Der lange Atem der Provokation - Historisches Institut
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auch eine frühere o<strong>der</strong> durchgreifen<strong>der</strong>e Mobilisierung zur Folge hatte. Es bleibt also<br />
die Frage, was den einzigartigen Mobilisierungsprozess <strong>der</strong> Frauenbewegung auslöste.<br />
Weiteren Aufschluss geben die mit den strukturellen Verän<strong>der</strong>ungen - technologische<br />
Errungenschaften, ökonomische Entwicklungen und <strong>der</strong> Ausbau des Bildungssektors<br />
- entstandenen Konfliktlinien. Parallel verlaufende Individualisierungs-<br />
und Pluralisierungsprozesse einerseits sowie verstärkte "technokratische Regulierung<br />
und Kontrolle" 101 an<strong>der</strong>erseits schufen ein Konfliktterrain, auf dessen Boden neue<br />
soziale Bewegungen entstehen konnten. 102 Diese Bewegungen problematisierten die<br />
Eingriffe von Staat und Ökonomie in alltags- und lebensweltliche Be<strong>lange</strong> und hielten<br />
einer zunehmend durch technokratisch-instrumentelle Machtstrukturen geprägten<br />
Gesellschaft ihre gegenkulturell-emanzipatorischen Lebensentwürfe entgegen. Sie<br />
stellten das technisch-ökonomische Fortschrittsverständnis grundsätzlich infrage und<br />
rückten an seine Stelle das Programm eines "Gegenbildes 'sanfter' Vergesellschaftung."<br />
103 <strong>Der</strong> französische Soziologe Alain Touraine hat vor diesem Hintergrund den<br />
französischen MLF als Reaktion auf die Folgeprobleme gesellschaftlicher Restrukturierung<br />
und insbeson<strong>der</strong>e ihrer zunehmenden Technokratisierung gedeutet. Für ihn<br />
stellt die Entwicklung neuer Verhütungstechniken ("die Pille") und <strong>der</strong> damit einhergehende<br />
Anspruch von Frauen, frei über das Ob und Wie <strong>der</strong> Reproduktion zu entscheiden,<br />
den Ausgangspunkt für jenen Kampf um die "Kontrolle und den Gebrauch"<br />
von kulturellen Deutungsmustern dar, <strong>der</strong> kennzeichnend für soziale Bewegungen<br />
sei. 104<br />
Die Rationalisierung und Verwissenschaftlichung von Arbeitsprozessen, die klassenstrukturelle<br />
Umgruppierungen, darunter die Zunahme ungelernter Arbeitskräfte<br />
sowie die Entstehung neuer und <strong>der</strong> Bedeutungsverlust alter Gesellschaftsschichten<br />
mit sich brachte, führte dazu, dass traditionelle Lebenszusammenhänge an Bedeu-<br />
101 Brand 1987, 51.<br />
102 Auf die Problematik, die mit einer Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen<br />
einhergeht, hat Ulrich Beck seit Mitte <strong>der</strong> achtziger Jahre vielfach hingewiesen. Lebensbedingungen,<br />
so seine These, könnten heute individuell verän<strong>der</strong>t werden und zwar, so die These,<br />
von Männern und von Frauen. <strong>Der</strong> tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern stünden,<br />
so auch die These Elisabeth Beck-Gernsheims, dennoch erhebliche Wi<strong>der</strong>stände entgegen:<br />
Frauen seien zwar von traditionellen Zuschreibungen weitgehend befreit, aber weit von einer<br />
tatsächlichen Chancengleichheit mit den Männern entfernt. Zudem impliziere, so ein zentrales<br />
Ergebnis von Becks Studie über die "Risikogesellschaft", die Individualisierung <strong>der</strong> Lebenslagen<br />
gleichfalls eine Individualisierung <strong>der</strong> Gefährdungs- und Risikolagen. Damit bezeichne<br />
"Individualisierung" ein "zwiespältiges, mehrgesichtiges, schillerndes Phänomen", vgl.<br />
Beck/Beck-Gernsheim 1990, 15. Vgl. ebf. Beck 1986 u. Beck-Gernsheim 1983.<br />
103 Brand 1987, 43.<br />
104 Vgl. Touraine 1982, 1. Wie angedeutet, stehen die Forschungen Alain Touraines nicht im<br />
Zusammenhang mit den o.g. Forschungen zu den neuen sozialen Bewegungen. Touraines Analysen<br />
sozialer Bewegungen, die er als Agenten von "Kämpfen um die Kontrolle kultureller Patterns<br />
<strong>der</strong> "Historizität" (Touraine 1983, 145) fasst, stimmt jedoch in dem Punkt <strong>der</strong> Problematisierung<br />
von Mo<strong>der</strong>nisierungsfolgen durch soziale Bewegungen überein.<br />
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