, wie,<br />
was, wieso, weshalb, warum! Wer nicht fragt, bleibt dumm“ 154 . Gleichwohl leiste sich<br />
diese „m<strong>oder</strong>ne Reihe eine entscheidende Einseitigkeit. Der zweite Teil des Katalogs<br />
[...sei] nämlich tautologisch. ›Wieso, weshalb, warum‹. Also dreimal dieselbe Frage und<br />
dreimal der Topos ›a causa‹ (nach der Ursache)“ 155 . Während die „mittelalterliche, epi-<br />
stemologisch geprägte Reihe alle wesentlichen Fragen zur Sache [...versammeln] und<br />
damit Vollständigkeit und Objektivität zumindest anstrebe[n]“ 156 würde, also dem An-<br />
spruch nach der Versuch sei, eine „methodische Universalreihe“ 157 aufzustellen, zeige -<br />
wie Wiedemann meint - die in der „insistierende[n] Nennung“ 158 einer bestimmten Fra-<br />
ge bestehende Abweichung von der ‘methodischen Universalreihe’ die Zeit- und Interes-<br />
senabhängigkeit des ‘Kinderliedkataloges’. Der Vergleich zwischen diesen beiden Rei-<br />
hen ermögliche es also, den Wahlakt, dem sich die Entstehung des Kinderliedes verdan-<br />
ke, zu rekonstruieren.<br />
150<br />
ebd, S. 248.<br />
151<br />
ebd.<br />
152<br />
ebd., S. 249.<br />
153<br />
ebd., S. 248.<br />
154<br />
ebd., S. 247.<br />
155<br />
ebd., S. 248.<br />
156<br />
ebd., S. 247-248.<br />
157 ebd., S. 248.<br />
158 ebd.<br />
33
<strong>Topik</strong> als ,Verstehenshilfe’ vermöge so im Bereich der Literaturwissenschaft - wie<br />
Wiedemann es ausdrückt - „den literarisch schaffenden Menschen als einen in autono-<br />
men und heteronomen Wahlakten begriffenen“ 159 darzustellen: „Denn während sie dem<br />
Text-hersteller lediglich methodische Entscheidungshilfen gibt, verspricht sie dem Inter-<br />
preten, einen schon stattgefundenen Wahlakt eben als solchen zu rekonstruieren“ 160 . Und<br />
da „Kritizismus immer topische Operationen [...voraussetze, sei] <strong>Topik</strong> an unserem Wis-<br />
senschaftsgebaren mehr <strong>oder</strong> minder wildwüchsig beteiligt“ 161 , denn „natürlich [...sei]<br />
das Prinzip der Reihen und Kataloge in unseren Disziplinen nie außer Gebrauch ge-<br />
kommen, man schlage nur die ›Einführungen‹ und ›Methodiken‹ auf, deren geheimes<br />
Ordnungsprinzip eben dieses kategoriale Auflisten zu sein scheint“ 162 .<br />
Wiedemann ist - wie ich diese Stelle lese - also offensichtlich der Ansicht, daß der<br />
von ihm selbst angesprochene Paradigmenwechsel nicht so durchgreifend gewesen sein<br />
kann: der Paradigmenwechsel hin zum m<strong>oder</strong>nen Wissenschaftsverständnis scheint zwar<br />
die <strong>Topik</strong> ihrer wissenschaftlichen Dignität, nicht aber ihrer allgemeinen Wirksamkeit<br />
beraubt zu haben. Dadurch wirkt sie - wie Wiedemann meiner Ansicht nach meint -<br />
nicht mehr an der Oberfläche des Wissenschaftsbetriebs, sondern gewissermaßen unkon-<br />
trolliert - als ‘geheimes Ordnungsprinzip’ - hinter seinem Rücken.<br />
Demnach handelt es sich bei der Erinnerung an die Tradition der <strong>Topik</strong> - wie ich mei-<br />
ne - weniger um eine Aktualisierung des topischen Denkens, als vielmehr um ein Offen-<br />
legen, Reflektieren eines zwar in den Untergrund abgesunkenen, nie aber seiner Bedeu-<br />
tung verlustig gegangenen „Denk- und Arbeitsmodus“ 163 .<br />
Dieses ‘geheime Ordnungsprinzip’ der <strong>Topik</strong> gelte es also laut Wiedemann als<br />
‘Verstehenshilfe’ ans Licht zu heben, um den ‘willkürlichen’ Gebrauch von Topoikata-<br />
logen methodisch zu disziplinieren, und so <strong>Topik</strong> im möglichst reflektierten Umgang mit<br />
den „Kategorien zur Befragung, Bewältigung und Einordnung von Wirklichkeit“ 164 - im<br />
methodischen Umgang mit den ‘topischen Strukturen der Wirklichkeit’ - zu einer<br />
‘Vorschule der Interpretation’ werden zu lassen.<br />
An dieser Stelle möchte ich den Bereich der ‘formalen <strong>Topik</strong>’ verlassen, um nun an-<br />
hand von Lothar Bornscheuers <strong>Topik</strong>-Auffassung das von der ‘formalen <strong>Topik</strong>’ als un-<br />
wesentlich - als falsch - angesehene Moment der Unschärfe genauer in den Blick zu<br />
159<br />
ebd., S. 244.<br />
160<br />
ebd.<br />
161<br />
ebd., S. 249.<br />
162<br />
ebd., S. 251.<br />
163<br />
ebd., S. 239.<br />
164<br />
Hess, Zum Toposbegriff der Barockzeit, S. 73.<br />
34
nehmen. Dieser Schritt bietet sich an dieser Stelle an, da Bornscheuer die Notwendigkeit<br />
eines unscharfen <strong>Topik</strong>- und Toposbegriffs - gerade auch im Hinblick auf die Heraushe-<br />
bung der hier von Wiedemann angesprochenen ‘topischen Strukturen der Wirklichkeit’ -<br />
zwingend erscheint.<br />
Wiedemann schreibt zwar, daß sich hinter dem Raster der topischen Strukturen „[...]<br />
natürlich ein Raster an lebensweltlichen Normen, Bedürfnissen, Interessen und Ideen“ 165<br />
verberge, daß sich in den jeweiligen <strong>Topik</strong>en einer Zeit und einer Gesellschaft das<br />
„Bezugsgeflecht der kurrenten Ideen, Dogmen, Ideologeme und Interessen“ 166 wider-<br />
spiegeln würde, aber gleichwohl an der formalen Sichtweise der <strong>Topik</strong> festzuhalten sei.<br />
Die <strong>Topik</strong> als Methode erschließe zwar „mehr <strong>oder</strong> minder vollständig den [...] kon-<br />
ventionellen Fundus des gesellschaftlichen Kollektivwissens [...]“ 167 , sei aber eben als<br />
Methode nicht dieser Fundus selbst. Denn, wie gesagt: „Locus bezeichnet eine Methode,<br />
Technik <strong>oder</strong> Norm, ein Instrument zur Auffindung einer Sache, niemals aber die Sache<br />
selbst“ 168 .<br />
Und eben diese Trennung hält Bornscheuer für illegitim. So stellt er als eine der Be-<br />
deutungsschichten des Begriffs <strong>Topik</strong> heraus, daß eine „<strong>Topik</strong> [...] der Inbegriff der Vor-<br />
Urteils-Struktur [...]“ 169 sei und nimmt damit also das ‘Bezugsgeflecht der kurrenten<br />
Ideen, Dogmen, Ideologeme und Interessen’ in den Begriff der <strong>Topik</strong> hinein.<br />
165<br />
Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 244.<br />
166<br />
ebd., S. 248.<br />
167<br />
ebd., S. 239.<br />
168<br />
Mertner, Topos und Commonplace, S. 191.<br />
169<br />
Bornscheuer (1977): Zehn Thesen zur Ambivalenz der Rhetorik und zum Spannungsgefüge des Topos-<br />
Begriffs, in: Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung, hrsg. von Heinrich F. Plett, München,<br />
204-212, hier: S. 210.<br />
35
Zweites Kapitel<br />
Die ‘<strong>materiale</strong> <strong>Topik</strong>’<br />
Materiale <strong>Topik</strong>!<br />
In diesem Abschnitt möchte ich zunächst aufzeigen, wie die <strong>Topik</strong>-Auffassung von Lo-<br />
thar Bornscheuer von seinen Kritikern in die Traditionslinie eingeordnet wurde, die Josef<br />
Kopperschmidt dann später ‘<strong>materiale</strong> <strong>Topik</strong>’ nannte. Anschließend soll diese Einord-<br />
nung in Frage gestellt werden, um dann im restlichen Kapitel die von Bornscheuer als<br />
wesentlich angesehene Unschärfe des <strong>Topik</strong>-Begriffs und seinen sich hieran anknüpfen-<br />
den Aktualisierungsversuch herauszuarbeiten.<br />
Wie Peter Hess ausführt, verstehe sich Lothar Bornscheuers <strong>Topik</strong>-Auffassung aus<br />
der „Traditionslinie“ 1 der Curtius’schen Begriffsbestimmung, die „als Gemeinplatz, Kli-<br />
schee, Schlagwort und leere sprachliche Floskel in unsere Alltagssprache eingegangen“ 2<br />
sei.<br />
Auch die erste Besprechung der <strong>Topik</strong>-Schrift 3 Bornscheuers von Dietrich Hardt 4<br />
stellt Bornscheuer in diese Tradition, da es ihm gelinge, „wichtige Einsichten von E. R.<br />
Curtius wieder ins rechte Licht zu rücken“ 5 .<br />
Mit eindeutig negativem Vorzeichen allerdings versieht Otto Pöggeler 6 in seiner um-<br />
fangreichen Rezension Bornscheuers Auffassung und siedelt sie im Bereich der - von<br />
Kopperschmidt so bezeichneten - ‘<strong>materiale</strong>n <strong>Topik</strong>’ an, denn bei Bornscheuer erhalte<br />
„der Versuch von Curtius eine überraschende Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf, er<br />
habe im Mißverständis der Tradition den Topos von einer formalen Anweisung zum<br />
Finden von Argumenten zu einem Inhaltliches aussagenden Gemeinplatz gemacht“ 7 . So<br />
rücke Bornscheuer - wie Pöggeler kritisiert - trotz „aller Einsprüche [...in seiner Aristote-<br />
1<br />
Hess, Peter: Zum Toposbegriff der Barockzeit, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch Bd. 10<br />
(Rhetorik der frühen Neuzeit), hrsg. von Joachim Dyck, Tübingen 1991, 71–88, hier: S. 75.<br />
2<br />
ebd.<br />
3<br />
vgl. Bornscheuer, Lothar: <strong>Topik</strong>. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt 1976.<br />
(nachfolgend zit. als: Bornscheuer, <strong>Topik</strong>)<br />
4<br />
vgl. Hardt, Dietrich: Referat: Bornscheuer, Lothar: <strong>Topik</strong>. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft,<br />
in: Germanistik, Internationales Referatenorgan, 18. Jahrgang 1977), Tübingen, 76–77.<br />
5<br />
ebd., S. 77.<br />
6<br />
vgl. Pöggeler, Otto: Rezension: Lothar Bornscheuer. <strong>Topik</strong>. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft,<br />
in: Poetica 10 (1978), Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, Amsterdam, 106–<br />
119. (nachfolgend zit. als: Pöggeler, Rezension)<br />
7<br />
ebd., S. 109.<br />
36
les-Darstellung] den formalen Topos wieder möglichst nah an das heran, was aus ihm<br />
gewonnen [...werde], an das inhaltliche Argument“ 8 . Denn in der Exemplifizierung, so<br />
sage Bornscheuer, „verenge sich der Topos bis zum konkreten Argument“ 9 .<br />
Bornscheuer nehme „die <strong>Topik</strong> aus der Lehre von den unterschiedlichen logischen<br />
Verfahren heraus, in die Aristoteles sie in seinem Organon gestellt [...habe]“ 10 . Zwar<br />
führe er die <strong>Topik</strong> zurecht auf eine Argumentation zurück, die mit Meinungen arbeite,<br />
deren Sinn erst noch ermittelt werden müsse, aber er frage erst gar nicht - und hier ver-<br />
kenne Bornscheuer den eindeutig formalen Charakter der <strong>Topik</strong> -, „[...] warum denn die<br />
<strong>Topik</strong> als Lehre von den dialektischen Schlüssen mit wahrscheinlichen Prämissen im<br />
Organon ihre traditionelle Stelle zwischen der Lehre von den apodiktischen Schlüssen<br />
und der Lehre von den Trugschlüssen bekommen konnte“ 11 .<br />
Bornscheuers Auffassung von <strong>Topik</strong> und Topos wird also - wie hier zu sehen - ein-<br />
deutig dem nicht-formalen Bereich zugeordnet. Ein Befund, der sich meiner Meinung<br />
nach anbietet, wenn man berücksichtigt, daß Bornscheuer in seiner Kritik 12 an Curtius<br />
ausdrücklich die Richtigkeit von Curtius’ Ansatz hervorhebt, „›Topoi‹, ›topoi koinoi‹<br />
und ›loci communes‹, das englische ›commonplace‹ und die älteren deutschen Begriffe<br />
›Gemeinort‹ und ›Gemeinplatz‹ [...] gleichbedeutend nebeneinander [stehen zu lassen],<br />
und zwar im Sinne von ›Argumenten, die für die verschiedensten Fälle anwendbar sind‹,<br />
bzw. im Sinne von ›gedanklichen Themen, zu beliebiger Entwicklung und Anwandlung<br />
geeignet‹“ 13 . Ausgehend von diesem Ansatz hätte Curtius dann - wie Bornscheuer aus-<br />
führt - in exemplarischer Auswahl den ‘reichen topischen Schatz an Formen und Moti-<br />
ven’ demonstriert, aus dem sich die europäische Literatur von Homer bis Goethe genährt<br />
8<br />
ebd., S. 111.<br />
9<br />
ebd. vgl. Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 29: „Die Exemplifizierung geht oft so weit, daß sich der Topos selbst bis<br />
zum konkreten Argument hin verengt [...]“.<br />
10<br />
Pöggeler, Rezension, S. 111. vgl. dazu Hans Günter Zekl in der Einleitung seiner Neuübersetzung der<br />
Aristotelischen <strong>Topik</strong>-Schrift: Aristoteles’ „Systematik war dies also nicht. Es war indessen die des Andronikos,<br />
der aus dem Konvolut der aristotelischen Lehrschriften und Systemansätze die Ausgabe herausgestellt<br />
hat, die wir heute noch lesen. Und er ordnete an: I. Kategorien (Begriff), II. Hermeneutik<br />
(Urteil), III. Analytika Priora (Schluß), IV. Analytika Posteriora (Beweis), V. und in jeder Beziehung zu<br />
allerletzt, die <strong>Topik</strong>, unter Einschluß ihres IX. Buchs, der Sophistikoi Elenchoi, als die Lehre vom nur<br />
probablen und die Lehre vom falschen Schluß. In der Reihenfolge hat man das dann in der Tradition seit<br />
dem hohen Mittelalter gelesen, die ist genetisch falsch und macht systematisch keinen Sinn“ (Aristoteles:<br />
Organon Bd. 1: <strong>Topik</strong>/<strong>Topik</strong>, neuntes Buch <strong>oder</strong> Über die sophistischen Widerlegungsschlüsse, hrsg.,<br />
übersetzt, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Hans Günter Zekl, Hamburg 1997, hier:<br />
XVII–XIX).<br />
11<br />
Pöggeler, Rezension, S. 110.<br />
12 vgl. Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 138–149.<br />
13 ebd., S. 140.<br />
37
hätte, „und der durch die lateinische Literatur des frühen und hohen Mittelalters von der<br />
Antike an die Neuzeit kontinuierlich weitergegeben worden“ 14 wäre.<br />
Es sieht also so aus, als scheine es durchaus angebracht zu sein, Bornscheuers Auffas-<br />
sung von <strong>Topik</strong> allein in dem ‘Kästchen’ ‘<strong>materiale</strong> <strong>Topik</strong>’ abzulegen, denn offensicht-<br />
lich schließt er sich mit seiner Rede vom ‘topischem Schatz’ der Curtius’schen Schatz-<br />
haus-Metapher als einer Charakterisierung der <strong>Topik</strong> an.<br />
Materiale <strong>Topik</strong>?<br />
Gleichwohl deutet sich meiner Ansicht nach in Bornscheuers Bewertung dieses<br />
‘Schatzhauses’ eine entscheidene Neuorientierung gegenüber Curtius an: denn Born-<br />
scheuer kommt - zwar angeregt durch Curtius’ Hinweise auf die Tradition der <strong>Topik</strong>,<br />
aber von ihm abweichend - zu der Auffassung, „in der Fülle dessen, was in der europäi-<br />
schen Literatur an Formen und Inhalten tradiert und mehr <strong>oder</strong> weniger kompilatorisch-<br />
kombinatorisch 15 miteinander verbunden und zu neuen Ausdrucksformen integriert wor-<br />
den [...sei], die topische Substanz des soziokulturellen Bewußtseins“ 16 zu vermuten.<br />
Bornscheuer ist der Auffassung, daß Curtius’ „detaillistische Oberflächenbeschrei-<br />
bung [...] nicht zu der Frage vor[dringe...]“ 17 , inwiefern das topische Material als einer<br />
Widerspiegelung des „in einer Gesellschaft jeweils herrschenden Selbstverständnisses<br />
und des seine Traditionen und Konventionen regenerierenden Bildungssystems“ 18 eine<br />
grundlegende Rolle für schöpferische Prozesse und deren Analyse spiele.<br />
Schöpferische Prozesse seien - wie Bornscheuer hervorhebt - Formen des „[...] Um-<br />
gangs mit einem gesellschaftsgeschichtlich identifizierbaren Erfahrungs- und Bildungs-<br />
14 ebd., S. 13.<br />
15 Als einen Ausgangspunkt für seine Beschäftigung mit <strong>Topik</strong> gab Bornscheuer die Beobachtung an, daß<br />
sich innerhalb der gesamten europäischen Literaturgeschichte (vgl. dazu Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, Einleitung)<br />
auf „bildlicher, stilistischer und kompositorischer Ebene [...] kombinatorische Verfahrensweisen in<br />
sämtlichen Gattungsformen beobachten [... ließen]. Die Worte ›kombinatorisch‹ bzw. ›Kombinatorik‹ [...<br />
würden - so Bornscheuer -] von der Literaturwissenschaft und Literaturkritik gerne verwendet [werden],<br />
doch [... gäbe] es vielerlei Wechselworte für das hier gemeinte Strukturphänomen[...]: des Kaleidoskopischen,<br />
der Assoziation, des unvermittelten Perspektivenpluralismus und Standortwechsels, der Parataxe,<br />
Häufung, Mischung, Montage, Collage, Schnitt-Technik, der Aleatorik <strong>oder</strong> ausgesprochen schematischer<br />
Variationsformen wie der Inversion, Duplikation, Elimination, Permutation usw.“ (ebd., S. 11).<br />
16 ebd., S. 20.<br />
17 ebd., S. 16.<br />
18 ebd., S. 96.<br />
38
wissen“ 19 . Diese Verknüpfung schöpferischer Produktivität mit ‘Erfahrungs- und Bil-<br />
dungswissen’ versteht Bornscheuer nicht als Mangel (etwa an frei, aus sich selbst schöp-<br />
fender, genialischer Einbildungskraft), sondern als „eine conditio sine qua non jeder<br />
kulturgeschichtlich relevanten Produktivität“ 20 . Denn gerade die Beschäftigung mit To-<br />
pik lehre - wie Bornscheuer betont - die „Einsicht, daß alle historisch-fortschrittlichen<br />
Produktivitäten auch im ›Reich des Geistes‹ in erster Linie ›kollektive Leistungen‹<br />
[...seien]“ 21 :<br />
„Alle theoretischen und praktischen Produktivitäten unterliegen jeweils einer bestimmten<br />
historisch-gesellschaftlichen Charakteristik, der Bewegungsspielraum schöpferischer Ideen<br />
und ihrer Realisierungsmöglichkeiten in allen Bereichen einer bestimmten Kulturepoche (in<br />
ihrem Bildungssystem, ihren Wissenschaften, ihrer Technologie sowie in ihren ökonomischen,<br />
politischen und gesellschaftlichen Organisationsformen) ist durch eine jeweils epochencharakteristische<br />
Tiefenstruktur bestimmt“ 22 .<br />
Unter dieser Tiefenstruktur eines „gesellschaftsgeschichtlichen Bildungshabitus“ 23<br />
versteht Bornscheuer eine der Bedeutungsschichten des Begriffs <strong>Topik</strong>: „Eine <strong>Topik</strong> ist<br />
[...also] der Inbegriff der Vor-Urteils-Struktur [...]“ 24 . <strong>Topik</strong> sei „die Substanz der<br />
›herrschenden Meinungen‹, wie [...] im Anschluß an Aristoteles [...gesagt werden] kön-<br />
ne[...]“ 25 .<br />
So sei denn <strong>Topik</strong> - wie Bornscheuer betont - der eigentliche „Ort gesellschaftlicher<br />
Bedeutsamkeit, historischer Authentizität und ästhetischer Evidenz“ 26 , denn nur mittels<br />
seiner <strong>Topik</strong> stelle sich das „einzelne Werk gleichzeitig in einen gesellschaftlichen wie<br />
ästhetischen Bedeutungs- und Rezeptionszusammenhang“ 27 . Schöpferische Leistungen<br />
bestehen also laut Bornscheuer in dem innovativen Umgang mit dieser ‘Vor-Urteils-<br />
Struktur’, in „einer innovativen Vermittlung topischen Materials“ 28 .<br />
Diesen innovativen Umgang mit der Vor-Urteils-Struktur gelte es nun angemessen in<br />
den Blick zu nehmen. Und angemessen heiße - wie Bornscheuer ausführt - vor allem<br />
19<br />
ebd., S. 21.<br />
20<br />
ebd., S. 20.<br />
21<br />
ebd., S. 19.<br />
22<br />
ebd.<br />
23<br />
ebd.<br />
24<br />
Bornscheuer, Lothar: Zehn Thesen zur Ambivalenz der Rhetorik und zum Spannungsgefüge des Topos-<br />
Begriffs, in: Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung, hrsg. von Heinrich F. Plett, München<br />
1977, 204-212, hier: S. 210. (nachfolgend zit. als: Bornscheuer, Zehn Thesen)<br />
25<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 21.<br />
26<br />
ebd., S. 20.<br />
27<br />
ebd.<br />
28<br />
ebd., S. 21.<br />
39
jenseits der „bürgerliche[n] Begründung der schöpferischen Produktivität“ 29 in der indi-<br />
vidualen Subjektivität: denn im Hinblick auf die Frage, „ob die m<strong>oder</strong>ne Phantasie we-<br />
niger an ‘topische’ Normen gebunden [...sei] als die ältere“ 30 , zeige sich, daß die m<strong>oder</strong>-<br />
ne Phantasie „[...] im gleichen Maße ihrer gesellschafts- und bildungsgeschichtlichen<br />
<strong>Topik</strong> [unterliege] wie das Selbstverständnis jeder anderen Kulturepoche“ 31 .<br />
Bornscheuer ist der Auffassung, daß die „Verhältnisse zwischen Traditionalität und<br />
Originalität, zwischen Konventionalität und Spontaneität, zwischen authentischer Sym-<br />
bolbildung und reflexionsloser Klischeeverwendung usw. [...] innerhalb des Bedeu-<br />
tungsumfanges des Toposbegriffs abgeklärt werden“ 32 müßten.<br />
Um diese Verhältnisse - und vor allem den innovativen Umgang mit der Vor-Urteils-<br />
Struktur - angemessen in den Blick zu bekommen, gelte es - wie Bornscheuer betont -,<br />
die „ursprünglichen Leistungsmomente der topischen inventio wieder freizulegen“ 33 .<br />
Denn es gehöre zu den Vorurteilen der „subjektivistischen Originalitätsästhetik“ 34 , daß<br />
die zweitausendjährige Tradition des alteuropäischen rhetorisch-dialektischen Bildungs-<br />
wesens „keine eigentlich produktiven Prinzipien gekannt habe, obwohl es in der ›<strong>Topik</strong>‹<br />
als einer ›ars inveniendi‹ geradezu eine Methodenlehre des Forschens und Findens ent-<br />
wickelt [...hätte]“ 35 . Und, um die „ursprünglichen Leistungsmomente der topischen in-<br />
ventio wieder freizulegen“ 36 , ließe sich - wie Bornscheuer dann ausführt - vor allem an<br />
Aristoteles’ Grundlegung der <strong>Topik</strong> anknüpfen, „da die Problematik der topischen Ein-<br />
bildungskraft nie wieder so grundsätzlich reflektiert worden [...sei] wie in der aristoteli-<br />
schen Erstlingsschrift“ 37 .<br />
Hier wird meiner Meinung nach deutlich, daß Bornscheuer die rein <strong>materiale</strong> Auffas-<br />
sung von <strong>Topik</strong> und Topos verläßt, und sein Blick auf <strong>Topik</strong> auch eine heuristische Be-<br />
deutung der Begriffe einschließt. Es deutet sich hier eine Mehrdimensionalität der Be-<br />
griffe <strong>Topik</strong> und Topos an, die beachtet werden muß: Bornscheuer hat immer wieder auf<br />
die Vielschichtigkeit (und die damit verbundene Unschärfe) der Begriffe <strong>Topik</strong> und To-<br />
29 ebd., S. 18.<br />
30 ebd., S. 17.<br />
31 ebd., S. 20.<br />
32 Bornscheuer, Lothar: Bemerkungen zur Toposforschung, Mittellateinisches Jahrbuch, 11. Jahrgang<br />
(1976), Kastellaun, 312–320, hier: S. 314.<br />
33 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 19.<br />
34 ebd.<br />
35 ebd. Ein Vorurteil auch deswegen, da „die hochbürgerliche Genielehre während des 17. Jahrhunderts<br />
selbst bruchlos aus der topischen inventio-Lehre hervorgegangen“ sei (ebd.)<br />
36 ebd., S. 19.<br />
37 ebd., S. 23.<br />
40
pos hingewiesen, die es bei der Herausarbeitung der ‘Leistungsmomente der topischen<br />
inventio’ nicht zu vernachlässigen gelte. Es sei kein Zufall <strong>oder</strong> Mangel, daß es „keine<br />
präzise historische Definition des Topos“ 38 gebe: denn schon „[...] in der aristotelischen<br />
Erstlingsschrift Topica [...werde] die bloße ›Umrißhaftigkeit‹ [...] ausdrücklich in An-<br />
spruch genommen, und bei dieser Umrißhaftigkeit [...sei] es letztlich bis heute geblieben.<br />
Die Klagen der jüngeren Forschung über das Fehlen eines eindeutigen Topos-Begriffs<br />
[...würden] einem rationalistisch-positivistischen Mißverständnis des Charakters der<br />
<strong>Topik</strong>“ 39 entspringen.<br />
Deshalb beharrt Bornscheuer - auch gegenüber Wiedemann, der sich „mit dieser bis<br />
heute erhaltenen Unschärfe des Topos-Begriffs noch nicht abzufinden“ 40 vermöge -, dar-<br />
auf, daß ein „topos bzw. locus (communis) [...], in aller Kürze gesagt, sowohl ein (er-<br />
kenntnistheoretischer, logischer <strong>oder</strong> anderer) Kategoriebegriff <strong>oder</strong> eine Regel als auch<br />
ein bloßes Klischee <strong>oder</strong> ein Stichwort formaler <strong>oder</strong> <strong>materiale</strong>r Art“ 41 sein könne.<br />
Die Gründe dafür, weshalb dieser Charakter der Unschärfe für Bornscheuer kein<br />
Mangel, sondern Kennzeichen einer umfassenden <strong>Topik</strong>- bzw. Topos-Auffassung ist,<br />
weswegen es sich also seiner Auffassung nach bei der strikten Unterscheidung zwischen<br />
‘formaler’ und ‘<strong>materiale</strong>r’ <strong>Topik</strong> um eine „Scheinalternative“ 42 handelt, die die ‘ur-<br />
sprünglichen Leistungsmomente’ der <strong>Topik</strong> aus dem Blick verliert, sollen im folgenden<br />
anhand von Bornscheuers Darlegung der „beiden wichtigsten antiken Rhetorik- und<br />
T[...opik-] ‘Theoretiker’ Aristoteles und Cicero“ 43 aufgezeigt werden.<br />
Da ich den Schwerpunkt hier vor allem auf Bornscheuers Darlegung der aristoteli-<br />
schen <strong>Topik</strong>-Auffassung legen möchte, da die Problematik der topischen inventio laut<br />
Bornscheuer nach Aristoteles nie wieder so grundsätzlich reflektiert worden sei, möchte<br />
ich nun über- und zurückleitend zu Aristoteles’ <strong>Topik</strong>-Auffassung einige Aspekte anfüh-<br />
ren, die Bornscheuer anhand Ciceros Schriften herausgearbeitet hat, und die schon hier<br />
meiner Meinung nach deutlich machen, warum Bornscheuer die rein formale Auffassung<br />
von <strong>Topik</strong> ablehnt.<br />
38<br />
Bornscheuer, Zehn Thesen, S. 206.<br />
39<br />
ebd.<br />
40<br />
Bornscheuer, Lothar: Neue Dimensionen und Desiderata der <strong>Topik</strong>-Forschung, in: Mittellateinisches<br />
Jahrbuch, Bd. 22 (1987), hrsg. von Karl Langosch/Fritz Wagner, Stuttgart 1989, hier: S. 5. (nachfolgend<br />
zit. als: Bornscheuer, Neue Dimensionen)<br />
41<br />
ebd., S. 6.<br />
42<br />
ebd., S. 9.<br />
43<br />
Bornscheuer: <strong>Topik</strong>, in: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, Bd. IV, hrsg. von Klaus Kanzog/Achim<br />
Masser, Berlin/New York 1984, 2. Auflage, 454-475, hier: S. 462. (nachfolgend zit. als:<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong> in Reallexikon)<br />
41
Die Unschärfe von Ciceros <strong>Topik</strong>-Auffassung<br />
Zunächst einmal ist deutlich, daß Lothar Bornscheuer die Bedeutung der sich auf Cicero<br />
und Quintilian gründenden Schultradition im Hinblick auf einen umfassenden <strong>Topik</strong>-<br />
und Topos-Begriff relativiert. So sei insbesondere „die Bedeutung der in Ciceros Spät-<br />
schrift Topica geprägten und von Quintilian [...] aufgegriffenen bildlichen Definitions-<br />
formel ›locum esse argumenti sedem‹ von der Forschung weithin überschätzt worden“ 44 .<br />
Denn diese Definition stehe bei Cicero - wie Bornscheuer ausführt - „im Umkreis<br />
verschiedenartiger bildlicher Erläuterungsversuche und sollte daher trotz ihrer Faßlich-<br />
keit nicht überbewertet und insbesondere nicht dahingehend verstanden werden, daß der<br />
Topos (locus) damit für das gesamte ciceronianische Werk als reiner Formbegriff erwie-<br />
sen sei“ 45 . „Die für ›loci‹ gern verwendeten Bildworte ›capita‹ (= Hauptquellen) und<br />
›fontes‹ 46 [...hingen - wie er weiter schreibt -] mit dem die Rede als Ganzes charakteri-<br />
sierenden Motivkreis ›flumen‹, ›redundare‹ u.ä. 47 zusammen und dieser wiederum mit<br />
dem [...] Hauptkomplex der rednerischen ›Kraft‹ (vis) und ›Fülle‹ (copia)“ 48 .<br />
Zwar ließe sich bei Cicero eine „Präzisierung [...] der formalistischen Schulrhetorik<br />
und inventio-Lehre feststellen“ 49 , aber gleichwohl „auch eine deutliche Abwertung“ 50 .<br />
Cicero lasse - wie Bornscheuer weiter ausführt - keinen Zweifel daran aufkommen, daß<br />
er der Auffassung sei, daß die schulrhetorische inventio-<strong>Topik</strong> „letztlich nur an ›Rinn-<br />
salen‹ entlangführe, jedoch nicht zu den eigentlichen ›Quellen‹ (›fontes rerum‹, ›capita‹)<br />
leite“ 51 . Hier wird ersichtlich, daß für Cicero die schulrhetorische inventio-<strong>Topik</strong> also<br />
nicht zu ‘rednerischer Kraft’ und ‘Fülle’ führt:<br />
„Jene ›capita‹, auf die Cicero eigentlich aus ist [...] sind vielmehr weder reine Form-Topoi<br />
noch beschränken sie sich überhaupt auf das Feld der res-inventio. Denn die von Cicero gemeinten<br />
›capita‹ <strong>oder</strong> ›loci‹, aus denen ›für jede Rede alle Erfindungen hergeleitet werden‹<br />
[...] 52 , gelten für ›Sache‹ und ›Rede‹ gemeinsam [...] 53 , also für die inventio und elocutio!“ 54 .<br />
44<br />
Bornscheuer, Zehn Thesen, S. 206.<br />
45<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 64.<br />
46<br />
Bornscheuer verweist hier auf: De oratore 2,117.130.146 (zu den von Bornscheuer verwendeten Ausgaben<br />
vgl. Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 226 (Anm. 123 zu Kap. I).<br />
47<br />
Bornscheuer verweist hier auf: De or. 1,20; 2,117.162.188.317; 3,82.<br />
48<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 63-64.<br />
49<br />
ebd., S. 70.<br />
50<br />
ebd.<br />
51<br />
ebd., S. 64. Bornscheuer verweist hier auf: De or. 2, 117.<br />
52 Bornscheuer verweist hier auf: De or. 2,146.<br />
53 Bornscheuer verweist hier auf: De or. 2,130.145.<br />
54 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 65-66.<br />
42
Die eigentlichen Quellen erkenne Cicero vielmehr - wie Bornscheuer ausführt - in den<br />
„sogenannten ›theseis‹ <strong>oder</strong> ›quaestiones infinitae‹. Dieser Modus allgemein-theore-<br />
tischer Erörterungen [...sei] eigentlich Sache der Philosophie, während der forensische<br />
Redner normalerweise mit ›quaestiones finitae‹, d.h. mit konkreten Problemfällen zu tun<br />
[...habe], die an Personen und Zeitumstände gebunden sind“ 55 .<br />
Zum Kern von Ciceros rhetorischem Idealprogramm gehöre es nun - so Bornscheuer<br />
weiter - dieses Feld der ‘quaestiones infinitae’ für die Rhetorik zurückzugewinnen.<br />
Demnach vertrete Cicero die Auffassung, daß man in einer Rede alle Anklage- und Ver-<br />
teidigungspunkte notwendigerweise von den Zeitumständen und den konkreten Men-<br />
schen ablösen und auf allgemeine Hauptpunkte der Sachverhalte und Wesensarten zu-<br />
rückführen müsse. In diesen allgemeinen Hauptpunkten - „›communes rerum et generum<br />
summae‹ [...- erblicke] Cicero die einzuprägenden obersten ›loci‹ 56 [...], von deren be-<br />
schränkter Zahl aus die unbegrenzte Fülle an Anklage- und Verteidigungsargumentatio-<br />
nen bewältigt werden“ 57 könne.<br />
Diese von Cicero gemeinten ‘loci’ seien - wie Bornscheuer anmerkt - die ‘loci com-<br />
munes’:<br />
„Die forensischen loci communes dienen entweder der Entrüstung des Anklägers (indignation)<br />
<strong>oder</strong> der Beschwerde des Verteidigers (conquestio) <strong>oder</strong> sie sind von so allgemeiner<br />
Art, daß sie in ultramque partem, also für beide Prozeßseiten Stichworte zur Stärkung<br />
der eigenen und zur Schwächung der gegnerischen Position liefern, z.B.: ›Verdachtsmomenten<br />
müsse man Glauben schenken und man müsse es nicht;... das frühere Leben<br />
müsse man mit berücksichtigen und müsse es nicht; wer sich in jener Sache vergangen habe,<br />
dem sei auch diese Tat zuzutrauen und sie sei es nicht‹“ 58 .<br />
Loci communes seien also auf verschiedene Fälle „anwendbare Gesichtspunkte und<br />
dien[t]en der Amplifikation“ 59 , wobei Amplifikation bei Cicero - wie Bornscheuer be-<br />
tont - die „gleichzeitige Steigerung des Bedeutungsgehalts und des sprachlich-<br />
stilistischen Reichtums“ 60 bedeute.<br />
Loci communes sind für Bornscheuer demnach „keine formalen, sondern thematische,<br />
bedeutungsreiche Aspekte. Der Begriff bezeichne[...] nicht nur die Stichworte, sondern<br />
auch die ganze sprachliche Bearbeitung des durch das Stichwort jeweils angegebenen<br />
Komplexes. Das spezifische Kennzeichen von loci communes [...sei] ihre auf allgemei-<br />
55<br />
ebd., S. 66.<br />
56<br />
Bornscheuer verweist hier auf: De or. 2,135f.<br />
57<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 66.<br />
58<br />
ebd., S. 68. Bornscheuer verweist hier auf: De inventione. 2,50 (zu der von Bornscheuer verwendeten<br />
Ausgabe vgl. Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 225 (Anm. 114 zu Kap. I).<br />
59<br />
ebd., S. 67.<br />
60 ebd., S. 74.<br />
43
ner, öffentlicher Anerkennung beruhende hohe Bedeutsamkeit“ 61 . Gegenüber Mertner,<br />
der ja auch im Blick auf die loci communes - wie im letzten Kapitel gesehen - auf der<br />
‘ur-sprünglich lokalen, also formalen Bedeutung’ der loci communes bestanden hatte,<br />
betont Bornscheuer hier also die inhaltliche, bedeutungsgeladene Füllung der loci com-<br />
munes.<br />
Im Kanalbett der Gemeinplätze würden sich also - wie Bornscheuer Ciceros Konzep-<br />
tion zusammenfaßt - nach diesem Ideal die copia rerum und die copia verborum zu ei-<br />
nem mächtigen Redestrom vereinigen, „der die letzten psychischen Widerstände des<br />
Publikums mit sich [...fortreiße]. Loci communes [...seien] Fundgruben der moralischen<br />
Emphase, des wortgewaltigen Plädoyers für Recht und Ordnung, für Sitte und Tradition,<br />
des Appells an Bürgersinn, gesunden Menschenverstand und allgemeinmenschliches<br />
Empfinden“ 62 : „Im ciceronianischen locus communis [...würden] Topos, res und verbum<br />
gewissermaßen zusammen[fallen]“ 63 .<br />
Cicero setze sich also - so Bornscheuer weiter - in seiner Auffassung der <strong>Topik</strong> über<br />
zahlreiche Grenzsetzungen der Schulrhetorik hinweg, „wie [...der] zwischen Philosophie<br />
und Rhetorik, zwischen inventio und elocutio, zwischen res und verba, zwischen<br />
quaestio finita und quastio infinita [...]“ 64 . Es sei somit deutlich, daß es Cicero nicht auf<br />
eine systematische Terminologie ankomme, denn „[...] der locus-Begriff selbst [...um-<br />
fasse bei ihm] ein weites Bedeutungsfeld vom untergeordneten Spezialgesichtspunkt bis<br />
zum ‘Gemeinplatz’, ‘Argumentationsbereich’ [...], von formalen bis zu rein inhaltlichen<br />
Aspekten, und er [...habe zudem] eine ganze Reihe inkongruenter Wechselworte zur<br />
Seite wie regiones, capita, fontes, signa, notae, sedes“ 65 .<br />
Es wäre jedoch ein Mißverständnis - wie Bornscheuer betont -, „wollte man alle diese<br />
Grenzverwischungen für Konzeptlosigkeit halten“ 66 , ein Mißverstehen nicht nur von<br />
Ciceros <strong>Topik</strong>-Auffassung, sondern auch der <strong>Topik</strong> im Allgemeinen. Die Gründe für<br />
diese Ansicht Lothar Bornscheuers möchte ich nun im folgenden an seiner Darstellung<br />
von Aristoteles’ <strong>Topik</strong>-Auffassung deutlich machen.<br />
61<br />
ebd., S. 67.<br />
62<br />
ebd., S. 69.<br />
63<br />
ebd., S. 80.<br />
64<br />
ebd., S. 70.<br />
65<br />
ebd.<br />
66<br />
ebd., S. 70-71.<br />
44
Die Unschärfe<br />
des aristotelischen <strong>Topik</strong>- bzw. Topos-Begriffes<br />
Es ist vor allem der Eingangssatz der <strong>Topik</strong>-Schrift des Aristoteles’, in dem Bornscheuer<br />
den „fruchtbarste[n] Ausgangspunkt“ 67 für eine Neubestimmung des Topos-Begriffs<br />
erkennt. In Bornscheuers Übersetzung lautet er:<br />
„Das Ziel dieser Abhandlung ist, ein Verfahren (methodos) zu finden, mit dessen Hilfe wir<br />
gegenüber jeder Problemstellung (problema) auf der Grundlage der geltenden Meinungen<br />
(endoxa) zu einem schlüssigen Urteil kommen können (syllogizesthai) und, wenn wir selbst<br />
einer Argumentation standhalten sollen, in keine Widersprüche geraten“ 68 .<br />
Diese hier anvisierte Methode sei „als ›topische Methode‹ im engeren Sinne aufzufas-<br />
sen“ 69 . Dies sieht Bornscheuer durch den mit dem Eingangssatz der Schrift korrespon-<br />
dierenden Schlußsatz 70 des VII. Buches bestätigt: „›Die Topoi also, durch die wir befä-<br />
higt sein werden, jede Art von Problemen zu bewältigen, sind damit einigermaßen hin-<br />
reichend aufgezählt‹“ 71 . Die zur Problembewältigung allererst befähigende Methode<br />
bedeute demnach - wie Bornscheuer darlegt - „‘Verfügung über Topoi’“ 72 . Im Anschluß<br />
an die aristotelischen Topos-Formulierungen, die - so Bornscheuer - auf den Verben<br />
‘sehen’, ‘blicken’, ‘schauen’ im Sinne von ‘darauf achten’ basierten 73 , ließe sich „ein<br />
67<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 95.<br />
68<br />
Aristoteles, Top. I, 1 100a, zit. nach: Bornscheuer, <strong>Topik</strong> in Reallexikon, S. 455. Bornscheuer hat eine<br />
eigene Übersetzung des aristotelischen Textes angefertigt (zu den hierbei zugrundegelegten Textausgaben:<br />
vgl. Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 218 [Anm. 1 zu Kap.I]).<br />
Die im deutschen Sprachraum gängigste Übersetzung dieses Textes stammt wohl von Eugen Rolfes. Er<br />
übersetzt den Eingangssatz wie folgt: „Unsere Arbeit verfolgt die Aufgabe, eine Methode zu finden,<br />
nach der wir über jedes aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse bilden können und,<br />
wenn wir selbst Rede stehen sollen, in keine Widersprüche geraten“ (Aristoteles: <strong>Topik</strong>. Organon V,<br />
übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes, Hamburg 1968, unveränd. Nachdruck der<br />
2. Auflage 1922 [zuerst 1919], hier: S. 1. [nachfolgend zit. als: Übersetzung Rolfes]).<br />
Bornscheuers - von Rolfes’ abweichende - Übersetzung vor allem des Wortes éndoxa als den „geltenden<br />
Meinungen“ soll die spezifische Bedeutung dieses Wortes im Rahmen der <strong>Topik</strong> herausheben:<br />
„Zwar ist dem endoxa-Begriff der erkenntnistheoretische Aspekt im Sinne des ›Wahrscheinlichen‹ nicht<br />
abzusprechen, doch scheint es ebenso notwendig, auf seinen soziokulturellen Bedeutungsgehalt aufmerksam<br />
zu machen [...]“ (Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 49).<br />
69<br />
ebd., S. 28.<br />
70<br />
In der Übersetzung von Rolfes lautet er: „So sind denn die Örter, die uns helfen können, in bezug auf<br />
jedes Problem dialektische Schlüsse zu ziehen, annähernd vollständig aufgezählt“ (Aristoteles, Top. VII,<br />
5 155a, 37f., Übersetzung Rolfes, S. 172).<br />
71<br />
Aristoteles, Top. VII, 5 155a, 37f. Übersetzung Bornscheuer, vgl. Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 28.<br />
72<br />
ebd.<br />
73<br />
Bornscheuer verweist hier u.a. auf: Aristoteles, Top. II, 2 109a 34f: „Ein Ort nun ist, daß man zusieht<br />
[...]“ (Übersetzung Rolfes, S. 29), „Ein anderer Ort ist die Betrachtung [...]“ (Übersetzung Rolfes, S. 30),<br />
und auf einige Stellen in Aristoteles, Top. I, 15 106a ff.: „Ferner muß man zusehen [...]“ (Übersetzung<br />
Rolfes, S. 20), „muß man [...] achtgeben“ (Übersetzung Rolfes, S. 20), „Ferner sind [...] ins Auge zu fassen“<br />
(Übersetzung Rolfes, S. 21).<br />
45
Topos [...] definieren als ein zur Gewinnung neuer Diskussionsargumente empfehlens-<br />
werter ›Ge-sichtspunkt‹“ 74 . Das Wort ‘Topos’ habe Aristoteles - wie Bornscheuer an<br />
Solmsen 75 anknüpfend ausführt - „wahrscheinlich der Mnemotechnik entlehnt, die es zu<br />
einer gewissen Kunst entwickelt hatte, lokale Fixpunkte wie z.B. bestimmte geometri-<br />
sche Örter auf den Wänden eines Versammlungsraumes als abstrakte Merkpunkte für<br />
bestimmte Zäsuren bzw. Anhaltspunkte jeder Rede und Erörterung einzusetzen“ 76 .<br />
Gegenüber den mnemotechnischen Topoi würden jedoch die von Aristoteles inten-<br />
dierten dialektisch-rhetorischen Topoi nicht der Befolgung festgelegter Redemuster die-<br />
nen, sondern eine unübersehbare Fülle möglicher Weichenstellungen bilden, „für die<br />
weder eine allgemeine Rangfolge noch die jeweils empfehlenswerteste argumentatori-<br />
sche Bewegungsrichtung vorauszusagen [...sei]“ 77 .<br />
Bornscheuer betont, daß Aristoteles „auf eine eindeutige Definition dessen, was unter<br />
<strong>Topik</strong> bzw. unter einem Topos zu verstehen [...sei, verzichtet habe], gemäß seinem aus-<br />
drücklichen Vorsatz, das topische Verfahren nur ›umrißhaft‹ beschreiben zu wollen“ 78 .<br />
So würde Aristoteles mehrfach betonen, „die Untersuchung solle nur ›im Umriß‹ (hos<br />
typo) und ›im allgemeinen‹ (katholu) geführt werden, es sei nicht angestrebt, über ir-<br />
gendeinen Punkt ›genaue Rechenschaft zu geben‹“ 79 .<br />
Dieses ‘Unschärfe-Prinzip’ sei von der Forschung bisher noch nicht angemessen ge-<br />
würdigt, „sondern höchstens als eine Mangelerscheinung empfunden worden [...]“ 80 ,<br />
meint Bornscheuer. Das Unschärfe-Prinzip müsse nun allerdings als „ein unmittelbarer<br />
Ausdruck des topischen Verfahrens selbst betrachtet werden [...]“ 81 . Bornscheuer ist der<br />
Auffassung, „daß die durchgängige Unschärfe bzw. Interpretationsbedürftigkeit der ari-<br />
stotelischen <strong>Topik</strong>-Schrift aus der Natur der Sache [...folge], um die es in diesem Früh-<br />
werk [...gehe]“ 82 . Denn das eigentliche Sujet der aristotelischen <strong>Topik</strong>-Schrift sei die<br />
74 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 29.<br />
75 Bornscheuer folgt hier: Solmsen, Friedrich: Die Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik,<br />
Berlin 1929, hier: S. 170ff.<br />
76 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 45.<br />
77 ebd.<br />
78 ebd., S. 42.<br />
79 ebd., S. 33. Bornscheuer verweist hier u.a. auf: Aristoteles, Top. I, 2 101a 18-24: „Dieses mögen denn,<br />
im allgemeinen Umriß beschrieben, die verschiedenen Arten der Schlüsse sein. Wir wollen aber überhaupt,<br />
wie alles Angeführte, so auch das noch weiter Auszuführende nur so weit, also nur im allgemeinen,<br />
behandeln. Denn es ist nicht unser Vorhaben, über irgend eines dieser Dinge genaue Rechenschaft<br />
zu geben, sondern wir wollen alles nur im Umriß darstellen [...]“ (Übersetzung Rolfes, S. 2-3); Aristoteles,<br />
Top. I, 6 103a 1f: „So muß man denn, wie vorhin gesagt, unsere Einteilung bloß allgemein verstehen<br />
[...]“ (Übersetzung Rolfes, S. 8).<br />
80 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 42.<br />
81 ebd., S. 33.<br />
82 ebd., S. 42.<br />
46
vorwissenschaftliche Problemerörterung, die Argumentation im „Bereich der Doxa, die<br />
umgangssprachliche Argumentationsstruktur bzw. die öffentliche Meinungsbildung<br />
[...]“ 83 .<br />
Die von Aristoteles im Eingangssatz als Operationsbasis des topischen Verfahrens<br />
angesprochenen herrschenden Meinungen (endoxa 84 ) seien laut Bornscheuer also als<br />
konstitutives Merkmal der <strong>Topik</strong> anzusehen. Sie seien:<br />
„sämtliche mündlichen und schriftlichen, bewußt <strong>oder</strong> unbewußt internalisierten Geltungsansprüche<br />
der Tradition und Konvention..., vom idealen gesamtgesellschaftlichen consensus<br />
omnium bzw. der herrschenden Vor-Urteils-Struktur über alle kanonisierten Bildungsgüter<br />
bis hin zu den dezidierten ‘Lehrmeinungen’ einzelner Autoritäten (poli-tischer, pädagogischer,<br />
wissenschaftlicher <strong>oder</strong> kultischer). Zu den endoxa ist mit dem Sententiösen, Sprichwörtlichen<br />
und Zitathaften der Bereich aller gesellschaftsgeschichtlichen Erfahrungen und<br />
Erinnerungen wie auch aller handlungsorientierenden, zukunftsweisenden Bedeutungsgehalte<br />
zu rechnen [...]“ 85 .<br />
Da jedoch auf der Grundlage der endoxa keine apodiktischen Schlüsse 86 möglich sei-<br />
en, Schlüsse also, die sich auf „absolute <strong>oder</strong> objektive Wahrheitspostulate“ 87 stützen,<br />
könne es sich bei der von Aristoteles gesuchten Methode nicht um Wissenschaft han-<br />
deln. Deshalb gelangt Bornscheuer zu der Auffassung, daß durch das topische Verfahren<br />
- von „Aristoteles durch das Stichwort ‘syllogizesthai’ angedeutet [...- die] vorwissen-<br />
schaftliche Problemreflexion, Argumentation, Urteilsbildung und Schlußfolgerung“ 88<br />
und so die „dialektische[...] Problemerörterung“ 89 ermöglicht werden soll.<br />
Das Ziel der aristotelischen <strong>Topik</strong>-Schrift sei es also, „die [...] umgangssprachliche<br />
Argumentationsstruktur genauer ins Bewußtsein zu heben und zu einem geschmeidigen<br />
Instrument zu profilieren“ 90 .<br />
Wichtig in diesem Zusammenhang - und ein wesentlicher Grund für die charakteristi-<br />
sche Unschärfe - sei nun - wie Bornscheuer ausführt -, daß Aristoteles dieses Ziel mit<br />
den Mitteln seines Untersuchungsgegenstandes verfolge: denn „die im Bereich der Doxa<br />
beheimatete topische Dialektik [...sei] in Aristoteles’ Schrift gleichzeitig Interpretandum<br />
und Interpretament. [...] Die aristotelische <strong>Topik</strong> ließe sich bezeichnen als das ebenso<br />
83 ebd.<br />
84 Die „›endoxa‹ sind das, ›was allen <strong>oder</strong> den meisten <strong>oder</strong> den Gebildeten (sophoi) und unter diesen allen<br />
<strong>oder</strong> den meisten <strong>oder</strong> den am meisten Bekannten und Anerkannten (endoxoi) richtig scheint‹“<br />
(Aristoteles, Top. I, I 100b 21-23, zit.nach: Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 26).<br />
85 ebd., S. 95.<br />
86 vgl. Aristoteles, Top. I, 1 100a, 32 - 100b, 31 (zit. oben Kap. I (Die ‘formale <strong>Topik</strong>’), S. 17 [Anm. 6]).<br />
87 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 27.<br />
88<br />
ebd, S. 26.<br />
89<br />
ebd.<br />
90<br />
ebd., S. 43.<br />
47
interpretationsbedürftige wie sich selbst authentisch auslegende Organon der umgangs-<br />
sprachlichen Argumentation“ 91 .<br />
Die Unschärfe und Interpretierbedürftigkeit von Aristoteles’ <strong>Topik</strong>-Schrift und <strong>Topik</strong>-<br />
bzw. Topos-Konzeption beruht also für Bornscheuer „auf der asystematischen Kohärenz<br />
der umgangssprachlichen Argumentationsstruktur sowie auf der hermeneutischen Zir-<br />
kelstruktur ihrer [... von Aristoteles hier ] unternommenen Reflexion“ 92 .<br />
Bornscheuer ist der Auffassung, daß die Betonung dieser Unschärfe notwendig sei,<br />
um den „eigentlichen Lebenskern der <strong>Topik</strong> wieder freizulegen“ 93 : die seit „Boethius und<br />
vollends seit der hochmittelalterlichen Scholastik [bis in die jüngste Forschung hinein]<br />
herrschende Tendenz, die aristotelische <strong>Topik</strong> im Licht der formalen und systematischen<br />
Logik zu betrachten“ 94 , stünde zwar nicht im Widerspruch zu deren originärer Intention,<br />
träfe aber auch nicht deren Sinnmitte. Denn das Leistungsvermögen des topischen In-<br />
strumentariums würde - wie Bornscheuer meint - „durch eine formalsystematische Logi-<br />
fizierung nicht gesteigert, sondern geschwächt“ 95 .<br />
So tendiere Aristoteles’ „<strong>Topik</strong>-Schrift [zwar] dahin, aus dem weiten Feld der Doxa,<br />
d.h. der gesamtgesellschaftlichen Vor-Verständnisse und ‘Vor-Urteile’ die allgemeinsten<br />
kategorialen Aspekte der umgangssprachlichen Urteilsstruktur herauszuarbeiten“ 96 .<br />
Hierbei hat Bornscheuer den von Aristoteles in den Büchern II-VII seiner <strong>Topik</strong>-Schrift<br />
geleisteten Versuch im Auge, „das unbegrenzte Feld möglicher Problemfragen und da-<br />
von abgeleiteter Ausgangspositionen [für die Herangehensweise an eben diese Proble-<br />
me] nach formalen, insbesondere nach begriffs-, aussagen- und schlußlogischen Kriteri-<br />
en zu unterscheiden, und zwar vor allem nach den Prädikabilien ›Begriffsdefinition‹,<br />
›Spezifikum‹, ›Gattung‹ und ›Akzidenz‹“ 97 . Gleichwohl handle „es sich auch hier nur<br />
um eine ›umrißhafte‹ Systematisierung des topisch-dialektischen Fragens, [...was] nicht<br />
nur ein Blick auf die praktische Durchführung in den Büchern II-VII [beweise], sondern<br />
[...] von Aristoteles ausdrücklich betont“ 98 werde. Der „assoziativ-kombinatorische[...]<br />
Wechsel aller überhaupt erreichbaren, also möglichst vieler und verschiedener Eintei-<br />
91<br />
ebd., S. 43-44.<br />
92<br />
ebd., S. 43.<br />
93<br />
ebd.<br />
94<br />
ebd., S. 42.<br />
95<br />
ebd.<br />
96<br />
ebd., S. 45.<br />
97<br />
ebd., S. 31-32.<br />
98<br />
ebd., S. 32. Bornscheuer verweist hier auf: Aristoteles, Top. I, 6 103a 1f. Rolfes übersetzt die gemeinte<br />
Stelle mit: „So muß man denn, wie vorhin gesagt, unsere Einteilung bloß allgemein verstehen [...]“<br />
(Übersetzung Rolfes, S. 8).<br />
48
lungs- und Argumentationsgesichtspunkte mit dem Ziel höchstmöglicher Differenzie-<br />
rung der jeweiligen Problemlage und des Begriffsgebrauchs“ 99 sei - wie Bornscheuer<br />
darlegt - der „in den Büchern II-VII tatsächlich praktizierte Disputationsmodus“ 100 . Die<br />
„begriffs-logischen Kriterien [...seien also] nur ein äußerer Spannungsrahmen“ 101 für die<br />
aristotelische Darstellung des topischen Instrumentariums.<br />
Die Unschärfe schlage sich aber auch in der Verwischung der Grenzen zwischen den<br />
Grundbegriffen nieder, in dem „schwer abgrenzbaren Bedeutungsgehalt von Leitbegrif-<br />
fen wie topoi, endoxa, protaseis [...]“ 102 . Bornscheuer vertritt die Auffassung, daß<br />
„Topoi, endoxa und protaseis [...] offenbar nur verschiedene Aspekte derselben Sa-<br />
che“ 103 bezeichnen würden, und unter ihnen somit die allgemeinen Grundlagen der von<br />
Aristoteles gesuchten Methode zu verstehen seien:<br />
„Der ›Topos‹-Begriff verweist vor allem auf den instrumentellen Charakter jedes allgemein<br />
verwendbaren Argumentationsgesichtspunktes, der Begriff ›endoxa‹ auf das Moment der<br />
allgemeinen gesellschaftlichen Anerkennung der Ausgangspositionen und Hilfsmittel,<br />
›protaseis‹ schließlich auf den ‘Prämissen’-Charakter der Ausgangssätze“ 104 .<br />
Aufgrund dieser hier dargelegten Unschärfe seien nach Bornscheuers Meinung unter<br />
„›<strong>Topik</strong>‹, ›Topos‹ und ›topisch‹ [...] heuristische Sammelbegriffe für alle die spezifi-<br />
schen Merkmale, die in der sogenannten <strong>Topik</strong>-Schrift als Bedingungsmomente einer<br />
dialektischen Problemerörterung in Erscheinung [...treten, zu verstehen]. ›<strong>Topik</strong>‹ und<br />
›Topoi‹ [...ließen] sich [...somit] als ‘Hilfsmittel für die dialektische Problemerörterung’<br />
bestimmen“ 105 . Und nach Bornscheuer könnte man „einen Topos auch als einen ‘Argu-<br />
mentationsgesichtspunkt von allgemeinverständlicher Relevanz’ bezeichen“ 106 .<br />
„Über konkrete Wege, allgemein anerkannte Argumentationsansätze im besonderen<br />
Problemfall verifizieren zu können, [...mache] Aristoteles nur knappe Andeutungen. Ne-<br />
ben dem grundsätzlichen Verweis auf den consensus omnium bzw. das Urteil der Gebil-<br />
deten [...empfehle Aristoteles - so Bornscheuer weiter -] u.a. die Orientierung an schrift-<br />
lichen Abhandlungen, an selbst anzulegenden Stichwortkatalogen zu bestimmten Sach-<br />
bereichen [...] <strong>oder</strong> an den Gedanken einzelner hervorragender Gewährsmänner [...].<br />
99 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 35.<br />
100<br />
ebd.<br />
101<br />
ebd., S. 32.<br />
102<br />
ebd., S. 33.<br />
103<br />
ebd., S. 30.<br />
104<br />
ebd.<br />
105<br />
ebd., S. 28.<br />
106<br />
ebd., S. 45.<br />
49
Hinzuweisen [...sei] in diesem Zusammenhang auch auf Aristoteles’ besondere Schät-<br />
zung von Sprichwörtern, Gemeinplätzen, Dichterzitaten usw.“ 107 .<br />
So sei deutlich, daß das topische Instrumentarium aus dem gesamten Bereich der<br />
Doxa - und nicht nur aus dem Bereich der Argumentationsformen - stamme: „Der Ver-<br />
fügungsraum an topischen Argumentationsmitteln konstituiert sich aus Tradition und<br />
Konvention. Er umfaßt den gesamten Bereich von Sprache, Sitte und gesellschaftlichem<br />
Selbstverständnis, des Meinens und des herrschenden Bildungswissens [...]“ 108 .<br />
Jeder „allgemeine <strong>oder</strong> konkrete, formale <strong>oder</strong> inhaltliche Gesichtspunkt, der in einem<br />
jeweils vorliegenden Problemzusammenhang eine neue und wichtige Perspektive eröff-<br />
ne[...]“ 109 , dürfe somit letztlich als Topos gelten.<br />
Diese - in der Offenheit gegenüber jedem im Rahmen der öffentlichen Meinungsbil-<br />
dung sich stellenden Problem begründete - Vielfältigkeit (und damit Unschärfe) der ar-<br />
gumentativen Hilfsmittel wird für Bornscheuer auch in der Behandlung der Topoi im<br />
Zusammenhang von Aristoteles’ Rhetorik-Schrift deutlich:<br />
Wie die Dialektik richte sich die Rhetorik „›auf solche allgemeinen Gegenstände<br />
(koina), deren Erkenntnis allen (sc. gebildeten Menschen) möglich und keiner Einzel-<br />
wissenschaft vorbehalten‹“ 110 sei.<br />
Und mit dem Ausdruck ›koina‹ sei - wie Bornscheuer ausführt - hier nun gleich zu<br />
Beginn der Rhetorik-Schrift das Stichwort gefallen, „unter dem die Rhetorik einen<br />
Hauptaspekt der <strong>Topik</strong> [...aufgreife]: die Allgemeinheit des Problemcharakters und der<br />
Problemlösungsmöglichkeiten“ 111 . Denn schon, weil sich nicht alle Menschen durch<br />
wissenschaftlich exakte Beweise überzeugen ließen, sei Aristoteles - wie Bornscheuer<br />
darlegt - der Auffassung, daß man „›die Argumente und Argumentationen aus dem All-<br />
gemeinen (koina) heraus entwickeln [müsse], wie [...er] ja auch [schon] in der <strong>Topik</strong><br />
gesagt habe[...]‹“ 112 . ‘Koinos’ werde laut Bornscheuer in der Rhetorik-Schrift zu einem<br />
Haupt-attribut „und ›to koinon‹ stellenweise sogar ein Wechselwort für ›topos‹“ 113 :<br />
107 ebd., S. 31.<br />
108 ebd., S. 44.<br />
109 ebd., S. 44-45.<br />
110 Aristoteles, Rhet. I, 1 1354a 1-3, zit. nach: Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 37. (Für die von Bornscheuer zugrundegelegten<br />
Textausgaben vgl. Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 218-219 [Anm. 4 zu Kap. I]).<br />
111 ebd., S. 37-38.<br />
112 Aristoteles, Rhet. I, 1 1355a 24-29, zit. nach: Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 38. Franz G. Sieveke übersetzt<br />
diese Stelle wie folgt: „[...] vielmehr muß man die Überzeugungsmittel und die Behauptungen mit Hilfe<br />
von Gemeinplätzen bilden, wie wir (dies) auch in der <strong>Topik</strong> über die Unterredung mit der Menge gezeigt<br />
haben“ (Aristoteles: Rhetorik, übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort<br />
von Franz G. Sieveke, München 1980, hier: S. 10 [nachfolgend zit. als: Übersetzung Sieveke]).<br />
113 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 38.<br />
50
„›Diese (Topoi) sind die für die Gebiete des Rechts, der Physik, der Politik und viele andersgearteten<br />
Wissenschaften gemeinsam geltenden (hoi konoi); wie etwa der Topos des<br />
Mehr <strong>oder</strong> Weniger‹“ 114 .<br />
Bornscheuer ist der Meinung, daß die hier angesprochenen allgemeinen Topoi (konoi<br />
topoi, und dann entsprechend die loci communes in der römischen Rhetorik) aber nicht<br />
nur ‘allgemein’ in dem Sinne seien, daß sie Relevanz für mehrere Fachwissenschaften<br />
beanspruchen <strong>oder</strong> für alle Redegattungen gelten würden, daß also „der ›Allgemein-<br />
heits‹-Charakter im Bereich der <strong>Topik</strong> nicht nur eine erhöhte logische Wahrscheinlich-<br />
keit abstrakter Gedanken <strong>oder</strong> einen breiten thematischen Anwendungsbereich<br />
[...meine], sondern auch den ‘öffentlichen’ Geltungsanspruch“ 115 .<br />
Die topoi konoi wie auch die loci communes seien - wie Bornscheuer betont - viel-<br />
mehr „offensichtlich [...] auch als Standards des ›allgemeinen Denkens‹ im Sinne des für<br />
die öffentliche Meinungsbildung (doxa) maßgeblichen ›consensus omnium‹ bzw.<br />
›sensus communis‹ zu verstehen“ 116 .<br />
Ein weiterer Aspekt, den Bornscheuer betont, ist, daß Aristoteles „eine ›erste Aus-<br />
wahl‹ (von Ausgangssätzen und Argumentationsgesichtspunkten) als spezifisch ›topisch‹<br />
bezeichne[...], und zwar offenbar [...] auf dem Weg über gewisse Sachkataloge“ 117 . Die-<br />
ses ‘Auswahl’- <strong>oder</strong> ‘Katalogverfahren’ gehe - wie Bornscheuer schreibt - „vom jeweili-<br />
gen Diskussionssujet aus [...und postuliere] idealiter zu jedem einzelnen thematischen<br />
Gegenstand eine passende Aufstellung der geeigneten Argumentationstopoi“ 118 .<br />
Dieser auf dem „Ordnungsprinzip des induktiv zu benutzenden Topoi-Inventars“ 119<br />
beruhenden ‘Katalogbildung’ bzw. diesem ‘Auswahlverfahren’ stelle Aristoteles in sei-<br />
ner Rhetorik-Schrift eine weitere Bestimmung des Topos-Begriffs gegenüber: denn zum<br />
anderen wolle er „unter dem ›Element‹ (stoicheion) und ›topos‹ einer rhetorischen Ar-<br />
114<br />
Aristoteles, Rhet. I, 1 1358a 10-14, zit. nach Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 38. Sieveke übersetzt: „[...] was<br />
wir Topoi nennen - diese sind nämlich die allgemeinen Gesichtspunkte in bezug auf Recht, Natur, Politik<br />
und vieles andere verschiedener Art, wie beispielsweise der Topos des Mehr und Weniger“<br />
(Übersetzung Sieveke, S. 19).<br />
115<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 38-39.<br />
116<br />
ebd., S. 39.<br />
117<br />
ebd. Bornscheuer verweist hier auf: Aristoteles, Rhet. II, 22 1396b. Sieveke übersetzt: „[...] da es durch<br />
die Rede klar ist, daß man unmöglich auf andere Weise argumentieren kann, so ist es einleuchtend, daß<br />
man wie in der <strong>Topik</strong> notwendigerweise zuerst für jeden einzelnen Gegenstand eine Sammlung von<br />
schon fertigen Beweisen für die möglichen und die am meisten zutreffenden Fälle hat. [...] Es gibt also<br />
nur eine Art der Auswahl und die wichtigste davon ist die topische“ (Übersetzung Sieveke, S. 143).<br />
118<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 40.<br />
119 ebd.<br />
51
gumentation (enthymema) dasselbe verstehen 120 ; diese Bestimmung [...werde - so Born-<br />
scheuer - ] im letzten Kapitel des zweiten Buches wiederholt und erweitert: ›Ein Element<br />
und ein Topos [...sei] nämlich etwas, unter das sich viele Enthymeme subsumieren<br />
[...ließen]‹“ 121 .<br />
Bornscheuer schreibt dazu, daß diese Bestimmung des Topos als enthymematisches<br />
Element vom einzelnen Topos ausgehe, „von seiner ‘Prämissen’-Funktion und seiner<br />
davon ableitbaren Eigenschaft als klassifizierender Oberbegriff für alle die Enthymeme,<br />
die sich unter dem betreffenden Topos je nach Problemfall bilden lassen“ 122 würden.<br />
Da die „Klassifizierung rhetorischer Schlüsse nach Prämissengesichtspunkten [...] zu<br />
einem deduktiv darstellbaren syllogistischen Topoi-System“ 123 tendiere, hätte Aristoteles<br />
somit zwei „komplementäre Aspekte des topischen Prinzips“ 124 angedeutet: „Inventar<br />
und System [...würden nämlich] auf zwei konträren Ganzheits- und Ordnungsvorstellun-<br />
gen“ 125 beruhen.<br />
Bornscheuer schreibt, daß hinter diesen beiden Bestimmungen „offensichtlich der<br />
Versuch [stehe], wenigstens andeutungsweise dem topischen Prinzip der Fülle durch<br />
gewisse Ordnungskriterien zu begegnen“ 126 . Nach Bornscheuer ließen sich beide<br />
„Ansätze [...] aus der nacharistotelischen Geschichte des topischen Denkens nicht mehr<br />
verdrängen“ 127 . Gleichwohl aber stehe das Moment der Fülle im Vordergrund: das topi-<br />
sche Bewußtsein stelle die dialektisch-rhetorische Argumentationskunst „nämlich einer-<br />
seits vor die unbeschränkte Fülle aller vorwissenschaftlichen Denk- und Entscheidungs-<br />
probleme, andererseits vor die unbeschränkte Fülle aller allgemein verständlicher<br />
Hilfsmittel zur Lösung dieser Probleme“ 128 . So ließe sich jeder Problemzusammenhang<br />
unter verschiedenen Aspekten (Topoi) erörtern und entscheiden, und jedes allgemeine<br />
topische Disputationsmittel ließe sich in vielen verschiedenartigen Problemfällen an-<br />
wenden. <strong>Topik</strong> meine somit „die Offenheit gegenüber beiden Bereichen“ 129 .<br />
120 Bornscheuer verweist hier auf: Aristoteles, Rhet. II, 22 1396b 20f. Sieveke übersetzt: „Jetzt aber wollen<br />
wir die Elemente der Enthymeme behandeln. Unter Element aber und Topos des Enthymems verstehe<br />
ich dasselbe“ (Übersetzung Sieveke, S. 143).<br />
121 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 39-40, er zitiert hier: Aristoteles, Rhet. II, 26 1403a 17f. Sieveke übersetzt: „[...]<br />
denn unter dem Begriff Element verstehe ich das gleiche wie Topos. Element und Topos stellen einen<br />
Komplex dar, in den viele Enthymeme fallen“ (Übersetzung Sieveke, S. 165).<br />
122 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 40.<br />
123 ebd.<br />
124 ebd.<br />
125 ebd.<br />
126 ebd.<br />
127 ebd.<br />
128 ebd., S. 41.<br />
129 ebd.<br />
52
Zusammenfassend lasse sich laut Bornscheuer also sagen, daß die <strong>Topik</strong> kein<br />
„wissenschaftssystematisch und begriffshierarchisch geordnetes, sondern ein quantitativ<br />
und qualitativ schwer definierbares allgemeines Argumentationsreservoir zur Verfü-<br />
gung“ 130 stelle. Dieser systemlogisch nicht formalisierbare Gesamtzusammenhang lasse<br />
sich durch einige Grundtatsachen verdeutlichen:<br />
Die „von Aristoteles bewußt praktizierte [...] Unschärfe“ 131 schlage sich nicht allein<br />
„in dem mehrfachen ausdrücklichen Hinweis auf eine nur ›umrißhafte‹ Phänomenbe-<br />
schreibung, in dem Fehlen einer eigentlichen Topos-Definition, in der Verwischung der<br />
Grenzen zwischen den Grundbegriffen [...]“ 132 , sondern auch in der „hochgradigen In-<br />
terpretierbedürftigkeit jeder einzelnen Toposangabe und Toposverwendung“ 133 nieder.<br />
Jeder Topos eröffne „verschiedene, sogar entgegengesetze Argumentationsmöglichkei-<br />
ten (in ultramque partem-Prinzip); jede Argumentation [...könne] durch verschiedene<br />
Topoi eröffnet und gestützt werden; das Auffinden des jeweils nützlichsten Topos und<br />
die Reihenfolge der Topoi-Anwendungen [...seien] nicht rationalisierbar <strong>oder</strong> auch nur<br />
optimierbar; jeder Topos [...könne] jedem anderen über- <strong>oder</strong> untergeordnet werden, je<br />
nach Problemlage und Argumentationsinteresse“ 134 .<br />
So „unmethodisch der assoziativ-kombinatorische Umgang mit den Topoi im einzel-<br />
nen erscheinen [...möge], so perspektivenreich [...sei] er aufs ganze gesehen. Es [...kom-<br />
me - wie Bornscheuer darlegt -] Aristoteles ganz wesentlich ›auf die Mannigfaltigkeit<br />
der Gesichtspunkte an, unter denen ein Gegenstand betrachtet werden [...könne]‹“ 135 .<br />
Dieses Moment der Fülle beinhalte - so Bornscheuer - neben „[...] der unbeschränkten<br />
Offenheit gegenüber jeder Problemfrage [auch] das unbegrenzte Feld möglicher Argu-<br />
mentationsgesichtspunkte“ 136 . Erst die Fülle des Topoi-Materials verleihe der Dialektik<br />
den Rang einer fundamentalen inventio-Kunst, den ihr keine Einzelwissenschaft streitig<br />
machen könne, wie Aristoteles es dann betone:<br />
„Denn das ist das Spezifische <strong>oder</strong> doch das Nützliche der Dialektik; ihr auf Forschung angelegter<br />
Charakter erschließt nämlich einen Zugang zu den Anfangsgründen aller Forschungsmethoden“<br />
137 .<br />
130<br />
ebd., S. 34.<br />
131<br />
ebd., S. 43.<br />
132<br />
ebd.<br />
133<br />
ebd.<br />
134<br />
ebd.<br />
135<br />
ebd., S. 36.<br />
136<br />
ebd., S. 59.<br />
137<br />
Aristoteles, Top. I, 2 101b 2-4 (Übersetzung Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 36)<br />
53
Aufs Ganze gesehen sei also - wie Bornscheuer feststellt - „diese <strong>Topik</strong> als Instrument<br />
einer ebenso allgemeinverständlichen wie schöpferischen Argumentationskunst zu be-<br />
stimmen“ 138 und bedeute folglich insgesamt „[...] nach der Konzeption der beiden wich-<br />
tigsten antiken Gewährsmänner das Instrumentarium eines gedanklich und sprachlich<br />
schöpferischen, doch zugleich auf den allgemeinen gesellschaftlichen Meinungs-,<br />
Sprach- und Verhaltensnormen beruhenden Argumentationshabitus“ 139 .<br />
Aktualisierung eines allgemeinen <strong>Topik</strong>- bzw. Topos-Begriffs<br />
Wie Bornscheuer betont, gehe es ihm bei seinem Aktualisierungsversuch der <strong>Topik</strong> nicht<br />
um die Etablierung einer topischen Literaturwissenschaft, denn „das ‘topische Verfah-<br />
ren’ [...sollte - wie gerade dargestellt -] grundsätzlich immer nur als ein Hilfsverfahren<br />
jeglichen ‘methodischen Argumentierens’ im strengeren Sinne verstanden werden“ 140 .<br />
So verfolge er bei der Bemühung um eine genauere, literaturwissenschaftlich frucht-<br />
bar zu machende <strong>Topik</strong>-Vorstellung nicht „einen begriffstheoretischen <strong>oder</strong> antiquari-<br />
schen Selbstzweck, sondern [...bezwecke vielmehr,] eine neue Ortsbestimmung des ›Li-<br />
teratur‹-Begriffs und damit der ›Literaturwissenschaft‹ selbst vorzubereiten“ 141 .<br />
In diesem Sinne „könnte die Rückbesinnung auf die ‘topischen Dimensionen’ aller<br />
[...Literatur] auch und gerade den literarästhetischen Kommunikationsprozeß - wie alle<br />
künstlerische Arbeit - als ein ‘Problemlösungsverfahren sui generis’ wiederentdecken<br />
lassen“ 142 . Die Erforschung der <strong>Topik</strong> könne so - wie Bornscheuer weiter schreibt - An-<br />
sätze bieten, „um die Komplexität [...künstlerischer] Problemgestaltung und Problemlö-<br />
sungsverfahren primär wieder aus dem komplexen Fundus [...alltagsweltlicher] Problem-<br />
erfahrung und Problemlösungsphantasie heraus zu verstehen [...]“ 143 .<br />
Anknüpfend an den aristotelischen Gedanken, daß es „so etwas wie ein aus dem All-<br />
tagsdenken und den Problemen der Alltagspraxis erwachsenes allgemeinverständliches<br />
inventorisches Forschungsverhalten [gebe], das allen Künsten und Wissenschaften vor-<br />
138<br />
ebd., S. 93.<br />
139<br />
ebd., S. 94.<br />
140<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong> in Reallexilon, S. 465.<br />
141<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 92.<br />
142<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong> in Reallexikon, S. 465.<br />
143 ebd.<br />
54
ausliege und deren Prinzipien überhaupt erst begründe“ 144 , betont Bornscheuer, daß ein<br />
„derart zentraler Begründungsversuch [...] nicht wissenschaftsimmanent, sondern nur in<br />
einem allgemeinen, metawissenschaftlichen Verständnishorizont durchführbar [sei].<br />
Eben dazu soll[e] die historische Rekonstruktion der vorwissenschaftlichen bzw. die<br />
theoretische Konstruktion einer metawissenschaftlichen Topos-Vorstellung dienen. Es<br />
[...gehe] hier mit anderen Worten, im Gegensatz zur gesamten neueren Toposforschung,<br />
nicht um einen weiteren fachspezifischen Topos-Begriff, der nach Maßgabe schon gesi-<br />
cherter wissenschaftsimmanenter Kriterien zu definieren wäre, sondern umgekehrt um<br />
die Gewinnung literaturtheoretischer Grundlagenaspekte am Leitfaden eines allererst<br />
evident zu machenden vor- bzw. metawissenschaftlichen <strong>Topik</strong>-Verständnisses“ 145 .<br />
Somit blieben - wie Bornscheuer herausstellt - für ein angemessenes Verständnis des<br />
topischen Verfahrens innerhalb rhetorisch-literarischer Kontexte „die verkürzenden<br />
prag-matischen Schulrhetoriker weniger bedeutsam als der Topoi-Gebrauch in der<br />
sprachlich-literarischen Praxis selbst. Daß angesichts der kaum überschaubaren Mannig-<br />
faltigkeit topischer Schreibverfahren [...] weder der theorielose Topos-Begriff von Curti-<br />
us noch der formalistisch verengte von Mertner akzeptabel [...seien], sondern nur ein<br />
differenziert strukturierter, der zumindest die wichtigsten der seit Aristoteles und Cicero<br />
explizit herausgestellten Merkmale wie auch die in der Praxis beobachtbaren unter-<br />
schiedlichen Funktionsmomente berücksichtigt[...]“ 146 , steht damit für Bornscheuer fest.<br />
Ein Topos ist demnach für Bornscheuer weder nur ein Klischee noch allein eine<br />
Suchformel für die Argumentfindung:<br />
„Jeder formale <strong>oder</strong> thematische Gesichtspunkt, jede logische <strong>oder</strong> psychologische, disputationstaktische<br />
<strong>oder</strong> ethisch-normative Verhaltensregel, jedes objektive Faktum <strong>oder</strong> fiktionale<br />
Bild, jedes konkrete Beispiel <strong>oder</strong> einprägsame Merkwort kann unter bestimmten soziokulturellen<br />
Bedingungen den Rang eines Topos gewinnen“ 147 .<br />
Seine Betonung liegt hier offensichtlich auf dem Wort ‘kann’, denn Bornscheuer be-<br />
stimmt die Topoi gewissermaßen als Gebrauchsgegenstände, die sich über ihre Funktio-<br />
nalität bestimmen: das „[...] eigentliche Telos des topischen Apparates ist seine Funktion<br />
im Rahmen der vorwissenschaftlichen Problemlösung und Meinungsbildung“ 148 .<br />
144<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 93.<br />
145<br />
ebd., 92-93.<br />
146<br />
Bornscheuer, Neue Dimensionen, S. 6.<br />
147 Bornscheuer, Zehn Thesen, S. 208.<br />
148 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 106.<br />
55
Diese Funktion erfülle der topische Apparat laut Bornscheuer aufgrund mehrerer<br />
„Funktionsmomente“ 149 , die somit als Aspekte in die Bestimmung von <strong>Topik</strong> und als<br />
literaturtheoretische Grundlagenaspekte in die Ortsbestimmung von Literatur und Litera-<br />
turwissenschaft eingehen.<br />
Ein erster Aspekt leite sich daraus ab, daß die Topoi „zum Bestand der ›endoxa‹, d.h<br />
eines soziokulturell bedingten Meinungsgefüges“ 150 gehören würden:<br />
„Ein Topos ist [somit zu bestimmen als] ein Standard des von einer Gesellschaft jeweils internalisierten<br />
Bewußtseins-, Sprach- und/<strong>oder</strong> Verhaltenshabitus, ein Strukturelement des<br />
sprachlich-sozialen Kommunikationsgefüges, eine Determinante des in einer Gesellschaft<br />
jeweils herrschenden Selbstverständnisses und des seine Traditionen und Konventionen regenerienden<br />
Bildungssystems“ 151 .<br />
Dieses Funktionsmoment bezeichnet Bornscheuer als Habitualität 152 . Unter Habi-<br />
tualität ist meiner Meinung nach also die grundlegende Qualität der <strong>Topik</strong> zu verstehen,<br />
jegliche Argumentationspraxis und Meinungsbildung überhaupt erst zu ermöglichen.<br />
Die sprachlichen Formen, die Topoi annehmen können, faßt Bornscheuer unter dem<br />
Begriff Symbolizität zusammen. Der Elementarcharakter der Topoi innerhalb eines<br />
Kommunikationsgefüges äußere sich - wie Bornscheuer schreibt - auf sprachlicher Ebe-<br />
ne in der Eignung von Topoi zur formelhaften Fixierung:<br />
„Topoi lassen sich sich in knappen Regeln, Kurzsätzen, zusammengesetzten Ausdrücken<br />
<strong>oder</strong> bloßen Stichpunkten formulieren. Und zwar kann derselbe Topos verschiedene Grade<br />
sowohl der verbalen wie der semantischen Konzentration annehmen“ 153 .<br />
Diese konkrete Merkform sorge für Präsenz in Problemsituationen, Topoi seien opti-<br />
mal zu erinnern:<br />
„Die Merkformel vermittelt sich dem einzelnen in seiner Eigenschaft als Mitglied jeweils<br />
bestimmter, durch gemeinsame Sprache, Bildung und soziales Bewußtsein typisierbarer<br />
Gruppen. Jedes sprach- und bildungsymbolisch eingrenzbare Symbolsystem stellt eine Art<br />
‘Sondertopik’ im Rahmen der jeweils übergeordneten gesamtgesellschaftlichen ‘Allgemeintopik’<br />
dar“ 154 .<br />
Sondertopiken seien z.B. soziale Klassen <strong>oder</strong> Schichten, aber auch „Wissenschafts-<br />
disziplinen, Fachsprachen, Berufssprachen, [...] Gattungstraditionen usw.“ 155 . Ein sehr<br />
149<br />
Bornscheuer, Zehn Thesen, S. 208.<br />
150<br />
Bornscheuer, Zehn Thesen, S. 209.<br />
151<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 96.<br />
152<br />
Er wählt den Begriff im Anschluß an Pierre Bourdieus Begriff ‘Habitus’, vgl. Bourdieu, Pierre: Zur<br />
Soziologie der symbolischen Formen, 6. Auflage (zuerst 1970), Frankfurt 1997, insbes. S. 143ff..<br />
153<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 103.<br />
154 ebd., S. 103.<br />
155 ebd., S. 104.<br />
56
allgemeiner Rahmen einer <strong>Topik</strong> sei stets eine National- <strong>oder</strong> Kultursprache <strong>oder</strong> auch<br />
übernationale <strong>Topik</strong>en, wie z.B. religiöse <strong>oder</strong> ideologische. So richte sich der<br />
„unmittelbare soziale Geltungsbereich des einzelnen Topos [...- laut Bornscheuer -] nach<br />
dem jeweils sprach- und bildungssoziologisch zu ermittelnden Gruppenumfang“ 156 . Nur<br />
auf dem Boden eines habituell-symbolischen Gefüges könnten schöpferische Ideen ge-<br />
deihen, sei es nun im Bereich der Kunst <strong>oder</strong> der Wissenschaft.<br />
Zur genaueren Bestimmung der in der <strong>Topik</strong> wurzelnden schöpferischen Produktivität<br />
werde ich nun das von Bornscheuer herausgearbeitete dritte Strukturmerkmal eines To-<br />
pos betrachten: die Potentialität.<br />
Dieser Aspekt werde „durch die von Aristoteles geforderte Offenheit gegenüber jeder<br />
Problemfrage angedeutet. [...] Das später besonders von Cicero nachdrücklich betonte<br />
Prinzip der ›Fülle‹ [...erfordere] sowohl einfallsreiches Interpretationsgeschick gegen-<br />
über dem einzelnen Topos in verschiedenartigen Problemzusammenhängen als auch die<br />
Verfügung über einen möglichst großen Schatz an verschiedenartigen Topoi im selben<br />
Problemzusammenhang“ 157 . Die schöpferischen, inventorischen Möglichkeiten des To-<br />
pos-Gebrauchs lägen nun - wie Bornscheuer ausführt - in der Interpretationsbedürftigkeit<br />
der aus dem Bereich der endoxa stammenden Topoi begründet, wobei Topoi aufgrund<br />
ihres allgemeinen, unbestimmten Charakters interpretationsbedürftig seien:<br />
„Aus jedem einzelnen [Topos] lassen sich verschiedenartige und sogar völlig gegensätzliche<br />
Argumente gewinnen, derselbe Topos kann bei der derselben Problemfrage beiden Kontrahenten<br />
nützlich sein. (in ultramque partem - Prinzip). Ausschlaggebend ist stets, in welchem<br />
Sinne ein Topos jeweils ins Spiel gebracht und interpretiert wird“ 158 .<br />
Diese Unbestimmtheit sei nicht als Manko anzusehen, denn sie ermögliche ja erst die<br />
Produktivität des Topos-Gebrauchs. Die Interpretationsbedürftigkeit fordere - so Born-<br />
scheuer - heraus, sie inspiriere und setze das Denken in Bewegung. Auf welche Weise<br />
sich die schöpferischen Möglichkeiten eines Topos produktiv umsetzen ließen, bleibe<br />
„der schöpferischen Einbildungskraft, dem Einfall bzw. dem durch Übung geschulten<br />
Assoziations- und Interpretationsvermögen des Disputanten überlassen“ 159 .<br />
Entscheidend für die erfolgreiche Anwendung von Topoi sei das Wissen darüber,<br />
welcher Topos, welcher Argumentationsgesichtspunkt, in welchem Augenblick (in wel-<br />
156 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 108.<br />
157 Bornscheuer, Zehn Thesen, S. 209.<br />
158 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 98.<br />
159 ebd., S. 99.<br />
57
chem Kontext) am brauchbarsten sei und wie Topoi wirkungsvoll miteinander kombi-<br />
niert werden könnten.<br />
Hierzu betont Bornscheuer, daß ein Topos einen „konkreten Argumentationswert [...]<br />
nicht schon aufgrund seiner habitualisierten Allgemeingeltung und erst recht nicht auf-<br />
grund seiner polyvalenten Interpretierbarkeit“ 160 gewinne. Und er hebt hervor, daß ein<br />
„Topos weder bloß ein durch Tradition und Konvention vorgegebener und angeeigneter<br />
Standard, noch ein dem assoziativen Einfall überlassener, beliebig verwendbarer Ge-<br />
sichtspunkt [sei], sondern [...] ein solches zentrales Strukturelement des gesellschaftli-<br />
chen Kommunikationsgefüges, von dem aus im Blick auf einzelne Problemsituationen<br />
jederzeit ein weiterführender Verständnishorizont intendiert werden [...könne]“ 161 . Denn<br />
„Topoi [...besäßen] nur so lange Überzeugungskraft, wie sie sich bei Lösungen der ge-<br />
sellschaftlich lebensbedeutsamen Probleme [in immer neuen Kontexten] bewähren<br />
[würden]“ 162 .<br />
Unter dieser Problem- und Kontextbezogenheit - von Bornscheuer Intentionalität ge-<br />
nannt - ist meiner Auffassung nach sozusagen eine Gravitationskraft zu verstehen, wel-<br />
che die Struktur eines Topos zusammenhält, so daß er nicht in die bloße Habitualität<br />
<strong>oder</strong> bloße Potentialiät zerfällt. Denn ohne aktuellen Gebrauch in der Erörterung lebens-<br />
bedeutsamer Problemfälle würde ein Topos - so Bornscheuer - entweder in die refle-<br />
xionslose Habitualität absinken, also zum Klischee werden, <strong>oder</strong> sich zum bloßen Ein-<br />
fall, d.h. in die unverbindliche Potentionalität verflüchtigen. Die Intentionalität gebe also<br />
in einem gewissen Sinne dem ambivalenten Charakter des Topos, der aus dem Span-<br />
nungsverhältnis zwischen Tradition (Habitualiät) und Innovation (Potentialität) herrühre,<br />
eine Richtung: „Erst die je konkrete Problemsituation und Wirkungsintention überwindet<br />
die innere Ambivalenz der <strong>Topik</strong> und erschließt perspektivische Zusammenhänge“ 163 .<br />
Es sei die Synthese der zuvor herausgestellten Wesenmerkmale, welche erst zu einem<br />
komplexen und spannungsvollen Toposbegriff führen würde:<br />
„Als reines Partikel der Tradition und Konvention betrachtet, erscheint der Topos als trivialer<br />
Gemeinplatz, als reines Moment geistreich-assoziativer Gedankenspiele tendiert der Topos<br />
zum Bonmot, als reiner Ausdruck intentionaler Lebensbedeutsamkeit nimmt der Topos<br />
die Form von Sentenz und Sprichwort an“ 164 .<br />
160 Bornscheuer, Zehn Thesen, S. 210.<br />
161 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 102.<br />
162 ebd., S. 101.<br />
163 ebd., S. 102.<br />
164 ebd.<br />
58
Seine größte Leistungsfähigkeit erhalte der Topos also nur, wenn sich in ihm die<br />
„Kräfte der Tradition und der Innovation“ 165 zur Lösung von aktuellen Problemsituatio-<br />
nen konzentrieren würden. So verpflichte die <strong>Topik</strong> also einerseits auf die Argumentati-<br />
onsmittel, die sich aus den gesellschaftlichen Denkgewohnheiten heraus anbieten wür-<br />
den (Aspekte der Habitualität und Symbolizität), anderseits aber setze sie - wie Born-<br />
scheuer ausführt - ein hohes Maß an schöpferischer-argumentativer Invention frei<br />
(Aspekte der Potentialität und Intentionalität).<br />
Ein weiteres - sich hier unmittelbar anschließendes - Leistungsmerkmal des Wissens<br />
um <strong>Topik</strong> sei die Fähigkeit, diese Wechselwirkungsprozesse auch kritisch zu durch-<br />
leuchten:<br />
„Denn dasselbe topische Instrumentarium, das auf der einen Seite der bloße Niederschlag<br />
der bestehenden Traditionen und Konventionen zu sein und lediglich deren Legitimität zu<br />
befestigen scheint, ist auf der anderen Seite das einzige Hilfsmittel, die durch diese <strong>Topik</strong><br />
selbst bedingten Strukturen menschlichen Wissens und gesellschaftlichen Meinens aufzuklären<br />
[...]“ 166 .<br />
Diese ambivalente Stellung der <strong>Topik</strong>, einerseits ein Instrument darzustellen, das auf<br />
der Grundlage der herrschenden Meinung seine Wirksamkeit entfaltet, und anderseits<br />
eben auch das einzige Hilfsmittel zu sein, um diese Vor-Urteils-Struktur zu analysieren,<br />
innovativ mit der Tradition und Konvention umzugehen und „von innen heraus“ 167 die<br />
herrschende <strong>Topik</strong> zu verändern, werde also nach Bornscheuers Auffassung nur unzurei-<br />
chend erfaßt, wenn man auf der „Scheinalternative“ 168 zwischen <strong>materiale</strong>r <strong>oder</strong> formaler<br />
Auffassung der <strong>Topik</strong> beharre.<br />
Als rein <strong>materiale</strong> Erscheinung interpretiert, bleibt - wie ich Bornscheuer verstehe -<br />
nur noch das Moment der kristallisierten Konventionalität übrig. Die Problemlösungs-<br />
qualität der <strong>Topik</strong>, die Bezogenheit des topischen Instrumentariums auf die Suche nach<br />
neuen Perspektiven, all die Möglichkeiten, die sich bieten, die Konventionalität zu ver-<br />
flüssigen, geraten so - meiner Meinung nach - aus dem Blick. Wenn die Topoi aber al-<br />
lein als Suchformeln und <strong>Topik</strong> allein als Methode der Argumentfindung aufgefaßt wer-<br />
den, dann verliert dieser rein formale Blick meiner Ansicht nach den Bereich aus den<br />
Augen, auf den sie immer bezogen sind: das Alltagswissen, die Doxa, das Moment der<br />
Konventionalität und Lebensbedeutsamkeit.<br />
165<br />
ebd., S. 102-103.<br />
166<br />
ebd., S. 52.<br />
167<br />
ebd., S. 108.<br />
168<br />
Bornscheuer, Neue Dimensionen, S. 9.<br />
59
Nimmt man aber die in der Komplexität topischer Wechselwirkungsprozesse begrün-<br />
dete Unschärfe Bornscheuer folgend ernst, so „zeigt sich die <strong>Topik</strong> vor allem von zwei<br />
Seiten: nämlich sowohl als habituell-symbolisches Sediment wie auch als polyvalent-<br />
argumentorisch generierendes Produktionsinstrument soziokultureller Entwicklungspro-<br />
zesse“ 169 . In „[...] diesem Sinne könnte man die <strong>Topik</strong> als den Raum und das Medium<br />
der ‘gesellschaftlichen’ Einbildungs- und Urteilskraft bezeichnen, die gegründet ist auf<br />
das Fundament der öffentlichen Meinung bzw. auf die Normen der gebildeten und herr-<br />
schenden Klasse“ 170 .<br />
Ein Topos bzw. eine <strong>Topik</strong> sei demnach „die Quelle und zugleich die Resultante ver-<br />
schiedener historisch-gesellschaftlicher Kräfte“ 171 . So ließe sich - wie Bornscheuer aus-<br />
führt - ein Topos „bestimmen als ein nach dem Rückkoppelungsprinzip arbeitendes fun-<br />
damentales Strukturelement der gesellschaftlichen Kommunikation“ 172 . Bornscheuer<br />
bezeichnet den Topos deswegen als „[...] Umschlagplatz zwischen Kollektiv und Indivi-<br />
duum, Bewußtsein und Unbewußtem, Konvention und Spontaneität, Tradition und Inno-<br />
vation, Erinnerung und Imagination“ 173 .<br />
Schöpferische Produktivität knüpfe also an solche Umschlagplätze an, entfalte das in<br />
den Topoi liegende Potential, das sich anhand des mehrdimensionalen Charakters der<br />
Topoi verdeutlichen lasse: „der spezifischen Sprachform (Symbolizität), der in ihr zum<br />
Ausdruck kommenden gesellschaftsgeschichtlich bedingten Mentalität (Habitualität), der<br />
Fähigkeit zu einem schöpferischen Alternativdenken innerhalb des jeweiligen bildungs-<br />
soziologischen Habitus (Potentialität) und schließlich der dieses Alternativdenken aller-<br />
erst motivierenden Interessen- und Sinnorientierung (Intentionalität)“ 174 .<br />
Wahres Toposbewußtsein erfordere bzw. befähige daher, in verschiedenen Horizon-<br />
ten bzw. Kontexten zu denken und die heterogensten Aspekte aufeinander beziehen zu<br />
können. Es sei mehrdimensionales Denken, welches sich im Horizont der herrschenden<br />
Meinungen gerade deswegen sicher bewegt, da es in diesem nicht befangen sei. Somit<br />
stehe es „in krassem Gegensatz zu jeder Art von Apodiktik“ 175 .<br />
Nach Bornscheuers Ansicht ließe sich die Komplexität topischer Dimensionen somit<br />
„ihrem Wesen nach durch keine fachwissenschaftliche Methode dingfest machen, son-<br />
169 Bornscheuer, Zehn Thesen, S. 210.<br />
170 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 46.<br />
171 ebd., S. 104.<br />
172 ebd., S. 108.<br />
173 ebd., S. 105.<br />
174 ebd., S. 208.<br />
175 ebd.<br />
60
dern nur mit einem offenen Beschreibungsvokabular erhellen, also letztlich selbst nur<br />
auf eine topische Weise“ 176 .<br />
An dieser Stelle möchte ich zum Ausgangspunkt meiner Ausführungen - zum Streit<br />
um ein angemessenes <strong>Topik</strong>- bzw. Toposverständnis - zurückkehren: denn mit dieser<br />
Auffassung Bornscheuers, daß <strong>Topik</strong> selbst nur auf topische Weise erhellt werden kön-<br />
ne, sind wir - meiner Meinung nach - genau an dem Punkt angelangt, um den der Streit<br />
sich eigentlich dreht. Der Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung scheint mir die<br />
Frage zu sein, welche Bedeutung das Phänomen <strong>Topik</strong> für die Literaturwissenschaft hat<br />
bzw. haben soll. Welche Konsequenzen ergeben sich damit aus der Wiederentdeckung<br />
der <strong>Topik</strong>? An der Beantwortung dieser Frage scheiden sich die Geister, und aus ihr er-<br />
geben sich meiner Auffassung nach die nicht zu schlichtenden Meinungsverschiedenhei-<br />
ten zu dem Thema <strong>Topik</strong>.<br />
176 ebd..<br />
61
Schluß<br />
Der Streit um einen angemessenen <strong>Topik</strong>-Begriff<br />
Meine Arbeit nahm ihren Ausgang bei dem Befund, daß eines der drängendsten Proble-<br />
me der <strong>Topik</strong>-Forschung darin bestehe, zu klären, was unter <strong>Topik</strong> (und damit unter<br />
<strong>Topik</strong>-Forschung) eigentlich zu verstehen ist. Wir haben gesehen, daß sich an der Klä-<br />
rung dieses Problems ein Streit entzündet hat, der anscheinend nicht zu schlichten ist.<br />
Das Gebiet der <strong>Topik</strong>-Forschung bot so - im Zuge der Auseinandersetzung mit Curtius’<br />
Inaugurierung der m<strong>oder</strong>nen Beschäftigung mit <strong>Topik</strong> - ein immer unübersichtlicheres -<br />
<strong>oder</strong> positiv ausgedrückt vielfältigeres - Bild dar, was dann zur Folge hatte, daß so man-<br />
cher <strong>Topik</strong>-Forschende die Konturen des Forschungsfeldes <strong>Topik</strong> verschwinden sah.<br />
Um den - auch seiner Auffassung nach - verschwommenen Konturen der <strong>Topik</strong>-<br />
Forschung zumindest ein terminologisches Gerüst zu geben und - wenn der Streit schon<br />
nicht zu schlichten sei - eine Orientierung im „Gestrüpp“ 1 der m<strong>oder</strong>nen Beschäftigung<br />
mit <strong>Topik</strong> zu erleichtern, unterteilte Josef Kopperschmidt die streitenden Parteien einer-<br />
seits in Anhänger einer ‘<strong>materiale</strong>n <strong>Topik</strong>’ und andererseits in Verfechter einer<br />
‘formalen <strong>Topik</strong>’. Diese Einteilung - hier formal, dort material - erschien mir allerdings<br />
fragwürdig, da hier ein Aspekt der <strong>Topik</strong> meiner Meinung nach nicht berücksichtigt<br />
wurde, den einige <strong>Topik</strong>-Forschende jedoch entschieden betonten: und zwar die schon in<br />
der Tradition der <strong>Topik</strong> zu findende wesentliche Unschärfe der <strong>Topik</strong>.<br />
Um nun zu zeigen, daß Kopperschmidts Einteilung einem wesentlichen Aspekt der<br />
Kontroverse über <strong>Topik</strong> nicht gerecht wird, folgte meine Arbeit seiner Einteilung und<br />
stellte mit den Arbeiten von Wiedemann und von Bornscheuer zwei literaturwissen-<br />
schaftliche Aktualisierungsversuche der <strong>Topik</strong> und ihre Anknüpfungen an die Tradition<br />
der <strong>Topik</strong> dar.<br />
Während Wiedemanns Auffassung meiner Ansicht nach der Strömung innerhalb der<br />
<strong>Topik</strong>-Forschung zugeordnet werden konnte, die Kopperschmidt dann als ‘formale To-<br />
pik’ gekennzeichnet hat, wurde Bornscheuers Sicht der <strong>Topik</strong> - wie wir gesehen haben -<br />
von seinen Kritikern in jene Traditionslinie gestellt, die Kopperschmidt ‘<strong>materiale</strong> To-<br />
pik’ nannte. Bornscheuers Auffassung von <strong>Topik</strong> und Topoi wurde also in jene Tradition<br />
1 Kopperschmidt, Josef: <strong>Formale</strong> <strong>Topik</strong>. Anmerkungen zur ihrer heuristischen Funktionalisierung innerhalb<br />
einer Argumentationsanalytik, in: Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als<br />
Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“ (=Rhetorik-Forschungen Bd. 1), hrsg. von Gert<br />
Ueding, Tübingen 1991, 53–62, hier: S. 53. (nachfolgend zit. als: Kopperschmidt, <strong>Formale</strong> <strong>Topik</strong>)<br />
62
gestellt, die - wie Kopperschmidt meint - an Curtius anschließend unter Topoi die „zu<br />
Motiven, Denkformen, Themen, Argumenten, Klischees, loci communes, Stereotypen<br />
usw. stabilisierten <strong>materiale</strong>n Gehalte“ 2 verstehe.<br />
Bornscheuers <strong>Topik</strong>-Auffassung war durch die Kategorie ‘<strong>materiale</strong> <strong>Topik</strong>’ jedoch<br />
nicht zu erfassen, da seine Sicht auf <strong>Topik</strong> - wie aufgezeigt - sowohl <strong>materiale</strong> wie auch<br />
formale Elemente einschließt. Es wurde deutlich, daß er das Wesentliche der <strong>Topik</strong> ge-<br />
rade jenseits solcher - wie er sagt - „Scheinalternative[n]“ 3 sieht. So beharrt Bornscheu-<br />
er darauf, daß ein „topos bzw. locus (communis) [...] sowohl ein (erkenntnis-<br />
theoretischer, logischer <strong>oder</strong> anderer) Kategoriebegriff <strong>oder</strong> eine Regel als auch ein blo-<br />
ßes Klischee <strong>oder</strong> ein Stichwort formaler <strong>oder</strong> <strong>materiale</strong>r Art“ 4 sein könne.<br />
Denn im Gegensatz zu den auf Eindeutigkeit festgelegten Vertretern der ‘formalen<br />
<strong>Topik</strong>’ betont Bornscheuer - wie gesehen - geradezu die für das topische Denken we-<br />
sentliche Unschärfe, die als „ein unmittelbarer Ausdruck des topischen Verfahrens selbst<br />
betrachtet werden [...]“ 5 müsse.<br />
Dementsprechend ließe sich „der Topos-Begriff als ein heuristischer Sammelbegriff<br />
bezeichnen für sämtliche Gesichtspunkte, die für die intersubjektive Problemerörterung<br />
und Meinungsbildung innerhalb eines bestimmten soziokulturellen Horizonts relevant<br />
sind“ 6 . Wie aufgezeigt ist diese ‘Relevanz’ meiner Auffassung nach für Bornscheuer das<br />
entscheidende Moment für die Bestimmung der Begriffe <strong>Topik</strong> und Topos, da das „[...]<br />
eigentliche Telos des topischen Apparates [...] seine Funktion im Rahmen der vorwis-<br />
senschaftlichen Problemlösung und Meinungsbildung“ 7 sei.<br />
Gerade an dieser - von Bornscheuer als bestimmend für das Phänomen <strong>Topik</strong> angese-<br />
henen - argumentativen Funktion (und der damit verbundenen Unschärfe) haben sich -<br />
2<br />
Kopperschmidt, <strong>Formale</strong> <strong>Topik</strong>, S. 53.<br />
3<br />
Bornscheuer, Lothar: Neue Dimensionen und Desiderata der <strong>Topik</strong>-Forschung, in: Mittellateinisches<br />
Jahrbuch, Bd. 22 (1987), hrsg. von Karl Langosch/Fritz Wagner, Stuttgart 1989, hier: S. 9. (nach-folgend<br />
zit. als: Bornscheuer, Neue Dimensionen)<br />
4<br />
ebd., S. 6.<br />
5<br />
Bornscheuer, Lothar: <strong>Topik</strong>. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt 1976, hier: S.<br />
33 (nachfolgend zit. als: Bornscheuer, <strong>Topik</strong>).<br />
6<br />
Bornscheuer, Lothar: Zehn Thesen zur Ambivalenz der Rhetorik und zum Spannungsgefüge des Topos-<br />
Begriffs, in: Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung, hrsg. von Heinrich F. Plett, München<br />
1977, 204-212, hier: S. 208. Oder wie es Bornscheuer in einer Vorlesungsankündigung im Hinblick<br />
auf die „<strong>Topik</strong> der literarischen M<strong>oder</strong>ne“ ausdrückt: „<strong>Topik</strong> wird [...] als Sammelbegriff für alle thematischen<br />
und formkünstlerischen Strukturelemente verstanden, die der Bildung eines sensus communis innerhalb<br />
der Literaturgesellschaft dienen“ (Bornscheuer, Lothar: Vorlesungsankündigung (WS 98/99) zu:<br />
Die <strong>Topik</strong> der literarischen M<strong>oder</strong>ne. Ästhetische Kommunikation unter den Bedingungen des<br />
Buchmarkts, in: Kommentiertes [Online-]Vorlesungsverzeichnis Germanistik (Veranstal-tungen Literaturwissenschaft)<br />
des Fachbereichs 3 der Gerhard-Mercator-<strong>Universität</strong>-GH Duisburg, Wintersemester<br />
1998/99 [abgerufen unter: http://www.uni-duisburg.de/FB3/GERM]).<br />
7<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 106.<br />
63
wie ich meine - viele an Bornscheuers Interpretation anschließende Arbeiten zur <strong>Topik</strong><br />
orientiert: Arbeiten, die somit - aus der Perspektive Kopperschmidts und der ‘formalen<br />
<strong>Topik</strong>’ betrachtet - die Tradition der ‘<strong>materiale</strong>n <strong>Topik</strong>’ weiter fortgesetzt haben, aber in<br />
das Schema ‘formale versus <strong>materiale</strong> <strong>Topik</strong>’ ebenso wie Bornscheuers Arbeit nicht<br />
hineinpassen. Ich möchte hierfür nur zwei Beispiele anführen:<br />
Gerhart von Graevenitz betont in seiner Habilitations-Schrift 8 als „Hauptmerkmal der<br />
<strong>Topik</strong>, zumindest nach Maßgabe ihrer antiken Autoritäten Aristoteles und Cicero,<br />
[...ihren] Kontrast zur strengen logischen Analytik und Syllogistik“ 9 .<br />
Wie er unter Hinweis auf Bornscheuers <strong>Topik</strong>-Schrift schreibt, sei, was hier „als<br />
Mangel an logischer Trennschärfe und Folgerichtigkeit beanstandet werden könnte, [...]<br />
in Wirklichkeit das absichtlich in Kauf genommene ›Unschärfe-Prinzip‹ 10 [...]. Dieses<br />
Unschärfe-Prinzip [...mache] aus der <strong>Topik</strong> eine gleichermaßen strukturierte und höchst<br />
flexible Assoziationslehre, die Sachverhalte in Gedankengänge verflüssigen und nicht<br />
Einfälle in strikte Schlußverfahren zwängen [...wolle], die im Zweifel die Fülle des As-<br />
soziierbaren der Stringenz [...vorziehe]“ 11 . So sei dann topisches „Denken [...] mit Ent-<br />
schlossenheit ›vorwissenschaftlich‹. Seine Norm [...sei - wie von Graevenitz ausführt -]<br />
eine allgemeine Denkbarkeit, ›allgemein‹ [...hier] verstanden als Teilhabe an einer Kul-<br />
tur und deren Überlieferungen, an einem Traditionsschatz, an einem von den Inhalten<br />
und den Urteilsstrukturen der kulturellen Überlieferung bestimmten sensus communis“ 12 .<br />
Hiervon ausgehend zeigt von Graevenitz dann die zwei Tendenzen der <strong>Topik</strong> auf, die<br />
„in der Forschung beobachtet worden [seien, und] die mit ihrer doppelten Ausrichtung<br />
an der universalen Fülle und der sachgerechten Anwendung zusammenhängen<br />
8 Graevenitz, Gerhart von: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987 (nachfolgend zit.<br />
als: von Graevenitz, Mythos). Hier untersucht von Graevenitz die „Idee des ›Mythos‹ [..., um sie als das<br />
zu erweisen,] was sie [...sei, ein] Produkt von europäischen Wahrnehmungs- und Denktraditionen“ (ebd.,<br />
S. VIII). So untersucht von Graevenitz am Beispiel der Mythographie die ‘Geschichte einer Denkgewohnheit’,<br />
die „nur einer der ältesten Spezialfälle einer viel allgemeineren Denkhaltung und Wissenschaftstradition<br />
[sei], derjenigen der <strong>Topik</strong>“ (ebd., S. 291). Dabei wende von Graevenitz - wie Wulf<br />
Koepke schreibt - besondere „Aufmerksamkeit [...] der topischen und politisch-öffentlichen Überlieferung<br />
und dem Nachweis eines immer komplexer werdenden Synkretismus zu, der selbst die scheinbar<br />
empirisch vorgehenden m<strong>oder</strong>nen Wissenschaften [...unterlaufe]“ (Koepke, Wulf: Rezension: Gerhart<br />
von Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, in: Monatshefte für deutschen Unterricht,<br />
deutsche Sprache und Literatur, Volume 82, 1 (Spring 1990), Madison Wisconsin, 197–200, hier:<br />
S. 198). Gerhart von Graevenitz stelle - so Koepke - gerade „im Bereich der <strong>Topik</strong> die Heterogenität der<br />
Einzelheiten in voller Schärfe dar und [...betone] die Fragwürdigkeit von ›Systemen‹ [...]“ (ebd., S. 199).<br />
9 von Graevenitz, Mythos, S. 56.<br />
10 vgl. Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 42.<br />
11 von Graevenitz, Mythos, S. 56.<br />
12 ebd.<br />
64
[würden]“ 13 :<br />
„<strong>Topik</strong> kann sich zum reinen Inventar entwickeln, zum Vorratshaus der Überlieferungen. Inventio<br />
als Sammeln der Traditionsinhalte kann sich dabei ganz vor die Darstellung der<br />
kommunen Urteilsstrukturen schieben. Die exempla, die Sentenzen, die ursprünglich den<br />
locus ›ex similtudine‹ ausmachten [...] werden jetzt zum Materialbegriff des sensus communis<br />
und der ihn enzyklopädisch repräsentierenden <strong>Topik</strong> überhaupt. Aus den topoi, die formale<br />
Frage- und Leitbegriffe, ›Sitze‹ von Argumenten waren, sind dann inhaltlich konkretisierte,<br />
nur in klassifizierender Anhäufung ‘formalisierbare’ Allgemeinplätze geworden. [...]<br />
Demgegenüber fördert die Akzentuierung der Urteilsstrukturen die andere Tendenz der <strong>Topik</strong>,<br />
die zur Deduktion, zum System. [...] Inventar, System und argumentative Verflüssigung<br />
beider: das sind die Grenzwerte in der Geschichte der <strong>Topik</strong> und ihre wichtigsten Bausteine,<br />
die loci, haben daran Anteil. Sie können als inhaltliche Sammelstellen, als ›Topoi‹ im heute<br />
landläufigen Sinne, erscheinen <strong>oder</strong> formalisiert zu logischen Systemstellen. In beiden extremen<br />
Fällen aber behalten sie ihre ursprüngliche ‘dialektische’ Natur, Sitze von Argumenten<br />
zu sein. Selbst ›Allgemeinplätze‹ können sowohl Argumente er-setzen als auch Ausgangspunkt<br />
von kritischem Raisonnement werden“ 14 .<br />
Auch Peter von Moos betont in seiner Arbeit zum „rhetorische[n] Exemplum von der<br />
Antike zur Neuzeit“ 15 die argumentative Funktion der Topoi. So sei unter <strong>Topik</strong> eine<br />
„logica probabilis [...zu verstehen]: ein im System der Allgemeinbildung gelehrtes Ver-<br />
fahren zur kommunikativen Bewältigung von Problemen und Aporien durch meinungs-<br />
mässiges Wissen, im Gegensatz zum zwingenden, meinungsunabhängigen Beweis<br />
[...]“ 16 . Und im Rahmen dieses Verfahrens würden dann die - wie von Moos in An-<br />
knüpfung an Bornscheuers <strong>Topik</strong>-Auffassung schreibt - „im weitesten Sinn als ›all-<br />
gemeine konsensfähige Argumentationsgesichtspunkte‹ definierbaren Topoi [...sowohl]<br />
formale und <strong>materiale</strong>, metasprachliche und objektsprachliche, methodische und stoffli-<br />
che Aspekte [umfassen]“ 17 :<br />
„Auf der einen Seite können alle Regeln der Logik, Rhetorik und Grammatik eine spezifisch<br />
formaltopische Funktion übernehmen [...]. Vollends unzählig sind auf der anderen Seite<br />
die <strong>materiale</strong>n Topoi <strong>oder</strong> anerkennbaren Meinungen und Urteile, die so-wohl aus fertigen<br />
Formulierungen, autoritativen Zitaten, geflügelten Worten, Proverbien, Sentenzen,<br />
Maximen, [...] als auch aus ding- <strong>oder</strong> ereignishaften Analogien, Vergleichen, Gleichnissen<br />
und Beispielen aus Erfahrung und Geschichte bestehen können“ 18 .<br />
13 ebd. Von Graevenitz verweist in seinem Apparatband mit Blick auf die Tendenzen der <strong>Topik</strong>, sich sowohl<br />
zum Inventar als auch zum System entwickeln zu können, zum einen auf: Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S.<br />
40f. u. S. 44, und zum anderen auch auf: Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 242, vgl. Graevenitz,<br />
Gerhart von: Apparatband zu: Graevenitz, Gerhart von: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit,<br />
Tübingen 1987 (Kopien in der <strong>Universität</strong>sbibliothek Tübingen unter der Signatur Um 10517 deponiert<br />
und ausleihbar), hier: S. 67. (nachfolgend zit. als: von Graevenitz, Apparatband)<br />
14 von Graevenitz, Mythos, S. 56-57.<br />
15 Moos, Peter von: Geschichte als <strong>Topik</strong>. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die<br />
historiae im „Policraticus“ Johanns von Salisbury, (Ordo, Studien zur Literatur und Gesellschaft des<br />
Mittelalters und der frühen Neuzeit, Band 2, hrsg. von Ulrich Ernst/Christel Meier), Hildesheim/Zürich/New<br />
York 1988. (nachfolgend zit. als: von Moos, Geschichte als <strong>Topik</strong>)<br />
16 ebd., S. IX.<br />
17 ebd., S. 422-423. vgl. ebd. (Anmerkung 857).<br />
18 ebd., S. 423 u. 425.<br />
65
An Bornscheuer anknüpfend 19 betont Peter von Moos im Hinblick auf die Kontro-<br />
verse der <strong>Topik</strong>-Forschung den „unnötigen Gegensatz zwischen einem einseitig mate-<br />
rialen Toposbegriff (Curtius) und einem ebenso einseitigen rein-formal-klassifika-<br />
torischen (Mertner)“ 20 . Er stellt dann noch einmal die argumentative Funktion der Topoi<br />
heraus:<br />
„Nicht, daß die inhaltlich gefüllten Topoi notgedrungen weitgehend aus wiederholbaren<br />
Konstanten, oft auch aus abgedroschenen Bezugselementen bestehen, macht ihre Toposhaftigkeit<br />
aus, - wie seit Curtius in weitverbreitetem, selbst schon ›topischem‹ Irrtum angenommen<br />
wird -, sondern, daß sie als Kristallisation von meinungsmäßig anerkannten Gesichtspunkten,<br />
herrschenden Anschauungen mit der Zuversicht herangezogen werden, daß<br />
sie in bestimmten Rede- und Argumentationszusammenhängen Zustimmung bewirken. Sowohl<br />
aufgrund der aristotelischen Endoxa und eines [...] consensus omnium als auch im Sinne<br />
der ciceronischen loci communes, der in ihnen verdichteten moral- und sozialphilosophischen<br />
Idealwerte und des rhetorischen Anspruchs der copia rerum et verborum sind Topoi<br />
nicht um ihrer selbst willen dargestellte Themen <strong>oder</strong> Urweisheiten, sondern auf den Problemzusammenhang<br />
gerichtete, funktionale Orientierungspunkte, Fix- und Ausgangspunkte.<br />
[...Topoi sind] allgemeingültige Gesichtspunkte, ›in beide Richtungen verwendbare‹,<br />
›interpretationsfähige und interpretationsbedürftige, ebenso fundamentale wie polyfunktionale<br />
Grundelemente‹ der Argumentation“ 21 .<br />
An diesen - formale wie auch <strong>materiale</strong> Aspekte berücksichtigenden - Arbeiten wird<br />
meiner Ansicht nach nun vollends deutlich, daß der Streit um eine angemessene <strong>Topik</strong>-<br />
Auffassung nicht um die Alternative, ob denn allein eine ‘<strong>materiale</strong>’ <strong>oder</strong> eine ‘formale’<br />
Sichtweise von <strong>Topik</strong> und Topoi angemessen sei, geführt wird 22 .<br />
Wenn also der Punkt, an welchem sich der Streit entzündet hat, mit der Unterschei-<br />
dung ‘<strong>materiale</strong> <strong>Topik</strong>’ <strong>oder</strong> ‘formale <strong>Topik</strong>’ nicht treffend beschrieben ist, wo liegt<br />
dann die Scheidelinie, an welcher sich die Beiträge zur <strong>Topik</strong>-Forschung gegenüberste-<br />
hen?<br />
Wichtig scheint mir im Hinblick auf diese Frage der Curtius’sche Anspruch zu sein,<br />
es den exakten Wissenschaften möglichst gleichzutun, und diese somit der Literaturwis-<br />
19<br />
vgl. ebd. S. 425 (Anmerkung 860), von Moos verweist hier auf: Bornscheuer: <strong>Topik</strong>, in: Reallexikon der<br />
Deutschen Literaturgeschichte, Bd. IV, hrsg. von Klaus Kanzog/Achim Masser, Berlin/New York 1984,<br />
2. Auflage, 454-475, hier: S. 455 (nachfolgend zit. als: Bornscheuer, <strong>Topik</strong> in Reallexikon), als auch auf:<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 44f.<br />
20<br />
von Moos, Geschichte als <strong>Topik</strong>, S. 425 (Anmerkung 860). Von Moos verweist hier „zur Kritik an der<br />
verhängnisvollen These Mertners“ auch auf: Kemper, Jozef A. R.: <strong>Topik</strong> in der antiken rhetorischen<br />
Techne, in: <strong>Topik</strong>. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, hrsg. von Dieter Breuer/Helmut Schanze,<br />
München 1981, 17–32, hier: S. 28f.<br />
21<br />
von Moos, Geschichte als <strong>Topik</strong>, S. 425-426. Von Moos verweist hier u.a. auf: Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S.<br />
43ff.<br />
22<br />
Wie auch bei den beiden hier kurz angesprochenen Arbeiten nicht die Rede davon sein kann, daß sie sich<br />
in einer Traditionslinie mit Curtius’ Auffassung sehen, so schreibt Gerhart von Graevenitz von der<br />
„Curtiusschen Entstellung“ (von Graevenitz, Apparatband, S. 240) der <strong>Topik</strong>, und Peter von Moos betont<br />
gleich zu Beginn seiner Arbeit, daß <strong>Topik</strong> „(um dieses Mißverständnis sofort zu verhindern) nichts<br />
mit dem von E. R. Curtius in die geisteswissenschaftliche Terminologie eingeführten Hilfsbegriff zu tun<br />
[...habe]“ (von Moos, Geschichte als <strong>Topik</strong>, S. IX).<br />
66
senschaft als Maßstab an die Hand zu geben, wie es meiner Meinung nach auch seine<br />
Gleichsetzung der Phänomenbereiche anzeigt: „Die Geometrie demonstriert an Figuren,<br />
die Philologie an Texten. Die Mathematik darf sich mit Recht ihrer Exaktheit rühmen.<br />
Aber auch die Philologie ist der Strenge fähig. Sie muß Ergebnisse liefern, die verifizier-<br />
bar sind“ 23 .<br />
Curtius’ eigene Ergebnisse erwiesen sich dann aber als problematisch, als falsifizier-<br />
bar, so daß er seinem eigenen Anspruch nicht gerecht werden konnte. Meiner Meinung<br />
nach stellt diese Einsicht das auslösende Moment des Streites dar, da sich zwei verschie-<br />
dene Wege anboten, mit den - durch Curtius’ Arbeiten ausgelösten - Problemen umzu-<br />
gehen:<br />
Die eine Lösung bestand darin, auf dem Wege, den Curtius methodisch eingeschlagen<br />
hatte, weiterzugehen und zu versuchen, - die Analysefehler von Curtius vermeidend -<br />
Ergebnisse zu liefern, die eindeutig verifizierbar sind.<br />
Die andere Lösung war, den Maßstab der exakten Wissenschaften als unangemessen<br />
für die Erforschung des Phänomens <strong>Topik</strong> abzulehnen und zu versuchen, anhand genau-<br />
er Beobachtung des Phänomens <strong>Topik</strong> einen eigenständigen, dem Phänomen angemes-<br />
senen Maßstab zu entwickeln.<br />
Die erste Lösung wird meiner Meinung nach von den Vertretern einer auf Eindeutig-<br />
keit ausgerichteten ‘formalen <strong>Topik</strong>’ angestrebt, auch wenn dies bei ihrer strikten Ab-<br />
lehnung der Curtius’schen <strong>Topik</strong>-Bestimmung ganz und gar nicht naheliegt. Dies möchte<br />
ich im folgenden kurz erläutern:<br />
Wir haben gesehen, daß die von Kopperschmidt durchgeführte ‘terminologische Un-<br />
terscheidung’ dem Streit zwar nicht gerecht wird, die von ihm aufgestellte Kategorie der<br />
‘formalen <strong>Topik</strong>’ durchaus aber auf diejenige Auffassung innerhalb der m<strong>oder</strong>nen To-<br />
pik-Forschung zutrifft, - der sich auch Kopperschmidt verbunden weiß -, und die unter<br />
<strong>Topik</strong> eine „Heuristik möglicher Argumente“ 24 und dementsprechend unter Topoi „die<br />
allgemeinsten Formprinzipien möglicher Argumente“ 25 versteht. Die Auffassung der<br />
Vertreter der ‘formalen <strong>Topik</strong>’ wurde von Edgar Mertner wie folgt auf den Punkt ge-<br />
23 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 1984, 10. Auflage<br />
(zuerst Bern 1948), hier S. 9 (Vorwort zur zweiten Auflage). (nachfolgend zit. als: Curtius, Europäische<br />
Literatur)<br />
24 Kopperschmidt, <strong>Formale</strong> <strong>Topik</strong>, S. 54.<br />
25 ebd., S. 53.<br />
67
acht: „Locus bezeichnet eine Methode, Technik <strong>oder</strong> Norm, ein Instrument zur Auf-<br />
findung einer Sache, niemals aber die Sache selbst“ 26 .<br />
Deutlich geworden ist - wie ich meine - auch, daß die Vertreter der ‘formalen <strong>Topik</strong>’<br />
alles, was möglicherweise über den Rand dieser Bestimmung hinausweist, als nicht ur-<br />
sprünglich zur <strong>Topik</strong> gehörend abschneiden und damit als falsch <strong>oder</strong> unwesentlich bei-<br />
seite lassen. Denn ihrer Auffassung nach würden die maßgeblichen Autoren eine deutli-<br />
che Sprache sprechen: ‘locum esse argumenti sedes’. Meiner Ansicht nach ist für sie die<br />
Geschichte der <strong>Topik</strong> gleichbedeutend mit der Geschichte der ‘formalen <strong>Topik</strong>’: anders-<br />
lautende Zeugnisse würden auf historische Fehlentwicklungen hindeuten, auf termino-<br />
logische Unwägbarkeiten, seien also bei einer Bestimmung eines angemessenen <strong>Topik</strong>-<br />
Begriffs nicht zu berücksichtigen. Letztlich ließe sich eine Aktualisierung der <strong>Topik</strong><br />
sinnvollerweise nur an eine formale Auffassung der <strong>Topik</strong> und Topoi anschließen.<br />
Als eine solche Aktualisierung wurde Conrad Wiedemanns Herausarbeitung der Be-<br />
deutung der <strong>Topik</strong> für die Literaturwissenschaft betrachtet. Wiedemann hält - wie wir<br />
gesehen haben - diese Anknüpfung an die <strong>Topik</strong> zum einen für notwendig und zum an-<br />
deren für legitim, da die <strong>Topik</strong> für das „Ideal einer universalen Kompetenz qua Metho-<br />
de“ 27 stehe und damit einen Ansatz für „einen den nichtexakten Wissenschaften ange-<br />
messenen Kompetenzbegriff“ 28 biete.<br />
Somit wird <strong>Topik</strong> bei Wiedemann meiner Meinung nach als sinnvolle Ergänzung in<br />
das literaturwissenschaftliche Forschungsprogramm integriert: sie liefert dem Interpreten<br />
Gesichtspunkte, die ihm helfen, seiner Arbeit auf eine methodisch disziplinierte Weise<br />
nachzugehen. Die Bedeutung der <strong>Topik</strong> wird von Wiedemann meiner Ansicht nach vor<br />
allem im Blick auf ihren wissenschaftlichen Nutzen gesehen. Nicht der <strong>Topik</strong> literari-<br />
scher Texte gilt somit sein Aktualisierungsversuch, sondern der <strong>Topik</strong> als Instrument<br />
literaturwissenschaftlicher Arbeit: denn während die <strong>Topik</strong> „dem Texthersteller lediglich<br />
methodische Entscheidungshilfen [...gebe]“ 29 , ermögliche sie es - wie ich Wiedemanns<br />
Intention verstehe - dafür dem Interpreten, literarische Texte auf solch eine methodische<br />
Weise zu betrachten, die dem „leidigen Wahrscheinlichkeitscharakter [...]“ 30 literatur-<br />
wissenschaftlicher Interpretationsversuche gewissermaßen einen ‘Riegel’ vorschiebt.<br />
26 Mertner, Edgar: Topos und Commonplace, in: Strena Anglica. Otto Ritter zum 80. Geburtstag am 9.<br />
Januar 1956, hrsg. von Gerhard Dietrich/Fritz W. Schulze, Halle 1956, 178–224, hier: S. 191.<br />
27 Wiedemann, Conrad: <strong>Topik</strong> als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Toposkatalogen,<br />
in: <strong>Topik</strong>. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, hrsg. von Dieter Breuer/Helmut Schanze,<br />
München 1981, 233–255, hier: S. 249. (nachfolgend zit. als: Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule)<br />
28 ebd., S. 237.<br />
29 ebd., S. 244.<br />
30 ebd., S. 233.<br />
68
Ich denke, daß sich hier am Beispiel von Wiedemanns <strong>Topik</strong>-Auffassung zeigt, daß er<br />
- trotz aller Einsicht in den ‘Wahrscheinlichkeitscharakter’ der hermeneutischen Wissen-<br />
schaften - dennoch im Wesentlichen an der - von Curtius als Vorbild für die Literatur-<br />
wissenschaft betrachteten - Eindeutigkeit der exakten Wissenschaften festhält.<br />
Denn auch, wenn Wiedemann spürt, „[...] wie groß die Geltungsdifferenz zwischen<br />
beiden Aussagenbereichen realiter ist und wie anders unsere Legitimationen beschaffen<br />
sein müss[t]en“ 31 , so zeigt seine Rede vom „leidigen Wahrscheinlichkeitscharakter der<br />
meisten unserer Aussagen“ 32 doch an, daß er diese Geltungsdifferenz nur zu gerne über-<br />
sprungen wissen will, um nicht weiter am „Trauma eines schwankenden Selbstwertge-<br />
fühls“ 33 leiden zu müssen. Den Maßstab, dem es sich auch in den Literaturwissenschaf-<br />
ten anzunähern gilt, geben - wie ich denke - also auch bei Wiedemann die exakten Wis-<br />
senschaften vor.<br />
Aus dieser Orientierung an den exakten Wissenschaften erklärt sich meiner Meinung<br />
nach Wiedemanns Wertung, daß es eine ‘falsche’ und eine ‘wahre’ <strong>Topik</strong> gebe.<br />
Denn nur, wenn man einen eindeutigen Maßstab annehmen kann - also zum einen<br />
annimmt, daß die hermeneutischen Wissenschaften sich in ähnlich exakter und objekti-<br />
ver Weise wie die exakten Wissenschaften den sie interessierenden Phänomenen nähern<br />
können, und zum zweiten annimmt, daß diese Phänomene den gleichen ontologischen<br />
Status wie etwa mathematische Phänomene besitzen (wie es Curtius ja angedeutet hat),<br />
so daß sich ein eindeutig definiertes, exaktes Forschungsinstrumentarium empfiehlt -,<br />
kann man entscheiden, ob etwas ‘falsch’ <strong>oder</strong> ‘richtig’ ist, kann man Ergebnisse eindeu-<br />
tig verifizieren.<br />
Ich denke also, daß Wiedemann dem Curtius’schen Anspruch der Eindeutigkeit folgt.<br />
Wiedemann sieht meiner Meinung nach in der <strong>Topik</strong> die Möglichkeit, der Literaturwis-<br />
senschaft ein erprobtes Verfahren an die Hand zu geben, das den unvermeidlichen Wahr-<br />
scheinlichkeitscharakter methodisch diszipliniert und somit auf einen Grad minimiert,<br />
welcher die Geltungsdifferenz nicht mehr so groß erscheinen läßt.<br />
Die <strong>Topik</strong> als ‘Ideal einer universalen Kompetenz qua Methode’ stellt für ihn meiner<br />
Ansicht nach somit die Möglichkeit dar, gewissermaßen aus dem Bereich der Meinung<br />
als dem Zufälligen, Zeit-, Kontext- und Interessenabhängigen herauszuspringen und sich<br />
dem Geltungsanspruch der exakten Wissenschaften zumindest zu nähern.<br />
31 ebd., S. 234.<br />
32 ebd., S. 233.<br />
33 ebd., S. 234.<br />
69
So versteht er - wie ich denke - unter <strong>Topik</strong> eine Methode, die - wie auch schon von<br />
Curtius gefordert - stringent zu handhaben ist, und mit deren universalen, kategorialen<br />
Reihen man ein Instrument in der Hand hält, das die Relativierung der Zeit- und Kon-<br />
text-abhängigkeit hermeneutischer Urteile jederzeit erlaubt, das also gewissermaßen<br />
‘geeicht’ und den außerhalb der Logik der Forschung liegenden Faktoren in geringerem<br />
Ausmaß ausgesetzt ist.<br />
Das entscheidende Kennzeichen der Verfechter der ‘formalen <strong>Topik</strong>’ ist also das Be-<br />
mühen um die Eindeutigkeit der Begriffsbestimmung aufgrund der Ansicht, daß nur eine<br />
scharfe Abgrenzung gegen eine <strong>materiale</strong> <strong>Topik</strong>-Bestimmung die Methode hervortreten<br />
läßt, mit der sich dann in der oben skizzierten - am Vorbild der exakten Wissenschaften<br />
orientierten - Weise arbeiten läßt.<br />
Während also Wiedemann - an Curtius’ Anspruch festhaltend - versucht, den<br />
‘leidigen Wahrscheinlichkeitscharakter’ hermeneutischer Wissenschaftlichkeit zumin-<br />
dest mittels eines eindeutig definierten <strong>Topik</strong>-Begriffs in einer methodisch disziplinier-<br />
ten Vorschule graduell aufzuheben, hat Bornscheuer meiner Auffassung nach in Bezug<br />
auf das Problem, das sich aus Curtius’ Anspruch und dessen mangelnder Einlösung er-<br />
geben hatte, den anderen, zweiten Lösungsweg eingeschlagen: denn Bornscheuers Auf-<br />
fassung von Angemessenheit literaturwissenschaftlicher Arbeit orientiert sich nicht am<br />
Vorbild der exakten Wissenschaften, sondern er sieht in der <strong>Topik</strong> eine Denkweise mit<br />
der ihr eigentümlichen Exaktheit und Dignität 34 . Ein möglichst universaler, eindeutig<br />
festgeschriebener Maßstab wird für ihn damit der <strong>Topik</strong> nicht gerecht, da er als wesentli-<br />
ches Merkmal ihrer Funktion die Gebundenheit an je ganz unterschiedliche Zeit-, Kon-<br />
text- und Interessenlagen ansieht, und es ihm „angesichts der kaum überschaubaren<br />
Mannigfaltigkeit topischer Schreibverfahren“ 35 vielmehr auf den tatsächlich praktizierten<br />
<strong>Topik</strong>-Gebrauch ankommt. Denn die Geschichte der <strong>Topik</strong> ist für Bornscheuer - wie wir<br />
gesehen haben - die Geschichte von Wechselwirkungsprozessen zwischen den jeweils<br />
herrschenden Vor-Urteils-Strukturen und den Versuchen, aus zentralen Elementen dieser<br />
34 Eine Eigenständigkeit, der z.B. Peter von Moos, wie es Walter Haug formuliert, dadurch Rechnung<br />
zolle, daß sich „seine Darstellungskunst [...] den Charakter ihres Gegenstandes, der <strong>Topik</strong>, so sehr zu eigen<br />
gemacht [hätte], daß sie ihrerseits topisch [...verfahre], d.h. unsystematisch-dogmenfrei in assoziierender<br />
Verspiegelung, dabei geistvoll anstachelnd und in dieser Mischung zutiefst human“ (Haug,<br />
Walter: Kritik der topischen Vernunft. Zugleich keine Leseanleitung zu ‘Geschichte als <strong>Topik</strong>’ von Peter<br />
von Moos, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 114. Band [1992], hrsg. von<br />
Klaus Grubmüller/Marga Reis/Burghart Wachinger, Tübingen, 47–56, hier: S. 47). Haug schlägt als<br />
neuen Titel für Peter von Moos’ Buch ‘Kritik der topischen Vernunft’ vor, um „zu signalisieren, daß<br />
<strong>Topik</strong> eine gültige Denkform eigener Art [...sei]. Und als solche [...sei] sie transzendental zu nennen, als<br />
sie sich ihrer höchsten Möglichkeit nach selbst [...reflektiere], d.h. das Bewußtsein ihres eigenen Prinzips<br />
und Verfahrens in sich [...schließe]“ (ebd., S. 51).<br />
35 Bornscheuer, Neue Dimensionen, S. 6.<br />
70
herrschenden Meinungen ein flexibles, wirkungsvolles Argumentationsinstrumentarium<br />
zu entwickeln, das jene Probleme bewältigen hilft, die im Rahmen der herrschenden<br />
Vor-Urteils-Struktur selbst auftauchen.<br />
In diesen Wechselwirkungsprozessen sieht Bornscheuer - wie gezeigt - die wesentli-<br />
che Unschärfe der Bestimmungen von <strong>Topik</strong> und Topoi begründet. Die Geschichte der<br />
<strong>Topik</strong> ist für Bornscheuer damit reich an unterschiedlichsten Ausformungen des topi-<br />
schen Instrumentariums.<br />
Wesentlich ist - wenn man Bornscheuer folgt - meiner Meinung nach, daß die Un-<br />
schärfe der <strong>Topik</strong> aus dem Vorliegen ganz unterschiedlicher Sinnordnungen resultiert, in<br />
deren Rahmen - und sie mitentwerfend - je andere topische Verfahren wirksam sein kön-<br />
nen, so daß eine angemessene literaturwissenschaftliche Arbeit (und <strong>Topik</strong>-Forschung)<br />
nicht darin bestehe, mit einem vorgefertigten Instrumentarium an die Phänomene heran-<br />
zugehen, sondern vielmehr darin, sich die Maßstäbe von den Phänomenen vorgeben zu<br />
lassen 36 .<br />
Diese „Rückbesinnung auf die topischen Dimensionen aller [...Literatur]“ 37 und aller<br />
„kulturell relevanten“ 38 Leistungen führt - wenn man Bornscheuer folgen möchte - aber<br />
auch dazu, anzuerkennen, daß diese Wiederentdeckung der <strong>Topik</strong> nicht ohne Folgen für<br />
das Selbstverständnis literaturwissenschaftlicher Arbeit bleibt: denn so müsse sich eben<br />
auch heute - wie Bornscheuer resümiert - jeder Aktualisierungsversuch der <strong>Topik</strong> ihrer<br />
wesentlichen Unschärfe stellen:<br />
„Die Auseinanderfaltung der Struktur- und Funktionsmerkmale des topischen Instrumentariums<br />
muß sich noch heute demselben Dilemma stellen, das schon Aristoteles voll bewußt<br />
war: der Aporie eines allen fachlichen Methoden vorausliegenden ‘methodischen’ Zugriffs“<br />
39 .<br />
Wie ich meine, kann Bornscheuer für seinen Aktualisierungsversuch der <strong>Topik</strong> des-<br />
halb auch nur die gleiche Umrißhaftigkeit reklamieren, wie er sie als konstitutiv für Ari-<br />
stoteles’ und Ciceros Bestimmungen der <strong>Topik</strong> herausgearbeitet hatte. Damit können die<br />
von ihm „herausgestellten Grundaspekte [...- wie er ja auch schreibt -] von vornherein<br />
keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Phänomenbeschreibung <strong>oder</strong> auf Begriffssy-<br />
36 Die Beachtung topischer Strukturierungen von Sinnordnungen zeige - wie von Graevenitz schreibt, daß<br />
„literarische Texte nicht einfach Objekte <strong>oder</strong> Spiegelungen der theoretischen Paradigmen sind, sondern<br />
daß sie ihre eigenen Sinnordnungen entwerfen können und daß sie in der Lage sind, sie mit ihren eigenen<br />
Metaphern und <strong>Topik</strong>en zu thematisieren und zu reflektieren“(Graevenitz, Gerhart von: Das Ich am<br />
Rande. Zur <strong>Topik</strong> der Selbstdarstellung bei Dürer, Montaigne und Goethe, [= <strong>Konstanz</strong>er <strong>Universität</strong>sreden<br />
172], <strong>Konstanz</strong> 1989, hier: S. 37 [nachfolgend zit. als: von Graevenitz, Das Ich am Rande).<br />
37 Bornscheuer, <strong>Topik</strong> in Reallexikon, S. 465.<br />
38 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 208.<br />
39 ebd., S. 94.<br />
71
stematik“ 40 erheben. Denn die topischen Phänomene ließen sich „ihrem Wesen nach<br />
durch keine fachwissenschaftliche Methode dingfest machen, sondern nur mit einem<br />
offenen Beschreibungsvokabular erhellen, also letztlich selbst nur auf eine topische Wei-<br />
se“ 41 .<br />
Dies bedeutet meiner Meinung nach aber, daß Bornscheuer im Gegensatz zu Wiede-<br />
mann, der - wie wir gesehen haben - den methodischen <strong>Topik</strong>er (idealiter) als objektiven<br />
Wissenschaftler bzw. Beobachter getrennt von den beobachteten topischen Strukturen<br />
und dem sich in ihnen widerspiegelnden „Bezugsgeflecht der kurrenten Ideen, Dogmen,<br />
Ideologeme und Interessen“ 42 sieht, den <strong>Topik</strong>er in dieses Bezugsgeflecht 43 hineinstellen<br />
muß: denn jeder Gebrauch und „[...] jede methodische Analyse von Topoi [...bleibe - wie<br />
er betont -] angewiesen auf intersubjektive Zustimmung innerhalb der jeweils herrschen-<br />
den Meinungs- und Wissenshorizonte“ 44 .<br />
Bornscheuer situiert hier seine Forschungsbemühungen meiner Ansicht nach auf dem<br />
Feld, auf dem Aristoteles die <strong>Topik</strong> angesiedelt hatte: „[...] ihr auf Forschung angelegter<br />
Charakter [...erschließe] nämlich einen Zugang zu den Anfangsgründen aller For-<br />
schungsmethoden“ 45 .<br />
Das Forschungsprogramm einer <strong>Topik</strong>-Forschung - wenn man an Bornscheuers Auf-<br />
fassung anknüpft - scheint mir demnach nicht allein die Analyse der <strong>Topik</strong> literarischer<br />
40 ebd.<br />
41 ebd., S. 208.<br />
42 Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 248.<br />
43 Wiedemann wie Bornscheuer stellen an diesem Punkt einen Zusammenhang zwischen <strong>Topik</strong>-For-schung<br />
und der Diskursanalyse Foucaults her, wobei ich denke, daß die oben dargestellten Unterschiede in ihrer<br />
Beurteilung der Bedeutung der <strong>Topik</strong> auch zu unterschiedlichen Auffassungen der Bedeutung der<br />
Foucault’schen Analysen führen. Wiedemann weist im Zusammenhang mit der strukturalen Beschreibung<br />
der topischen Strukturen, die „in die Zuständigkeit des <strong>Topik</strong>ers [falle], der als Verfügungsgewaltiger<br />
über die universalen Reihen allein den Selektions- und Akzentuierungscharakter der jeweiligen Sonder-<br />
und Realtopiken nachzuweisen [...vermöge]“ (Wiedemann, <strong>Topik</strong> als Vorschule, S. 248-249), auf<br />
„die Foucaultsche Verfahrensweise“ (ebd., S. 249) hin. Eine solche Beschreibung erlaube es, einen Eindruck<br />
davon zu vermitteln, „in welchem Maße die Sprache neben ihrer bloßen Verständigungfunktion<br />
ein Instrument [...sei], um gesellschaftliches Leben zu regeln und zu beeinflußen, um Gruppen nach der<br />
einen Seite hin abzuschließen und nach der anderen zu öffnen, also den Diskurs zu erleichtern und zu erschweren<br />
[...]“(ebd., S. 248). Bornscheuer sieht einige Jahre nach Wiedemann ebenfalls die Möglichkeit,<br />
die <strong>Topik</strong>-Forschung an das Foucaultsche Denken anzuschließen, so daß sich <strong>Topik</strong>-Forschung „zu einer<br />
ganz anderen ›Archäologie‹ entwickeln könnte, als sie Curtius im Sinne hatte (vgl. Curtius, Europäische<br />
Literatur, S. 10 [Vorwort zur 2. Auflage]), nämlich zu einer ›Archäologie‹, die eher im Sinne von Michel<br />
Foucault nach den ›fundamentalen Codes einer Kultur‹ [...frage], die ›ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata,<br />
ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen‹ und<br />
die allem bewußten und allem fachwissenschaftlichen Wissen (›epistemologische Ebene des Wissens‹)<br />
voraus- bzw. zugrundeliegen, oft ganz unbewußt bleiben und daher nur auf der ›archäologischen Ebene<br />
des Wissens‹ erkennbar werden [würden]“ (Bornscheuer, Neue Dimensionen, S. 24-25, er verweist hier<br />
auf: Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt<br />
1971, und auf: Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973).<br />
44 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 208.<br />
45 Aristoteles, Top. I, 2 101b 2-4 (Übersetzung Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 36).<br />
72
Texte und anderer schöpferischer Produktivitäten zu enthalten, sondern auch eine Re-<br />
flexion der <strong>Topik</strong>, auf deren Grundlage diese Analyse geleistet wird. <strong>Topik</strong>-Forschung<br />
wäre somit auch zu verstehen als Grundlagenforschung, Reflexion der die Forschung<br />
leitenden Prinzipien und Gesichtspunkte und der sie konstituierenden Meinungsbil-<br />
dungsprozesse 46 . Die Wiederentdeckung der ‘topischen Dimensionen der Literatur’ hat<br />
also - wie ich denke - zugleich auch die Reflexion der topischen Dimensionen der Litera-<br />
turwissenschaft nach sich gezogen, denn:<br />
„Alle theoretischen und praktischen Produktivitäten unterliegen jeweils einer bestimmten<br />
historisch-gesellschaftlichen Charakteristik, der Bewegungsspielraum schöpferischer Ideen<br />
und ihrer Realisierungsmöglichkeiten in allen Bereichen einer bestimmten Kulturepoche (in<br />
ihrem Bildungssystem, ihren Wissenschaften, ihrer Technologie sowie in ihren ökonomischen,<br />
politischen und gesellschaftlichen Organisationsformen) ist durch eine jeweils epochencharakteristische<br />
Tiefenstruktur bestimmt“ 47 .<br />
Wenn Bornscheuer also schreibt, daß es ihm nicht um die „Etablierung einer ‘to-<br />
pischen [...Literaturwissenschaft’]“ 48 gehe - was ja allein schon deshalb ausgeschlossen<br />
ist, da die <strong>Topik</strong> eindeutig als ‘vorwissenschaftlich’ charakterisiert ist-, er aber gleich-<br />
wohl mit seiner topischen Analyse der <strong>Topik</strong> eine „neue Ortsbestimmung des ›Literatur‹-<br />
Begriffs und damit der ›Literaturwissenschaft‹“ 49 vorbereiten möchte, so ist seine Aktua-<br />
lisierung der <strong>Topik</strong> meiner Meinung nach nichts anderes als der Versuch, der Literatur-<br />
wissenschaft neue Prinzipien zu geben, <strong>oder</strong> - um es in Kuhn’scher Terminologie zu<br />
sagen - ein neues Paradigma 50 .<br />
46<br />
Ich denke, daß die von Wiedemann und Bornscheuer angesprochene Anknüpfung der <strong>Topik</strong>-For-schung<br />
an Foucaults Denken an diesem Punkt sehr fruchtbar sein kann, und zwar im Hinblick auf die von<br />
Foucault analysierten Prozeduren, durch die „in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich<br />
kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert [werde]“ (Foucault, Michel: Die Ordnung des<br />
Diskurses, Frankfurt 1997, hier: S. 11). Prozeduren, die - wie ich diese Zusammenhänge verstehe - die<br />
herrschende <strong>Topik</strong> ebenso konstituieren, wie sie aus ihr stammen. Auch die Verknüpfung seines Denkens<br />
mit der <strong>Topik</strong>-Forschung im Hinblick auf seine späteren Arbeiten zur Subjektkonstitution (und des<br />
schöpferischen Umgangs mit dem eigenen Selbst) könnte sehr fruchtbar sein, wie es etwa Gerhart von<br />
Graevenitz angedeutet hat, da „anders als ‘topisch’ vom Ich sich nur schwer reden [...lasse, und so das]<br />
›Haus der Seele‹ des Augustinus [...] so topisch [sei,] wie das neuere Subjekt am ‘Schnittpunkt’ der Diskurse“<br />
(von Graevenitz, Das Ich am Rande, S. 7).<br />
47<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 19.<br />
48<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong> in Reallexikon, S. 465.<br />
49<br />
Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 92.<br />
50<br />
vgl. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, zweite revidierte und um das Postskriptum<br />
von 1969 ergänzte Auflage, Frankfurt 1976. Meiner Auffassung nach wirft die Erforschung der<br />
<strong>Topik</strong> auch ein Schlaglicht auf die von Kuhn herausgestellte Dynamik wissenschaftshistorischer Entwicklungen.<br />
Da - so Bornscheuer - die „Verhältnisse zwischen Traditionalität und Originalität, zwischen<br />
Konventionalität und Spontaneität, [...] innerhalb des Bedeutungsumfanges des Toposbegriffs abgeklärt<br />
werden [müßten]“ (Bornscheuer, Lothar: Bemerkungen zur Toposforschung, Mittellateinisches Jahrbuch,<br />
11. Jahrgang (1976), Kastellaun, 312–320, hier: S. 314), ließen sich Veränderungen in den Wissenschaften<br />
nicht mehr als revolutionäre Prozesse verstehen, sondern lediglich als evolutionäre, da topische<br />
Prozesse nicht das Band zwischen Tradition und Innovation zerreißen würden.<br />
73
Das wirft natürlich ein sehr bezeichnendes Licht auf den hier untersuchten Streit um<br />
ein angemessenes Verständnis der <strong>Topik</strong>:<br />
Auch wenn Breuer und Schanze in ihrer Einleitung zum Dokumentationsband der<br />
Aachener <strong>Topik</strong>-Tagung schreiben, daß die Verwendung des <strong>Topik</strong>-Begriffes auf<br />
„gemeinsame methodische Grundüberzeugungen schließen“ 51 lasse, denke ich - und ha-<br />
be dies auch in meiner Arbeit versucht zu zeigen -, daß dies nicht so ist. Vielmehr<br />
scheint mir der Streit gerade darum zu gehen, einen Konsens über die die Forschung<br />
leitende ‘methodische Grundüberzeugung’ bzw. das vorherrschende Paradigma erst ein-<br />
mal herzustellen.<br />
Wenn sie aber schreiben, daß es ein „mehr <strong>oder</strong> minder klares Bewußtsein einer<br />
Denktradition“ 52 sei, das die Vertreter verschiedener Disziplinen zu einem interdiszipli-<br />
nären Gespräch zusammenbrachte, so stimme ich mit ihnen überein, da ich denke, daß es<br />
dieses ‘Bewußtsein einer Denktradition’ ist, das den gemeinsamen Bezugspunkt der<br />
streitenden Parteien ausmacht. Einer Tradition, in der - laut Breuer und Schanze - die<br />
Rhetorik - und mit ihr „das [...] Prinzip der Meinung (Doxa)“ 53 - über einen langen Zeit-<br />
raum die „Terminologie unserer Reden über die Rede bestimmt“ 54 habe. Meiner Auffas-<br />
sung nach verbindet und trennt dieses ‘Prinzip der Meinung’ die sich im Streit um den<br />
<strong>Topik</strong>-Begriff gegenüberstehenden Positionen gleichermaßen: es ist der Boden, auf dem<br />
der Streit geführt wird, und der Raum, in dem sich der Streit vollzieht.<br />
Der Boden des Streites - wie auch des Gesprächs über <strong>Topik</strong> überhaupt - ist meiner<br />
Ansicht nach das ‘Prinzip der Meinung’ deshalb, da die Forscher, die sich an diesem<br />
Streit und an dem Gespräch beteiligen, dieses Prinzip als bedeutsam für die sie interes-<br />
sierenden Phänomene anerkannt haben.<br />
Und den Raum dieses Streites <strong>oder</strong> Gesprächs über <strong>Topik</strong> stellt es deshalb dar, da lite-<br />
raturwissenschaftliches Arbeiten immer mit dem ‘leidigen Wahrscheinlichkeitscharak-<br />
ter’ zu tun hat.<br />
Die Geltung des „Satz[es] von den vielen Köpfen und vielen Meinungen“ 55 scheint<br />
mir demnach grundlegend für die Literaturwissenschaft zu sein. Dies bedeutet, daß der<br />
Streit um <strong>Topik</strong> nicht anders als mit den Mitteln rhetorischer und dialektischer Mei-<br />
nungsbildungsprozesse geführt werden kann, da es nicht um apodiktische Beweise geht,<br />
51 Breuer, Dieter/Schanze, Helmut: <strong>Topik</strong>. Ein interdisziplinäres Problem, in: <strong>Topik</strong>. Beiträge zur interdisziplinären<br />
Diskussion, hrsg. von Dieter Breuer/Helmut Schanze, München 1981, 9–13, hier: S. 9.<br />
52 ebd.<br />
53 ebd.<br />
54 ebd.<br />
55 ebd.<br />
74
sondern allein um Plausibilität, Glaubwürdigkeit, Überzeugung und Überredung. Ich<br />
stimme Bornscheuer also in der Auffassung zu, daß jeder Gebrauch und „[...] jede me-<br />
thodische Analyse von Topoi [...] auf intersubjektive Zustimmung innerhalb der jeweils<br />
herrschenden Meinungs- und Wissenshorizonte [angewiesen bleibt]“ 56 .<br />
Die Einheit eines Themas <strong>Topik</strong> ist folglich nicht vorauszusetzen: eine solche Einheit<br />
muß erst diskursiv ermittelt werden. Der Streit um <strong>Topik</strong> ist ein Beispiel für einen sol-<br />
chen Vorgang. Ein Streit aber, dessen Besonderheit meiner Auffassung nach darin be-<br />
steht, daß er nicht zu schlichten ist, weil sich auf dem Gebiet der <strong>Topik</strong>-Forschung zwei<br />
- jeweils unterschiedlichen Paradigmen folgende - Parteien gegenüberstehen. Kontrahen-<br />
ten, die ausgehend von ihren jeweiligen methodischen Grundannahmen auch die Bedeu-<br />
tung der <strong>Topik</strong> unterschiedlich einschätzen, daher eine je andere Einheit des Themas<br />
<strong>Topik</strong> anstreben und schließlich auch die Geschichte der <strong>Topik</strong>, an welche sie anknüp-<br />
fen, jeweils anders interpretieren.<br />
56 Bornscheuer, <strong>Topik</strong>, S. 208.<br />
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