Der lange Atem der Provokation - Historisches Institut
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gleicher Daten, die es so nicht gibt. Stattdessen wird geprüft, ob Dokumentationslücken<br />
sich nicht aus <strong>der</strong> jeweiligen Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Bewegungen selbst ergeben und<br />
<strong>der</strong>gestalt zu <strong>der</strong>en Charakterisierung herangezogen werden können. Wo möglich<br />
wurde versucht, zwischen <strong>der</strong> Anhängerschaft im weiteren Sinne 60 und den primären<br />
Trägergruppen <strong>der</strong> Mobilisierung zu differenzieren. Räumlich und sozial werden sie<br />
weitgehend auf <strong>der</strong> Basis zeitgenössischer Quellen verortet. Von Fall zu Fall werden<br />
Informationen aus retrospektiven Einschätzungen, die in <strong>der</strong> Form von autobiographischen<br />
Texten, Interviews und Analysen aus <strong>der</strong> Binnenperspektive <strong>der</strong> Bewegungen<br />
vorliegen, zur Ergänzung herangezogen.<br />
"Schüchtern, neurotisch, 'entfremdet', homosexuell, bourgeois, Star, Prostituierte<br />
[...], Hausfrau und Mutter o<strong>der</strong> linke Genossin, 16- o<strong>der</strong> 50jährig", so beschrieb die<br />
Journalistin Nicole Muchnik 1973 in dem Wochenmagazin Le Nouvel Observateur<br />
die Protagonistinnen eines "unglaublichen Karnevals", <strong>der</strong> wöchentlich in den Räumen<br />
<strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Schönen Künste ("aux Beaux-Arts") im Pariser Stadtzentrum<br />
von mehreren hun<strong>der</strong>t Frauen veranstaltet wurde. "Le MLF, c'est toi, c'est moi" 61<br />
lautete <strong>der</strong> Titel des ausführlichen Artikels über die französische Variante des Women's<br />
Liberation Movement: eine Einladung an jede Frau, gleich welcher Herkunft.<br />
Wer nahm diese großzügige Einladung an?<br />
Obgleich die Reporterin die Versammlung <strong>der</strong> Frauen als äußerst heterogen<br />
schil<strong>der</strong>te, lassen sich im Rückgriff auf die bereits erwähnten Studien 62 einige häufig<br />
wie<strong>der</strong>kehrende Merkmale (Alter, Ausbildung, Beruf und Familienstand) verdichten<br />
zu einem Typus <strong>der</strong> Pariser Feministin <strong>der</strong> ersten Hälfte <strong>der</strong> siebziger Jahre: "SIE"<br />
war Mitte <strong>der</strong> vierziger Jahre geboren und stieß etwa im Alter von 26 bis 27 Jahren<br />
zur Bewegung. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer Hochschulausbildung<br />
o<strong>der</strong> ging ihrer ersten Erwerbstätigkeit nach abgeschlossenem Examen nach. Tatsächlich<br />
absolvierten die meisten (86 %) <strong>der</strong> Befragten ein Universitätsstudium.<br />
Viele von ihnen, genauer gesagt 88 % <strong>der</strong> unter 25jährigen, 57 % <strong>der</strong> über 25jährigen<br />
gegenüber 9,6 % aller Frauen in einer vergleichbaren sozio-professionellen Situation<br />
waren 1975 unverheiratet, etwa ebenso viele kin<strong>der</strong>los. Überdurchschnittlich gut<br />
ausgebildet, häufiger ledig und seltener Mutter und Hausfrau als ihre Geschlechtsgenossinnen,<br />
wiesen die Befragten damit Gemeinsamkeiten auf, in denen allgemeine<br />
Entwicklungstendenzen <strong>der</strong> "condition féminine" in den siebziger und achtziger<br />
Jahren vorweggenommen wurden. Eine Studie zum MLF in Lyon gibt detaillierteren<br />
Aufschluss über die Berufstätigkeit <strong>der</strong> Frauen: mehrere Lehrerinnen, eine Übersetzerin,<br />
eine Gynäkologin, eine Rechtsanwältin, eine Psychologin, einige Studentinnen<br />
60 Bei Raschke auch als "Resonanzgruppen" bezeichnet.<br />
61 Muchnik 1973.<br />
62 Picq 1987. Grundlage <strong>der</strong> Untersuchung waren Interviews mit ehemaligen Akteurinnen <strong>der</strong><br />
Frauenbewegung sowie die Auswertung von Fragebögen. <strong>Der</strong> Bogen mit 130 Fragen wurde an<br />
270 nach dem Schneeballsystem ermittelte Frauen verteilt. 122 Bögen kamen zurück und konnten<br />
ausgewertet werden. Dazu ausführlich auch Ringart 1991 u. Picq 1991.<br />
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