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Der lange Atem der Provokation - Historisches Institut

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und Selbstbestimmung zusteht." 16 Zweifellos lassen sich die Frauenbewegungen <strong>der</strong><br />

siebziger Jahre gemäß dieser Definition als Ausdruck "feministischen Bewusstseins"<br />

begreifen. Aber einen Schlüssel zu ihrem Verständnis bietet auch dieser Zugriff<br />

nicht. Denn indem er davon ausgeht, dass Frauen durch eine gemeinsame, quasi<br />

essentielle Grun<strong>der</strong>fahrung <strong>der</strong> Unterdrückung verbunden sind, übernimmt er die<br />

Perspektive <strong>der</strong> Feministinnen, die er untersucht, ohne sie zu historisieren und übersieht<br />

den bemerkenswerten Umstand, dass Frauen mit unterschiedlichen Erfahrungen<br />

sich <strong>der</strong>selben Bewegung anschlossen. Wie gelang es, die Kategorie Geschlecht zu<br />

einer vergemeinschaftenden, "grundlegenden Kategorie politischer Identität" 17 zu<br />

machen? Lerners Ansatz eröffnet auch keinen Weg, um die internen Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

des feministischen Denkens zu analysieren, zu historisieren und ihre Bedeutung zu<br />

bestimmen. Während es Lerner gerade darum geht, einer linearen Erzählung folgend<br />

ein konsistentes feministisches Bewusstsein zu rekonstruieren. Die Wirkungspotentiale<br />

dieser zum Teil sehr wi<strong>der</strong>sprüchlichen Strategien zu ermitteln, ist jedoch ein<br />

Ziel <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit.<br />

Sylvie Chaperons Untersuchung <strong>der</strong> Gruppen und Assoziationen, die sie als Träger<br />

feministischen Gedankenguts in Frankreich in <strong>der</strong> zweiten Hälfe des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

identifiziert, folgt einem Konzept von sozialen Bewegungen ("mouvements<br />

sociaux"), das traditionelle Frauenverbände, Organisationen und hervorragende Persönlichkeiten<br />

ins Zentrum <strong>der</strong> Analyse rückt. 18 Chaperon gelingt es auf diese Weise,<br />

für das "Wellental" zwischen <strong>der</strong> ersten feministischen Welle und dem Feminismus<br />

<strong>der</strong> siebziger Jahre mannigfaltige Aktivitäten sowie individuelle und kollektive Anstrengungen<br />

und Aktivitäten zugunsten von Frauen nachzuweisen. Um jedoch das<br />

fluide Phänomen <strong>der</strong> Frauenbewegungen <strong>der</strong> Siebziger zu fassen, bedarf es eines<br />

Zugriffs, <strong>der</strong> konzeptuell die organisierten, aber auch die nicht organisierten Teile<br />

des fluiden Phänomens zu fassen vermag, das die Frauenbewegungen <strong>der</strong> siebziger<br />

Jahre darstellten. Darum habe ich mich weitgehend an einer Forschungsrichtung<br />

orientiert, die innerhalb <strong>der</strong> europäischen und nordamerikanischen Sozial- und Politikwissenschaften<br />

seit den siebziger Jahren an Kontur gewonnen hat. 19<br />

Die Soziale Bewegungsforschung stellt ein Modell zur Verfügung, das es möglich<br />

macht, die sozialen Trägergruppen <strong>der</strong> Frauenbewegungen, ihr jeweiliges<br />

Selbstverständnis und ihr Wi<strong>der</strong>standshandeln zu betrachten. Die Bewegungsforschung<br />

bestimmt soziale Bewegung als ein "durch kollektive Identität abgestütztes<br />

Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen", die<br />

das Ziel verfolgen, "sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhin<strong>der</strong>n<br />

o<strong>der</strong> rückgängig [zu] machen." 20 Mit dieser Definition, die sowohl die Initia-<br />

16 Lerner 1993, hier zitiert nach <strong>der</strong> deutschen Übersetzung, Frankfurt 1983, 324.<br />

17 Thébaud 1995, 21.<br />

18 Chaperon 2000.<br />

19 Während die "Denkgeschichte" <strong>der</strong> sozialen Bewegung mindestens bis auf den jungen Marx<br />

zurückgeht, etablierte sich ein sozialwissenschaftlicher Forschungszweig erst den siebziger und<br />

achtziger Jahren des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Dazu Hellmann 1999.<br />

20 Rucht/Neidhardt 1991, 450.<br />

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