05.02.2013 Aufrufe

Pädagogische Intervention bei Kindern mit Legasthenie - Bücher für ...

Pädagogische Intervention bei Kindern mit Legasthenie - Bücher für ...

Pädagogische Intervention bei Kindern mit Legasthenie - Bücher für ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Magisterar<strong>bei</strong>t<br />

zur Erlangung des akademischen Grades Magistra Artium (M. A.)<br />

im Fachbereich 04 Erziehungswissenschaften<br />

am Institut <strong>für</strong> Sonderpädagogik<br />

der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Intervention</strong><br />

<strong>bei</strong> <strong>Kindern</strong> <strong>mit</strong> <strong>Legasthenie</strong><br />

Ansätze und Möglichkeiten elterlicher Prävention legastheniebedingter<br />

Schriftspracherwerbsschwierigkeiten und<br />

deren Implikation <strong>für</strong> kindliche Entwicklungsprozesse<br />

1. Gutachter: Dr. Oliver Hechler<br />

2. Gutachter: Michael Bourgeon<br />

Vorgelegt von: Britta Dietrich<br />

Goerdelerstr. 23<br />

63071 Offenbach am Main<br />

Einreichdatum: 23.12.2010


Inhaltsverzeichnis<br />

Eidesstattliche Erklärung gemäß §21 Abs. 1 StPO ...................................................... I<br />

Danksagung ...................................................................................................................... II<br />

Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................... III<br />

Abbildungsverzeichnis ..................................................................................................... IV<br />

Vorwort ....................................................................................................................... 1<br />

1 Einleitung ............................................................................................................ 5<br />

Teil I<br />

Multikausale Ursachenbereiche von <strong>Legasthenie</strong> und<br />

Grundlagen des Schriftspracherwerbs<br />

2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge ......................... 10<br />

2.1 Grundlegende Annahmen zum Schriftspracherwerb ............................... 10<br />

2.2 Wissenschaftstheoretische Überlegung zum Konzept der<br />

phonologischen Bewusstheit .......................................................................... 18<br />

2.3 Veränderte Schriftsprachentwicklung legasthener Kinder ....................... 24<br />

3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong> ............................................................................... 29<br />

3.1 Ursachen im Bereich der Wahrnehmung ...................................................... 29<br />

3.1.1 Sinneswahrnehmungs- und Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tungsstörung ... 29<br />

3.1.2 Störung der zentralen auditiven Wahrnehmung .................................. 30<br />

3.1.3 Störung der zentralen visuellen Wahrnehmung .................................... 31<br />

3.2 Genetische Ursachen ...................................................................................... 32<br />

3.3 Ursachen im prä-, peri- und postnatalen Bereich ....................................... 34<br />

3.4 Erkennungsmerkmale <strong>für</strong> das Vorhandensein einer Legas-thenie .......... 36


Teil II<br />

Das „Konstrukt“ <strong>Legasthenie</strong><br />

4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer<br />

Perspektive ....................................................................................................... 40<br />

5 Begrifflich-definitorische Aspekte ................................................................... 49<br />

5.1 Historisch-definitorischer Entwurf des <strong>Legasthenie</strong>begriffs ........................ 49<br />

5.2 Definitionsversuch der Begrifflichkeit „<strong>Legasthenie</strong>“ .................................. 52<br />

5.2.1 Primärlegasthenie ....................................................................................... 56<br />

5.2.2 Sekundärlegasthenie ................................................................................. 57<br />

5.3 Warum nicht jedes Kind <strong>mit</strong> Problemen <strong>bei</strong>m Lesen- und<br />

Schreibenlernen <strong>Legasthenie</strong> hat … ............................................................. 58<br />

5.4 Das legasthene Kind ......................................................................................... 62<br />

Teil III<br />

Ansätze und Möglichkeiten pädagogischer <strong>Intervention</strong><br />

<strong>bei</strong> legastheniebedingten<br />

Schriftspracherwerbsschwierigkeiten<br />

6 Was ist eine pädagogische <strong>Intervention</strong>? ..................................................... 67<br />

7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene ...................... 69<br />

7.1 Die Bedeutung der Früherkennung von Schriftspracherwerbs-<br />

schwierigkeiten und präventiver Maßnahmen ........................................... 69<br />

7.1.1 Einbindung der Eltern in die frühkindliche Förderung .......................... 73<br />

7.1.2 Institutionelle Frühförderung und Prävention im Kindergarten ........... 77<br />

7.1.3 Vorschulische Förderung der phonologischen Bewusstheit ............... 79<br />

7.1.4 Frühkindliche Wahrnehmungsförderung zur Prävention<br />

legastheniebedingter Schriftspracherwerbsschwierigkeiten ......... 82


7.2 Lerntheoretische Überlegungen zur pädagogisch-präventiven<br />

<strong>Intervention</strong> ........................................................................................................ 84<br />

8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria<br />

Montessoris und der AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller ....................... 85<br />

8.1 Ansätze nach dem Konzept von Maria Montessori.................................... 85<br />

8.1.1 Grundlagen des Montessori-Modells ...................................................... 88<br />

8.1.2 Aktualität des Montessori-Modells ......................................................... 100<br />

8.1.3 Pädagogisch orientiertes <strong>Legasthenie</strong>training <strong>mit</strong> Montessori-<br />

Material .................................................................................................. 104<br />

8.2 Ansätze nach der AFS-Methode von Astrid Kopp-Duller ......................... 107<br />

8.2.1 Grundlagen der AFS-Methode .............................................................. 107<br />

8.2.2 Pädagogisch orientiertes <strong>Legasthenie</strong>training nach der AFS-<br />

Methode ................................................................................................ 109<br />

9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong> ........................................ 114<br />

9.1 Wie können Eltern die pädagogisch-didaktischen Erkenntnisse der<br />

Frühförderung legasthener Kinder einsetzen? ........................................... 115<br />

9.2 Wie können Eltern zur Prävention von legastheniebedingten<br />

Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb <strong>bei</strong>tragen? .......................... 118<br />

10 Abschließende Diskussion ............................................................................ 134<br />

Literaturverzeichnis ................................................................................................ 138<br />

Anhang .................................................................................................................... 157


„Wir alle blicken auf das Kind, weil wir erkannt haben, daß <strong>bei</strong> ihm noch alles werden kann,<br />

daß in ihm alle Möglichkeiten vorhanden sind, während der Erwachsene wohl Gedanken und<br />

Grundsätze ausdrücken kann, sich aber mehr oder weniger auf sie festgelegt hat und sich<br />

schwer noch ändern kann.“ (Maria Montessori, 31.08.1870 - 6.05.1952, italienische Ärztin und Pädagogin)


Eidesstattliche Erklärung gemäß §21 Abs. 1 StPO<br />

Hier<strong>mit</strong> erkläre ich, dass die vorliegende Ar<strong>bei</strong>t von mir selbstständig erstellt und noch nicht<br />

anderweitig <strong>für</strong> Prüfungszwecke vorgelegt wurde. Es wurden keine anderen als die angegebe-<br />

nen Hilfs<strong>mit</strong>tel und Quellen benutzt. Soweit ich auf fremde Materialien, Texte oder Gedan-<br />

kengänge zurückgegriffen habe, enthalten meine Ausführungen vollständige und eindeutige<br />

Verweise auf die Quellen. Wörtliche und sinngemäße Zitate sind als solche gekennzeichnet.<br />

Alle weiteren Inhalte der vorgelegten Ar<strong>bei</strong>t stammen im urheberrechtlichen Sinn von mir,<br />

soweit keine Verweise und Zitate erfolgen.<br />

___________________________________<br />

Ort, Datum<br />

___________________________________<br />

Unterschrift<br />

I


Danksagung<br />

Da<strong>mit</strong> eine Abschlussar<strong>bei</strong>t zustande kommen kann, ist man auf viele andere Personen ange-<br />

wiesen, welchen ich auf diesem Wege danken möchte. An erster Stelle möchte ich mich <strong>bei</strong><br />

Dr. Oliver Hechler und Michael Bourgeon bedanken, die mir diese Ar<strong>bei</strong>t ermöglicht haben.<br />

Mein besonderer Dank gilt da<strong>bei</strong> Dr. Oliver Hechler, der mich <strong>bei</strong> der Erstellung der Ar<strong>bei</strong>t<br />

unterstützt und mich <strong>mit</strong> sehr viel persönlichem Engagement betreut hat und <strong>bei</strong> wichtigen<br />

Fragen immer helfend zur Seite stand. Bei Herrn Michael Bourgeon möchte ich mich da<strong>für</strong><br />

bedanken, dass er sich als Zweitgutachter zur Verfügung gestellt hat.<br />

Mein Dank gilt auch all denen, die mir des Weiteren <strong>bei</strong> der Erstellung der Ar<strong>bei</strong>t behilflich<br />

waren. Hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang Herrn Prof. Dr. Henning Rosen-<br />

kötter, Frau Prof. Dr. Renate Valtin und Frau Mag. Simone Enste. Insbesondere möchte ich<br />

an dieser Stelle Frau Dr. Astrid Kopp-Duller meinen Dank aussprechen, die sich geduldig<br />

meiner persönlichen Fragen annahm und mich immer <strong>mit</strong> besonderem Engagement und hoher<br />

Kompetenz unterstützte. Frau Mag. Margit Biernat danke ich <strong>für</strong> das Korrekturlesen, Peter<br />

Möller und Norbert Thust danke ich <strong>für</strong> den Technical Support <strong>bei</strong> der Fertigstellung der Ar-<br />

<strong>bei</strong>t.<br />

Von unschätzbarer Bedeutung ist <strong>für</strong> mich der große Rückhalt, den ich <strong>bei</strong> all meinen Launen<br />

und über alle Phasen der Ar<strong>bei</strong>t von meinen Eltern, meiner Familie und meinen Freunden<br />

erfahren habe und <strong>für</strong> den ich mich ganz herzlich bedanken möchte. Insbesondere möchte ich<br />

meiner Mutter danken, die mir immer zur Seite stand, mich unterstützte, wo sie konnte, und<br />

mir Kraft gab, wenn ich sie brauchte.<br />

II


Abkürzungsverzeichnis<br />

a.a.O. am angegebenen Ort<br />

bspw. <strong>bei</strong>spielsweise<br />

bzw. beziehungsweise<br />

d.h. das heißt<br />

etc. et cetera<br />

etw. etwas<br />

ggf. gegebenenfalls<br />

ICD-10 International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Ziffer<br />

10: zehnte Revision der Klassifikation<br />

LRS Lese-Rechtschreibschwäche<br />

o.Ä. oder Ähnliche/r/s<br />

od. oder<br />

o.g. oben genannt<br />

s. siehe<br />

S. Seite<br />

s.o. siehe oben<br />

s.u. siehe unten<br />

sog. so genannt<br />

u. und<br />

u.a. unter anderem<br />

u.a.m. und andere mehr<br />

u.U. unter Umständen<br />

u.v.m. und viele mehr<br />

v.a. vor allem<br />

z.B. zum Beispiel<br />

z.T. zum Teil<br />

z.Z. zur Zeit<br />

zit. n. zitiert nach<br />

III


Abbildungsverzeichnis<br />

Abb. 1: Verhältnis: Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung und Motorik zu<br />

Intelligenzleistungen im engeren Sinne ..................................................................... 28<br />

Abb. 2: Bausteine der kindlichen Entwicklung ...................................................................... 157<br />

Abb. 3: Das Logogenmodell nach Morton in überar<strong>bei</strong>teter Version nach Ellis ................... 158<br />

Abb. 4: Das Grundgerüst der Montessori-Pädagogik ............................................................. 159<br />

Abb. 5: Das Drei-Phasen/Sechs-Stufen-Modell des Erwerbs von Lesen und Schreiben<br />

nach Frith .................................................................................................................. 159<br />

Abb. 6: Persönlichkeitskonstitution ........................................................................................ 160<br />

Abb. 7: AFS-Methode im visualisierten Überblick nach Kopp-Duller .................................. 161<br />

Abb. 8: Verlauf des Wahrnehmungsprozesses ....................................................................... 162<br />

IV


Vorwort<br />

Johannes Gutenberg (um 1400-1468), Erfinder der Buchdruckkunst, Leonardo da Vinci<br />

(1452-1519), Maler/Bildhauer/Architekt, Napoleon Bonaparte (1769-1821), französischer<br />

Feldherr und Kaiser, Charles Darwin (1809-1882), britischer Naturwissenschaftler, Winston<br />

Churchill (1874-1965), ehem. Premierminister von Großbritannien und Nobelpreisträger, Al-<br />

bert Einstein (1879-1955), Physiker und Nobelpreisträger, Walt Disney (1901-1966), ameri-<br />

kanischer Filmproduzent, John F. Kennedy (1917-1963), 35. Präsident der Vereinigten Staa-<br />

ten, Reinhard Mey (geb 1942), deutscher Liedermacher … All diese berühmten Persönlich-<br />

keiten haben eines gemeinsam: Sie waren oder sind Legastheniker und hatten Schwierigkeiten<br />

<strong>bei</strong>m Erlernen des Lesens und Schreibens.<br />

Das Phänomen der Lese-Rechtschreibschwäche ist eine weltweit schon lange diskutierte<br />

Problematik. Die Diskussionen darüber wollen die Ursachen da<strong>für</strong> klären und eine<br />

Behandlung des häufig <strong>bei</strong> Schulkindern auftretenden Problems ermöglichen (vgl. Fischer<br />

2003, S. 44f.). Eine der wichtigsten Kulturtechniken, die Kinder erlernen müssen, ist die<br />

Sprache in Schrift und Wort. Die Schule ist da<strong>für</strong> verantwortlich, dies zu ver<strong>mit</strong>teln und zu<br />

festigen. Einige Kinder haben jedoch große Schwierigkeiten, das Lesen zu erlernen, der<br />

Grund ist oft eine Lese-Rechtschreibschwäche. Das Ziel des Lesens ist das Leseverständnis.<br />

Doch <strong>für</strong> ein gutes Leseverständnis ist neben vielen Teilkomponenten wie Sprachverständnis,<br />

themenbezogenem Vorwissen und Motivation auch die Fähigkeit, genau und flüssig zu lesen,<br />

von großer Bedeutung. Bei Problemen in einem dieser grundlegenden Bereiche wird das<br />

Textverständnis beeinträchtigt. Kinder und Jugendliche <strong>mit</strong> Leseschwierigkeiten können in<br />

einem oder mehreren dieser Bereiche Defizite haben.<br />

Seit vielen Jahren gibt es im Bereich der <strong>Legasthenie</strong> heftige Kontroversen, zusätzlich sind<br />

Schwierigkeiten <strong>mit</strong> den Kulturtechniken immer noch ein Tabuthema; gesellschaftlich, im<br />

Bildungsbereich und viel zu oft in den Familien selbst. Partielle Lernschwierigkeiten im<br />

Bereich des Lesens und Rechtschreibens fanden in den letzten Jahrzehnten stärkere<br />

Beachtung als etwa Leistungsprobleme in Mathematik oder anderen Lerngebieten. Dies mag<br />

seinen Grund darin haben, dass Störungen im Lesen und Rechtschreiben einen Schüler in<br />

unserer Gesellschaft – trotz vieler integrativer Methodenansätze und Projekte in der Schule –<br />

im Wissenserwerb beeinträchtigen. Auch die Schullaufbahn wird mehr oder weniger massiv<br />

gestört, und da<strong>mit</strong> wird in die Lebensmöglichkeiten eingegriffen. Der Umgang <strong>mit</strong><br />

schriftsprachlichem Material ist heute wichtiger denn je. Eine kritische Auseinandersetzung<br />

<strong>mit</strong> aktuellen Themen erfordert eine vielseitige Information, die nur durch die Nutzung<br />

verschiedener Medien möglich wird. Noch ist jedoch nicht gewährleistet, dass jeder Mensch<br />

1


in demselben Umfang von der Informationsfülle profitieren kann. Trotz der Tatsache, dass die<br />

Fertigkeiten des Lesens und Schreibens immer wichtiger werden, bleibt das Faktum, dass<br />

noch immer ein Teil der Jugendlichen und Erwachsenen selbst am Ende der Pflichtschulzeit<br />

weder das Lesen noch das Schreiben in ausreichendem Maß beherrscht. Internationale<br />

Schulvergleiche wie PISA haben gezeigt, dass der Plan, allen Schülern diese<br />

Grundfertigkeiten zu ver<strong>mit</strong>teln, nicht verwirklicht ist. Zudem steht es schlecht um die<br />

Chancengleichheit in den Schulen; gerade schwache Schüler können nicht ausreichend vom<br />

Unterricht profitieren, sodass die Diskrepanz zwischen guten und schlechten Schülern eher<br />

zunimmt, statt sich zu verringern. Diese Diskrepanz ist zusätzlich von der sozialen Lage der<br />

Familien abhängig, da Kinder sozial schwacher Familien offensichtlich weniger gefördert<br />

werden – meist, zumindest finanziell gesehen, nicht gefördert werden können – und so<strong>mit</strong><br />

nicht die gleichen Bildungschancen wie Schüler aus besser gestellten Familien erhalten.<br />

Angesichts solcher bedauerlichen Befunde hat eine intensive Ursachensuche begonnen. Ein<br />

Grund hier<strong>für</strong> liegt unbestreitbar in der großen Diskrepanz zwischen Forschung und Praxis.<br />

Gerade die Prozesse des Lesens und Schreibens stellen ein intensiv beforschtes Gebiet dar, zu<br />

dem verschiedene Disziplinen wie Psychologie, Linguistik, Phonetik, Medizin und Genetik in<br />

den letzten Jahren wesentliche Beiträge geleistet haben. Einerseits hat sich dadurch das<br />

Verständnis <strong>für</strong> die kognitiven Prozesse des Lesens und Schreibens erweitert, andererseits hat<br />

sich auch gezeigt, inwieweit genetische und soziale Faktoren auf das Erlernen des Lesens und<br />

Schreibens Einfluss nehmen. Aus diesen Erkenntnissen der Forschung ergeben sich<br />

aufschlussreiche Konsequenzen <strong>für</strong> die Praxis. Dies ist zum einen die Ermöglichung einer<br />

frühzeitigen Prävention von Lernstörungen <strong>mit</strong> Hilfe einer Förderung phonologischer<br />

Fertigkeiten, zum anderen aber auch die Verbesserung der Diagnostik von Teilfertigkeiten des<br />

Lesens und Schreibens, verbunden <strong>mit</strong> der Möglichkeit einer gezielten Förderung solcher<br />

Teilfertigkeiten. Die Einsicht der Relevanz der Forschungsgebiete <strong>für</strong> die Praxis ist allerdings<br />

oft nicht un<strong>mit</strong>telbar erreichbar. Abgesehen davon dauert es meist längere Zeit, bis die<br />

Forschungsergebnisse Eingang in die schulalltägliche Praxis finden. Mit Hinblick darauf<br />

befinden wir uns an einer Wende. Allmählich wird die traditionelle Sichtweise von<br />

<strong>Legasthenie</strong> durch umfangreiche Konzepte, die versuchen, dem Lesen- und Schreibenlernen<br />

und den da<strong>bei</strong> auftretenden Schwierigkeiten wirklich gerecht zu werden, abgelöst. Viele<br />

Psychologen und Pädagogen sehen Teilleistungsstörungen als Verursacher von Problemen<br />

<strong>bei</strong>m Lese- und Rechtschreiberwerb an.<br />

Wie verlockend klingt da die Theorie, dass <strong>Legasthenie</strong> ein Zeichen <strong>für</strong> besondere Begabung<br />

sei (vgl. Davis 2006). Besonders in der heutigen Zeit, in der dem Schulerfolg ein<br />

maßgeblicher Anteil an späteren Berufs- und Karrierechancen zugerechnet wird, finden<br />

2


solche Theorien natürlich positive Resonanz. Dieser Zusammenhang konnte jedoch nie<br />

bewiesen werden. Psychologische Tests oder <strong>Legasthenie</strong>-Tests können aufgrund ihrer<br />

Konstruktion legasthenische Besonderheiten hervorgerufen, sie sind so<strong>mit</strong> kein sicherer Beleg<br />

<strong>für</strong> die tatsächliche Existenz derartiger Schwierigkeiten.<br />

Besonders im gesundheitlichen Bereich etablieren sich gerade in Zeiten eines Umbruchs sehr<br />

schnell esoterische und nicht wissenschaftlich fundierte „Therapie“-Möglichkeiten, wo<strong>bei</strong><br />

scheinbare Patentmethoden <strong>für</strong> teures Geld verkauft werden. Deshalb werden Hilfesuchende<br />

leider nur allzu oft enttäuscht. Es ist daher ratsam, <strong>Legasthenie</strong>konzepte, die oft fanatisch<br />

gefällige Theorien über vermeintliche Ursachen entwickeln und die Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m<br />

Lesen und Schreiben nicht als gestörte Lernprozesse sehen, kritisch zu betrachten. Außerdem<br />

muss abschätzbar sein, wie lange eine seriöse Hilfe in etwa dauert. Etwas anders gestaltet sich<br />

bspw. die Sichtweise der Lerntherapie 1 , wie sie vom Fachverband <strong>für</strong> integrative Lerntherapie<br />

(FiL) e.V. vertreten wird (vgl. Fachverband <strong>für</strong> integrative Lerntherapie e.V. 2010).<br />

Trotz dieser Vielfalt an neuen Erkenntnissen und der Tatsache, dass sich Wissenschaftler<br />

verschiedener Disziplinen ausschließlich der Leseforschung verschrieben haben, ist z.Z. auf<br />

der Seite der Lehrerschaft eher Verdruss über die Forschung zu beobachten. Einerseits<br />

revidiert sie ständig ihre Erkenntnisse und andererseits gibt es keine Bemühungen, diese<br />

Erkenntnisse in verständlicher Form zusammenzufassen und <strong>mit</strong>zuteilen. Dass in der Fülle an<br />

neuen Befunden eine Orientierung schwerfällt und dies zu einer Irritation führt, mag kaum<br />

verwundern. Bis heute ist es weder gelungen, eine ausreichende und vor allem positive<br />

Zusammenar<strong>bei</strong>t zwischen den verschiedenen Berufsgruppen zu erreichen noch eine klare<br />

Linie zu ziehen, wo die <strong>Intervention</strong>en durch den Pädagogen nicht mehr ausreichen und die<br />

des Psychologen oder Mediziners einsetzen müssen oder umgekehrt (vgl. Kopp-Duller/Pailer-<br />

Duller 2008a, S. 133). Es gibt nicht einmal eine Vereinheitlichung der Begriffe. Allein auf der<br />

Feststellungsebene kommt es schon zu Unstimmigkeiten, wo<strong>bei</strong> der Psychologe und<br />

Mediziner die <strong>Legasthenie</strong> stets als Schwäche, Störung, Krankheit oder Behinderung ansieht,<br />

da<strong>mit</strong> auch sein Einschreiten gerechtfertigt ist. Nicht selten werden Diagnosen von<br />

Psychologen durch den Mediziner in Zweifel gezogen oder Gutachten von Pädagogen durch<br />

den Psychologen oder Mediziner etc. Leidtragende sind die Kinder, die durch ein völlig<br />

uneinheitliches Vorgehen nicht selten ihr gesamtes Schulleben um wichtige<br />

1 Bei der Ar<strong>bei</strong>t in diesem Sinne wird zunächst nach den Stärken und Begabungen, also den Ressourcen eines<br />

lese-rechtschreibschwachen Kindes gesucht, da die Meinung vertreten wird, dass jeder Mensch die Welt anders<br />

sieht und wahrnimmt. Wer z.B. im konventionellen Unterricht nicht erfolgreich lernt, vermag dies<br />

möglicherweise durch den Einsatz von konkreten Bildern, durch Visualisierungen oder <strong>mit</strong> Hilfe von Materialien<br />

zum Anfassen und Hantieren. Dieses ressourcenorientierte Vorgehen bewirkt im betroffenen Kind eine<br />

verstärkte Leistungsmotivation.<br />

3


<strong>Intervention</strong>smaßnahmen gebracht werden. In der gegenwärtigen Diskussion streiten sich<br />

Mediziner und Pädagogen sowie Psychologen um die Zuständigkeit <strong>für</strong> <strong>Legasthenie</strong> bzw.<br />

LRS, die auch einen profitablen Diagnose- und Therapiebereich sichert. Eines ist sicher: Die<br />

<strong>Legasthenie</strong> ist eine eigene Wissenschaft <strong>mit</strong> multikausalen Ursachen in komplexen<br />

Zusammenhängen. Das wichtigste Faktum ist, dass Menschen, die eine Erbanlage <strong>für</strong><br />

<strong>Legasthenie</strong> haben, weder krank und schon gar nicht behindert sind.<br />

4


1 Einleitung<br />

Lernstörung, Lese-Rechtschreibschwäche, <strong>Legasthenie</strong>… Wo immer diese Begriffe<br />

auftauchen, entstehen Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und eine Fülle von Vorurteilen gegenüber<br />

dem betroffenen Kind und seiner Familie. Stigmatisierung, psychische und physische Folgen<br />

– das können schon vorhandene oder durch das Nichterkennen der <strong>Legasthenie</strong> und die<br />

unterlassene Hilfestellung erworbene sein – gehören zu den vielfältigen Nebeneffekten, die<br />

<strong>mit</strong> dieser Thematik einhergehen.<br />

Aufgrund der immer größer werdenden Zahl von lese- und rechtschreibschwachen <strong>Kindern</strong><br />

fragt man sich, welche Präventionsmaßnahmen getroffen werden können. Sobald Kinder<br />

partielle Ausfälle im Bereich der gesprochenen und geschriebenen Sprache, die auch<br />

allgemeine Schulleistungen beeinträchtigen, aufweisen, wird in der psychologischen,<br />

neurologischen, psycholinguistischen wie auch pädagogischen Wissenschaft von einer<br />

Teilleistungsstörung oder <strong>Legasthenie</strong> ausgegangen (vgl. Milz 1997, S. 13). Bei guten Lesern<br />

erfolgt das Lesen mühelos und äußerst schnell. Die Kinder <strong>mit</strong> <strong>Legasthenie</strong> oder LRS haben<br />

jedoch bereits erhebliche Probleme <strong>mit</strong> den basalen Lesefertigkeiten, der Lesegenauigkeit und<br />

besonders <strong>mit</strong> der Lesegeschwindigkeit. Gerade Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen sind häufig <strong>mit</strong><br />

erheblichen negativen Konsequenzen <strong>für</strong> die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen<br />

verbunden. Die Zahl der Kinder <strong>mit</strong> vermuteten oder tatsächlichen Lernstörungen nimmt<br />

ständig zu. Verzögerungen in der Entwicklung von Bewegung, Wahrnehmung und Sprache,<br />

Klagen über Aufmerksamkeitsdefizite oder Hyperaktivität häufen sich. Im Lernbereich<br />

Schule werden immer öfter Lese- und Schreibschwierigkeiten sowie Rechenschwierigkeiten<br />

festgestellt. Auch im Umgang der Kinder untereinander ist vermehrt aggressives oder auch<br />

egozentrisches Verhalten zu beobachten. Viele Kinder haben darüber hinaus auch <strong>mit</strong><br />

emotionalen Schwierigkeiten zu kämpfen. Bei LRS und <strong>Legasthenie</strong> können der schulische<br />

Erfolg, die Lernmotivation, das Selbstvertrauen sowie das allgemeine psychische Befinden<br />

nachhaltig beeinträchtigt werden. Auch im sozialen Bereich, z.B. in der Klasse, kann der<br />

Status des Kindes durch die Miss-erfolge leiden. Neben allgemeinen sozialen<br />

Anpassungsschwierigkeiten sind vor allem motorische Unruhe, Konzentrationsschwie-<br />

rigkeiten und Angst Begleiterscheinungen. Deshalb sind Kinder nicht weniger liebenswert.<br />

Seit vielen Jahren beschäftigt man sich <strong>mit</strong> den Symptomen, Ursachen und Fördermaßnahmen<br />

<strong>bei</strong> <strong>Legasthenie</strong> und auch LRS, und trotzdem kommt es immer wieder zu<br />

Widersprüchlichkeiten <strong>bei</strong> neuen Erkenntnissen; die Forschungsar<strong>bei</strong>ten sind noch lange nicht<br />

abgeschlossen.<br />

5


1 Einleitung<br />

Lewin sagte einmal, „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“ (Lewin/Cartwright<br />

1951, S. 169). Die theoretischen Erkenntnisse, die in der Forschung in den letzten Jahren<br />

gewonnen wurden, können die praktische Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> Lese- und Rechtschreibstörungen<br />

entscheidend bereichern und erleichtern. Allerdings ist es dazu notwendig, ein Verständnis<br />

da<strong>für</strong> zu entwickeln, wie die kognitiven Prozesse des Lesens und Schreibens ablaufen.<br />

Die vorliegende Ar<strong>bei</strong>t soll einen einleitenden Überblick über die kognitiven Prozesse des<br />

Lesens und Schreibens verschaffen und da<strong>mit</strong> verdeutlichen, welche Prozesse sich Kinder<br />

<strong>bei</strong>m Erlernen des Lesens und Schreibens aneignen müssen. Dies soll Klarheit darüber<br />

schaffen, welche Schwierigkeiten <strong>bei</strong> legasthenen <strong>Kindern</strong> beobachtet werden und auf welche<br />

nachweisbaren Ursachen diese zurückgeführt werden können. Gerade im Bereich der<br />

Ursachen soll auf die markanten wissenschaftlichen Fortschritte hingewiesen werden, die auf<br />

dem Gebiet der genetischen Grundlagen gewonnen wurden. Da die Darstellung von<br />

fundiertem Wissen, Befunden und Folgerungen <strong>für</strong> die Praxis in diesem Rahmen jedoch nicht<br />

<strong>für</strong> alle Bereiche des Lesens und Schreibens möglich ist, soll der Fokus auf der pädagogischen<br />

<strong>Intervention</strong> sowie auf Ansätzen und Möglichkeiten elterlicher Prävention und auf deren<br />

Implikation <strong>für</strong> kindliche Entwicklungsprozesse <strong>bei</strong> legasthenen <strong>Kindern</strong> liegen. Diese Ar<strong>bei</strong>t<br />

ist in drei größere Teile gegliedert.<br />

Der erste Teil ist den allgemeinen multikausalen Ursachenbereichen gewidmet. Es werden<br />

kognitive Prozesse sowie grundlegende Annahmen zur Sprachentwicklung und die Stufen der<br />

Sprachentwicklung <strong>bei</strong> normal entwickelten <strong>Kindern</strong> aufgezeigt, um den veränderten Schrift-<br />

spracherwerb legasthener Kinder abzugrenzen und die Mannigfaltigkeit der Problematik<br />

nachzuweisen. Ein integraler Teil des Erlernens sprachlicher Kompetenzen, die sich aus dem<br />

Zusammenwirken vielfältiger Wahrnehmungs- und Ausdrucksfunktionen ergeben, ist das<br />

Erlernen der Schriftsprache. Dieses komplexe System ist ein kompliziertes Gefüge aus Funk-<br />

tionen auf psychischer, emotionaler, sozialer und körperlicher Ebene, das vom ersten Atem-<br />

zug an richtig zusammengefügt werden muss, da<strong>mit</strong> das Kind erfolgreich lesen und schreiben<br />

lernt. Der Abschnitt der Annahmen zu Schriftspracherwerb und Sprachentwicklung <strong>bei</strong>nhaltet<br />

außerdem wissenschaftstheoretische Überlegungen zum Konzept der phonologischen Be-<br />

wusstheit, welche in einer neuropsychologischen Therapie zum Einsatz kommen kann, falls<br />

pädagogisches Handeln allein nicht mehr ausreichend ist, um das Kind in seiner Entwicklung<br />

unterstützen zu können. Schließlich folgt ein Überblick von Anzeichen und möglichen, be-<br />

sonders genetisch bedingten prä-, peri- und postnatalen Ursachen, die einer <strong>Legasthenie</strong> zu-<br />

grunde liegen.<br />

Der zweite Teil beschäftigt sich <strong>mit</strong> der eigentlichen <strong>Legasthenie</strong>-Thematik und widmet sich<br />

zunächst dem begrifflich-definitorischen Aspekt. Ein einleitender historisch-definitorischer<br />

6


1 Einleitung<br />

Entwurf des <strong>Legasthenie</strong>begriffs bildet die Einführung in die Thematik, welcher unterschied-<br />

liche Auffassungen und Kontroversen der vergangenen Jahrzehnte, von der Medizin über die<br />

Disziplin der Psychologie bis hin zum Handlungsfeld der Pädagogik, aufzeigt. Durch diese<br />

Kontroversen und Debatten entstanden unterschiedliche Auffassungen und Definitionen der<br />

Begrifflichkeit „<strong>Legasthenie</strong>“, die gegeneinander abgewogen werden. In diesem Kontext wer-<br />

den das Konstrukt <strong>Legasthenie</strong> und die Pathologisierung der <strong>Legasthenie</strong> aus pädagogischer<br />

Perspektive kritisch beleuchtet, was zu der Definition und dem Konzept, <strong>mit</strong> denen sich diese<br />

Ar<strong>bei</strong>t primär auseinandersetzt, hinführen soll. Vor definitorischem Hintergrund werden wei-<br />

terhin die Auswirkungen der Schwierigkeiten auf die Entwicklung der Kinder diskutiert, so-<br />

wohl auf die Verhaltensebene als auch auf die emotionale Entwicklung, und auch die Rück-<br />

wirkungen auf die Familien der Kinder. In diesem Kontext soll auch auf die biologischen,<br />

psychologischen und sozialen Faktoren hingewiesen werden. Um die begrifflich-<br />

definitorischen Aspekte abzurunden und Klarheit <strong>für</strong> die Diagnostik und <strong>Intervention</strong>sebene<br />

zu schaffen, werden die Begriffe Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) und <strong>Legasthenie</strong> zweck-<br />

setzend voneinander abgegrenzt. Diese kritische Auseinandersetzung hebt die pädagogische<br />

Definition, die der Ar<strong>bei</strong>t als fundamentale Richtlinie dienen soll, hervor. Diese Definition ist<br />

die erste pädagogische Definition nach A. Kopp-Duller aus dem Jahre 1995, <strong>mit</strong> der vor allem<br />

erstmals klar und nachvollziehbar die Tatsache anerkannt wurde, dass es Menschen gibt, <strong>bei</strong><br />

denen der Lese-, Schreib- oder Rechenlernprozess andersartig abläuft, wo<strong>mit</strong> <strong>Legasthenie</strong> als<br />

vorrangiges pädagogisches <strong>Intervention</strong>sgebiet etikettiert wurde. So<strong>mit</strong> wurde die Problema-<br />

tik nicht mehr, wie es durch die Gesundheitsberufe üblich war, als lediglich pathologisches<br />

Problem definiert. Trotz dieser Definitionen fällt die Begriffsbestimmung schwer, da Faktoren<br />

wie Intelligenz, entsprechender Unterricht oder Milieu in der Praxis nicht eindeutig feststell-<br />

bar sind.<br />

Der dritte Teil, der den Hauptteil der vorliegenden Ar<strong>bei</strong>t bildet, hat wohl die stärkste Praxis-<br />

relevanz, da der Fokus vor allem auf der Bedeutung von Ansätzen und Möglichkeiten päda-<br />

gogischer <strong>Intervention</strong> <strong>bei</strong> <strong>Legasthenie</strong> liegt, wo<strong>bei</strong> vorrangig die präventiven Möglichkeiten<br />

im Kontext pädagogischen Handelns erörtert werden. Zunächst wird <strong>mit</strong> einem Definitions-<br />

versuch der Begrifflichkeit der „pädagogischen <strong>Intervention</strong>“ eingeleitet. Darauffolgend steht<br />

die Wichtigkeit der präventiven Förderung sowie der bedeutsamen Funktion der Vorschulpä-<br />

dagogen und besonders der Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene <strong>bei</strong>m Schrift-<br />

spracherwerb im Fokus der Auseinandersetzung und der Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> legasthenen <strong>Kindern</strong>. Die<br />

Bedeutung der Früherkennung von Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb und der Maß-<br />

nahmen zu deren Prävention wird in Theorie und Praxis übereinstimmend betont. Woran und<br />

wann Probleme <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen erkannt werden und welche präventiven<br />

7


1 Einleitung<br />

<strong>Intervention</strong>en eingeleitet werden, hängt nicht nur von den theoretischen Annahmen über den<br />

ungestörten Schriftspracherwerb und von seiner Gefährdung ab, sondern auch von den Vor-<br />

stellungen darüber, welche Lern- und Verar<strong>bei</strong>tungsprozesse diagnostiziert und gefördert<br />

werden sollen. Diese Vorstellungen haben sich erheblich verändert, seit sich in der Schrift-<br />

sprachforschung der Trend abzeichnet, den frühen Erwerbsprozess genauer zu untersuchen<br />

und Vorläufermerkmale zu identifizieren, die <strong>für</strong> einen erfolgreichen Schriftspracherwerb<br />

wichtig sind. Mit der Konzeption von Entwicklungsmodellen des Schriftspracherwerbs, der<br />

Integration von Prozessmodellen des Lesens und Rechtschreibens in die Schriftspracher-<br />

werbsforschung und der Durchführung von theorieabgeleiteten Längsschnittstudien gelang es,<br />

die Bedeutung einiger im Vorschulalter erfasster individueller Voraussetzungen näher zu be-<br />

stimmen. Überwiegend aus dem angloamerikanischen Schulsystem stammende Studien bele-<br />

gen, dass solche frühen <strong>Intervention</strong>en das Potential haben, dem Auftreten von Leseschwie-<br />

rigkeiten vorzubeugen oder sie noch in der ersten Klasse der Grundschule abzufangen. Solche<br />

Voraussetzungen sollten, falls sie vom Kind allein nicht ausreichend entwickelt werden kön-<br />

nen, vom familiären wie institutionellen Umfeld des legasthenen Kindes gefördert werden. An<br />

dieser Stelle wird sowohl die <strong>für</strong> die elterliche Prävention bedeutsame Aufklärung und Bera-<br />

tung der Eltern durch pädagogische Beratung und elternbildende Maßnahmen sowie deren<br />

Integration <strong>für</strong> die frühkindliche Förderung als auch die wichtige Funktion der Vorschulpäda-<br />

gogen und der Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene, besonders zu einem möglichst<br />

frühen Zeitpunkt des kindlichen und meist noch unbewussten Schriftspracherwerbs, <strong>für</strong> das<br />

Verständnis der Gesellschaft <strong>für</strong> die Problematik „<strong>Legasthenie</strong>“ betont. Im Folgenden wird<br />

auf die frühkindliche Förderung in weiteren Teilbereichen des Lesens und Schreibens einge-<br />

gangen und die da<strong>mit</strong> zusammenhängende Relevanz der Wahrnehmung sowie der Wahrneh-<br />

mungsverar<strong>bei</strong>tung <strong>für</strong> den Schriftspracherwerb sowie lerntheoretische Überlegungen päda-<br />

gogisch-präventiver <strong>Intervention</strong> diskutiert.<br />

Die weiteren Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf die Ar<strong>bei</strong>t Maria Montessoris<br />

sowie auf die AFS-Methode nach A. Kopp-Duller im Kontext der pädagogischen Interventi-<br />

onsmöglichkeiten <strong>bei</strong> legasthenen <strong>Kindern</strong>, sie sollen einen Überblick über die Möglichkeiten<br />

einer frühzeitigen <strong>Intervention</strong>, besonders durch das von Montessori erar<strong>bei</strong>tete Sinnesmateri-<br />

al sowie durch das pädagogische Konzept der AFS-Methode, geben. Neben einer theoreti-<br />

schen Darstellung der konzeptuellen Grundlagen der Montessori-Pädagogik soll hier versucht<br />

werden, das Konzept M. Montessoris auf Aktualität zu überprüfen und in den Kontext der<br />

elterlichen Präventionsmöglichkeiten einzubetten. Es soll auf alle wichtigen Problembereiche<br />

der <strong>Legasthenie</strong>prävention eingegangen werden, wo<strong>bei</strong> die Förderung der Sinneswahrneh-<br />

mung themenbedingt dominiert. Etwas ausführlicher werden verschiedene Möglichkeiten zur<br />

8


1 Einleitung<br />

präventiven Förderung und <strong>Intervention</strong> von Seiten der Eltern <strong>bei</strong> legasthenigefährdeten Kin-<br />

dern, besonders die Einbeziehung des Ansatzes, dass Eltern die Erkenntnisse Montessoris und<br />

Kopp-Dullers selbst in einer präventiven häuslichen Förderung anwenden können, diskutiert.<br />

Immer wieder wird in diesem Kontext besonders die Bedeutsamkeit, die eine Motivation be-<br />

troffener Kinder <strong>mit</strong> sich bringt, sowie die Berücksichtigung ihrer Stärken und Schwächen<br />

bezüglich einer angemessenen Förderung betont. Schließlich wird versucht, die elterlichen<br />

Präventions- und <strong>Intervention</strong>smöglichkeiten in den Prozess kindlicher Entwicklung einzubet-<br />

ten.<br />

Da die wichtige Funktion der Berufsgruppe der Vorschulpädagogen immer wieder<br />

unterschätzt wird, soll im Rahmen der vorliegenden Magisterar<strong>bei</strong>t und vor dem Hintergrund<br />

der angeführten Thematik versucht werden, Ansätze und Möglichkeiten elterlicher Prävention<br />

legastheniebedingter Schriftspracherwerbsschwierigkeiten und deren Implikation <strong>für</strong><br />

kindliche Entwicklungsprozesse <strong>bei</strong> legasthenen <strong>Kindern</strong> <strong>mit</strong> der Orientierung an<br />

pädagogischem Handeln zu bestimmen sowie das Missverständnis, dass Pädagogen nur<br />

spielen würden, auszuräumen. Folgende Thesen sollen im Besonderen als Basis der Ar<strong>bei</strong>t<br />

fungieren:<br />

� Eine individuell an das Kind angepasste pädagogische <strong>Intervention</strong> ist kindgerechter<br />

und so<strong>mit</strong> hilfreicher und erfolgversprechender <strong>für</strong> das legasthene Kind als eine<br />

therapeutische Hilfe.<br />

� Legasthene Kinder haben das Recht auf Bildung und individuelle Förderung, statt<br />

Selektion und Entmündigung durch Stigmatisierung zu erfahren.<br />

Der Gegenstand dieser Magisterar<strong>bei</strong>t im Studiengang Erziehungswissenschaft ist aus<br />

persönlicher Erfahrung im Umgang <strong>mit</strong> dem Phänomen <strong>Legasthenie</strong> und letztendlich aus den<br />

daraus resultierenden Fragen entstanden: Was genau ist <strong>Legasthenie</strong>? Wann wird sie zum<br />

Problem? Wie gehe ich als kompetenter Pädagoge <strong>mit</strong> diesem Thema um? Kann die<br />

Pädagogik in diesem Problemkreis professionelle Hilfe leisten? Ohne einen Anspruch auf<br />

Vollständigkeit zu erheben, hat sich die Autorin die Beantwortung dieser Fragen zum Ziel<br />

gesetzt.<br />

9


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

Teil I<br />

Multikausale Ursachenbereiche von <strong>Legasthenie</strong><br />

und Grundlagen des Schriftspracherwerbs<br />

2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

Die Neuropsychologie ist ein interdisziplinärer Bereich, der Beziehungen zwischen Neurolo-<br />

gie, Psychologie und Biologie erklärt und auch in den pädagogischen Bereich hineinwirkt, da<br />

er sich <strong>mit</strong> den Auswirkungen neurologischer Prozesse auf Lernen und Verhalten befasst. Im<br />

Rahmen der vorliegenden Ar<strong>bei</strong>t muss auf eine Einführung in dieses umfangreiche Thema<br />

verzichtet werden, daher sei diesbezüglich an dieser Stelle auf Milz (1996) verwiesen.<br />

Die Entwicklung jedes Lebewesens vollzieht sich in aktiver Auseinandersetzung <strong>mit</strong> der<br />

Umwelt, wo<strong>bei</strong> die wechselseitige Beeinflussung von Bewegung und Wahrnehmung 2 eine<br />

wichtige Rolle spielt. Um aber Wahrnehmung und Bewegung sowie deren wechselseitige<br />

Beziehung zueinander zu ermöglichen, ist ein funktionierendes Nervensystem (vgl. Milz<br />

1999, S. 29ff.) erforderlich. Ohne ein Mindestmaß an neuropsychologischen Kenntnissen<br />

werden manche Verhaltensweisen von <strong>Kindern</strong> nicht zu verstehen sein und man kann deshalb<br />

auch nicht angemessen auf sie eingehen. In besonderer Weise erschließen sich durch diese<br />

Kenntnisse auch die Sinnhaftigkeit und der Wert des Montessori-Materials im Rahmen der<br />

heilpädagogischen Anwendung sowie der Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> legasthenen <strong>Kindern</strong>.<br />

2.1 Grundlegende Annahmen zum Schriftspracherwerb<br />

Dank Forschungen von Galaburda, Geschwind, Luria u.v.a. entstand im 20. Jahrhundert eine<br />

Vielzahl von Abbildungen des menschlichen Gehirns, die Verar<strong>bei</strong>tungsgebiete <strong>für</strong> Tätigkei-<br />

ten, Fertigkeiten oder Handlungen offenbarten und eine Zusammenar<strong>bei</strong>t der verschiedenen<br />

Gehirnzentren <strong>bei</strong> komplexen Aufgaben darstellten (vgl. Hofmann/Sasse 2005). Inzwischen<br />

ist in zahlreichen Untersuchungen (u.a. Frackowaik et al. 1997; Mazziotta et al. 2000) sehr<br />

genau erforscht, in welchem Gehirnareal welche Informationen verar<strong>bei</strong>tet und daraus resul-<br />

tierende Reaktionen ausgelöst werden. Ist jedoch ein Areal aufgrund einer Läsion nicht fähig,<br />

2 oder auf niedriger Stufe, auf der man noch nicht von Wahrnehmung sprechen kann, von Reizverar<strong>bei</strong>tung.<br />

10


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

die entsprechende Informationsverar<strong>bei</strong>tung durchzuführen, so kann gegebenenfalls ein ande-<br />

res Areal diese Funktion übernehmen, da das Gehirn bemerkenswerte Plastizität aufweist (vgl.<br />

Hofmann 2005, in: Hofmann/Sasse 2005, S. 92).<br />

Der Erwerb einer Schriftsprache ist ein bewusster und nicht angeborener Prozess, der erlernt<br />

werden muss und nur in Verbindung <strong>mit</strong> dem bewussten Umgang <strong>mit</strong> Schrift funktioniert.<br />

Das Erlernen der Schriftsprache ist ein kognitiver Prozess, <strong>bei</strong> dem die Kinder Regeln über<br />

das Verhältnis von Sprache und Schrift entwickeln sowie Strategien zum Erlesen neuer Wör-<br />

ter bilden. Dieser Prozess stellt <strong>für</strong> Kinder zumeist eine große Herausforderung dar. Beim<br />

Erlernen des Lesens und Rechtschreibens bedarf es, anders als <strong>bei</strong> der Aneignung mündlicher<br />

Sprache, die <strong>für</strong> die meisten Kinder relativ mühelos verläuft, einer gezielten Instruktion. Al-<br />

lerdings beginnt der Zugang zur Schrift in den meisten Kulturen nicht erst <strong>mit</strong> dem Schulein-<br />

tritt, da Kinder unentwegt <strong>mit</strong> dem Phänomen graphischer Schriftzeichen konfrontiert sind<br />

und in vielen Familien das Vorlesen eine wichtige Rolle einnimmt. Folglich begegnen Kinder<br />

graphischen Schriftzeichen, die sie erkennen 3 und auf diese Weise deuten können. Sie absol-<br />

vieren einen Lernprozess, <strong>bei</strong> dem sie mehrere Stadien des Schrift- und Leseerwerbsprozesses<br />

durchlaufen müssen (vgl. Dehn 1977, S. 282; Scheerer-Neumann et al. 1986, S. 89). Beim<br />

Schriftspracherwerb steht ein Kind einigen grundlegenden Strukturmerkmalen gegenüber. Die<br />

deutsche Sprache gehört zu den phonographischen Schriften, das bedeutet, dass lautliche Ei-<br />

genschaften der gesprochenen Sprache vorrangig notiert werden. Jedoch wird nicht jeder Laut<br />

von einem Buchstaben abgebildet. Die auf der Ebene der Phoneme und Grapheme bestehende<br />

Korrespondenz ist auch hier nicht eindeutig (vgl. Kirschhock 2004, S. 45). Zum einen wird<br />

die Beziehung zwischen Phonemen und Graphemen <strong>für</strong> einen Leseanfänger durch die phone-<br />

tische Mehrdeutigkeit kompliziert 4 , zum anderen ergeben sich Probleme durch die graphemi-<br />

sche Mehrdeutigkeit 5 . Diese unterschiedliche Schreibweise ist vor allem durch das <strong>für</strong> die<br />

deutsche Sprache konstituierende Prinzip der Stammerhaltung bedingt. Im Wesentlichen dient<br />

es der schnellen Wiedererkennung und da<strong>mit</strong> der Leserfreundlichkeit.<br />

Rechtschreibprozesse hingegen, die eine genaue orthographische Reproduktion erfordern,<br />

unterliegen wesentlich langwierigeren Lernprozessen. Zunächst gab es in der Forschung zum<br />

Schriftspracherwerb relativ willkürliche Vermutungen über die <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben<br />

ablaufenden Prozesse. Bis weit in die 70er Jahre hinein dominierte in der deutschsprachigen<br />

Forschung ein Ansatz, der nach den psychologischen Grundfaktoren vor allem des Lesens<br />

3 zuerst an sehr groben Merkmalen, z.B. dem Schriftzug etc.<br />

4 wenn also ein Graphem <strong>für</strong> mehrere Phoneme steht.<br />

5 wenn ein Phonem <strong>mit</strong> unterschiedlichen Graphemen oder Graphemclustern abgebildet wird.<br />

11


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

suchte. Sowohl kognitive als auch nichtkognitive Merkmale des Lerners wurden zu Modellen<br />

zusammengefügt, um die Lesefähigkeit zu erklären (sog. „additive Komponentenmodelle“,<br />

vgl. hierzu Avramidou 2003, S. 33ff.). Bei Störungen war auch fraglich, dass die Ursachen<br />

aller „Defizite“, unabhängig von der spezifischen Aufgabe und von allen anderen Einflussfak-<br />

toren (z.B. Unterricht), <strong>bei</strong>m Lehrer vermutet wurden.<br />

Es wird angenommen, dass Kinder als Vorstufe <strong>für</strong> die Leseentwicklung allmählich eine ge-<br />

wisse Sensibilität <strong>für</strong> die Merkmale schriftlicher Texte entwickeln. Zuerst scheint ihnen der<br />

Vorgang des Lesens, den sie etwa <strong>bei</strong> ihren Eltern beobachten, unklar und sie haben Mühe,<br />

ihn zu erklären. Erst langsam erkennen sie, dass die Schriftzeichen etwas <strong>mit</strong> den realen Ob-<br />

jekten der Umwelt zu tun haben und Aspekte wiedergeben, die über das hinausgehen, was<br />

Zeichnungen oder Bilder ver<strong>mit</strong>teln. Sie lernen, dass die Anordnung der Wörter nicht willkür-<br />

lich ist und bestimmten Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Parallel zu diesem Vorgang entwickelt<br />

sich eine gewisse metalinguistische Bewusstheit 6 . Eine Gliederung der metalinguistischen<br />

Bewusstheit, bezogen auf unterschiedliche Verar<strong>bei</strong>tungseinheiten, in vier allgemeine Kate-<br />

gorien nehmen Tunmer et al. (1984) vor. Zur metalinguistischen Bewusstheit zählen demnach<br />

die phonologische Bewusstheit, die Wortbewusstheit, die syntaktische Bewusstheit und die<br />

pragmatische Bewusstheit. Die phonologische Bewusstheit beschreibt u.a. die Isolierung von<br />

Einzellauten. Diese Einzellaute, also Phoneme oder Silben, bilden das Fundament der<br />

Sprachverar<strong>bei</strong>tung. Normalerweise ist ihre Verar<strong>bei</strong>tung so weit automatisiert, dass die<br />

Aufmerksamkeit nicht auf diese Ebene gerichtet wird, wo<strong>bei</strong> die Einsicht, dass unsere Spra-<br />

che nach dem alphabetischen Prinzip funktioniert, oder zumindest, dass Wörter aus Phonemen<br />

bestehen, grundlegend ist. Während Kinder etwa ab dem fünften Lebensjahr da<strong>mit</strong> beginnen,<br />

sprachliche Äußerungen selbst zu reflektieren, achten jüngere Kinder in ihren sprachlichen<br />

Äußerungen hauptsächlich auf den inhaltlichen Aspekt. Dies schließt die zunehmende Fähig-<br />

keit, die Aufnahme und Verar<strong>bei</strong>tung von sprachlicher Information gezielt steuern und hilf-<br />

reiche Strategien anwenden zu können, ein. Die Wortbewusstheit beschreibt die Fähigkeit,<br />

Wörter als Grundeinheit der sprachlichen Mitteilung zu erkennen, sie also unabhängig von<br />

ihrem zugehörigen Referenten und da<strong>mit</strong> <strong>mit</strong> ihren speziellen Eigenschaften zu betrachten 7 .<br />

So<strong>mit</strong> haben Kinder häufig ein implizites Wissen über die Gliederung der Sprache in Wörter,<br />

wo<strong>bei</strong> sie dazu tendieren, Wörter <strong>mit</strong> ihren Referenten gleichzusetzen (vgl. Klicpera/<br />

6 Zu dem Begriff „metalinguistische Bewusstheit“ wird in der Literatur eine verwirrende terminologische<br />

Vielfalt als Erklärung angeboten (vgl. hierzu Andresen 1985; Augst 1978; Schöler 1987; Daneman et al. 1988;<br />

Wehr 1994).<br />

7 z.B. die Länge der Wörter zu unterscheiden, Sätze in Wörter aufzugliedern, Synonyme und Antonyme zu<br />

finden.<br />

12


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, S. 20). Erst <strong>mit</strong> allmählich zunehmender Vertrautheit<br />

<strong>mit</strong> der Schrift bildet sich ein explizites Wissen über das Wort als solches heraus. Die syntak-<br />

tische Bewusstheit ist das Erkennen und auch Korrigieren von Verletzungen der korrekten<br />

Satzbildung, wo<strong>mit</strong> sie auch das Erkennen eines fehlenden Wortes und einer falschen Satz-<br />

stellung <strong>bei</strong>nhaltet. Demzufolge geht sie über die Bildung grammatischer Strukturformen hin-<br />

aus. Aufgrund der Schwierigkeiten <strong>bei</strong> der Satzanalyse fallen <strong>Kindern</strong> Aufgaben zur Umstel-<br />

lung von Wörtern in Sätzen wie auch das Erfinden von Sätzen zu vorgegebenen Wörtern<br />

schwer. Zudem sind den Vorschulkindern Funktionswörter wie „<strong>für</strong>“ oder „jedoch“ noch we-<br />

nig vertraut, was da<strong>mit</strong> zusammenhängt, dass diese Wörter keine un<strong>mit</strong>telbare Bedeutung<br />

haben. Sie werden in dieser Entwicklungsphase häufig auch nicht als richtige Wörter erkannt<br />

(vgl. ebd.). Die pragmatische Bewusstheit schließlich umfasst die Fähigkeiten, auf die Ver-<br />

ständlichkeit einer Mitteilung zu achten sowie Zusammenhänge zwischen mehreren Sätzen,<br />

also auch der gesamten Struktur eines Textes, zu erkennen. Es scheint, trotz des engen zeitli-<br />

chen Zusammentreffens dieser Entwicklungen, eine phonologisch-syntaktisch-semantische<br />

Reihenfolge im Erreichen der bewussten Kontrolle des sprachlichen Ausdrucks zu geben. Da<br />

die phonologische Bewusstheit eine Form der Sprachrepräsentation voraussetzt, nämlich die<br />

systematische Verwendung von Phonemen, bereitet ihre Ausbildung Schwierigkeiten.<br />

Erste Prozessmodelle des Lesens und Schreibens wurden von Morton, der bereits 1969 eine<br />

erste Ar<strong>bei</strong>t über den Vorgang der Worterkennung <strong>bei</strong>m Lesen veröffentlichte, entwickelt<br />

(vgl. Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995, S. 97). Dieser erste Entwurf wurde von ihm weiter-<br />

entwickelt, und so veröffentlichte er 1979 sein „Logogen-Modell“ (Morton 1970, 1979, 1980;<br />

Graf 1994, S. 46), das auch Vorstellungen über die <strong>bei</strong>m Schreiben ablaufenden Prozesse be-<br />

inhaltet (s. Abb. 1).<br />

Viele darauffolgende Entwürfe basieren auf Mortons Modell oder wurden zumindest wesent-<br />

lich davon beeinflusst (vgl. Graf 1994, S. 46). Die neuere Forschung griff zunehmend auf<br />

Modelle aus der Informationsverar<strong>bei</strong>tung 8 zurück, wo<strong>bei</strong> eines der am häufigsten rezipierten<br />

Modelle das von Coltheart (1978) stammende „Zwei-Wege-Modell“ war. Das Modell geht<br />

zum einen von einem regelgeleiteten, indirekten Weg über das phonologische Rekodieren zur<br />

Entschlüsselung der Wortbedeutung aus. Zum anderen führt ein direkter Weg von der ge-<br />

druckten Wortvorlage zum Erkennen der Bedeutung im sog. inneren Lexikon. Neben lexikali-<br />

8 Traditionell sind diese Modelle nach der Informationsverar<strong>bei</strong>tungstheorie entworfen, weshalb ihre Grobstruktur<br />

dem Schema Input, Verar<strong>bei</strong>tung, Output folgt. Als Input können z.B. gesprochene Sprache oder Schrift<br />

dienen, die auf diverse Arten weiterverar<strong>bei</strong>tet werden. Der Output besteht <strong>bei</strong>m Lesen aus Sprache oder Schrift<br />

<strong>bei</strong>m Schreiben (vgl. Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995, S. 97ff.). Da<strong>bei</strong> sind Logogene Spracheinheiten, die den<br />

mentalen Repräsentationen der Wortbedeutungen entsprechen.<br />

13


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

schen Verar<strong>bei</strong>tungsmöglichkeiten von Wörtern sieht das Modell, ähnlich wie in der Dual-<br />

Route-Theorie nach Coltheart (1978) auch die Umwandlung von Sprache in Schrift über die<br />

Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln vor, wo<strong>bei</strong> dieser Strategie hier nach Klicpera und<br />

Gasteiger-Klicpera (1995, S. 99f.) nur eine untergeordnete Rolle zukommt. Das Zwei-Wege-<br />

Modell wird in den letzten Jahren, u.a. aufgrund seines Charakters und der Betonung explizi-<br />

ter Regelanwendungen <strong>bei</strong>m Erlesen, kritisiert. Lese-Rechtschreibvorgänge auf der Ebene der<br />

neuronalen Verbindungen, also konnektionistische Modelle (vgl. Klicpera/Schabmann/<br />

Gasteiger-Klicpera 2007, S. 54f.), bilden Gegenentwürfe ab. Hier<strong>bei</strong> wird die Worterkennung<br />

allein als Funktion der Verknüpfungsstärken der im Gedächtnis gespeicherten orthographi-<br />

schen Einheiten sowie deren phonologischen Entsprechungen erklärt. Coltheart et al. beant-<br />

worten dies <strong>mit</strong> der Weiterentwicklung des Zwei-Wege-Modells in einem „Kaskadenmodell“<br />

(Coltheart et al. 1993, Coltheart et al. 2001), einer computertauglichen Version des Zwei-<br />

Wege-Modells, <strong>mit</strong> dem es gelang, lautes Lesen am Computer erfolgreich zu simulieren (vgl.<br />

ebd.), und das ihren Ausführungen nach mehr Erklärungswert <strong>für</strong> Lesevorgänge besitzt als<br />

konnektionistische Modelle.<br />

Schon relativ früh wurde versucht, das Erlernen des Lesens in unterscheidbare Stadien der<br />

Entwicklung zu gliedern. Meist wurden von den Autoren drei bis vier verschiedene Phasen<br />

unterschieden (vgl. Marsh et al. 1980). Explizit auf Informationsverar<strong>bei</strong>tungstheorien bezo-<br />

gene Stadienmodelle fanden besondere Beachtung (vgl. Ehri 1999) 9 . Bis das komplexe Re-<br />

gelwerk der Schriftsprache verinnerlicht ist und Lesen und Schreiben automatisiert gelingt,<br />

sobald ein Kind also die Verknüpfung <strong>bei</strong>m Lesen begriffen hat 10 und ein gewisser Automati-<br />

sierungsprozess beginnt, erfordert das Lesen- und Schreibenlernen die Kenntnis zahlreicher<br />

Regeln und ein jahrelanges Training. Zur Einteilung dieses Lernprozesses sei zur Verdeutli-<br />

chung auf eine Untergliederung in drei wesentliche Stufen von Frith (1985), die in Anlehnung<br />

an Marshs Theorie ein Drei-Phasen-Modell entwickelte, verwiesen.<br />

Das Modell nach Frith (s. Abb. 5) ist ein Modell, auf das in der deutschsprachigen Lesefor-<br />

schung immer wieder Bezug genommen wird (vgl. hierzu auch Klicpera/Schabmann/<br />

Gasteiger-Klicpera 2007, S. 25f.). Die Autorin unterscheidet drei Phasen: eine logographi-<br />

sche, eine alphabetische und eine orthographische Phase. Sowohl Lesefertigkeiten als auch<br />

das Wissen über die Rechtschreibung von Wörtern werden in drei Phasen erworben, die sich<br />

9 Nach Ehri wird zwischen einer voralphabetischen Phase und drei alphabetischen Phasen unterschieden. Mit<br />

bestimmten Modifikationen lassen sich die wesentlichen Phasen im Rahmen von Zwei-Wege-Modellen (vgl.<br />

auch Coltheart 1978) mühelos als sukzessive Verbesserung lexikalischer und nicht-lexikalischer Subsysteme<br />

interpretieren.<br />

10 also Grapheme in Laute übersetzen und koartikulieren kann.<br />

14


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

individuell unterschiedlich stark überlappen, doch das Lesen bildet da<strong>bei</strong> immer die Grundla-<br />

ge <strong>für</strong> bewusstes Schreiben 11 . In der logographischen Phase werden Wörter nur aufgrund glo-<br />

baler hervorstechender visueller Merkmale identifiziert (z.B. Anfangsbuchstaben), zunächst<br />

werden nur Teile der zur Verfügung stehenden Buchstaben-Informationen <strong>bei</strong>m Lesen beach-<br />

tet 12 . Beim Schreiben werden ebenso lediglich die <strong>für</strong> die Kinder hervorstechenden Wort-<br />

merkmale in Schrift umgesetzt. Die logographische Phase erscheint also als ein Anhäufen von<br />

Schreib- und Lesewörtern, auf die zurückgegriffen werden kann, während in der alphabeti-<br />

schen Phase die Lautstruktur des Wortes analysiert und umgesetzt wird. In dieser Phase wer-<br />

den die Wörter genauer und so<strong>mit</strong> buchstabenweise erlesen, was allerdings nur dann funktio-<br />

niert, wenn zwischen Buchstaben und entsprechenden Sprachlauten Beziehungen gebildet<br />

werden können. So kann das gelesene Wort durch das Aussprechen erkannt werden, was das<br />

selbstständige Lesen ermöglicht. Hier wird das Wissen über die Zuordnung von Buchstaben<br />

und Phonemen systematisch <strong>bei</strong>m Erlesen der Wörter eingesetzt. So<strong>mit</strong> findet der Erwerb von<br />

Wissen über Phonem-Graphem- und Graphem-Phonem-Korrespondenz statt und es werden<br />

Wörter <strong>mit</strong> irregulärer Graphem-Phonem-Zuordnung regularisiert. Unbekannte Wörter und<br />

„Nonwords“ können gelesen werden, wo<strong>bei</strong> die Silbenstruktur noch keine Rolle spielt. Oft<br />

werden in dieser Phase Wörter lautgetreu geschrieben, weil besondere Wortmerkmale noch<br />

nicht beachtet werden. Die orthographische Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass Kinder<br />

eine vollständige Repräsentation der Buchstabenfolge aufbauen. Dazu kommt eine Automati-<br />

sierung des phonologischen Rekodierens <strong>mit</strong> einer deutlichen Erhöhung der Lesegeschwin-<br />

digkeit. Die wortspezifischen Kenntnisse der einzelnen Wörter werden zunächst durch das<br />

Lesen gefestigt. Hierdurch kommt es zu einem unbewussten, dem orthographischen Lesen. In<br />

dieser Lesephase wird ein so genanntes orthographisches Lexikon aufgebaut, wodurch ein<br />

rascheres Worterkennen möglich wird. In diesem inneren Lexikon sind Buchstabenfolgen,<br />

Aussprache, ganze Wortstämme, Gemeinsamkeiten von Wortgruppen, die Bedeutung von<br />

Wörtern usw. gespeichert. Kann das Wort aus dem Lexikon abgerufen werden, muss es nicht<br />

mehr erlesen werden. Dieses innere Lexikon ist eine der Voraussetzungen <strong>für</strong> das Recht-<br />

schreiben. Das Kind baut sich also <strong>bei</strong>m Erlernen des Schreibens weiter sein inneres Lexikon<br />

auf, was wiederum den Schreibvorgang automatisiert und beschleunigt. Aus pädagogischer<br />

Sicht sind die Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen nun als Störungen in diesem<br />

komplexen Lernprozess anzusehen und nicht mehr als Krankheitssymptome.<br />

11 Zur ausführlicheren Betrachtung der verschiedenen Stufen der Schriftsprachentwicklung wird exemplarisch<br />

auf Dehn (1994, 2006), Valtin (1993, 1997) und Spitta (1997) verwiesen.<br />

12 wie bspw. Wortanfänge oder Wortlängen.<br />

15


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

Ein weiteres Modell <strong>für</strong> die Entwicklung des Lesens ist bspw. das Kompetenzentwicklungs-<br />

modell (vgl. Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, S. 26). Beim Versuch, das Pha-<br />

senmodell wie das von Frith (1985) auf den deutschen Sprachraum zu übertragen (z.B. Gün-<br />

ther 1986), ist vor allem die Annahme eines längeren logographischen Stadiums nicht unbe-<br />

stritten geblieben.<br />

Pugh et al. (2001) beschreiben drei unterschiedliche Verar<strong>bei</strong>tungskreise: den dorsalen Zirkel<br />

(temporo-parietal), den ventralen Zirkel (occipito-temporal) und die anteriore Region (Aus-<br />

führlicheres hierzu: vgl. Hofmann/Sasse 2005, S. 92). Auch hier wird angenommen, dass die<br />

Repräsentation eines Wortes in einer Art innerem Lexikon gespeichert wird. Anhand von<br />

Merkmalen kann das Wort zukünftig zunehmend automatisiert erkannt werden. Diese annä-<br />

hernd automatisierte Verar<strong>bei</strong>tung, wie sie <strong>bei</strong> geübten und erfahrenen Lesern beobachtet<br />

werden kann, erfolgt nicht mehr im dorsalen, sondern im ventralen Verar<strong>bei</strong>tungszirkel.<br />

Shaywitz et al. (2002) konnten den Bedeutungsgewinn der Verar<strong>bei</strong>tung im ventralen Zirkel,<br />

der Lesefähigkeit von <strong>Kindern</strong> <strong>mit</strong> normaler Leseentwicklung entsprechend, nachweisen. Im<br />

dorsalen Zirkel werden ungeläufige Wörter auf phonologischer Basis erlesen 13 , während ge-<br />

läufige Wörter im ventralen Zirkel verar<strong>bei</strong>tet und erkannt werden. Für die zunehmende Au-<br />

tomatisierung des Worterkennens wird also der ventrale Zirkel aktiviert. So<strong>mit</strong> verschiebt sich<br />

<strong>mit</strong> steigenden Lesefertigkeiten der Aktivierungsschwerpunkt vom dorsalen hin zum ventra-<br />

len Zirkel. Grundlegende Dekodierungs- und Analysefähigkeiten scheinen auf einer intakten<br />

Organisation des dorsalen Verar<strong>bei</strong>tungszirkels aufzubauen wie auch davon abzuhängen (vgl.<br />

Shaywitz et al. 2002). Im Gegensatz zum dorsalen Zirkel, in dessen Zentrum die Lautverar-<br />

<strong>bei</strong>tung steht, ist im ventralen Zirkel die visuelle Verar<strong>bei</strong>tung von zentraler Bedeutung. Diese<br />

wird als sehr schnelle, gedächtnisbasierte Wortidentifikation auf visueller Grundlage be-<br />

schrieben, die das Aufmerksamkeitspotential nur gering belastet (vgl. Pugh et al. 2001, S.<br />

482f.). Hier<strong>bei</strong> wird die Struktur eines visuell aufgenommenen Stimulus den im Gedächtnis<br />

verfügbaren Strukturen angeglichen; ein Verar<strong>bei</strong>tungsmechanismus, den der kompetente<br />

Leser nützt.<br />

Wie <strong>für</strong> das Lesen wurde auch <strong>für</strong> das Rechtschreiben von verschiedenen Autoren schwer-<br />

punktmäßig eine Entwicklung in unterscheidbaren Phasen angenommen (vgl. Marsh et al.<br />

1980; Frith 1985; Dehn 1984). Jedoch blieb die Annahme von deutlich unterscheidbaren Pha-<br />

sen sowohl <strong>bei</strong>m Lesen als auch <strong>bei</strong>m Rechtschreiben nicht kritiklos, es stellen andere Auto-<br />

ren diese serielle Abfolge der Stufen in Frage und postulieren stattdessen eine parallele, sich<br />

13 Leseanfänger erlesen Wörter Buchstabe <strong>für</strong> Buchstabe und aktivieren dazu den dorsalen Zirkel.<br />

16


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

wechselseitig beeinflussende Entwicklung der alphabetischen und orthographischen Strate-<br />

gien (vgl. hierzu Lennox/Siegel 1998; Martinet/Valdois/Fayol 2004). Martinet et al. (2004)<br />

schließen aus ihrer Untersuchung, dass auch schon in diesem frühen Stadium des Schrift-<br />

spracherwerbs zumindest Spuren orthographischer Repräsentationen eingespeichert werden<br />

und sich so<strong>mit</strong> lexikalisches Wissen und Wissen über die Graphem-Phonem-<br />

Korrespondenzen simultan entwickeln. Die Annahme von deutlich unterscheidbaren Phasen<br />

ist allerdings auch <strong>bei</strong>m Rechtschreiben nicht unwidersprochen geblieben (z.B. Lennox/Siegel<br />

1998). Speziell im deutschsprachigen Raum widersprechen die Ergebnisse z.T. den Erwartun-<br />

gen, die im Rahmen von Phasenmodellen über die Entwicklung des Rechtschreibens formu-<br />

liert wurden.<br />

Im Vergleich zum Lesenlernen wird das Rechtschreiben durch zwei Sachverhalte erschwert:<br />

Für ein gehörtes Phonem ist die Auswahl an Graphemverbindungen größer als die Auswahl<br />

der Phoneme <strong>für</strong> ein Graphem <strong>bei</strong>m Lesen. Zudem ist das zweite tragende Prinzip unserer<br />

Sprache, das Stammerhaltungsprinzip, zwar durch die erleichterte Wiedererkennung von<br />

Wörtern ähnlicher Bedeutung leserfreundlich, jedoch ist es nicht rechtschreibfreundlich, da es<br />

keine durchgängig gleiche Schreibung <strong>bei</strong> gleich klingenden Lauten erlaubt. Daher verwun-<br />

dert es nicht, dass Kinder normalerweise schneller kompetent lesen als sie vergleichsweise<br />

rechtschreiben 14 . Im Laufe der theoretischen Diskussion wurde eine differenziertere Ansicht<br />

der Entwicklungsmodelle gewonnen, der auch in der Praxis Bedeutung zukommt. Zum einen<br />

ist davon auszugehen, dass die genannten Stadien nicht in sich abgeschlossen und aufeinander<br />

aufbauend durchlaufen werden, da – wie trotz zeitlicher Vorordnung der alphabetischen Stra-<br />

tegie 15 anzunehmen ist – doch je nach Situation und je nach Schwierigkeit des Wortmaterials<br />

auch <strong>bei</strong> primär orthographisch orientierter Zugriffsform die alphabetische Zugriffweise die<br />

grundlegende und jederzeit verfügbare bleibt. Zum anderen hat sich <strong>mit</strong>tlerweile das Missver-<br />

ständnis, dass sich die schriftsprachliche Entwicklung <strong>bei</strong>m einzelnen Kind völlig selbststän-<br />

dig vollziehen würde, relativiert. Die Erkenntnis, dass jede Art von Lernen ein spezifischer<br />

Prozess ist, bedeutet nicht, dass ein anregungsreicher und leistungsstimulierender Unterricht<br />

sowie die Konfrontation <strong>mit</strong> der normgerechten Schriftsprache nicht ebenso wichtig wäre, um<br />

die kindliche Entwicklung anzuregen und voranzutreiben.<br />

„Pädagogik ist derzeit so konzipiert, dass Kinder und Jugendliche auf Anforderungen und<br />

gesellschaftliche Bedingungen vorbereitet werden sollen, die sich heute erst in Ansätzen ab-<br />

14 An dieser Stelle sei auf weiterführende Literatur verwiesen (vgl. hierzu u.a. Kirschhock 2004;<br />

Richards/Berninger et al. 2005). Hier werden auch die <strong>für</strong> das Lesen- und Schreibenlernen so wichtigen<br />

Voraussetzungen der visuellen, sprachlichen sowie auditiv-artikulatorischen Wahrnehmung dargestellt.<br />

15 <strong>bei</strong> Scheerer-Neumann: phonemische Strategie.<br />

17


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

zeichnen.“ (Hofmann/Sasse 2005, S. 90). Die Öffnung der Pädagogik <strong>für</strong> Erkenntnisse aus der<br />

Neurologie und Gehirnforschung scheint angesichts dieses Bewusstseins unabdingbar zu sein.<br />

Eine solche Öffnung kündigt die Beobachtung der neurowissenschaftlichen Forschung <strong>mit</strong><br />

ihren Fortschritten und Ergebnissen an. Hier anknüpfend wird die neurowissenschaftliche<br />

Forschung auf ihren möglichen Beitrag zur Unterstützung schulischen Lernens überprüft. Die<br />

Kompetenz <strong>für</strong> kindliches Lernen ohne Einschränkung verbleibt jedoch <strong>bei</strong> Pädagogen und<br />

Didaktikern (vgl. a.a.O., S. 91). Pädagogen ist seit Jahren bekannt, dass eine gut ausgebildete<br />

phonologische Bewusstheit eine unabdingbare Prämisse <strong>für</strong> kompetenten Schriftspracherwerb<br />

ist. In mehreren Untersuchungen zur Identifikation von sog. Risikokindern konnte belegt<br />

werden, dass phonologische Bewusstheit im Verlauf des ersten Schuljahres von <strong>Kindern</strong> er-<br />

worben werden muss, wenn sie nicht schon <strong>bei</strong> Schuleintritt vorhanden ist. Aus neurologi-<br />

scher Sicht ist phonologische Bewusstheit das Verar<strong>bei</strong>tungsergebnis eines intakten dorsalen<br />

Zirkels, was aus pädagogischer Sicht eine erworbene Sprachkompetenz bedeutet. Verbindet<br />

man Erkenntnisse aus Gehirnforschung und Pädagogik, so entsprechen die <strong>für</strong> ausgeprägte<br />

phonologische Bewusstheit erforderlichen Fähigkeiten den Mechanismen eines intakten dor-<br />

salen Verar<strong>bei</strong>tungszirkels.<br />

2.2 Wissenschaftstheoretische Überlegung zum Konzept der<br />

phonologischen Bewusstheit<br />

Zu Beginn des Schriftspracherwerbs können Kinder lediglich <strong>mit</strong> groben lautlichen Struktu-<br />

ren unserer Sprache umgehen 16 . Erst <strong>mit</strong> dem systematischen Schriftspracherwerb bilden sich<br />

die Möglichkeiten aus, <strong>mit</strong> einzelnen Lauten der gesprochenen Sprache umzugehen, sie zu<br />

verbinden bzw. voneinander zu trennen. Der Begriff „Phonologie“ stammt aus der Sprachwis-<br />

senschaft und beschreibt ein Teilgebiet, das sich <strong>mit</strong> der Lehre von der Funktion der Sprach-<br />

laute beschäftigt (vgl. hierzu Duden 2007, S. 1283). In der Literatur wird die phonologische<br />

Bewusstheit nicht einheitlich definiert und gebraucht. „Je nach Art der inhaltlichen Ausrich-<br />

tung und Schwerpunktsetzung lassen sich <strong>bei</strong> verschiedenen Autoren unterschiedliche Defini-<br />

tionen des Konstruktes […] finden“ (Jansen 1992, S. 11). Von einigen Forschern wird der<br />

Begriff <strong>mit</strong> Phonembewusstheit gleichgesetzt, synonym wird auch von phonemischer Be-<br />

wusstheit gesprochen (vgl. hierzu z.B. Tunmer/Rohl 1991). In diesem Fall wird phonologi-<br />

sche Bewusstheit als die Einsicht in die phonematische Sprachstruktur und die Fähigkeit,<br />

Phoneme zu erkennen und kontrolliert <strong>mit</strong> ihnen zu ar<strong>bei</strong>ten, angesehen. Die Mehrzahl der<br />

16 Silben, Anlaute und Reime.<br />

18


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

Autoren definiert das Konstrukt breiter. Häufiger wird der Begriff als Sammelbegriff verwen-<br />

det, unter dem verschiedene Komponenten oder Levels der phonologischen Bewusstheit sub-<br />

sumiert werden (vgl. hierzu z.B. Goswami/Bryant 1990; Jansen 1992 u.a.). Gombert (1992)<br />

definiert metaphonological ability als die Fähigkeit, verschiedene phonologische Einheiten<br />

und Sprachäußerungen zu erkennen und diese Einheiten intentional zu manipulieren. Er be-<br />

tont, dass dieser Bereich der Sprachbewusstheit 17 heterogen ist. Bentin (1991) unterscheidet<br />

zwischen früher phonologischer Bewusstheit und später phonemischer Bewusstheit. Auch<br />

Morais (1991) differenziert zwei Formen von phonologischer Bewusstheit, die holistische und<br />

die analytische 18 .<br />

Dieser kurze Überblick über die phonologische Bewusstheit macht deutlich, dass es sich um<br />

kein einheitliches Konstrukt handelt, sondern dass darunter vielmehr unterschiedliche meta-<br />

phonologische Fähigkeiten bzw. Leistungen in Bezug auf größere und kleinere Spracheinhei-<br />

ten verstanden und gefasst werden. In Übereinstimmung <strong>mit</strong> anderen Forschern (Goswami/<br />

Bryant 1990; Jansen 1992; Küspert 1998) wird hier eine weitere Definition zugrunde gelegt.<br />

Phonologische Bewusstheit umfasst demnach die grundlegende Fähigkeit, vom Inhalt sprach-<br />

licher Äußerungen abzusehen und sich den formalen Merkmalen zuzuwenden, weiters die<br />

kognitive Einsicht, dass Wörter aus unterschiedlichen phonologischen Einheiten aufgebaut<br />

sind, sowie die Fähigkeit, lautstrukturelle Einheiten unterhalb der Bedeutungsebene zu erken-<br />

nen und da<strong>mit</strong> intentional und kontrolliert zu operieren. Einfach ausgedrückt ist der Begriff<br />

phonologische Bewusstheit als die Fähigkeit, die einzelnen Segmente der Sprache zu erken-<br />

nen und wahrzunehmen, also den Einblick in die Lautstruktur der gesprochenen Sprache zu<br />

haben, zu bezeichnen.<br />

Bereits in den 1990er Jahren wurde das Konzept der phonologischen Bewusstheit präsentiert<br />

(Skowronek/Marx 1989), als zentrales Konstrukt der Schriftspracherwerbsforschung in nahe-<br />

zu allen Studien im Zusammenhang <strong>mit</strong> LRS und <strong>Legasthenie</strong> untersucht und in verschiede-<br />

nen Varianten erfasst. Es wurde festgestellt, dass selbst <strong>bei</strong> den Prozessen des Lesens und<br />

Schreibens, die der Nutzung des Langzeit- und Kurzzeitgedächtnisses bedürfen, phonologi-<br />

sche bzw. phonetische Aspekte von Bedeutung sind. Deutlich wurde aber auch, dass Lesen<br />

und Schreiben einerseits gewisse Qualitäten in der phonologischen und phonetischen Verar-<br />

<strong>bei</strong>tung der gesprochenen Sprache erfordert, andererseits, dass Schriftsprachnutzung in hohem<br />

17 Sprachbewusstheit wird unterschiedlich definiert und je nach Forschungsschwerpunkt unter verschiedenen<br />

Aspekten betrachtet. Da eine tiefergehende Auslegung den Rahmen dieser Ar<strong>bei</strong>t überschreiten würde, wird u.a.<br />

auf Januschek (1981), Gombert (1992), Blässer (1994), Nickel (2006) verwiesen.<br />

18 Holistische Bewusstheit bezeichnet u.a. die Beurteilung von Wortbetonungen. Analytische Bewusstheit<br />

umfasst die Fähigkeit, lautstrukturelle Einheiten wie Silben als konstituierende Elemente sprachlicher Äußerung<br />

zu isolieren und zu analysieren.<br />

19


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

Maße diese Prozesse erst entwickelt und dann verfeinert und optimiert. Da<strong>mit</strong> bietet sich das<br />

Konstrukt der phonologischen Bewusstheit als ideale Basis <strong>für</strong> die Prädiktion und Prävention<br />

von Problemen im frühen Schriftspracherwerb an. Phonologische Bewusstheit kann darüber<br />

hinaus hervorragend genutzt werden, um den Übergang von der Vorschriftlichkeit zur Schrift-<br />

lichkeit konzeptionell zu fassen (Marx 1997; Scheerer-Neumann 1997; Schneider 1997).<br />

In den letzten Jahren wurde das Thema Lesen- und Schreibenlernen in vielen Ländern wissen-<br />

schaftlich intensiv erforscht. Zusätzlich zur Erkenntnis, dass <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenler-<br />

nen auf auditive, visuelle, motorische und sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten zurückge-<br />

griffen werden muss, identifizierte die neuere Forschung weit spezifischere Vorhersagemerk-<br />

male, die unter dem Oberbegriff phonologische Informationsverar<strong>bei</strong>tung zusammengefasst<br />

wurden. Da<strong>bei</strong> wurden neben der phonologischen Bewusstheit weiterhin die Komponenten<br />

des sprachgebundenen Ar<strong>bei</strong>tsgedächtnisses und der verbalen Informationsverar<strong>bei</strong>tungsge-<br />

schwindigkeit als theoretisch und praktisch bedeutsam angenommen (vgl. Marx 1997;<br />

Schneider 1989, 2004; Wagner/Torgesen 1987). Inzwischen hat sich in einer Reihe von Lang-<br />

zeitstudien bestätigen lassen, dass Merkmale der im Kindergartenalter erfassten phonologi-<br />

schen (sprachlichen) Bewusstheit im engeren und weiteren Sinne die späteren Lese- und<br />

Rechtschreibleistungen in der Grundschule bedeutsam vorhersagten (z.B. Landerl/Wimmer<br />

1994; Schneider/Näslund 1993). Die beeindruckendsten Ergebnisse beziehen sich auf die Fä-<br />

higkeiten und Fertigkeiten, die <strong>für</strong> erfolgreiches Lesen- und Schreibenlernen Voraussetzungen<br />

sind, die so genannten Vorläufermerkmale des Schriftspracherwerbs. Die phonologische Be-<br />

wusstheit hat sich als wichtigstes spezifisches Vorläufermerkmal des Schriftspracherwerbs<br />

erwiesen. Die Vorläuferhypothese hat durch Längsschnittstudien (vgl. hierzu aus dem eng-<br />

lischsprachigen Raum z.B. Wagner/Torgesen 1987; Tunmer/Rohl 1991; aus dem deutsch-<br />

sprachigen Raum z.B. Landerl/Wimmer 1994), aufschlussreichere Trainingsstudien (vgl.<br />

hierzu z.B. Blachman 1997) sowie vergleichende Studien (vgl. hierzu z.B. Landerl 1996) <strong>mit</strong><br />

leseschwachen und leseunauffälligen <strong>Kindern</strong> empirische Unterstützung bekommen. Die Stu-<br />

die von Wimmer und Hartl (1991) ist ein eindrucksvoller Beleg da<strong>für</strong>, dass auch <strong>bei</strong> lese-<br />

rechtschreibschwachen <strong>Kindern</strong> der zweiten Klasse die basalen Fähigkeiten der phonologi-<br />

schen Bewusstheit so weit ausgebildet sind, dass deren Förderung keine positive Wirkung<br />

mehr zeigt. An dieser Stelle sei ergänzend die Konsequenzhypothese erwähnt, wonach phono-<br />

logische Bewusstheit erst durch die Einführung des Kindes in ein alphabetisches Schriftsys-<br />

tem entsteht und als bloßes Fehlerprodukt des schulisch gesteuerten Schriftspracherwerbs<br />

angesehen wird (vgl. hierzu Günther 1998). Laut Interaktionshypothese lässt sich der Zusam-<br />

20


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

menhang zwischen phonologischer Bewusstheit und Schriftspracherwerb am besten als rezip-<br />

roke Ursächlichkeit beschreiben (vgl. hierzu Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995) 19 .<br />

Insbesondere im deutschsprachigen Raum wurden zahlreiche Studien durchgeführt, <strong>mit</strong> denen<br />

die Beeinflussbarkeit der phonologischen Bewusstheit in Vorschule und Schule geprüft wur-<br />

de. Schneider et al. konnten <strong>mit</strong> der Würzburger Längsschnittstudie beeindruckende Belege<br />

<strong>für</strong> die Wirksamkeit vorschulischer Prävention, die die Verbesserung der phonologischen<br />

Bewusstheit zum Ziel hat, liefern (Schneider et al. 1994, 1997, 1998, 2000). Darüber hinaus<br />

zeigen die Studien von Blumenstock (1979) und Mannhaupt (1992), dass die Unterstützung<br />

phonologischer Bewusstheit zu Beginn des Schriftspracherwerbs zu positiven Effekten <strong>für</strong> das<br />

kindliche Lernen führt. Allerdings sollten die Inhalte dieser schulischen Förderung bereits den<br />

Umgang <strong>mit</strong> Schriftsprache <strong>bei</strong>nhalten und höhere Formen phonologischer Bewusstheit 20 in<br />

den Vordergrund stellen.<br />

Die phonologische Bewusstheit stellt nur einen wesentlichen Bereich der sprachlich-kommu-<br />

nikativen Entwicklung sowie des Lesen- und Schreibenlernens dar, als eine unabhängige<br />

Komponente hat sie aber in der Spracherwerbsforschung besondere Beachtung gefunden.<br />

Nach engem Begriffsverständnis kann die phonologische Entwicklung als die Aneignung des<br />

nicht direkt beobachtbaren, abstrakten phonologischen Systems der Muttersprache angesehen<br />

werden. Wenn es um das Lesen- und Schreibenlernen geht, stellt die phonologische Bewusst-<br />

heit hohe Anforderungen. „Im Rahmen des Schriftspracherwerbs müssen aus der gesproche-<br />

nen Sprache linguistische Einheiten ausgebildet werden, die aus dem kontinuierlichen Verlauf<br />

des akustischen Ereignisses nicht direkt gewonnen werden können“ (Trossbach-Neuner 1992,<br />

S. 98). Beim Erwerb von alphabetischen Schriftsystemen kommt der Ausgliederung von Pho-<br />

nemen und ihrer Zuordnung zu Graphemen eine zentrale Bedeutung zu. Für das erfolgreiche<br />

Lesen- und Schreibenlernen ist es aber auch wichtig, dass die Kinder Beziehungen zwischen<br />

größeren Einheiten der gesprochenen Sprache und der geschriebenen Sprache erkennen ler-<br />

nen. Hier<strong>bei</strong> handelt es sich um die formale Struktur, um den lautlichen Aufbau, den Klang<br />

eines Wortes. Wörter können in Silben und einzelne Phoneme zergliedert werden, was <strong>für</strong> den<br />

geübten Leser eine mehr oder weniger triviale Einsicht ist, ist <strong>für</strong> beginnende Leser keines-<br />

wegs selbstverständlich. Das höchste Ziel der phonologischen Bewusstheit ist das Heraushö-<br />

ren einzelner Laute aus einem Wort. Ein Kind verfügt über phonologische Bewusstheit, wenn<br />

19 Die vorliegende Ar<strong>bei</strong>t schließt sich der Vorläuferhypothese an. Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinn<br />

(Reimpaare erkennen, Silben zusammensetzen, Silben segmentieren) besteht demnach schon vor dem Einführen<br />

des Kindes in ein alphabetisches Schriftsystem, während phonologische Bewusstheit im engeren Sinn (An-/ Endlaute<br />

vergleichen, Phonemsegmentierung, Laute verbinden/Synthese) durch das Einführen in ein alphabetisches<br />

Schriftsystem entwickelt, vertieft und optimiert wird.<br />

20 Lautanalyse und Lautsynthese.<br />

21


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

es ein Gespür <strong>für</strong> den Klang der gesprochenen Sprache entwickelt hat. Da<strong>bei</strong> geht es nicht nur<br />

darum, dass es entdeckt, dass einer Gruppe gesprochener Laute ein bestimmtes Phonem zuzu-<br />

ordnen ist. Das Kind muss auch lernen, <strong>mit</strong> Phonemen als abstrakte Spracheinheiten analy-<br />

tisch und synthetisch umzugehen. Es muss also das Verständnis und die Anwendung des al-<br />

phabetischen Prinzips implizieren und sich der Phoneme bewusst werden. Es zeigt sich, dass<br />

es sich da<strong>bei</strong> um eine relativ schwierige Entwicklungsaufgabe handelt, die von manchen Kin-<br />

dern nur <strong>mit</strong> Mühe zu bewältigen ist. Allerdings scheint das Rechtschreiben stärker von der<br />

phonologischen Bewusstheit abhängig zu sein als das Lesen. Sogar in höheren Klassen konnte<br />

<strong>bei</strong> schwachen Rechtschreibern ein Defizit in den phonologischen Kompetenzen nachgewie-<br />

sen werden (Marx et al. 2001).<br />

Für das Ausbilden einer adäquaten phonologischen Bewusstheit ist neben dem Aspekt der<br />

Entwicklung auch die Regelmäßigkeit des jeweiligen schriftsprachlichen Systems von we-<br />

sentlicher Bedeutung. Dies gilt vor allem <strong>für</strong> die erst spät herausgebildeten Fertigkeiten. Pho-<br />

nologische Bewusstheit besteht also aus vielen Teilfertigkeiten und ist keineswegs eindimen-<br />

sional, sodass man heute wohl davon ausgehen muss, dass manche dieser Teilfertigkeiten <strong>bei</strong><br />

vielen <strong>Kindern</strong> schon vor dem Erstleseunterricht recht gut entwickelt sind, andere sich erst<br />

<strong>mit</strong> dem Erlernen der Schriftsprache herausbilden. So fällt es jüngeren <strong>Kindern</strong> im Allgemei-<br />

nen leichter, in Silben zu segmentieren als in Phoneme (vgl. dazu Goswami 2000a). Im Ge-<br />

gensatz hierzu steht das Sprachverständnis, das keinesfalls <strong>mit</strong> der phonologischen Bewusst-<br />

heit gleichgesetzt werden darf, da sich dies auf die Bedeutung eines Wortes oder einer Aussa-<br />

ge, und nicht auf dessen formale Struktur, bezieht. In der kindlichen Sprachentwicklung geht<br />

es darum, die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen zu kennen, um verstehen und sich<br />

<strong>mit</strong>teilen zu können. Die phonologische Bewusstheit eines Kindes kann man bereits im Vor-<br />

schulalter testen lassen und da<strong>bei</strong> feststellen, ob <strong>für</strong> dieses Kind eine positive Entwicklung <strong>für</strong><br />

das spätere Lesen- und Schreibenlernen zu prognostizieren ist oder ob etwa das Risiko einer<br />

späteren <strong>Legasthenie</strong> besteht. Sollte dieser vorschulische Test ergeben, dass <strong>für</strong> das Kind das<br />

Risiko einer <strong>Legasthenie</strong> besteht, sollte es durch eine gezielte spielerische Förderung vor der<br />

Einschulung vor diesem Schicksal bewahrt werden.<br />

Innerhalb der phonologischen Bewusstheit gibt es die alphabetische Stufe des Lesen- und<br />

Schreibenlernens, <strong>bei</strong> der das Kind bereits festgestellt hat, dass jeder Laut einen zugehörigen<br />

Buchstaben hat und umgekehrt. Auf dieser Stufe schreibt das Kind, indem es das Gehörte in<br />

die einzelnen Laute zerlegt und dann jedem Laut den passenden Buchstaben zuordnet. Diese<br />

Fähigkeiten sind <strong>für</strong> das spätere Lesen- und Schreibenlernen von höchster Bedeutung.<br />

Schon ab dem Alter von etwa drei Jahren setzen sich Kinder <strong>mit</strong> dem Klang der gesprochenen<br />

Sprache auseinander. So können sie bspw. reimen bzw. Reime erkennen (Mutter – Butter)<br />

22


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

und bald darauf Wörter in Silben zerlegen – z.B. <strong>bei</strong>m Singen die Silben der Wörter<br />

<strong>mit</strong>klaschen (E-le-fant) – und schließlich sogar die einzelnen Laute innerhalb eines Wortes<br />

erkennen. Im Kindergarten wird ganz neben<strong>bei</strong> spielerisch die Fähigkeit, <strong>mit</strong> Reimen und<br />

Silben umzugehen, geübt, bspw. durch Nachsprechen und Einüben von Liedertexten und<br />

kleinen Gedichten sowie durch Singen und rhythmisches Mitklatschen. Die Kinder kennen<br />

einzelne Kinderreime und können oft auch schon feststellen, ob zwei Wörter am Ende gleich<br />

klingen, sich also reimen. Dieses Verständnis von Silben und Reimen bildet die grundlegende<br />

Eigenschaft, das Fundament <strong>für</strong> das spätere Erkennen der einzelnen Laute eines Wortes.<br />

Jedoch wird im Vorschulalter nicht nur das Hören sowie das Analysieren des Gehörten, also<br />

der auditive Kanal, geübt, sondern auch im visuellen und motorischen Bereich, das Sehen und<br />

Bewegen betreffend, entwickelt sich in dieser Phase vieles, was <strong>für</strong> das spätere Lesen- und<br />

Schreibenlernen grundlegend ist (vgl. Küspert 2005, S. 43f.). Kindergartenkinder bilden ihre<br />

visuelle Wahrnehmung durch das Betrachten von Bildern aus, während sie sich auf bestimmte<br />

Details konzentrieren und <strong>mit</strong> den Augen Linien und Formen nachfahren. Durch Malen und<br />

Basteln wird unbewusst die Feinmotorik geübt. Außerdem haben Kinder großes Interesse<br />

daran, ihren eigenen Namen schreiben zu können, sie ahmen das Schreiben von Erwachsenen<br />

nach, indem sie Nachrichten und „Botschaften“ auf Papiere kritzeln.<br />

In der Schule wird phonologische Bewusstheit <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen ver<strong>mit</strong>telt.<br />

Für etliche Kinder ist jedoch die da<strong>für</strong> aufgewendete Zeit nicht lang genug und die Übungen<br />

sind nicht intensiv genug, um stabile Erkenntnisse über das Zerlegen der Sprache und das<br />

Zuordnen der entsprechenden Buchstaben erwerben zu können. So<strong>mit</strong> sind Probleme <strong>bei</strong>m<br />

Lesen- und Schreibenlernen vorprogrammiert. Die deutsche Schriftsprache ist eine alphabeti-<br />

sche Sprache, d.h., Laute werden <strong>bei</strong>m Schreiben in entsprechende Buchstaben transkribiert<br />

und auch umgekehrt. Die deutsche Schriftsprache ist sehr lautgetreu, es gibt also einen engen<br />

Zusammenhang zwischen den Lauten und den zugehörigen Buchstaben. Demzufolge werden<br />

Wörter, die ähnlich geschrieben werden, auch ähnlich ausgesprochen. Neben den alphabeti-<br />

schen Schriftsystemen gibt es noch andere Schriftsysteme, z.B. die logographische Schrift.<br />

Ein Beispiel hier<strong>für</strong> ist das Chinesische. Hier werden ganze Wörter oder Ausdrücke durch<br />

Bildzeichen repräsentiert, eine <strong>Legasthenie</strong> ist in diesem Schriftsystem nicht bekannt (vgl.<br />

Küspert 2005, S. 84).<br />

Kinder <strong>mit</strong> phonologischen Schwächen und nicht altersgemäßen metaphonologischen Fähig-<br />

keiten zeigen in der Schule frühe Probleme <strong>bei</strong> der alphabetischen Erwerbsphase, die der ent-<br />

scheidende Schritt auf dem Weg zum erfolgreichen Lesen- und Schreibenlernen ist. Phonolo-<br />

gische und metaphonologische Defizite erschweren nicht nur die Aneignung von Wissen über<br />

Graphem-Phonem-Korrespondenzen, sondern sie haben auch ungünstige Auswirkungen auf<br />

23


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

die Anwendung dieses Wissens <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen im Sinne der alphabeti-<br />

schen Strategie. Leseschwache Kinder haben schon im Vorschulalter relevante metaphonolo-<br />

gische Schwierigkeiten und sind dadurch nur unzureichend auf den Schriftspracherwerb in der<br />

Schule vorbereitet.<br />

Eine weitere Dimension, die oft betroffen ist, ist das Leseverständnis. Eine effiziente Worter-<br />

kennung ist wesentliche Voraussetzung <strong>für</strong> das Satz- und Textverständnis. Eine mühsame und<br />

ineffiziente Worterkennung aufgrund von phonologischen und metaphonologischen Schwie-<br />

rigkeiten wird aber gerade als das zentrale Problem von vielen lese-rechtschreibschwachen<br />

<strong>Kindern</strong> gesehen. Die mühsame Worterkennung hat negative Effekte auf das Textverständnis,<br />

welches durch anderweitige Sprachverar<strong>bei</strong>tungsschwächen zusätzlich beeinträchtigt werden<br />

kann (vgl. Catts 1989). Diese Kinder können durch die Auseinandersetzung <strong>mit</strong> der Schrift<br />

allein – d.h. ohne spezielle Förderung – ihren Rückstand in der phonologischen Bewusstheit<br />

nicht aufholen. In einem Erstleseunterricht, in dem phonemanalytischen Übungen ausreichend<br />

Raum gewidmet wird und Graphem-Phonem-Korrespondenzen systematisch eingeführt wer-<br />

den, können lese-rechtschreibschwache Kinder zwar beachtliche metaphonologische Fort-<br />

schritte verzeichnen, ihre phonemanalytischen Leistungen aber bleiben von Anfang an deut-<br />

lich hinter jenen von durchschnittlich und gut lesenden <strong>Kindern</strong> zurück. Ohne spezifische<br />

Förderung hält der Rückstand von schriftsprachgestörten <strong>Kindern</strong> bis in die höheren Klassen<br />

an.<br />

Aus einem Risikokind <strong>für</strong> <strong>Legasthenie</strong> muss kein Schulversager werden. Ein wissenschaftlich<br />

überprüftes Trainingsprogramm <strong>für</strong> den Vorschulbereich hilft, die Defizite aufzuholen, und es<br />

gibt dem Kind die Chance zu erfolgreichem Lesen- und Schreibenlernen. Küspert und Schnei-<br />

der (1999) konnten in Langzeitstudien nachweisen, dass ein bereits im Vorschulalter durchge-<br />

führtes, gezieltes Training auditiver Teilfunktionen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens<br />

einer LRS <strong>bei</strong> Risikokindern um bis zu 80% mindern kann. Daher sollte eine entsprechende<br />

Störung möglichst rasch behandelt werden.<br />

2.3 Veränderte Schriftsprachentwicklung legasthener Kinder<br />

Aus pädagogischer Sicht ist es üblicherweise belanglos, welche Funktion in welcher Gehirn-<br />

region angesiedelt ist, doch sind <strong>für</strong> Pädagogen jene Untersuchungen, die Gehirnaktivitäten<br />

<strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb aufklären, interessant. So zeigen verschiedene Untersuchungen<br />

(vgl. u.a. Shaywitz et al. 2002; Pugh et al. 2000; Rumsey et al. 1997a), dass der Lesevorgang<br />

aus mehreren komplexen Verar<strong>bei</strong>tungsbereichen besteht, „die visuelle Stimuli, Buchstaben-<br />

Laut-Beziehung, Worterkennung, Wortbedeutung und weitere <strong>für</strong> den Lesevorgang bedeutsa-<br />

24


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

me Funktionen umfassen“ (Hofmann/Sasse 2005, S. 92), und dass <strong>bei</strong>m Lesevorgang ver-<br />

schiedene Verar<strong>bei</strong>tungskreise <strong>für</strong> verschiedene Arten der Verar<strong>bei</strong>tung aktiviert werden (vgl.<br />

Eden/Zeffiro 1998). Die Aktivitäten bestimmter Gehirnareale während des Lesens können <strong>mit</strong><br />

bildgebenden Verfahren gemessen werden, wo<strong>bei</strong> <strong>bei</strong> <strong>Kindern</strong>, <strong>bei</strong> denen <strong>Legasthenie</strong> bzw.<br />

LRS diagnostiziert worden war, ein verändertes Gehirnaktivitätsmuster <strong>bei</strong>m Lesen festge-<br />

stellt wurde. Jedoch betonen amerikanische Forscher, dass <strong>Legasthenie</strong> kein neurobiologi-<br />

sches Schicksal ist, sondern Umweltfaktoren eine entscheidende Bedeutung zukommt und<br />

sich neuronale Aktivierungsauffälligkeiten <strong>bei</strong> einem Teil der Kinder nach angemessener<br />

Förderung sogar wieder normalisieren können, was <strong>mit</strong> bildgebenden Verfahren nachgewie-<br />

sen ist (vgl. Berninger/Richards 2002).<br />

Das Phänomen des gestörten Schriftspracherwerbs wird seit mehr als 100 Jahren wissen-<br />

schaftlich untersucht, wo<strong>bei</strong> der Ertrag erst in den letzten drei Jahrzehnten bedeutsam scheint.<br />

Bis in die 70er Jahre hinein dominierte in der Lese-Rechtschreibforschung die Vorstellung,<br />

dass psychologische Grundfaktoren die schriftsprachlichen Fertigkeiten steuern würden (vgl.<br />

Kirschhock 2004, S. 24). Das Lesen und Schreiben wurde als „eine Hierarchie von Teilleis-<br />

tungen gesehen, die additiv aufeinander aufbauen“ (ebd.). So<strong>mit</strong> wurde ein Versagen im Le-<br />

sen bzw. Rechtschreiben auf eine Funktionsschwäche, also auf schriftsprachunabhängige Be-<br />

reiche im kognitiven Bereich 21 zurückgeführt.<br />

Ein entscheidender Fortschritt der Forschung bestand darin, die frühe Phase des normalen<br />

Schriftspracherwerbs genauer zu untersuchen und da<strong>bei</strong> nicht länger von der Annahme, der<br />

Schuleintritt stelle erst den Beginn des Schriftspracherwerbs dar, auszugehen. Daraufhin kon-<br />

zentrierte sich die psychologische Forschung insbesondere auf die Identifizierung so genann-<br />

ter Vorläufermerkmale oder Teilfertigkeiten, die <strong>für</strong> den Erfolg eines Kindes <strong>bei</strong>m Lesen- und<br />

Schreibenlernen von spezifischer Relevanz sind und sich offensichtlich schon im Vorschulal-<br />

ter ausbilden (vgl. Blässer 1994). Nachdem in den letzten Jahren verschiedene psychologische<br />

Modelle über den Prozess des Worterkennens, des verständnisvollen Lesens und des Schrei-<br />

bens entwickelt und daraus Vorstellungen abgeleitet wurden, wie sich das Lesen <strong>bei</strong> <strong>Kindern</strong><br />

ohne bzw. <strong>mit</strong> Schwierigkeiten entwickelt, wurde zunächst versucht, einen kurzen Überblick<br />

über die wichtigsten Entwicklungslinien <strong>bei</strong>m Erlernen des Lesens und Schreibens zu geben.<br />

Dies betrifft im Zusammenhang dieser Ar<strong>bei</strong>t vor allem die phonologische Bewusstheit. Be-<br />

sonders hervorzuheben ist die im Regelfall in mehreren Linien und auf mehreren Ebenen pa-<br />

21 z.B. auditive oder visuelle Wahrnehmungsschwächen und visuomotorische Koordinationsstörungen wie bspw.<br />

Raumorientierungsschwierigkeiten, aber auch Störungen im Ar<strong>bei</strong>tsverhalten (mangelnde Motivation und<br />

Konzentration).<br />

25


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

rallel ablaufende Entwicklung des Worterkennens und des Rechtschreibens und der ständige<br />

Austausch zwischen diesen Entwicklungen. Die Annahme der auf einer bewussteren Erfas-<br />

sung der Strukturen der Sprache beruhenden Entwicklungslinien <strong>bei</strong>m Erlernen des Lesens<br />

und Schreibens ist ein wesentlicher Bestandteil der neueren Modelle. Die phonologische Be-<br />

wusstheit bildet sich im Zusammenhang <strong>mit</strong> der Entwicklung des phonologischen Rekodie-<br />

rens <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben und in gewisser Weise auf diesem aufbauend heraus.<br />

Bei legasthenen <strong>Kindern</strong> sind Auffälligkeiten <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb zu beobachten, Kin-<br />

der im frühen Stadium der <strong>Legasthenie</strong> benötigen bereits <strong>für</strong> die alphabetische Stufe erheblich<br />

mehr Zeit. Im logographischen Stadium wären Fehler durch Nichtbeachtung der orthographi-<br />

schen Konventionen <strong>bei</strong>m Schreiben und geringe Lauttreue zu charakterisieren. Im alphabeti-<br />

schen Stadium hingegen verringern sich Fehler, <strong>bei</strong> denen die Entsprechung der Schreibweise<br />

<strong>mit</strong> der Phonemfolge der Wörter nicht gewahrt ist, deutlich. Gegen die orthographische Kon-<br />

vention verstoßende Fehler hingegen 22 bilden den mehrheitlichen Teil der Rechtschreibfehler<br />

und sind weiterhin in größerer Zahl vorhanden (vgl. Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera<br />

2007, S. 32). Im orthographischen Stadium schließlich werden zunehmend nicht nur die Pho-<br />

nem-Graphem-Zuordnungsregeln, sondern auch orthographische Regeln und Ableitungsre-<br />

geln von Stammmorphemen beachtet.<br />

Bei Schülern <strong>mit</strong> Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen sind von Beginn des<br />

Schriftspracherwerbs an Schwächen in mehreren Entwicklungslinien, die zum reifen und<br />

selbstständigen Lesen und Schreiben führen sollen, festzustellen. Vor allem ist, neben<br />

Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Behalten bereits gelernter Wörter und da<strong>mit</strong> <strong>bei</strong>m Einspeichern und<br />

Abrufen von Wörtern im schriftsprachlichen Lexikon, das phonologische Rekodieren gestört.<br />

Dies zeigt sich besonders in Anfangsschwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen von unbekannten Wörtern.<br />

Obgleich sich diese Probleme im Lauf der Zeit bessern, verbleiben Schwierigkeiten insbeson-<br />

dere in der Geläufigkeit, <strong>mit</strong> der wenig vertraute Wörter gelesen werden können (vgl.<br />

Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, 2010). Bei der Mehrzahl der Kinder sind auch<br />

in höheren Klassen, neben der Geläufigkeit des Lesens, Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Erlernen des<br />

Rechtschreibens festzustellen, auch wenn ihre Schreibweise lautgetreu und da<strong>mit</strong> verstehbar<br />

wird, sind doch viele Fehler im Bereich der orthographischen Konventionen auffallend. Eben-<br />

so hat ein Teil der Kinder auch Probleme in den Grundfertigkeiten des Worterkennens 23 sowie<br />

<strong>bei</strong>m Leseverständnis und <strong>bei</strong>m freien Schreiben, d.h. <strong>bei</strong>m selbstständigen schriftlichen Aus-<br />

druck. Nebst Abstufungen im Schweregrad (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 17f.) sind auch unter-<br />

22 <strong>bei</strong> Erkennbarkeit der Lautfolge.<br />

23 bzw. des mündlichen Lesens und Rechtschreibens.<br />

26


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

schiedliche Ausprägungen der Schwierigkeiten in den einzelnen Teilbereichen zu beobachten.<br />

Demnach sind die Schwierigkeiten der Kinder im schriftsprachlichen Bereich enorm. Vermut-<br />

lich hängt diese Heterogenität auch <strong>mit</strong> der Vielzahl der an der Entstehung der Schwierigkei-<br />

ten beteiligten Faktoren zusammen (vgl. Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007,<br />

2010).<br />

Ein nach der Meinung vieler Wissenschaftler besonders hervorzuhebender Faktor ist die diffe-<br />

renzierte Wahrnehmung, die als grundlegende Voraussetzung des Lese- und Schreiblernpro-<br />

zesses gesehen wird (vgl. u.a. Affolter 1975; Firnhaber 2005). Ob man von Funktionsschwä-<br />

che, Teilleistungsschwäche oder von Schwächen der zentralen Verar<strong>bei</strong>tung von Wahrneh-<br />

mungen 24 spricht – es ist immer der gleiche Sachverhalt gemeint (vgl. Dummer-Smoch 2002,<br />

S. 53f.). Trotz Intaktheit des äußeren Gehörs und des Sehens können „in allen Wahrneh-<br />

mungsbereichen Schwächen der zentralen Verar<strong>bei</strong>tung liegen, nicht nur in der Seh- und<br />

Hörverar<strong>bei</strong>tung“ (a.a.O., S. 43). Legasthene Menschen haben eine besondere Informations-<br />

verar<strong>bei</strong>tung und dadurch bedingt eine besondere Lernfähigkeit. Hinzukommend erschweren<br />

Störungen der Grob- und Feinmotorik das Zusammenspiel zwischen Wahrnehmungen und<br />

Bewegungen. Beim Lese- und Schreibprozess kommt es nicht nur auf die genaue Unterschei-<br />

dung von teils sehr ähnlichen Lauten, sondern auch auf das Zusammenspiel zwischen<br />

Sprachwahrnehmung und Artikulationsmotorik an (vgl. a.a.O., S. 43f.). Verar<strong>bei</strong>tungsschwä-<br />

chen sind generell <strong>mit</strong> undeutlicher Aufnahme über die Wahrnehmung und entsprechend un-<br />

sicherer Speicherung verbunden 25 . Infolgedessen kommt es gewöhnlich auch zur Verlangsa-<br />

mung aller <strong>mit</strong> dem Lesen und Schreiben verbundenen Teilschritte 26 .<br />

Ein Verfahren, <strong>mit</strong> dem man fünf Teilleistungen, die <strong>für</strong> das Lesenlernen von großer Bedeu-<br />

tung sind, bereits im Vorschulalter und auch noch während des ersten Schuljahres überprüfen<br />

kann, haben Breuer und Weuffen (1993) entwickelt. Diese Teilleistungen sind die Fähigkeit<br />

zur optisch-graphomotorischen Differenzierung, die Fähigkeit zur phonematisch-akustischen<br />

Differenzierung, die Fähigkeit zur kinästhetisch-artikulatorischen Differenzierung, die Fähig-<br />

keit zur melodischen Differenzierung sowie die Fähigkeit zur rhythmischen Differenzierung<br />

(vgl. Breuer/Weuffen 1993, S. 23). Breuer und Weuffen meinen dazu: „Die exakte und<br />

schließlich automatisierte Wahrnehmung und graphomotorische Realisierung der optischen<br />

Modalitäten von Schriftzeichen ist eine der Voraussetzungen, um den Schreib- und Lesevor-<br />

24 seit den Ergebnissen von Untersuchungen <strong>mit</strong> bildgebenden Verfahren.<br />

25 Z.B. kann sich das betroffene Kind infolgedessen nicht gut an die Buchstabenformen oder an den richtigen<br />

Buchstaben <strong>für</strong> einen unsicher wahrgenommenen Laut erinnern.<br />

26 Dies gilt vor allem <strong>für</strong> die visuelle und auditive Wahrnehmung sowie <strong>für</strong> die intakte bzw. ausreichend funk-<br />

tionierende Motorik.<br />

27


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge<br />

gang von Lernbeginn an als eine Einheit von Fähigkeiten und Verstehen zu sichern“<br />

(Breuer/Weuffen 2000, S. 28). Beim einzelnen Kind können eine oder mehrere dieser Verar-<br />

<strong>bei</strong>tungsschwächen vorhanden sein. Durch ein bewährtes Training der schwachen Differen-<br />

zierungsfähigkeiten konnte der Schweregrad von Leselernschwächen nachweislich vermindert<br />

werden (vgl. Breuer/Weuffen 1993) 27 . Dies bestätigt wiederum, dass auch die Fein- und<br />

Grobmotorik eng <strong>mit</strong> der Wahrnehmung verbunden sind, infolgedessen sollte <strong>bei</strong> einem Trai-<br />

ning legasthener Kinder nicht nur die visuelle Wahrnehmung, sondern das gesamte sensori-<br />

sche Spektrum berücksichtigt werden. Bei einem solchen mehrkanaligen Training geht es wie<br />

auch <strong>bei</strong>m Entwicklungskonzept nach Piaget (1969) insbesondere um die Herstellung von<br />

Verknüpfungen zwischen taktilen, visuellen, kinästhetischen und auditiven Sinneseindrücken.<br />

Abb. 1: Verhältnis: Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung und Motorik zu<br />

Intelligenzleistungen im engeren Sinne<br />

Quelle: Dummer-Smoch 2002, S. 46<br />

In diesem stark vereinfachten Modell wird die Informationsaufnahme und -verar<strong>bei</strong>tung dar-<br />

gestellt. Von Seiten der Wahrnehmungskanäle wird die Information aus der Umwelt aufge-<br />

nommen, sie gelangt über die verschiedenen Wahrnehmungskanäle in das Gehirn. Das Gehirn<br />

kann die aufgenommenen und verar<strong>bei</strong>teten Informationen abspeichern und abrufen, wenn es<br />

<strong>für</strong> die Verar<strong>bei</strong>tung der neuen Informationen benötigt wird. Auf der Seite der Motorik gelan-<br />

gen die gespeicherten Informationen wieder nach außen, vor allem in mündlicher oder schrift-<br />

licher Form. Im Falle einer Wahrnehmungsstörung kann der gestörte Wahrnehmungskanal die<br />

27 Bei Maria Montessori liest man in diesem Zusammenhang über das „globale Absorbieren“ (Montessori 1984,<br />

S. 78).<br />

28


3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

Informationen nicht richtig aufnehmen und so<strong>mit</strong> auch nur mangelhaft an das Gehirn weiter-<br />

leiten 28 .<br />

Bei einer geeigneten Förderung sollte darauf geachtet werden, dass ein und dieselbe Informa-<br />

tion über nicht nur einen Wahrnehmungskanal aufgenommen wird, sodass eine parallele<br />

Kopplung neben dem jeweils gestörten Wahrnehmungskanal entstehen kann, die die Informa-<br />

tionen unbeschädigt an das Gehirn weiterleiten kann.<br />

Vertiefende Ausführungen der Ursachenbereiche würden den Rahmen der vorliegenden Ar-<br />

<strong>bei</strong>t sprengen. Deshalb sei an dieser Stelle <strong>für</strong> weiterführende Literatur und breitere Darstel-<br />

lungen u.a. auf die Autoren Dummer-Smoch (2002), Milz (2001, 1989) und Rosenkötter<br />

(2007) verwiesen.<br />

3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

3.1 Ursachen im Bereich der Wahrnehmung<br />

Die Ursachen und Anzeichen <strong>für</strong> eine <strong>Legasthenie</strong> und da<strong>mit</strong> verbundene bevorstehende bzw.<br />

bereits vorhandene Probleme <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen sind vielfältig. Unterschied-<br />

lichste Leistungen unserer Sinne sind notwendig, um den komplexen Vorgang des Schreibens<br />

und Lesens zu bewerkstelligen. Sobald eine oder mehrere dieser Teilleistungen nicht oder nur<br />

partiell erbracht werden können, kommt es zu Problemen in den entsprechenden Bereichen.<br />

3.1.1 Sinneswahrnehmungs- und Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tungsstörung<br />

Durch genetische Faktoren bedingte Schriftspracherwerbsschwierigkeiten entstehen aufgrund<br />

einer Reifungsverzögerung der <strong>für</strong> das Lesen und Schreiben wichtigen Gehirnareale, die sich<br />

in unterschiedliche Gebiete einteilen lassen. Sobald auch nur eines dieser Gebiete betroffen<br />

ist, ergeben sich bereits Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben. Diese kooperative Integ-<br />

ration der einzelnen Sinnesorgane des frühkindlichen Entwicklungsprozesses nennt die ame-<br />

rikanische Hirnforscherin A. Jean Ayres „sensorische Integration“ (Ayres 2002, S. 7). Ayres<br />

stellt fest, dass dem Lesen und Schreiben, das ein großes Maß an sensorischer Integration<br />

28 Bspw. kann ein Kind <strong>mit</strong> einer auditiven Wahrnehmungsstörung die Laute und oder und <br />

nicht unterscheiden. Bei legasthenen <strong>Kindern</strong> kommt dies besonders häufig <strong>bei</strong> kurzen Vokalen vor (vgl.<br />

Dummer-Smoch 2002).<br />

29


3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

fordert und sehr komplexe Anforderungen an das Gehirn stellt, ein langer Prozess von Erfah-<br />

rungen und Verar<strong>bei</strong>tung der Sinneseindrücke vorangegangen sein muss (vgl. Ayres 2002).<br />

Teilgebiete der sensorischen Wahrnehmung (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 34f.) sind das visuel-<br />

le bzw. optische System, das auditive bzw. akustische System, das vestibuläre System, das<br />

propriozeptive System sowie das taktile System. Einige Kinder haben jedoch Störungen in<br />

dieser Entwicklung. Dadurch verläuft die Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung 29 <strong>bei</strong> legasthenen Kin-<br />

dern anders. Infolge einer Störung der Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung ist meist ein <strong>für</strong> das un-<br />

bewusste Wissen über die Funktion und die Eigenschaften der einzelnen Laute der Wörter<br />

unserer Sprache sowie über die Fähigkeit zur Aufgliederung der Wörter in diese Laute ver-<br />

antwortlicher Bereich, als phonologische Bewusstheit designiert, betroffen. Die Ursachen <strong>für</strong><br />

eine <strong>Legasthenie</strong> sind demnach in den differenzierten Teilleistungen bzw. Sinneswahrneh-<br />

mungen zu finden. Die Betroffenen machen im Gegensatz zu Rechtschreibfehlern aufgrund<br />

ihrer differenten Wahrnehmung immer unterschiedliche Fehler; teils werden im gleichen Text<br />

dieselben Wörter unterschiedlich geschrieben. Nach Raapke kommen sensorische Integratio-<br />

nen, die vor der Schule stattfinden, durch die Eigenwahrnehmung des ganzen Körpers und<br />

weniger durch das Hören und Sehen zustande (vgl. Raapke 2001, S. 39).<br />

Wie bereits dargestellt, können vielfältige Ursachen zur Entstehung einer <strong>Legasthenie</strong> <strong>bei</strong>tra-<br />

gen, wo<strong>bei</strong> stets verschiedene Faktoren zusammenwirken. Die neurobiologisch orientierte<br />

Forschung der letzten Jahre hat zu einem deutlichen Erkenntnisgewinn bezüglich der zentral-<br />

nervösen Verar<strong>bei</strong>tung auditiver und visueller Informationen (vgl. u.a. Tallal 2000; Falcoetti<br />

et al. 2003; Rosenkötter 2003) <strong>bei</strong> der Lese-Rechtschreibstörung geführt.<br />

3.1.2 Störung der zentralen auditiven Wahrnehmung<br />

Von <strong>Legasthenie</strong> betroffene Kinder fallen zuerst durch ihre Unaufmerksamkeit auf, sobald sie<br />

auf Symbole, also Buchstaben oder Zahlen, treffen. Die Folge ist eine Fehlersymptomatik, so<br />

genannte Wahrnehmungsfehler. Im Moment des Produzierens solcher Wahrnehmungsfehler<br />

nimmt das Kind die unkorrekte Schreibweise nicht wahr (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 25). Zu<br />

den Störungen der zentralen auditiven Wahrnehmung (vgl. hierzu Rosenkötter 2003) gehört<br />

die unzureichende Wahrnehmung von sprachlichen sowie nichtsprachlichen Reizen.<br />

Sind die Sinneswahrnehmungen different, so muss entsprechend dem diagnostischen Tester-<br />

gebnis 30 die Förderung, d.h. das Training an den Fehlern, der Symptomatik, einsetzen. Die<br />

29 Ausführliches zum Begriff Wahrnehmung in Kapitel 6.1.5.<br />

30 Eine Diagnostik sollte auf pädagogisch-didaktischer Ebene stattfinden, erst wenn Sekundärproblematiken<br />

hinzukommen, sollten weitere Ebenen (wie die psychische oder medizinische) herangezogen werden.<br />

30


3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

sog. „Phonologie-Defizit-Hypothese“, die besagt, dass die Fähigkeit, lautliche Segmente der<br />

Sprache zu unterscheiden und im Gedächtnis zu speichern, <strong>bei</strong> der Lese-Rechtschreibstörung<br />

gestört ist (vgl. Schulte-Körne 2001b), weshalb Betroffene Schwierigkeiten <strong>bei</strong> der Zuord-<br />

nung von einzelnen Buchstaben zu entsprechenden Lauten und umgekehrt haben, stand im<br />

Vordergrund der Forschung der letzten Jahre. Neurobiologische Untersuchungen (z.B. Rum-<br />

sey et al. 1997a,b; Georgiewa et al. 2002) konnten zeigen, dass Regionen des Großhirns, die<br />

<strong>bei</strong> der Wahrnehmung und Unterscheidung von Sprachreizen und Lauten hauptsächlich akti-<br />

viert werden, <strong>bei</strong> legasthenen Menschen signifikant geringer aktiviert werden, das bedeutet,<br />

dass <strong>für</strong> die gestörte Sprachwahrnehmung hirnorganische Korrelate vorliegen. Da dieses<br />

Sprachwahrnehmungsdefizit bereits in den ersten Lebensjahren vorhanden ist, könnte es ein<br />

wesentlicher Prädiktor <strong>für</strong> einen gestörten Schriftspracherwerb sein. Möglicherweise stellen<br />

diese Befunde eine Grundlage <strong>für</strong> eine Frühdiagnostik und Frühförderung dar.<br />

3.1.3 Störung der zentralen visuellen Wahrnehmung<br />

Die Befunde neurobiologischer Forschungen (Salmelin et al. 1996) zeigen, dass Wort- bzw.<br />

Buchstabeninformationen <strong>bei</strong> Lese-Rechschreibgestörten in spezifischen Hirnarealen deutlich<br />

verzögert und ineffektiver wahrgenommen werden. Die Bedeutung solcher visuellen Wahr-<br />

nehmungsdefizite <strong>für</strong> die <strong>Legasthenie</strong> ist zurzeit noch nicht vollständig aufgeklärt. Nach<br />

Breuer und Weuffen sind <strong>mit</strong> dem Lesen und Schreiben „wahrnehmungsmäßig zwei optische<br />

Differenzierungsleistungen verbunden. Erstens sind die Unterschiede zwischen den einzelnen<br />

Buschstaben präzise zu erfassen. Diese Leistung vollzieht sich in der Ebene und in den Ein-<br />

zelheiten des Buchstabens selbst. Zweitens sind die einzelnen Buchstaben in ihrer Abfolge<br />

innerhalb der Wortstruktur zu erkennen. Diese Leistung vollzieht sich <strong>bei</strong>m Lesen und Schrei-<br />

ben in einer räumlichen Gliederung, orientiert durch Lautklangfolgen im Wort und Sinnent-<br />

nahme aus Wortfolgen“ (Breuer/Weuffen 2000, S. 26). Da<strong>mit</strong> sind die kindlichen Wahrneh-<br />

mungsfähigkeiten im Bereich der optischen Differenzierung und der optischen Serialität an-<br />

gesprochen. Kinder <strong>mit</strong> einer gestörten optischen Differenzierung können die ähnlich ausse-<br />

henden Buchstaben nicht voneinander unterschieden, da sie sich nur in minimalen Einzelhei-<br />

ten ihrer optischen Struktur unterscheiden. Legastheniker haben ebenso Probleme <strong>bei</strong> der Er-<br />

kennung der Buchstabenreihenfolge innerhalb des einzelnen Wortes, die Buchstabenverbin-<br />

dungen werden falsch erkannt. Bei <strong>Kindern</strong> <strong>mit</strong> geringer visueller Merkfähigkeit treten be-<br />

sonders oft Fehler <strong>bei</strong> mehrdeutigen Laut-Buchstabenzuordnungen auf. Die wichtigste Teil-<br />

leistung innerhalb der optischen Differenzierungsfähigkeit auf dem Wege zur Buchstaben-<br />

kenntnis ist die Erfassung räumlicher Beziehungen. Da<strong>bei</strong> müssen einzelne optische Modali-<br />

31


3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

täten in ihren Beziehungen innerhalb des Buchstabens und in ihrer strukturellen Ganzheit als<br />

Buchstabe erkannt werden, was sowohl <strong>für</strong> die Buchstaben- als auch <strong>für</strong> die Wortstrukturen<br />

zutrifft. Die Qualität und Anzahl der eingeprägten optischen Buchstaben- und Wortbilder sind<br />

eine Voraussetzung da<strong>für</strong>, dass das Lesen und die Rechtschreibung gelingen. Ohne die Fähig-<br />

keit, optische Einzelheiten genau und automatisiert zu erfassen, gibt es keine verlässliche<br />

Speicherung im Gedächtnis, die <strong>für</strong> die Lösung von wiederkehrenden Aufgaben <strong>bei</strong>m Schrei-<br />

ben- und Lesenlernen erforderlich ist (vgl. ebd.). F. Affolter stellte fest, dass lese-<br />

rechtschreibschwache Kinder in der Nachahmung und in Manipulationstätigkeiten, <strong>bei</strong>de sind<br />

die Grundlage <strong>für</strong> den Erwerb begrifflicher Inhalte und <strong>für</strong> das Bilderkennen, stark einge-<br />

schränkt sind (vgl. Affolter 1975, S. 205). Neuropsychologische Forschungsergebnisse bele-<br />

gen, dass in der Verbindung der Bildpunkte der Schlüssel zum Verständnis der visuellen<br />

Wahrnehmung liegt. Durch das Trainieren des visuellen Bereiches können neue Verbindun-<br />

gen nachentwickelt werden (vgl. a.a.O., S. 232).<br />

3.2 Genetische Ursachen<br />

Durch die neuen Methoden der genetischen Forschung sind mögliche Genorte, die wahr-<br />

scheinlich <strong>für</strong> die Entstehung der <strong>Legasthenie</strong> relevant sind, entdeckt worden. Das Zusam-<br />

menwirken verschiedener Faktoren scheint zurzeit ein plausibles Erklärungsmodell <strong>für</strong> Le-<br />

gasthenie zu sein. Jedoch führen einzelne Einflüsse, wie bspw. eine Vulnerabilität 31 , nicht<br />

zwangsläufig zur Herausbildung einer schicksalsbestimmenden Lernstörung, sondern sie<br />

können durch präventive Maßnahmen im Vorschulalter und weitere intensive Betreuung wäh-<br />

rend der gesamten Schulzeit kompensiert werden.<br />

Unter anderem wird derzeit in der Genetik verstärkt eine genetische Komponente diskutiert,<br />

da <strong>Legasthenie</strong> in bestimmten Familien gehäuft auftritt. Bei eineiigen Zwillingen beträgt die<br />

Konkordanz <strong>für</strong> <strong>Legasthenie</strong> 68%, <strong>bei</strong> zweieiigen Zwillingen hingegen nur 38%, daher ist ein<br />

substantieller genetischer Einfluss nicht zu negieren (vgl. Fischer/DeFries 2002). Schulte-<br />

Körne (2001a) konnte durch Familienuntersuchungen u.a. in den USA zeigen, dass die Lese-<br />

und Rechtschreibstörung familiär gehäuft auftritt (vgl. hierzu auch Guttorm et al. 2001),<br />

jedoch würde dies allein nicht ausreichen, um von einer genetischen Disposition sprechen zu<br />

können. Zusätzlich erscheint es problematisch, in diesem Kontext von einem Gendefekt zu<br />

sprechen, da in den meisten Fällen <strong>mit</strong> der erblichen <strong>Legasthenie</strong> hohe mathematisch-<br />

31 Im Kontext eines sehr allgemeinen Definitionsansatzes kann unter Vulnerabilität eine in der Person<br />

verankerte, genetisch, biochemisch oder auch durch Geburtstrauma bedingte Disposition, Anfälligkeit oder<br />

Sensibilität verstanden werden.<br />

32


3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

naturwissenschaftliche Begabungen zusammenhängen. Deshalb scheint es, wie <strong>bei</strong> der<br />

Linkshändigkeit, eher angemessen, von einer „Normvariante menschlicher Begabung“ (vgl.<br />

Dummer-Smoch 2002, S. 52) zu sprechen. Eine solche Normvariante fällt immer dann nicht<br />

negativ auf, wenn sie in der Gesellschaft nicht nur toleriert, sondern auch akzeptiert wird.<br />

Die Suche nach relevanten Genen hat zu verschiedenen Gen-Regionen geführt. Vermutet wird<br />

eine polygenetische Ursache (vgl. u.a. Fischer/DeFries 2002; Aylward et al. 2004; Richards/<br />

Berninger 2005) <strong>mit</strong> Bezug zu den Chromosomen 2, 3, 6, 18 und vor allem 15. Vermutlich<br />

beeinflussen diese nicht direkt die Lese- und Rechtschreibfähigkeit, sondern sie steuern<br />

neurophysiologische und neuropsychologische Funktionen, deren Störung z.B. <strong>bei</strong> der<br />

Sprachverar<strong>bei</strong>tung den Schriftspracherwerb entscheidend beeinflusst. Forschungen belegen,<br />

dass die Ursache <strong>für</strong> eine <strong>Legasthenie</strong> hauptsächlich durch die Gene bestimmt ist, wo<strong>bei</strong> das<br />

15. und 6. Chromosom maßgeblich an der erblichen Weitergabe beteiligt sind (vgl. Klasen<br />

1999, S. 15, 178; Kopp-Duller 2008a, S. 25; Kopp-Duller 2008b, S. 16). In diesen Regionen<br />

werden Gene vermutet, denen eine bedeutsame Funktion <strong>bei</strong> der Regulation von zentralnervö-<br />

sen Prozessen zukommt. Durch diese biogenetischen Anlagen entstehen differente Sinnes-<br />

wahrnehmungen 32 , welche zu Wahrnehmungsfehlern führen, die die Probleme von legasthe-<br />

nen Menschen <strong>bei</strong>m Erlernen des Schreibens, Lesens und Rechnens (Dyskalkulie) verursa-<br />

chen. Die ursächliche Verantwortung eines einzelnen Gens ist hingegen sehr fraglich. Ein<br />

genetischer Einfluss ist <strong>bei</strong> einem Teil der Kinder <strong>mit</strong> <strong>Legasthenie</strong> nachgewiesen. Doch dies<br />

sollte nicht entmutigend sein, da sich nicht nur die Gene, sondern auch die Umwelt, also Kin-<br />

dergarten, Schule und Elternhaus, entscheidend auf die kindliche Entwicklung und so<strong>mit</strong> auch<br />

auf die Lese-Rechtschreibentwicklung auswirken. Dies bedeutet zugleich, dass eine angemes-<br />

sene und professionelle frühkindliche Förderung in Kindergarten und Schule, v.a. im An-<br />

fangsunterricht, aber auch im Elternhaus von enormer Bedeutung ist, sodass die Lese-<br />

Schreiblern-entwicklung betroffener Kinder nicht zu sehr in Verzögerung gerät.<br />

Im neurologischen Bereich zeigen bereits Neugeborene aus Risikofamilien veränderte Ge-<br />

hirnstrommuster <strong>bei</strong> der Darbietung sprachlicher und nichtsprachlicher akustischer Stimuli.<br />

Mit Hilfe bildgebender Verfahren können auch <strong>bei</strong> Schülern und Erwachsenen <strong>mit</strong> Legasthe-<br />

nie Veränderungen der Aktivierungsmuster in der Großhirnrinde <strong>bei</strong>m Lesen nachgewiesen<br />

werden (vgl. Berninger/Richards 2002). Diese betreffen vorwiegend die sprachverar<strong>bei</strong>tenden<br />

Zentren im Schläfen- und Stirnlappen der linken Hirnhälfte, in der im Vergleich zu nicht le-<br />

gasthenen Personen unterschiedliche Aktivierungszentren und -lokalisationen zu finden sind<br />

32 Von Ayres wurde die Bedeutung der Verar<strong>bei</strong>tung der einzelnen Sinnesmodalitäten in besonderer Weise<br />

berücksichtigt, da <strong>bei</strong> manchen <strong>Kindern</strong> hier der Schlüssel zu ihrem Problem liegt (vgl. Ayres 1992, 2002).<br />

33


3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

(vgl. ebd.). Dies zeigt, dass die zuständigen Hirnzentren nicht ausreichend synchron ar<strong>bei</strong>ten<br />

oder nicht ausreichend vernetzt sind. Ferner belegen Hinweise auf eine defizitäre Verar<strong>bei</strong>-<br />

tung schneller Folgen von Stimuli eine weniger effiziente Reizweiterleitung in der Hör- und<br />

Sehbahn. In diesem Kontext konnte auch eine Deregulierung der Blicksteuerung beobachtet<br />

werden. Die Sakkaden (vgl. hierzu u.a. Fischer et al. 1998; Fischer/Hartneggm 2008) von<br />

legasthenen <strong>Kindern</strong> sind weniger präzise als diejenigen gleichaltriger nicht legasthener Kin-<br />

der. Weiters kann eine Sprachentwicklungsverzögerung (vgl. Grimm 1995) ein Risikofaktor<br />

<strong>für</strong> <strong>Legasthenie</strong> sein.<br />

Das Gehirn wird noch lange Gegenstand biologischer, medizinischer wie auch neurologischer<br />

Forschungen sein und in seiner Komplexität und Kompliziertheit wahrscheinlich nie zur Gän-<br />

ze erforscht werden können. Dank moderner Medizintechnologie kann die relative Minder-<br />

leistung der linkshemisphärischen Sprachgebiete der Legastheniker definitiv auf Bildschirmen<br />

sichtbar gemacht werden (vgl. u.a. Rosenkötter 1997; Firnhaber 2005).<br />

Normalerweise sind die Lese- und Rechtschreibleistungen durch die Vernetzung einer Reihe<br />

von Gehirnarealen gewährleistet. Hinweise auf Funktionsdefizite bzw. Teilleistungsschwä-<br />

chen sind übereinstimmend in den zitierten Untersuchungen <strong>für</strong> eine Reihe von Hirnregionen,<br />

die sich <strong>mit</strong> Sprache, Sprachwahrnehmung sowie <strong>mit</strong> Prozessen zwischen äußerer Aufnahme<br />

und zentraler Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung beschäftigen, belegt. Aus den Ergebnissen lassen<br />

sich mindestens drei Aussagen als gesichert ableiten: <strong>Legasthenie</strong> hat neuropsychologische<br />

Ursachen. Selbst <strong>bei</strong> erwachsenen Legasthenikern sind diese Ursachen immer noch nach-<br />

weisbar. Bereits vor der Geburt sind diese neurobiologischen Ursachen vorhanden. Milieu-<br />

bedingungen, d.h. Einflüsse aus Elternhaus und Schule, wirken sich erst sekundär aus. Vor<br />

allem entscheiden sie darüber, ob das betroffene Kind trotz seiner Schwächen ausreichend<br />

Motivation erhält, um den Mut zum Lernen nicht zu verlieren. Die pränatalen Ursachen sind<br />

nicht behebbar. Es besteht die Möglichkeit zur Verhinderung der später in Erscheinung tre-<br />

tenden Teilleistungsschwächen, indem Schwierigkeiten vor allem <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben<br />

durch angemessene Übungs-/Trainingsmethoden kompensiert werden.<br />

Je mehr das Gehirn erforscht wird, desto deutlicher wird, dass bis dato nur Teilkenntnisse<br />

existieren, welche keine vereinfachenden Theorien über die Entstehung der <strong>Legasthenie</strong> er-<br />

lauben (vgl. Dummer-Smoch 2002).<br />

3.3 Ursachen im prä-, peri- und postnatalen Bereich<br />

Auch schädliche Einflüsse im prä-, peri- und postnatalen Bereich werden diskutiert. Insbe-<br />

sondere zählen dazu Komplikationen während der Geburt sowie im Kopfbereich befindliche<br />

34


3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

Läsionen, die Minimale Cerebrale Dysfunktion (MCD), ein leichter frühkindlicher Hirnscha-<br />

den <strong>mit</strong> verschiedenen Ursachen, oder Unfälle des Säuglings. Diese können im peri- und<br />

postnatalen Bereich begründet sein. Auch Krankheiten im Bereich des zentralen Nervensys-<br />

tems eines Säuglings können als Ursache <strong>für</strong> die Ausprägung einer <strong>Legasthenie</strong> in Erwägung<br />

gezogen werden.<br />

Bereits in den 80er Jahren hatte Galaburda <strong>mit</strong> seiner Forschungsgruppe 33 aufgrund anatomi-<br />

scher Befunde darauf hingewiesen, dass bereits vor der Geburt die Weichen <strong>für</strong> die spezielle<br />

Entwicklung im legasthenen Gehirn gestellt werden (vgl. Galaburda 1989; Galaburda et al.<br />

1992 zit. nach Dummer-Smoch 1986). Als schädliche Einflüsse im pränatalen Bereich gelten<br />

<strong>bei</strong>spielsweise Infektionskrankheiten der Mutter, Schwangerschaftsblutungen, vorgeburtliche<br />

Hirnhautentzündung oder erhöhter Alkohol- und/oder Nikotinkonsum der Mutter während der<br />

Schwangerschaft. Hinzukommen können hirnfunktionelle Ursachen sowie Infektionskrank-<br />

heiten oder Blutungen. Galaburda untersuchte Gehirne verstorbener Legastheniker und er-<br />

schloss minimale Veränderungen. Da man heute sehr genau über die embryonale Hirnreifung<br />

informiert ist, konnte er feststellen, dass Zellen, die überwiegend in den Sprachzentren der<br />

linken Hemisphäre liegen, im 4. Schwangerschaftsmonat u.a. nicht weitergereift waren. Da-<br />

raus ergibt sich offensichtlich die bereichsspezifische Abschwächung bzw. das Fehlen der<br />

führenden Rolle der linken Hemisphäre (vgl. Firnhaber 2005). Es zeigt sich, dass sich das<br />

Gehirn eines Legasthenikers von einem Nicht-Legastheniker unterscheidet. Durch das Mikro-<br />

skop kann die Feinstruktur der Hirnrinde im Bereich des sensomotorischen Sprachzentrums<br />

sichtbar gemacht werden. Die Zellstruktur in einem dysplastischen Zellbereich im Gehirn<br />

eines Legasthenikers ist desorganisiert und hat den säulenförmigen Charakter der Zellanord-<br />

nung verloren (vgl. Rosenkötter 1997, S. 80). Ferner kann es durch Probleme im perinatalen<br />

Bereich, also während der Geburt, zu kleinsten Hirnfunktionsstörungen kommen, etwa durch<br />

Quetschung des Kopfes, Verlängerung des Geburtsvorganges aufgrund von Lageanaomalien<br />

etc., die dazu führen, dass die Verar<strong>bei</strong>tung von Sprachreizen im Gehirn über Umwege ver-<br />

läuft. Aktuell werden auch Wahrnehmungsstörungen immer häufiger untersucht. Die Aktivi-<br />

täten bestimmter Gehirnregionen während des Lesens können <strong>mit</strong> bildgebenden Verfahren<br />

(vgl. hierzu u.a. Dummer-Smoch 2002) gemessen werden, wo<strong>bei</strong> festgestellt wurde, dass le-<br />

gasthene Kinder ein verändertes Gehirnaktivitätsmuster <strong>bei</strong>m Lesen aufweisen. Amerikani-<br />

sche Forscher (vgl. Berninger/Richards 2002) jedoch akzentuieren, dass die Entwicklung ei-<br />

33 Galaburda et al. untersuchten das Planum temporale. Dies ist ein Gehirnareal, das <strong>bei</strong> Rechtshändern und<br />

guten Lesern in etwa 70% der Fälle in der linken Hemisphäre größer ist als in der rechten. Sie fanden <strong>bei</strong><br />

Legasthenikern nahezu umgekehrte Verhältnisse.<br />

35


3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

ner <strong>Legasthenie</strong> entscheidend von Umweltfaktoren beeinflusst wird, dass sie kein neurobiolo-<br />

gisches Schicksal ist, sodass sich neuronale Aktivierungsauffälligkeiten <strong>bei</strong> einem Teil der<br />

Kinder nach angemessener Förderung sogar wieder normalisieren können. Als mögliche Ur-<br />

sachen im postnatalen Bereich sind Unfälle, infektiöse oder fieberhafte Erkrankungen, Hirn-<br />

hautentzündung, Krampfanfälle etc. sowie Stoffwechselkrankheiten des Kindes im Säuglings-<br />

und Kleinkindalter zu vermuten.<br />

Es ist davon auszugehen, dass es nicht nur „die eine Lese-Rechtschreibstörung“ <strong>mit</strong> aus-<br />

schließlich „nur eindeutiger Symptomatik“ und „nur einer einzigen Ursache“ gibt, sondern<br />

dass <strong>Legasthenie</strong>n unterschiedlicher Ätiologie und Ausprägung bestehen, wo<strong>bei</strong> unterschied-<br />

lichen Subgruppen unterschiedliche Ursachenfaktoren zugrunde liegen können.<br />

3.4 Erkennungsmerkmale <strong>für</strong> das Vorhandensein einer <strong>Legasthenie</strong><br />

Dem Vorschulkind bereiten das Binden von Schuhbändern, das Fangen von Bällen, das Seil-<br />

springen usw. fortlaufende Probleme? Demnach machen sich Anzeichen <strong>für</strong> mögliche diffe-<br />

rente Sinneswahrnehmungen besonders in der motorischen Entwicklung bemerkbar. Außer-<br />

dem ist es unaufmerksam und erfährt Frustration, die zu Verhaltensproblemen führen kann.<br />

Anzeichen <strong>für</strong> <strong>Legasthenie</strong> im Vorschulalter können etwa folgende sein (vgl. Kopp-Duller<br />

2008, S. 39f.): Das Kind erlebt eine verkürzte oder gar keine Krabbelphase. Dadurch kommt<br />

es zu verspätetem Gehen, schlechter Körperkoordination, Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Binden von<br />

Maschen oder <strong>bei</strong>m Knöpfen, zu Problemen <strong>bei</strong>m Umgang <strong>mit</strong> der Schere, <strong>bei</strong>m Umgang <strong>mit</strong><br />

Messer und Gabel, <strong>bei</strong>m Erlernen des Radfahrens, Skifahrens oder Schwimmens, zu Koordi-<br />

nationsschwierigkeiten <strong>bei</strong>m Malen oder etwa zur Schiefhaltung des Kopfes 34 . Im sprachli-<br />

chen Bereich kommt es zu verspätetem Sprechen, das Kind erlernt später als erwartet das<br />

Klarsprechen 35 oder es spricht schneller, als es handelt. Zusätzlich fällt die Verwendung von<br />

ähnlichen Wörtern oder Ersatzwörtern sowie von falschen Beziehungen (z.B. Lampenschirm<br />

<strong>für</strong> Laternenpfahl) auf. Ebenso werden richtungsweisende Wörter (hinauf/hinunter, innen/<br />

außen) durcheinandergebracht. Probleme treten <strong>bei</strong>m Erlernen von Kinderliedern, <strong>bei</strong>m Rei-<br />

men von Wörtern, <strong>bei</strong>m Herausfinden eines nicht passenden Wortes sowie <strong>mit</strong> Reihungen auf.<br />

Das Kind kann durch besonders „gute“ und „schlechte“ Tage auffallen, ist oft überhastet, oft<br />

extrem langsam und zeigt andererseits eine hohe Merkfähigkeit. Treten eben genannte Auffäl-<br />

34 <strong>bei</strong> einseitigen Hör- oder Sehproblemen.<br />

35 Phrasen werden vermischt bzw. verwechselt.<br />

36


3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

ligkeiten auf, sollte das Kind, sobald es in die Schule kommt, sehr genau <strong>bei</strong> seinen Fort-<br />

schritten beobachtet werden. Auch eine Frühförderung ist an dieser Stelle ratsam.<br />

Anzeichen einer <strong>Legasthenie</strong> nach Schuleintritt können etwa auffällige Wachheit und Interes-<br />

se in Alltagssituationen, leichte Ablenkbarkeit und Abwesenheit bzw. Tagträume sein. Das<br />

Kind hört bzw. sieht alles und kann nicht immer Unwichtiges von Wichtigem unterscheiden.<br />

Es reibt sich wahrscheinlich oft die Augen, muss öfter blinzeln als seine Mitschüler und klagt<br />

über Sehprobleme 36 . Zusätzlich zeigt sich verzögertes Merkvermögen <strong>bei</strong> Buchstaben, Wör-<br />

tern und Zahlen sowie <strong>bei</strong>m Auswendiglernen, z.B. des Einmaleins. Hinzu kommen scheinba-<br />

re Hörprobleme 37 , eine herabgesetzte Körperkoordination, mangelnde Raum- und/oder Zeit-<br />

koordination. Diese allgemeinen Anzeichen beziehen sich auf Persönlichkeitsmerkmale, die<br />

Legasthenikern eigen sind. Ein Zusammentreffen von mehreren Merkmalen lässt darauf<br />

schließen, dass es sich um einen legasthenen Menschen handelt.<br />

In der ersten Klasse hat ein Teil der Kinder Probleme <strong>bei</strong>m Lernen der Buchstaben-Laut-<br />

Verbindungen, was auf fehlende oder mangelhafte phonologische Bewusstheit und mangel-<br />

hafte phonematische Fähigkeiten zurückzuführen ist. Auch eine phonologische Informations-<br />

verar<strong>bei</strong>tungsstörung kann auf das Vorhandensein einer <strong>Legasthenie</strong> hinweisen. Doch können<br />

Kinder, <strong>bei</strong> denen später eine Lese-Rechtschreibstörung diagnostiziert werden würde, anhand<br />

von Schwächen in der phonologischen Bewusstheit bereits im Vorschulalter oder zum Zeit-<br />

punkt der Einschulung erkannt werden (vgl. Jansen et al. 2002). Selbst in höheren Klassen<br />

verwechselt ein Teil von ihnen noch das und und die Buchstabenverbindungen <br />

und . Das Zusammenlesen fällt ihnen schwer. Da<strong>bei</strong> stellen Konsonantenhäufungen wie<br />

(wie in Blatt) oder (wie in Schmuck) eine besondere Schwierigkeit dar 38 . Diese<br />

kann im artikulatorischen wie auch im phonematischen Bereich begründet sein und individu-<br />

ell abweichen. In den weiteren Schuljahren bleibt das Lesen der Schüler, die von <strong>Legasthenie</strong><br />

betroffen sind, oft beschwerlich und langsam. Neue Wörter, besonders wenn sie komplexer<br />

sind, werden nur schwer erlesen. Auch der Sichtwortschatz, also die Wörter, die bereits ge-<br />

speichert sind und sofort gelesen werden können, ist beschränkt. Das anstrengende und ver-<br />

langsamte Lesen hat häufig ungünstige Auswirkungen auf das Leseinteresse und kann auf die<br />

verlangsamte Sprachwahrnehmung zurückgeführt werden. Die Zunahme des Lesewortschat-<br />

zes ist gegenüber anderen <strong>Kindern</strong> reduziert. Allein aufgrund der geringen Lesetüchtigkeit<br />

kann das Leseverständnis deutlich eingeschränkt sein. Es ist offensichtlich, dass ein Text gar<br />

36 bspw. über Verschwimmen der Buchstaben und Zahlen.<br />

37 Diese äußern sich bspw. darin, dass das Kind schlecht versteht, in verwaschener Sprache spricht und<br />

sprachliche Mängel aufweist. S. hierzu auch Rosenkötter 2003.<br />

38 Vgl. hierzu Samuel T. Ortons Theorie (1927) eines Defizits im visuellen Gedächtnis.<br />

37


3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

nicht oder nur höchst erschwert verstanden werden kann, wenn der Leser bereits Schwierig-<br />

keiten <strong>bei</strong>m Dekodieren der einzelnen Wörter hat. Gerade aus der Beobachtung schwacher<br />

Leser kommt die Evidenz da<strong>für</strong>, dass das Leseverständnis einen eigenen Bereich möglicher<br />

Schwierigkeiten im Umgang <strong>mit</strong> der Schriftsprache offenbart 39 (vgl. Klicpera/Schabmann/<br />

Klicpera-Gasteiger 2007, S. 61f.). Gewiss wirkt sich diese Einschränkung demotivierend aus;<br />

viele betroffene Kinder und Jugendliche lesen deshalb nur sehr wenig und ungern. Die Lese-<br />

Rechtschreibentwicklung ist jedoch in der ersten Klasse noch relativ variabel.<br />

Anzeichen <strong>für</strong> <strong>Legasthenie</strong> <strong>bei</strong> <strong>Kindern</strong> unter oder <strong>mit</strong> 9 Jahren sind weiterhin große Schwie-<br />

rigkeiten <strong>bei</strong>m Lernen des Lesens und Schreibens sowie ständiges und fortlaufendes Vertau-<br />

schen von Zahlen und Buchstaben (z.B. 15 <strong>für</strong> 51, <strong>für</strong> ). Das Kind hat Seitigkeitsa-<br />

nomalien 40 und Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Behalten des Alphabets, <strong>bei</strong>m Multiplizieren von Ta-<br />

bellen und im Erinnern von Reihenfolgen (wie z.B. der Tage, der Wochen, der Monate des<br />

Jahres und der Jahreszeiten). Kinder, die leicht auswendig lernen, kompensieren u.U. die Le-<br />

se- und Rechtschreibstörung; sie versagen erst in der 3. Klasse oder erst nach dem Wechsel in<br />

eine weiterführende Schule, sofern geübte Schriftsprachleistungen und Aufsätze gefordert<br />

werden oder ein höheres Leistungs- und Temponiveau <strong>bei</strong> schriftlichen Ar<strong>bei</strong>ten abverlangt<br />

wird. Schwerer betroffene Kinder sind meist nicht fähig, die Fehler <strong>bei</strong>m Lesen und Recht-<br />

schreiben selbst zu erkennen und zu korrigieren.<br />

Bei 9- bis 12-jährigen <strong>Kindern</strong> ist die <strong>Legasthenie</strong> an fortlaufenden Fehlern <strong>bei</strong>m Lesen und<br />

bezüglich des Leseverständnisses zu erkennen. Überdies fallen kontinuierliche Fehler durch<br />

eine sonderbare Aussprache auf, Buchstaben oder ganze Wörter werden bspw. ausgelassen<br />

oder in der falschen Reihenfolge ausgesprochen. Hinzu kommt, dass das Kind zu Hause wie<br />

auch in der Schule desorganisiert ist, Probleme <strong>bei</strong>m genauen Abschreiben von der Tafel oder<br />

vom Lehrbuch und <strong>bei</strong>m Aufschreiben von mündlichen Anweisungen hat und <strong>für</strong> Schreibar-<br />

<strong>bei</strong>ten eine überdurchschnittlich lange Zeit benötigt. In der Folge aufkommender, wachsender<br />

Mangel an Selbstvertrauen und wachsende Frustration verkompliziert die Situation zusätzlich.<br />

Bei Schülern <strong>mit</strong> 12 Jahren und älteren sind Anzeichen <strong>für</strong> <strong>Legasthenie</strong> die Neigung zu fal-<br />

schem, ungenauem oder nicht zusammenhängendem Lesen und dazu, mündliche Anweisun-<br />

gen und Telefonnummern durcheinanderzubringen, inkonsequentes Buchstabieren, Probleme<br />

<strong>bei</strong>m Entwerfen und Schreiben von Aufsätzen sowie ernsthafte Probleme <strong>mit</strong> fremden Spra-<br />

chen. Leistungsdefizite aufgrund von eingeschränktem, d.h. verlangsamtem oder fehlerhaftem<br />

39 Aufgrund dieser Tatsache muss Leseverständnis als mehrdimensionales und von vielen Faktoren abhängiges<br />

Konstrukt begriffen werden, wo<strong>bei</strong> die basale Lesefähigkeit nur eine Einflussgröße neben vielen anderen ist.<br />

40 Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Unterscheiden von rechts und links.<br />

38


3 Problemkreis <strong>Legasthenie</strong><br />

Lesevermögen und mangelhafter Rechtschreibung machen sich auch in anderen Fächern be-<br />

merkbar, so treten ebenfalls Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen und Rechtschreiben in den Fremd-<br />

sprachen auf. Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen und vor allem die Verlangsamung können eine<br />

eingeschränkte Wissensaufnahme in den übrigen Lernfächern verursachen, zumal z.B. im<br />

vorgegebenen Zeitrahmen das Wissen nicht aufgenommen bzw. niedergeschrieben werden<br />

kann. <strong>Legasthenie</strong> kann so<strong>mit</strong> schnell zur erheblichen Beeinträchtigung der gesamten schuli-<br />

schen Leistung führen. Obwohl sich Eltern und Kinder sehr bemühen, durch häufiges Üben<br />

die Leistung zu verbessern, macht das Kind nur geringe, teilweise sogar keine Fortschritte, da<br />

bloßes Üben am Symptom nicht erfolgsfördernd ist. Rechtschreibfehler treten hauptsächlich<br />

<strong>bei</strong>m Diktat und <strong>bei</strong> spontanem Schreiben (von einem Aufsatz z.B.) auf, während das Ab-<br />

schreiben von Anfang an oder in späteren Klassenstufen weitgehend fehlerlos sein kann. Die<br />

Kinder können die Worte in aller Regel korrekt artikulieren und dennoch das Wort fehlerhaft<br />

schreiben. Oft wird zu Unrecht schuldhaftes Versagen vermutet. Die <strong>Legasthenie</strong> betreffend<br />

kann trotz der Tatsache, dass die Medizin, inklusive ihrer Teilwissenschaften wie auch der<br />

Genforschung, in Zukunft im Rahmen ihrer Forschungsar<strong>bei</strong>ten noch viele offene Fragen<br />

wird beantworten müssen, zumindest das Kriterium aufgeworfen werden, dass Zusammen-<br />

hänge zwischen dem sozialen Milieu (vgl. hierzu z.B. Nave-Herz 2007) und einer <strong>Legasthenie</strong><br />

<strong>bei</strong> einem Kind zwar vermutet und durch unqualifizierte Gruppentests bestätigt wurden, aber<br />

dennoch definitiv ausgeschlossen werden kann, dass ein Unterschichtsmilieu als Auslöser <strong>für</strong><br />

<strong>Legasthenie</strong> angesehen werden kann (vgl. Sommer-Stumpenhorst 2006).<br />

39


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive<br />

Teil II<br />

Das „Konstrukt“ <strong>Legasthenie</strong><br />

4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus<br />

pädagogischer Perspektive<br />

Konstrukte sind in der reinen Beobachtungssprache nicht definierbar und werden aus einem<br />

theoretischen Zusammenhang heraus sowie <strong>mit</strong> Hilfe von beobachtbaren Ereignissen er-<br />

schlossen (vgl. Dorsch/Becker-Carus 1994, S. 400). Ein hypothetisches Konstrukt bzw. eine<br />

hypothetische Konstruktion ist daher eine Annahme über einen nicht un<strong>mit</strong>telbar zu beobach-<br />

tenden Prozess, der als intervenierende Variable <strong>mit</strong> zusätzlicher Bedeutung Bedingung <strong>für</strong><br />

das Verhalten sein soll. Aus dem theoretischen Zusammenhang heraus wird abgeleitet, <strong>mit</strong><br />

welchen messbaren Größen die Bedingung kovariiert. Die Prüfung dieser Bedingung nennt<br />

man auch Konstrukt-Validierung (vgl. a.a.O., S. 400f.).<br />

Vom Ende der 60er Jahre an wurden zahlreiche größere empirische Untersuchungen durchge-<br />

führt, die zeigten, dass – wenn überhaupt – nur ein verschwindend geringer Anteil von<br />

Legasthenikern die postulierten Charakteristika aufweist. <strong>Legasthenie</strong> wurde deshalb als de-<br />

skriptiver Begriff, zur Beschreibung unterschiedlicher Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen und<br />

Schreiben und als Synonym <strong>für</strong> Lese-Rechtschreibschwäche, verwendet. Andere Autoren<br />

führen zum einen eine medizinisch orientierte und zum anderen eine pädagogisch-<br />

psychologisch orientierte Begriffsbestimmung durch. Auch hier wird ausdrücklich von durch-<br />

schnittlicher bis guter Intelligenz der betroffenen Kinder gesprochen. Die <strong>Legasthenie</strong> ist eine<br />

organische und nicht psychogene, eine genetische und nicht durch Umwelteinflüsse determi-<br />

nierte Störung (vgl. Angermaier 1970, S. 24ff.). Weiters wird, wie bereits <strong>bei</strong> Schenk-<br />

Danzinger, zwischen zwei Formen der <strong>Legasthenie</strong> unterschieden, der literalen 41 und der ver-<br />

balen <strong>Legasthenie</strong> 42 . Die literale <strong>Legasthenie</strong> „besteht darin, dass das Kind die Beziehung<br />

zwischen dem Grundelement der Schrift, die ja geschriebene Sprache ist, dem Buchstaben<br />

41 Die literale <strong>Legasthenie</strong> ist eine sehr seltene Schwerstform der <strong>Legasthenie</strong>. Kinder, die davon betroffen sind,<br />

können meist Buchstaben überhaupt nicht erlernen oder die Laute nicht bestimmten Buchstaben zuordnen. Bei<br />

der literalen <strong>Legasthenie</strong> handelt es sich also um das Grundelement der geschriebenen Sprache. Zwischen Laut<br />

und Lautzeichen kann keine Beziehung hergestellt werden.<br />

42 Die verbale <strong>Legasthenie</strong> ist die Form, von der nach neuesten Studien der International Dyslexia Association<br />

zwischen 10 und 15% der Gesamtpopulation betroffenen sind. Sie wird in die relativ kurzfristige Entwicklungslegasthenie<br />

(siehe Kapitel 4.2.1 und 4.2.2) ohne sekundäre allgemeine Leistungsstörung und jene <strong>mit</strong> sekundärer<br />

allgemeiner Leistungsstörung gegliedert.<br />

40


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive<br />

und dem Laut nicht herstellen kann“ (Hartmann 1975, S. 10ff.). Im Falle einer verbalen<br />

<strong>Legasthenie</strong> hingegen bereitet das Wort dem Kind Schwierigkeiten (vgl. a.a.O., S. 11ff.). Wie<br />

Hartmann unterscheiden auch Hägi, Bürli und Mathis zwischen den <strong>bei</strong>den Erscheinungsfor-<br />

men der <strong>Legasthenie</strong>. Bei der literalen <strong>Legasthenie</strong> handelt es sich laut deren Ausführung um<br />

Schwierigkeiten <strong>bei</strong> der Bewältigung der Einzelbuchstaben (vgl. Hägi/Bürli/Mathis 1970, S.<br />

12ff.). Außerdem sind, nach Hägi, Bürli und Mathis, <strong>bei</strong> der <strong>Legasthenie</strong> die akustische und<br />

die optische Wahrnehmung gestört (vgl. a.a.O., S. 21ff.).<br />

Wurde <strong>Legasthenie</strong> in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als „klassisches<br />

<strong>Legasthenie</strong>konzept“ <strong>mit</strong> charakteristischen visuellen Fehlern und einer Intelligenzdiskrepanz<br />

propagiert, so wird in den 70er Jahren zunächst zwischen „<strong>Legasthenie</strong>“ als Schwäche im<br />

Lesen und Rechtschreiben <strong>bei</strong> mindestens durchschnittlicher Intelligenz und Lese-<br />

Rechtschreibschwäche als Schwäche im Lesen und Rechtschreiben <strong>bei</strong> insgesamt<br />

unterdurchschnittlicher Intelligenz unterschieden und schließlich als „Unfug <strong>mit</strong> der<br />

<strong>Legasthenie</strong>“ gescholten und ad acta gelegt. Die Phänomenologie der <strong>Legasthenie</strong> wurde in<br />

den 70er Jahren um den Terminus „Lernstörung“, zusätzlich zum von Linder eingeführten<br />

Terminus Teilleistungsstörung, erweitert. Schenk-Danzinger, die dieser Problematik ein um-<br />

fassendes „Handbuch der <strong>Legasthenie</strong> im Kindesalter“ (1975) widmete, prägte den Begriff<br />

<strong>Legasthenie</strong> im deutschen Sprachraum. Sie differenziert zwischen zwei Arten der Legasthe-<br />

nie, der literalen <strong>Legasthenie</strong> (einer sehr seltenen Schwerstform der <strong>Legasthenie</strong>) und der ver-<br />

balen <strong>Legasthenie</strong>, von der gemäß neuesten Studien etwa 15% der Gesamtbevölkerung betrof-<br />

fen sind. Eine Einbindung der Ergebnisse von Diplompsychologin Dr. E. Klasen, die gemein-<br />

sam <strong>mit</strong> anderen Autoren Therapiefälle näher untersuchte, war ihr ein wichtiges Anliegen.<br />

Der Hauptschwerpunkt ihrer Forschungsar<strong>bei</strong>ten kann als vorwiegend symptomorientiert an-<br />

gesehen werden. Ferner setzte sie sich <strong>mit</strong> der von Valtin (1970b) aufgeworfenen Frage nach<br />

der Milieuabhängigkeit auseinander. Dies ist ein wesentlich zu beachtender Aspekt, da durch<br />

die Reihenuntersuchungen von unqualifizierten Personen um 1970 der Trugschluss gezogen<br />

wurde, dass Probleme im Erlernen der Rechtschreibung milieuabhängig seien und Legasthe-<br />

nie folglich ein Problem der Unterschicht sei. Die Einteilung in <strong>Legasthenie</strong> (auch spezielle<br />

LRS/Lese-Rechtschreibstörung 43 ) und LRS geht auf Grissemann zurück, der <strong>Legasthenie</strong><br />

gegen Ende der 60er Jahre als eine „global-gnostische Störung“ deutete und so<strong>mit</strong> einen<br />

neuen Beitrag zur Ätiologie leistete. In seinem Buch „<strong>Legasthenie</strong> und Rechenleistungen“<br />

43 Die meisten Autoren empfehlen in diesem Zusammenhang eine Trennung von „Störung“ und „Schwäche“, da<br />

davon ausgegangen wird, dass <strong>bei</strong>de unterschiedliche Gruppen <strong>mit</strong> verschiedener Genese sind (vgl. hierzu auch<br />

Schulte-Körne 2001a).<br />

41


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive<br />

lieferte Grissemann 1974 eine graphische Darstellung der Arten und Formen der <strong>Legasthenie</strong>,<br />

die er sehr übersichtlich definierte. Aus verschiedenen Studien können die Merkmale Milieu<br />

(vgl. Valtin 1970b, 1974; Niemeyer 1974; auch Schneider 1980), stärkere emotionale<br />

Labilität, z.B. Ängstlichkeit der Kinder (vgl. Angermaier 1974), Geschlecht (vgl. ebd.; auch<br />

Schneider 1980), die Bedeutung von Lehrer und Unterricht (vgl. ebd.; Sirch 1975), akustische<br />

Wahrnehmungsschwächen, Mängel der Artikulation und der visuell-auditiven Integration<br />

(vgl. Niemeyer 1971; Angermaier 1973), visuelle Wahrnehmungsschwächen (vgl. Valtin<br />

1972), Intelligenz (Angermaier 1973; auch Schneider 1980) sowie Gedächtnisfaktoren<br />

(Angermaier 1973; auch Schneider 1980) als Determinanten einer <strong>Legasthenie</strong> identifiziert<br />

werden. Vertreter des <strong>Legasthenie</strong>konzepts sahen die <strong>Legasthenie</strong>, <strong>bei</strong> sonst intakter oder im<br />

Verhältnis zur Lese- und Rechtschreibfähigkeit relativ guter Intelligenz, als partielle<br />

Lernstörung, weshalb darauf aufbauende Therapiekonzepte fehlertypisch orientiert sind. Sehr<br />

bald ließ jedoch die Vielzahl der Störungsbilder und Schwächen Kritik am Konstrukt der<br />

<strong>Legasthenie</strong> entstehen. Hier<strong>bei</strong> sind die vom Diagnoseinstrumentarium abhängigen<br />

unterschiedlichen Definitionen <strong>für</strong> <strong>Legasthenie</strong> das eigentliche, immer wiederkehrende<br />

Problem, das wiederum auf das zugrunde liegende Theoriekonzept 44 ausgerichtet ist.<br />

Mitte der 70er Jahre lösten Sirch (1975) und Schlee (1976) eine Anti-<strong>Legasthenie</strong>-Bewegung<br />

aus, wodurch es zu einem bis heute nicht wieder gutzumachenden Schaden in der Erforschung<br />

und der gesellschaftlichen Aufar<strong>bei</strong>tung hinsichtlich des Verständnisses <strong>für</strong> das <strong>Legasthenie</strong>-<br />

phänomen kam. Es wurde zunehmend Kritik sowohl gegen methodische als auch inhaltliche<br />

Aspekte des <strong>Legasthenie</strong>konzeptes erhoben. Das Fehlen theoretischer Grundlagen und<br />

Modellvorstellungen wurde bemängelt, da die empirischen Untersuchungen zur Genese der<br />

<strong>Legasthenie</strong> und die Vergleichbarkeit der wissenschaftlichen Beiträge an der unpräzisen<br />

Terminologie, die verschiedene Autoren verwendeten (vgl. Warnke 1990), litten. Sirch sah als<br />

Ursache der <strong>Legasthenie</strong> nur eine fehlende didaktische Grundlage der Methode des Lesen-<br />

und Schreibenerlenens, während Schlee (1976) wesentlich schärfer kritisierte, indem er die<br />

<strong>Legasthenie</strong> schlichtweg als Erfindung abtat und das ersatzlose Streichen des<br />

<strong>Legasthenie</strong>begriffs sowie das Einstellen der darauf basierenden Forschungen forderte (vgl.<br />

Schlee 1976; Klasen 1999, S. 19). Die Störungen liegen nach Schlee nicht in den betroffenen<br />

<strong>Kindern</strong>, sondern in der Unzulänglichkeit schulischer Lehr- und Lernverhältnisse 45 . Vor allem<br />

44 Ausführliche Literatur zu einem konzeptuellen Überblick bietet z.B. Torgesen 2008.<br />

45 Nicht selten wird das Verhalten des Kindes falsch gedeutet und man glaubt, dass sich Lese- oder<br />

Rechtschreibprobleme des Kindes durch dessen Verhalten ergeben. Schnell wird die Hilfe <strong>bei</strong> diversen<br />

Gesundheitsberufen gesucht und nicht <strong>bei</strong> Pädagogen. Doch nur Pädagogen haben die Befähigung, <strong>Kindern</strong> das<br />

42


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive<br />

bezog sich Schlee auf die willkürliche Etikettierung eines „Legasthenikers“, da die Auswahl-<br />

bzw. Testverfahren sowie die Festlegung der kritischen Grenzwerte <strong>für</strong> eine<br />

<strong>Legasthenie</strong>diagnose nicht festgelegt sind. Außerdem bezieht er sich auf das Bestehen einer<br />

Korrelation zwischen Intelligenzquotienten und Rechtschreibleistung und die operationale<br />

Definition von <strong>Legasthenie</strong>, die deshalb als Diskrepanzkriterium zwischen <strong>bei</strong>den Merkmalen<br />

nicht aufrechtzuerhalten ist. Schließlich kritisiert er, dass die <strong>Legasthenie</strong>forschung selbst<br />

kaum theoriegeleitet ist, sondern durch eine naiv empiristische Vorgehensweise 46<br />

gekennzeichnet ist, dass die Definition des Begriffs <strong>Legasthenie</strong> die Testintelligenz als<br />

Maßstab <strong>für</strong> den Schulerfolg zum wesentlichen Kriterium erhebt und dass aus der Forschung<br />

Vorstellungen und Materialien zur <strong>Legasthenie</strong>behandlung, deren Effizienz sich experimentell<br />

nicht nachweisen lässt, unsystematisch und wahllos entwickelt wurden. In den<br />

darauffolgenden Jahren hat die massive Kritik von Schlee, insbesondere <strong>für</strong> den schulischen<br />

Alltag lese-rechtschreibschwacher Kinder, zu weitreichenden Konsequenzen geführt 47 .<br />

Ebenso wurde das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung von Störungen der<br />

Schriftsprachentwicklung durch diese Kritik erheblich beeinflusst. Eine umfassende Kritik der<br />

Forschungsaktivitäten zur <strong>Legasthenie</strong> legt Scheerer-Neumann (1997) vor. Auch von Seiten<br />

der <strong>Legasthenie</strong>forscher selbst (z.B. Valtin 1974, 1975) häuft sich die Kritik an den<br />

angewandten Forschungsmethoden und den der <strong>Legasthenie</strong> zugrunde liegenden Theorien. In<br />

der Willkür der Stichprobenzusammenstellung sowie in der Verwendung des<br />

Intelligenzquotienten als Parallelisierungsmerkmal wird ein weiterer Schwachpunkt gesehen.<br />

Auch die Annahme eines kausalen Funktionsmodells des Lesens, demzufolge das Lesen von<br />

der Intaktheit verschiedener kognitiver Funktionen wie der visuellen Unterscheidungs- und<br />

Gliederungsfähigkeit, von auditiven, sprechmotorischen und sprachlichen Fähigkeiten sowie<br />

von Gedächtnis und Symbolverständnis abhängt, wird von ihr in Frage gestellt. Die<br />

korrelationsstatistisch als legasthenietypisch er<strong>mit</strong>telten Minderleistungen würden vorschnell<br />

als kausal interpretiert und als Ansatz <strong>für</strong> therapeutische Förderung herangezogen. Weinert<br />

kritisiert die <strong>Legasthenie</strong>forschung 1977 als „defizitäre Erforschung defizitärer<br />

Lernprozesse“.<br />

Als Reaktion auf die Anti-<strong>Legasthenie</strong>-Bewegung und auf die Kritik am Lese- und Recht-<br />

schreibunterricht wurde eine bessere Erfassung des Lesevorganges und der Lernprozesse ge-<br />

Lesen und Schreiben <strong>bei</strong>zubringen. Manche Kinder benötigen über das Standardschulangebot hinausgehende<br />

Methoden zum Schriftspracherwerb (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 66f.).<br />

46 <strong>bei</strong> der die abhängigen Variablen eher willkürlich ausgewählt werden und durch die Parallelisierung von<br />

Gruppen die Generalisierbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt wird.<br />

47 z.B. die Aufhebung des LRS-Erlasses durch die Kultusbehörden.<br />

43


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive<br />

fordert. Hier<strong>bei</strong> sollten linguistische Gesichtspunkte im Bereich der Grundlagenforschung<br />

sowie im Bereich der praxisorientierten Unterrichtsforschung berücksichtigt werden (vgl.<br />

Schenk-Danziger 1991, S. 29). Defizitorientiert sucht die medizinische Forschung nach den<br />

Ursachen in der biologischen Konstitution der Kinder. Auch die pädagogische Forschung ist<br />

von der Suche nach Entwicklungsdefiziten geprägt. Zum Themenbereich <strong>Legasthenie</strong> gibt es<br />

bereits umfangreiche Literatur, doch trotzdem besteht noch immer Uneinheitlichkeit sowohl<br />

in den Forschungsergebnissen als auch darüber, was man unter <strong>Legasthenie</strong> zu verstehen hat.<br />

„Wir wissen heute, dass <strong>Legasthenie</strong> lediglich ein Konstrukt ist, das bedeutet, dass Legasthe-<br />

nie ausschließlich durch theoretische Vorannahmen definiert wird und nicht unabhängig von<br />

der Definition existiert“ (Weinschenk 1981, zit. nach Schenk-Danzinger 1991, S. 28). Aus<br />

dieser Konstruktdefinition kann geschlossen werden, dass <strong>Legasthenie</strong> ausschließlich durch<br />

theoretische Vorannahmen definiert wird und nicht unabhängig von der Definition existiert<br />

(vgl. ebd.). Demnach handelt es sich <strong>bei</strong> der <strong>Legasthenie</strong> um ein Konstrukt im Sinne der vo-<br />

rangegangenen Definition, ja sogar um ein länder- bzw. bundesländerspezifisches Konstrukt,<br />

da unterschiedliche Länder bzw. Bundesländer den Begriff „<strong>Legasthenie</strong>“ unterschiedlich<br />

definieren und unterschiedliche Messgrößen in der Diagnostik verwenden.<br />

In den 80er Jahren setzte die <strong>Legasthenie</strong>-Therapeutin E.-M. Soremba Schwerpunkte in einem<br />

„Früherkennen und Frühbehandeln von unzureichenden Lesevoraussetzungen im Anfangsun-<br />

terricht“ (1986). Sie fordert eine genaueste Beobachtung sämtlicher Kinder während des ge-<br />

samten Erstunterrichts, da sich ihrer Meinung nach sehr früh in den entsprechenden Beobach-<br />

tungsrubriken optisch Häufungen abzeichnen, die auf eine spezielle Lese-<br />

Rechtschreibschwäche hinweisen, sie bedient sich <strong>bei</strong> der Beschreibung der <strong>Legasthenie</strong><br />

überwiegend der Terminologie „Spezielle Lese-Rechtschreibschwäche“ (vgl. Soremba 1995,<br />

S. 41). Im Laufe ihrer Erörterungen erwähnt Soremba auch die nicht zu unterschätzende Tat-<br />

sache, dass sich manche Kinder <strong>bei</strong> Schuleintritt in einem Entwicklungsstadium befinden, in<br />

dem die Voraussetzungen <strong>für</strong> das Erlernen des Lesens und Schreibens noch nicht vollends<br />

gegeben sind. Bezüglich Forschungsar<strong>bei</strong>ten der 80er Jahre kommt man nicht umhin, den<br />

Namen der Grundschullehrerin und Diplompsychologin Ch. Mann (1987) zu erwähnen. Sie<br />

legte ihren Schwerpunkt vor allem auf eine effiziente Ar<strong>bei</strong>t im Unterricht im ersten Schul-<br />

jahr, da im Anfangsunterricht des Lesens und Schreibens <strong>für</strong> viele Kinder die Weichen <strong>für</strong><br />

Erfolg oder Misserfolg gestellt werden. Ihre Devise ist demnach die Verhinderung von Le-<br />

gasthenie, indem das Einsetzen von Maßnahmen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt erfolgt.<br />

Dies sieht sie als ein probates und effizientes Mittel, um vor allem dem ge<strong>für</strong>chteten Einset-<br />

44


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive<br />

zen der Sekundärproblematik 48 entgegenzuwirken. Entscheidend <strong>für</strong> den Verlauf einer Le-<br />

gasthenie sind die Einstellung des Umfelds gegenüber dem betroffenen Kind und, wie schon<br />

erwähnt, ein rechtzeitiges und effizientes Einsetzen von professioneller frühkindlicher Hilfe.<br />

Bei der Diagnose „<strong>Legasthenie</strong>“ muss jedoch eine klare Abgrenzung gegenüber vorwiegend<br />

emotional bzw. motivational bedingten Störungen, intellektuellen Minderbegabungen (Kogni-<br />

tive LRS) und Störungen, die durch ein nicht adäquates Lernangebot bedingt sind, vorge-<br />

nommen werden. Nach jahrzehntelangen Forschungsar<strong>bei</strong>ten, die sich <strong>mit</strong> einem stetigen<br />

Wechsel bezüglich der Terminologie und der Interpretation dieses Phänomens hinzogen, kann<br />

<strong>Legasthenie</strong> definitiv als eine entwicklungs- oder anlagebedingte Teilleistungsstörung des<br />

Gehirns angesehen werden. Dies bedeutet, dass die <strong>für</strong> das Lernen wichtigen Funktionen be-<br />

einträchtigt sind. Unter diesen Funktionen sind die sog. Sinneswahrnehmungen als das Be-<br />

wusstwerden eines den Organismus treffenden Reizes zu verstehen 49 .<br />

Schließlich erlebte die <strong>Legasthenie</strong>forschung in den Neunzigern eine ungeahnte Renaissance.<br />

Die 90er Jahre brachten in Amerika dank moderner Apparate und Methoden aufschlussreiche<br />

Ergebnisse hinsichtlich der hirnorganischen Lernfunktionen. Als einer der bedeutendsten<br />

Hirnforscher dieser Zeit ist Dr. A. M. Galaburda (1989) zu nennen, der den genetischen Ursa-<br />

chenbereich von <strong>Legasthenie</strong> aufzeigen konnte. Bis heute gilt <strong>Legasthenie</strong> als ungemein le-<br />

bendiges, interdisziplinäres Forschungsgebiet, dem eine ganze Reihe von internationalen Zeit-<br />

schriften, von Reading Research Qualities bis zu den Annals of Dyslexia, gewidmet ist.<br />

Das große Verdienst der medizinischen Sichtweise war, dass sie eine Alternative zur pädago-<br />

gischen Sichtweise bot, in der die Kinder, die das Lesen und Schreiben nicht zufriedenstellend<br />

erlernten, einfach als dumm abgestempelt und ausgesondert wurden. Während das pädagogi-<br />

sche Aussonderungskonzept dem biologischen Denken verhaftet war („Wer nicht stark genug<br />

ist, geht unter“), entsprach das medizinische Konzept einer kulturellen, dem Menschen gemä-<br />

ßen Weiterentwicklung („Wer krank und schwach ist, braucht unsere besondere Fürsorge“).<br />

<strong>Legasthenie</strong> und LRS gelten als Erklärungskonzepte <strong>für</strong> das partielle Versagen von <strong>Kindern</strong><br />

und Jugendlichen <strong>bei</strong>m Erlernen der Schriftsprache. Die Kritik am medizinischen Modell ist<br />

vielfältig (s. auch Scheerer-Neumann 2003, Valtin 2001). Das Konstrukt <strong>Legasthenie</strong> ist theo-<br />

retisch nicht sinnvoll, da es von der Annahme ausgeht, dass die Intelligenz ein wesentlicher<br />

Faktor <strong>für</strong> den Erfolg im Lesen- und Schreibenlernen sei, weshalb <strong>Legasthenie</strong> eine erwar-<br />

tungswidrige Störung sei. Das medizinische Konstrukt ist außerdem methodisch nicht sinn-<br />

voll, da eingehende Messfehlerschwankungen <strong>bei</strong> der Feststellung einer Diskrepanz zwischen<br />

48 z.B. psychische Probleme aufgrund permanenter Misserfolge.<br />

49 bspw. wird der Gehörsinn durch Schallwellen gereizt.<br />

45


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive<br />

Intelligenzquotient und Leistungen im Lese- und im Rechtschreibtest zu unzuverlässigen Re-<br />

sultaten führen (vgl. Valtin et al. 1981) und zudem, je nach Verwendung unterschiedlicher<br />

Intelligenztests, unterschiedliche Kinder als Legastheniker diagnostiziert werden (vgl. ebd.).<br />

Zusätzlich ist das Konstrukt diagnostisch nicht sinnvoll, da sich die so definierten Legasthe-<br />

niker weder in ihren Schwierigkeiten im Lesen und in der Rechtschreibung (vgl. Klicpera/<br />

Gasteiger-Klicpera 1993) noch in anderen Funktionsbereichen (vgl. Valtin 1981; Weber/<br />

Marx/Schneider 2002) von anderen <strong>Kindern</strong> <strong>mit</strong> LRS unterscheiden. Es ist also diagnostisch<br />

nutzlos, weil die Tests nicht trennscharf sind und verschiedene Tests zu unterschiedlichen<br />

Ergebnissen führen. Darauffolgend zielte die Forschung in eine andere Richtung, um den be-<br />

troffenen <strong>Kindern</strong> helfen zu können. Man erkannte, dass Sprache mehr als bloßes Auswendig-<br />

lernen von Buchstaben und das Umsetzen von Buchstaben in Laute und umgekehrt ist. Jedes<br />

Kind konstruiert sich Sprache in einem individuellen Lern- und Entwicklungsprozess. Der<br />

Fortschritt diesbezüglich hängt von der Berücksichtigung des individuellen Erkenntnisstandes<br />

der Kinder im Unterricht ab. Werden Fähigkeiten vorausgesetzt, die das Kind noch nicht hat,<br />

kommt es <strong>mit</strong> größter Wahrscheinlichkeit zu Lernstörungen. Daraus ergibt sich die Notwen-<br />

digkeit, die individuellen Voraussetzungen zu diagnostizieren und folglich individuellen<br />

Schriftspracherwerb zuzulassen und zu fördern. In der Öffentlichkeit wie auch <strong>bei</strong> vielen Leh-<br />

rern und <strong>bei</strong> Eltern setzte sich diese Einsicht nicht durch, sodass ein sich ständig weiter aus-<br />

breitender Nach<strong>mit</strong>tags-Nachhilfe- und <strong>Legasthenie</strong>-Markt entstanden ist. Demzufolge war<br />

und ist das klassische <strong>Legasthenie</strong>konzept eine profitable Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahme <strong>für</strong><br />

Ärzte, Therapeuten und Psychologen. Dieser pädagogische Irrtum hat zur Folge, dass dem<br />

Schriftspracherwerb eine nur untergeordnete Bedeutung <strong>bei</strong>messen wird. Schließlich ist das<br />

Konstrukt <strong>Legasthenie</strong> wissenschaftlich nicht haltbar, da ihm die Annahme, das Kind könne<br />

aufgrund einer krankhaften Eigenschaft nicht Lesen und Schreiben lernen, zugrunde liegt. So<br />

verweisen vor allem Mediziner auf Teilleistungsschwächen bzw. Funktionsschwächen im<br />

kognitiven Bereich, z.B. Schwierigkeiten in der visuellen Wahrnehmung, in der<br />

visomotorischen Koordination und in der auditiven Differenzierung. Die Annahme, dass<br />

Funktions- oder Teilleistungsschwächen wesentlich zur <strong>Legasthenie</strong> <strong>bei</strong>tragen, gilt jedoch als<br />

falsifiziert und ist empirisch widerlegt (vgl. auch Bühler-Niederberger 1991;<br />

Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995; Valtin 2001). Nur ein geringer Prozentsatz der von Legas-<br />

thenie betroffenen Kinder weist überhaupt derartige Defizite auf (vgl. Valtin 1981;<br />

Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1993), jedoch gibt es viele Kinder <strong>mit</strong> Teilleistungsschwächen,<br />

die keinerlei Probleme <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb haben (vgl. Schenk-Danzinger 1991). Hie-<br />

raus ergibt sich die Frage, warum solche Teilleistungsschwächen in einigen Fällen zu Legas-<br />

thenie führen sollten und in anderen nicht und warum es Legastheniker ohne derartige Schwä-<br />

46


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive<br />

chen gibt. Das Modell der Teilleistungsschwächen gibt darauf keine Antwort, eine detaillierte<br />

Auseinandersetzung <strong>mit</strong> empirischen Befunden zu Teilleistungsstörungen bietet Valtin 2001.<br />

Letztlich ist das klassische <strong>Legasthenie</strong>konzept therapeutisch nicht brauchbar, weil eben so<br />

definierte Legastheniker keine anderen Therapiemaßnahmen als andere Kinder <strong>mit</strong> LRS brau-<br />

chen und der Therapieerfolg auch nicht von der Intelligenz der Kinder abhängig ist (We-<br />

ber/Marx/Schneider 2001). Dieses Ergebnis spricht <strong>für</strong> die Empfehlungen der KMK von<br />

1978, alle Kinder <strong>mit</strong> Lese-Recht-schreibschwierigkeiten unabhängig von ihrem Intelligenz-<br />

niveau zu fördern. Die fehlenden therapeutischen Erfolge von Programmen im visuellen oder<br />

visuomotorischen Bereich (Scheerer-Neumann 1979) sind daher nicht überraschend. Dies gilt<br />

auch <strong>für</strong> auditive Trainings nach Warnke (Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1996). Innerhalb des<br />

medizinischen Modells werden Kinder <strong>mit</strong> vermuteter <strong>Legasthenie</strong> vor allem einer umfang-<br />

reichen Diagnose hinsichtlich ihrer Hirnfunktionen und verschiedener Wahrnehmungsberei-<br />

che unterzogen. Demnach kann das medizinische Modell therapeutisch schädlich sein, wenn<br />

aufgrund falscher Fördermaßnahmen verhindert wird, dass Legastheniker gezielt am Versa-<br />

gen <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben und an ihrer Einstellung zur Schule und zur Schriftsprache<br />

ansetzende Hilfen erhalten. Der am klassischen <strong>Legasthenie</strong>konzept orientierte Förderunter-<br />

richt in der Grundschule hat keinerlei Effektivität (Klicpera/Gasteiger-Klicpera 2001). Ur-<br />

sprünglich als Entlastung <strong>für</strong> betroffene Kinder gedacht, kann die Diagnose „<strong>Legasthenie</strong>“<br />

ferner negative Auswirkungen auf deren Selbstbild haben (Naegele/Valtin 2001). Weil das<br />

medizinische <strong>Legasthenie</strong>konzept die Ursachen <strong>für</strong> Defizite <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben in das<br />

Kind verlegt und da<strong>mit</strong> den Blick auf die notwendigen Verbesserungen im Unterricht und <strong>bei</strong><br />

der Lehrerbildung verlegt, ist es schädlich <strong>für</strong> die kindliche Entwicklung. Die KMK stellte<br />

1978 in den Grundsätzen zur Förderung von Schülern <strong>mit</strong> besonderen Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m<br />

Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens fest: „Das Lesen und Schreiben zu lehren ge-<br />

hört zu den Hauptaufgaben der Grundschule, und es ist ihre pädagogische Aufgabe, da<strong>für</strong> zu<br />

sorgen, dass möglichst wenige Schüler gegenüber diesen Grundanforderungen versagen“<br />

(Naegele/Valtin 2003).<br />

Nach wie vor findet das medizinische <strong>Legasthenie</strong>konzept viel Anerkennung in der Öffent-<br />

lichkeit. Zahlreiche ursächlich im Kind begründete Funktionen fallen in den Rahmen der<br />

Symptomatik. Innerhalb des medizinischen Ansatzes finden sich ungeachtet dessen, dass alle<br />

Annahmen des „klassischen“ kausalen <strong>Legasthenie</strong>konzepts als falsifiziert gelten, immer noch<br />

Anhänger dieses Konzepts, die in der Öffentlichkeit viel Resonanz finden. Sie definieren Le-<br />

gasthenie als eine krankhafte Erscheinung und im Kind begründete Störung <strong>mit</strong> den Kennzei-<br />

chen einer guten Intelligenz und dennoch schwacher Lese-Rechtschreibleistung, weshalb Be-<br />

troffene allzu oft als krank, gestört oder gar behindert bezeichnet werden. Das medizinische<br />

47


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive<br />

Modell ist insbesondere unbefriedigend, da es Defizite <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben in das Kind<br />

verlegt und deshalb der Blick auf die notwendigen Verbesserungen in Schule, Unterricht und<br />

Lehrerbildung verstellt ist. Schließlich stellt sich die Frage, warum sich das Modell der Teil-<br />

leistungsstörungen und das klassische <strong>Legasthenie</strong>konzept nach wie vor großer Beliebtheit<br />

erfreuen und sich viele Gruppen darauf berufen 50 . Weil dieses Konzept eine entlastende Funk-<br />

tion <strong>für</strong> betroffene Kinder und alle Beteiligten hat 51 , bietet sich als eine mögliche Antwort an.<br />

Auch <strong>für</strong> Eltern ist dieses Konzept nützlich, da Krankenkassen eher <strong>für</strong> eine Therapie von<br />

Wahrnehmungsstörungen als <strong>für</strong> ein Lese- und Rechtschreibtraining zahlen. Indem es be-<br />

stimmten Berufsgruppen eine zahlungswillige Klientel beschert, dient dieses Konzept ferner<br />

als vortreffliche Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahme standespolitischer Interessen.<br />

Schlussfolgernd sind also Uneinheitlichkeit in den Förderkonzepten, unterschiedliche For-<br />

schungsansätze, kritische Analysen und Evaluationsberichte zur Wirksamkeit schulischer Le-<br />

gasthenikerbetreuung keine Irrwege der Pädagogik, da die Forschung auf dem Gebiet der Pä-<br />

dagogik und Psychologie einen wichtigen, sogar unentbehrlichen Stellenwert in der Schule<br />

einnimmt. Verbesserungen in Didaktik und Methodik des Unterrichts sollen daraus abgeleitet<br />

werden können, wodurch wiederum auch eine Möglichkeit zur Förderung der Flexibilität und<br />

Kreativität im Unterricht gegeben ist. Bezüglich dieses Prozesses besteht auch <strong>für</strong> die wissen-<br />

schaftliche Forschung eine permanente Herausforderung. Um genauestens jene Förderinhalte,<br />

die den <strong>Kindern</strong> im Unterricht ver<strong>mit</strong>telt werden, erfassen zu können, müssen stets die diag-<br />

nostischen Instrumentarien aktualisiert werden, wodurch die Effektivität von Fördermaßnah-<br />

men richtig beurteilt und entsprechende Erkenntnisse <strong>für</strong> den Unterricht abgeleitet werden<br />

können.<br />

Die Antwort auf die Frage, wie nun auf die besondere und immer wiederkehrende Kritik in<br />

Evaluationsberichten zur Förderung von Legasthenikern reagiert werden kann, die besagen,<br />

dass je nach Theoriekonzept und Diagnoseinstrumentarium unterschiedliche und unterschied-<br />

lich viele Kinder legastheniespezifische Förderung erhalten und unterschiedlich hohe Förder-<br />

effekte erzielt werden, kann nur wie folgt lauten: Individualisierung sowohl in Diagnose und<br />

Frühförderung als auch später im Unterricht. Eine solche Individualisierung fordert sowohl<br />

Vorschulpädagogen als auch Eltern und später Lehrer in ihren fachlichen und menschlichen<br />

Kompetenzen. Die resultierende Konsequenz wird die dem jeweiligen Kind individuell ange-<br />

50 so zum Beispiel der „Bundesverband <strong>Legasthenie</strong>“, eine Interessensvertretung von Eltern legasthener Kinder,<br />

aber auch eine Reihe von Lehrpersonen und Therapeuten.<br />

51 Wenn es sich um eine Teilleistungsschwäche handelt, ist keiner schuld und niemanden trifft Verantwortung.<br />

Lehrpersonen können sich von Schuldgefühlen befreien, wenn sie die Ursachen <strong>für</strong> schulische Leistungsprobleme<br />

in Defekten des Kindes sehen (z.B. in der neu erfundenen Dyskalkulie) und ihre Verantwortung <strong>für</strong> das Lesen-<br />

und Schreibenlernen des Kindes an außerschulische Instanzen delegieren können.<br />

48


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

messene, den gerade aktuellen emotionalen, sozialen und leistungsmäßigen Bedürfnissen ent-<br />

sprechende und das Kind als ganzheitliche Persönlichkeit erfassende Förderung sein.<br />

5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

5.1 Historisch-definitorischer Entwurf des <strong>Legasthenie</strong>begriffs<br />

<strong>Legasthenie</strong> ist einer jener Begriffe, der in der Pädagogik und Psychologie durch eine sehr<br />

wechselvolle Geschichte aufgefallen ist. Als ein an <strong>Legasthenie</strong> Interessierter stößt man in<br />

Fachkreisen oft auf verschiedene Auslegungen von <strong>Legasthenie</strong>. Dazu trägt vor allem die<br />

historische Entwicklung <strong>bei</strong>. Die ersten Publikationen über <strong>Legasthenie</strong> wurden im vorigen<br />

Jahrhundert registriert. Immer wieder wurde es deutlich, dass es zuerst Ärzte waren, die sich<br />

um 1900 <strong>mit</strong> der merkwürdigen Erscheinung beschäftigten, dass im sonstigen geistigen Leis-<br />

tungsbereich unauffällige Kinder nicht imstande sind, mehrsilbige Wörter zu lesen und nach<br />

Diktat richtig zu schreiben. Aufgrund der genbedingt andersartigen Verar<strong>bei</strong>tung von<br />

Eindrücken im Gehirn legasthener Menschen, wodurch es <strong>bei</strong>m Erlernen des Lesens und<br />

Schreibens <strong>mit</strong> den in Schulen üblichen Methoden zu Problemen kommen kann, haben Ärzte<br />

dies vor über 100 Jahren als pathologisch eingeordnet und bis heute ist es unserer Gesellschaft<br />

nicht gelungen, sich von dieser eklatanten Fehleinschätzung gänzlich zu befreien. Nur weil<br />

Betroffene Eindrücke anders verar<strong>bei</strong>ten, sind sie nicht schwach, gestört, krank oder<br />

behindert. An dieser Stelle soll ein historischer Einblick zu einem besseres Verständnis der<br />

gesamten Problematik <strong>bei</strong>tragen.<br />

Unsere genormte Rechtschreibung wurde u.a. von Duden sowie von den humanistischen<br />

Aufklärern Kant, Herder, Goethe und Lessing in die Gesellschaft getragen. Man muss sagen,<br />

dass das 17. Jahrhundert letzte wichtige Grundlagen zur Normierung der Rechtschreibung<br />

legte und unsere heutige Sprachkultur mehr prägte, als man wahrscheinlich vermuten möchte.<br />

Daher ist eine gute Lese- und Rechtschreibkompetenz sehr stark abhängig von der<br />

gesellschaftlichen Akzeptanz des Intellekts sowie von der gesellschaftlichen und kulturellen<br />

Teilhabe. Die Forschung geht etwa auf das Jahr 1861 zurück, in dem der Pariser Arzt Broca<br />

erstmals den Verlust der Sprache <strong>bei</strong> Erkrankten sowie <strong>bei</strong> Unfallopfern untersuchte und so<br />

seine erste Studie herausbrachte. So waren die Mediziner die ersten, die sich <strong>für</strong> die Thematik<br />

zu interessieren begannen. Der Neurologe Kussmaul (vgl. Müller 1964) bezeichnete 1877 das<br />

Phänomen der Schriftsprach- bzw. Schriftspracherwerbsschwierigkeiten als erworbene<br />

Wortblindheit bzw. „kognitive Alexie“. Er testete Erwachsene und die Erkenntnis, dass diese<br />

49


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

erwachsenen „Alektiker“ Bilder, die man ihnen vorlegte, eindeutig bezeichnen konnten, wäh-<br />

rend die Benennung von Buchstaben und einfachen Wörtern große Schwierigkeiten bereitete,<br />

versetzte viele Ärzte in Erstaunen. 1899 spricht Dr. O. Berkhan sogar von einer partiellen<br />

Idiotie 52 . Diese Definition bestätigten J. Kerr und der Augenarzt W. P. Morgan 1896, sie<br />

beschrieben das Phänomen des gestörten Lesens und Schreibens genauer, sprachen in diesem<br />

Zusammenhang jedoch von „angeborener Wortblindheit“. Diese Bezeichnung beschreibt ein<br />

Defizit im Lesezentrum, das damals auch als mangelnde Entwicklung des Lesezentrums<br />

bezeichnet wurde. Die „angeborene Wortblindheit“ ist jedoch von der „erworbenen<br />

Wortblindheit“ 53 abzugrenzen. Morgan (1896) fand einen un<strong>mit</strong>telbaren Zusammenhang<br />

zwischen einer Störung und einer pathologischen Veränderung eines exakt definierten<br />

Bereiches des menschlichen Hirns. Er führte die gleichen Symptome auf die gleichen<br />

Ursachen zurück; im Falle einer Schädigung dieses bestimmten Bereichs im Gehirn verliert<br />

der Betroffene die Fähigkeit zu lesen. Folglich ging Morgan von einer Hirnschädigung in<br />

diesem Bereich des Gehirns aus. Dies war damals ein verständliches Erklärungsmodell, um<br />

dieses Phänomen als Krankheit zu bezeichnen. Durch seine Forschungen gab Morgan einen<br />

weltweiten Forschungsanstoß.<br />

Der ungarische Psychologe und Psychiater P. Ranschburg studierte umschriebene Ausfallser-<br />

scheinungen erstmals an <strong>Kindern</strong>, <strong>bei</strong> denen jedoch kein neurologischer Befund erhoben wer-<br />

den konnte. Er führte 1916 die heute noch gebräuchlichen Bezeichnungen „<strong>Legasthenie</strong>“ 54<br />

und Arithmasthenie (Rechenschwäche) ein. Er verstand darunter die Unfähigkeit von Schul-<br />

kindern, sich das Lesen innerhalb der ersten Schuljahre anzueignen, obwohl sie normale Sin-<br />

nesorgane besitzen. Auch eine ganze Reihe weiterer bedeutender Studien (u.a. Orton 1927)<br />

wurden nur in einem relativ kleinen, vorwiegend psychiatrisch-neurologischen Kreis von<br />

Fachleuten bekannt. Die Lehrerschaft, welcher die LRS-Problematik eigentlich zuerst und vor<br />

allem hätte auffallen müssen, leistete jahrzehntelang praktisch keinen Beitrag zur Erforschung<br />

der Lese-Rechtschreibschwäche (vgl. hierzu Schenk 1968). Ranschburg widmet 1928 als ei-<br />

ner der Ersten dem Phänomen der „Lese- und Schreibstörungen des Kindesalters“ eine umfas-<br />

sende Ar<strong>bei</strong>t. Im Zuge seiner Forschungen kam er allerdings zu der Erkenntnis, dass diese<br />

„Störung“ auf einen Mangel an Intelligenz <strong>für</strong> höhere geistige Leistungen, die Lesen und<br />

Schreiben seiner Meinung nach darstellen, zurückzuführen sei. Man sprach noch immer von<br />

52 Dieser Begriff bezeichnet bereits eine Vorstufe der geistigen Behinderung.<br />

53 Noch heute findet man den Begriff der kongenitalen Wortblindheit in der Medizin vor. In Dänemark findet der<br />

Begriff „Wortblindheit“ noch bis heute Anwendung.<br />

54 zunächst als „Leseschwäche“ bezeichnet. Für eine kurze Darstellung historischer Aspekte vgl. bspw. auch<br />

Warnke 1990, S. 17ff.<br />

50


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

partieller Idiotie oder partiellem Intelligenzdefekt 55 . In den 30er Jahren des vorigen Jahrhun-<br />

derts einigte man sich bezüglich der Terminologie auf die Bezeichnung „Dyslexie“ als eine<br />

Störung des Lesens und Schreibens. Bedingt durch die Isolation und die historischen Gege-<br />

benheiten zwischen 1930 und 1945 wurden andere Forschungsergebnisse in Deutschland<br />

bzw. Österreich nicht bekannt. Das deutsche Bildungssystem wurde im Dritten Reich in Mit-<br />

leidenschaft gezogen. In der Kriegszeit war Deutschland von der regen Erforschung der Le-<br />

gasthenie der USA abgeschottet. Im deutschsprachigen Raum beschäftigte man sich <strong>mit</strong> der<br />

allgemeinen Erforschung des Lesens, in Amerika dagegen stand die <strong>Legasthenie</strong> bereits stär-<br />

ker im Blickpunkt der psychologischen und pädagogischen Forschungen. Während sich in<br />

Amerika vorwiegend Pädagogen und Psychologen <strong>mit</strong> „reading disabilities“ beschäftigten,<br />

setzte gleichzeitig eine intensive Ar<strong>bei</strong>t in empirischen Forschungen ein, die auf Untersu-<br />

chungen von etwaigen Zusammenhängen der legasthenen Störung <strong>mit</strong> anderen psychischen<br />

Besonderheiten erweitert wurde. M. Monroe lässt 1932 in einem Standardwerk ein Motiv <strong>für</strong><br />

den Einsatz der Psychologen und Pädagogen in der <strong>Legasthenie</strong>forschung anklingen (vgl.<br />

Monroe 1932), wo<strong>mit</strong> die pädagogisch-psychologischen Forschungen einsetzten. In Deutsch-<br />

land kannte man außer der alten Definition Ranschburgs keine anderen Sichtweisen. Im Jahr<br />

1937 verglich die Psychologin L. Mach die Fehler Leseschwacher <strong>mit</strong> denen „normaler“ Le-<br />

ser, hier<strong>bei</strong> führte sie die Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesevorgang auf ein geringes optisches Un-<br />

terscheidungsvermögen <strong>für</strong> bestimmte Materialien und ein geringes Gedächtnis <strong>für</strong> optische<br />

Gebilde zurück und brachte sowohl eine Aufzählung der Fehlermöglichkeiten als auch einen<br />

Erklärungsversuch in ihre Forschungen ein (vgl. Mach 1937). Aufgrund der Tatsache, dass<br />

die von Monroe erstellten Methoden und Ergebnisse <strong>für</strong> die Behandlung leseschwacher Kin-<br />

der durchwegs erfolgreich waren, bezüglich der Symptomatologie und Diagnose als auch der<br />

Therapie, entwickelte sich ein Umdenken hin zu einer optimistisch-pädagogischen Haltung<br />

und weg von einer einseitig theoretischen Zielsetzung. Erst nach den Psychologen rückte die<br />

Problematik demnach auch <strong>für</strong> Pädagogen in den Mittelpunkt, da man in dieser Zeit die Rele-<br />

vanz der <strong>Intervention</strong> auf pädagogisch-didaktischer Ebene erkannte. Es gab einen For-<br />

schungsschub in Sachen <strong>Legasthenie</strong>. Die Isolierung Deutschlands zwischen 1930 und 1945<br />

sorgte da<strong>für</strong>, dass in Deutschland erst in den fünfziger Jahren eine breitere Diskussion über<br />

das Phänomen der <strong>Legasthenie</strong> begann. In den 50er und 60er Jahren gab es <strong>für</strong> viele bessere<br />

Chancen im Bildungssystem in den alten Bundesländern. Zahlreiche Autoren der 50er und<br />

55 Dies war eine falsche Diagnose, die jahrzehntelang bis zum heutigen Zeitpunkt nachhaltige Auswirkungen <strong>für</strong><br />

betroffene Schüler zur Folge hatte und noch haben kann. Ein Schicksal in Sonderschulen war besiegelt, obwohl<br />

diese Schüler aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihrer durchschnittlichen, sehr oft auch überdurchschnittlichen Intelligenz<br />

in einem anderen schulischen System besser aufgehoben gewesen wären.<br />

51


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

60er Jahre verwiesen darauf, dass Lese-Rechtschreibschwäche bzw. Lese- und Buchstabierun-<br />

fähigkeit Symptome ganz verschiedener Syndrome sein können. Die Verschiedenheit von<br />

Typen, Ursachen und Formen wurde <strong>mit</strong> zunehmenden Forschungsergebnissen immer deutli-<br />

cher (vgl. Schenk-Danzinger 1991, S. 20f.). Die klassische Definition der Züricher Psycholo-<br />

gin M. Linder aus dem Jahre 1951, sie definierte <strong>Legasthenie</strong> im Sinne eines kausalen Be-<br />

griffs als spezifische Lesestörung <strong>mit</strong> Krankheitscharakter <strong>bei</strong> <strong>Kindern</strong> <strong>mit</strong> mindestens durch-<br />

schnittlicher Intelligenz, geht von der Diskrepanz der Intelligenz und der Lese-<br />

Rechtschreibleistungen aus und lautet wörtlich: „Unter <strong>Legasthenie</strong> versteht man eine speziel-<br />

le, aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und<br />

indirekt auch des selbstständigen orthographischen Schreibens) <strong>bei</strong> sonst intakter oder (im<br />

Verhältnis zur Lesefertigkeit) relativ guter Intelligenz“ (Schenk-Danzinger 1975, S. 71; vgl.<br />

auch Linder zit. nach Angermaier 1970, S. 21ff.). Diese Definition ist deshalb gut, weil sie<br />

einen wichtigen Hinweis darauf gibt, dass <strong>Legasthenie</strong> nicht auf einer Intelligenzminderung<br />

basiert. Die Schweizer Psychologin gab <strong>mit</strong> ihrer Veröffentlichung „Über <strong>Legasthenie</strong>“<br />

(1951) einen wichtigen Anstoß <strong>für</strong> Psychologen und Heilpädagogen. Die <strong>Legasthenie</strong> wird<br />

von der Psychologin eindeutig als Teilleistungsschwäche identifiziert, wodurch das gängige<br />

Vorurteil, dass Schüler <strong>mit</strong> Leseschwierigkeiten an einem Intelligenzdefizit leiden, widerlegt<br />

wird. Ihr gelang es <strong>mit</strong> ihrer Diskrepanzdefinition, die Legastheniker aus ihrer Isolierung her-<br />

vorzuholen.<br />

Neben Linder waren es vor allem L. Schenk-Danzinger, H. Kirchhoff und A. Busemann, die<br />

die ersten bahnbrechenden Forschungsar<strong>bei</strong>ten hervorbrachten und die Probleme des<br />

leserechtschreibschwachen Kindes einem größeren Erzieher- und Lehrerkreis im<br />

deutschsprachigen Raum bekannt machten. Man war nicht mehr der Meinung, dass<br />

Legastheniker auf eine Sonderschule <strong>für</strong> Lernbehinderte müssten, sondern dass Betroffene<br />

einen besonderen pädagogischen Ansatz benötigen, um die Kulturtechniken zu erlernen. Zu<br />

dieser Zeit kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, die in den verschiedenen<br />

Forschungsbereichen bis heute andauern. Die Literatur über das Problem der <strong>Legasthenie</strong> ist<br />

seit 1950 enorm angewachsen, sodass sie vom Einzelnen kaum mehr überblickt werden kann.<br />

5.2 Definitionsversuch der Begrifflichkeit „<strong>Legasthenie</strong>“<br />

Vereinfacht gesagt bedeutet <strong>Legasthenie</strong> „Lernschwierigkeiten <strong>mit</strong> Worten und der Sprache“.<br />

Ausgehend von dieser Definition ergaben sich in der Historie verschiedene Ansatzpunkte<br />

52


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

sowie sich ändernde Bezeichnungen 56 und Sichtweisen, die die Ursache und den Umgang <strong>mit</strong><br />

dieser Problematik zu regeln versuchten. Das Phänomen der Lese-Rechtschreibstörung ist<br />

schon im letzten Jahrhundert beschrieben worden, seither wurden, wie in den vorigen<br />

Kapiteln gezeigt wurde, zahlreiche aber meist mäßig befriedigende Versuche unternommen,<br />

den Begriff <strong>Legasthenie</strong> zu definieren. Dass <strong>Legasthenie</strong> eine nicht durch die Umwelt verur-<br />

sachte, sondern angeborene Entwicklungsbeeinträchtigung ist, wurde u.a. auch durch die For-<br />

schungsergebnisse des amerikanischen Neuropsychologen A. Galaburda bestätigt (vgl.<br />

Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1998, S. 289). Die amerikanische International Dyslexia<br />

Association definiert <strong>Legasthenie</strong> als „eine von mehreren umschriebenen Lernstörungen“ (zit.<br />

nach Klasen 1999, S. 17) 57 . Daher ist sie keine „Krankheit“, die man „hat“, sondern eine Art<br />

und Weise, wie jemand funktioniert.<br />

1995 lieferte Dr. A. Kopp-Duller die erste pädagogische Definition von <strong>Legasthenie</strong>, die dazu<br />

<strong>bei</strong>tragen möge, dass die noch immer vorherrschenden Vorurteile bezüglich der Begrifflich-<br />

keit allmählich aus unserer Gesellschaft verdrängt werden. Die erfolgreichen Forschungsar-<br />

<strong>bei</strong>ten von Dr. A. Kopp-Duller in Amerika ermöglichen es im Besonderen legasthenen Kin-<br />

dern, die Hindernisse des Lesens, Schreibens oder Rechnens leichter zu bewältigen. Sie prägt<br />

und bestätigt da<strong>mit</strong> eine pädagogisch-didaktische Definition von <strong>Legasthenie</strong>, die Maria<br />

Linder schon in den 50er Jahren erkannte. Diese pädagogische Definition von <strong>Legasthenie</strong><br />

impliziert auch eine Definition von Dyskalkulie und lautet wie folgt: „Ein legasthener<br />

Mensch, <strong>bei</strong> guter oder durchschnittlicher Intelligenz, nimmt seine Umwelt differenziert<br />

anders wahr, seine Aufmerksamkeit lässt, wenn er auf Symbole trifft, nach, da er sie durch<br />

seine differenten Teilleistungen (Sinneswahrnehmungen) anders empfindet als nicht<br />

legasthene Menschen. Dadurch ergeben sich Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Erlernen des Lesens,<br />

Schreibens oder Rechnens“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 23). Sie hat sehr erfolgrei-<br />

che pädagogische Ar<strong>bei</strong>tsprogramme <strong>für</strong> legasthene Menschen erstellt, die in ihren <strong>Bücher</strong>n<br />

(z.B. „Der legasthene Mensch“) ausführlich erläutert werden. Sie verlangt erstmals die<br />

Förderung von legasthenen <strong>Kindern</strong> in drei Teilbereichen, diese sind die Aufmerksamkeit in<br />

Zusammenhang <strong>mit</strong> dem Schreiben, Lesen und Rechnen, das Training an den differenzierten<br />

Sinneswahrnehmungen, die man zum Schreiben, Lesen und Rechnen benötigt, und das<br />

individuelle und spezielle Training am Symptom, an den Fehlern, die das legasthene Kind<br />

macht. Besondere Bedeutung misst die Pädagogin dem Zeitfaktor <strong>bei</strong>, da jedes legasthene<br />

56<br />

isolierte oder umschriebene Lese-Rechtschreibschwäche, Lese-Rechtschreibstörung, <strong>Legasthenie</strong>, LRS, Lese-<br />

Rechtschreibschwäche …<br />

57<br />

Die so genannte Dekodierung wird auch von Fachleuten übereinstimmend als das Kernproblem gesehen. Auf<br />

ihr basiert das phonologische Verar<strong>bei</strong>tungsproblem.<br />

53


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

Kind, das Lesen, Schreiben und Rechnen erlernt, hier<strong>für</strong> seinen Bedürfnissen angepasste<br />

Lernmethoden und wesentlich mehr Zeit benötigt als nicht legasthene Kinder. Außerdem<br />

bestätigt sie, dass sich <strong>Legasthenie</strong> unabhängig von der Intelligenz entwickelt und dass die<br />

Kinder <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen <strong>mit</strong> der sehr differenzierten Sinnes- und<br />

Teilleistungswahrnehmung konfrontiert sind. Im Zusammenhang <strong>mit</strong> <strong>Legasthenie</strong> von<br />

Schwächen und Störungen zu sprechen, vermeidet sie. Weiters hat sie die Begriffe<br />

Primärlegasthenie und Sekundärlegasthenie geprägt (s. Kopp-Duller 2008a, S. 25f.). Mit ihrer<br />

pädagogischen Definition wird vor allem erstmals klar und nachvollziehbar die Tatsache<br />

anerkannt, dass es Menschen gibt, <strong>bei</strong> denen der Lese-, Schreib- oder Rechenlernprozess<br />

andersartig abläuft, wo<strong>mit</strong> <strong>Legasthenie</strong> als vorrangig pädagogisch-didaktisches<br />

<strong>Intervention</strong>sgebiet etikettiert wird. So<strong>mit</strong> wurde die Problematik nicht mehr, wie es durch die<br />

Gesundheitsberufe üblich war, als lediglich pathologisches Problem definiert (vgl. Kopp-<br />

Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 24). Der amerikanischen <strong>Legasthenie</strong>wissenschaftlerin Dr. S.<br />

Shaywitz gelang es 1998, die <strong>Legasthenie</strong> funktionell zu belegen, wo<strong>bei</strong> sie feststellen konnte,<br />

dass die Gehirnmuster legasthener Menschen signifikant anders sind als die nicht legasthener<br />

Menschen. In der Folge wurde zu Beginn des neuen Jahrtausends von der amerikanischen<br />

Wissenschaftlerin Dr. P. Tallal das reibungslose Funktionieren der optischen und akustischen<br />

Sinneswahrnehmungen als unumgängliche Voraussetzung <strong>für</strong> ein erfolgreiches Erlernen des<br />

Schreibens und Lesens beschrieben (vgl. Tallal 2000). Tallal zeigte, dass Kinder <strong>mit</strong> Defiziten<br />

der Laut- und Schriftsprache auch Schwierigkeiten <strong>bei</strong> der Wahrnehmung der zeitlichen<br />

Reihenfolge von rasch aufeinander folgenden akustischen Signalen haben und deshalb<br />

bestimmte Konsonanten und Phoneme nur schwer wahrnehmen können. Neben den Effekten<br />

der auditiven zeitlichen Wahrnehmung und der Entwicklung eines funktionierenden<br />

phonologischen Systems spielt nach derzeitigem Forschungsstand auch die visuelle zeitliche<br />

Wahrnehmung eine große Rolle <strong>bei</strong>m Erwerb des Lesens und Schreibens (vgl. auch<br />

Livingstone et al. 1991). In einer <strong>Legasthenie</strong>-Definition von führenden amerikanischen<br />

Wissenschaftlern ist das Intelligenz-Diskrepanz-Kriterium nicht mehr enthalten, da es sich<br />

aufgrund der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnislage zwar als historisch<br />

nachvollziehbare, aber falsche Hypothese erwiesen hat (vgl. Lyon et al. 2003, S. 1-14). In den<br />

USA wurden 2004 entsprechende rechtliche Änderungen <strong>für</strong> die Diagnostik vorgenommen,<br />

wo<strong>mit</strong> ein Intelligenztest nicht mehr vorgeschrieben ist (vgl. U.S. Individuals with Disabilities<br />

Education Act [IDEA] 2004, S. 118; Silverstein 2005). Erforderlich ist eine kenntnisreiche<br />

und genaue Förderdiagnostik des Lesens sowie lese- und schreibbezogener Fähigkeiten von<br />

Anfang an. Da<strong>bei</strong> sollen auch standardisierte Tests zum Einsatz kommen. Eine bloße<br />

Er<strong>mit</strong>tlung von Prozenträngen in standardisierten Tests genügt allerdings nicht.<br />

54


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

Das Phänomen <strong>Legasthenie</strong> ist als eine „umschriebene Beeinträchtigung der Lese- und<br />

Rechtschreibfähigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, durch unkorrigierte<br />

optische oder akustische Beeinträchtigungen oder unangemessene Beschulung erklärbar ist.<br />

Sie ist nicht Folge anderer Störungen (wie z.B. Intelligenzminderung, grober neurologischer<br />

Defizite, unkorrigierter Seh- und Hörstörungen oder emotionaler Störungen), aber sie kann<br />

zusammen <strong>mit</strong> diesen auftreten. […] Häufiger treten andere klinische Symptome (wie z.B.<br />

Aufmerksamkeitsstörung oder Störungen des Sozialverhaltens) oder andere<br />

Entwicklungsstörungen (wie umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen<br />

oder des Sprechens und der Sprache) gemeinsam auf. Sie gilt also als entwicklungsbiologisch<br />

und zentralnervös bedingte Störung des Erlernens des Lesens und Schreibens alphabetischer<br />

Schriftsprache“ (Warnke/Wewetzer/Grimm 1998 zit. nach Schulte-Körne 2001b, S. 32) zu<br />

definieren. Eines der wichtigsten und fundamentalsten Kriterien ist die sich in der Norm<br />

befindliche Intelligenz. Kinder <strong>mit</strong> Leseschwierigkeiten, die sich aufgrund einer allgemeinen<br />

Intelligenzschwäche ergeben, sind also nicht als legasthen zu bezeichnen, wo<strong>mit</strong> <strong>Legasthenie</strong><br />

„eine ganz spezifische Schwäche <strong>bei</strong>m Erlernen des Lesens und/oder Rechtschreibens <strong>bei</strong><br />

mindestens durchschnittlicher Intelligenz“ (Küspert 2005, S. 50) zu verstehen ist. Diese<br />

Einsicht verhalf legasthenen <strong>Kindern</strong> zur Chance auf eine spezielle Förderung, ohne generell<br />

als wenig intelligent eingestuft zu werden. So<strong>mit</strong> kann die <strong>Legasthenie</strong> als eine<br />

Lernschwierigkeit <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb bezeichnet werden, die Defizite bzw.<br />

Teilleistungsstörungen 58 im Bereich des Lesens und Rechtschreibens zur Folge hat, die <strong>bei</strong><br />

jedem Intelligenzgrad vorkommen kann und unabhängig von sonstigen schulischen<br />

Leistungsfähigkeiten des Betroffenen auftritt. Von einer <strong>Legasthenie</strong> kann man sprechen,<br />

wenn <strong>bei</strong> dem Betroffenen prä-, peri- und/oder postnatal genbedingte Wahrnehmungs- bzw.<br />

Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tungsstörungen feststellbar sind, also die Sinneswahrnehmungen<br />

differenziert sind, und eine entsprechende Fehlersymptomatik trotz mindestens<br />

durchschnittlicher Intelligenz vorliegt. Im Falle der <strong>Legasthenie</strong> handelt es sich also um eine<br />

anlagebedingte Hirnfunktionsschwierigkeit, durch die der Schriftspracherwerb trotz<br />

mindestens durchschnittlicher Intelligenz und Beschulung außerordentlich und langfristig<br />

erschwert wird, wodurch Schulkinder nicht die <strong>für</strong> ihre Altersgruppe zu erwartenden Lese-<br />

58 Die legastheniebedingten Defizite im Bereich des Lesens und Rechtschreibens werden als<br />

Teilleistungsstörungen definiert, weil das legasthene Kind, obwohl es über eine mindestens durchschnittliche<br />

Allgemeinintelligenz verfügt, in einem bestimmten Teilbereich auffällige, schwer zu mildernde Schwierigkeiten<br />

hat. Diese können im Lesen und/oder in der Rechtschreibung (<strong>Legasthenie</strong>), allein in der Rechtschreibung<br />

(isolierte Rechtschreibstörung) sowie allein im Lesen (umschriebene Lesestörung) liegen. Teilleistungsstörung<br />

wird als Oberbegriff verwendet.<br />

55


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

und Schreibfähigkeiten erlangen. Diese Definition soll der vorliegenden Ar<strong>bei</strong>t als Grundlage<br />

dienen.<br />

Heute weiß man, dass <strong>Legasthenie</strong> in einem multikausalen Zusammenhang gesehen werden<br />

muss, wo<strong>bei</strong> es sich um eine sehr individuelle Diagnostik sowie einen individuellen Förder-<br />

bedarf handelt. <strong>Legasthenie</strong> wird nicht als Lernbehinderung oder als Beeinträchtigung der<br />

Lernfähigkeit, sondern als Problem einer fehlenden Passung (vgl. auch Holtstiege 2009, S. 7,<br />

86, 120) zwischen Lernvoraussetzungen und Lernangeboten verstanden. Hinsichtlich der Le-<br />

gasthenie-Symptomatik sowie der Diagnostik gilt es, zwischen Primärsymptomen, Begleit-<br />

symptomen und Sekundärsymptomen zu unterscheiden. Zur den Primärsymptomen 59 werden<br />

all jene Auffälligkeiten gerechnet, die direkt auf der Leistungsebene des Lesens und Recht-<br />

schreibens zu beobachten sind. Unter Begleitsymptomen sind Beeinträchtigungen und Stö-<br />

rungen auf anderen Leistungsgebieten zu verstehen, die jedoch gehäuft <strong>bei</strong> lese-<br />

rechtschreibschwachen und -gestörten <strong>Kindern</strong> auftreten. Sekundärsymptome 60 sind solche,<br />

welche sich indirekt auf der Leistungsebene des Lesens und Rechtschreibens auswirken, ih-<br />

rerseits dann auch wiederum Rückwirkungen auf die schulische Leistungsfähigkeit haben.<br />

5.2.1 Primärlegasthenie<br />

Allgemein wird die grundsätzliche Ausprägung von Lese- und Schreibproblemen, die einen<br />

biologischen Ursprung haben, als Primärlegasthenie bezeichnet, wo<strong>mit</strong> eine <strong>Legasthenie</strong> ohne<br />

sekundäre allgemeine Lesitungsstörungen gemeint ist. Es kann beobachtet werden, dass das<br />

Kind <strong>bei</strong> diesen Tätigkeiten zeitweise überhaupt nicht <strong>bei</strong> der Sache ist und deshalb vermehrt<br />

Fehler (Wahrnehmungsfehler) produziert, ohne sich dessen im Moment des Schreibens be-<br />

wusst zu sein. Hervorgerufen werden diese Unaufmerksamkeit und die daraus folgenden<br />

Wahrnehmungsfehler dadurch, dass der legasthene Mensch über eine abweichende Ausprä-<br />

gung der <strong>für</strong> das Lesen und Schreiben benötigten Sinneswahrnehmungen verfügt. Hier treten<br />

Schwierigkeiten lediglich durch unzureichende Methoden und biogenetische Anlagen auf<br />

(vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 55). Es müssen spezielle Förderungen im pädago-<br />

gisch didaktischen Bereich erfolgen.<br />

Hat ein Kind eine zeitweise Unaufmerksamkeit <strong>bei</strong>m Lesen, Schreiben oder Rechnen 61 , diffe-<br />

rente Sinneswahrnehmungen und weist es eine entsprechende Fehlersymptomatik auf, ist<br />

sonst aber nicht auffällig geworden (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 25), und ergeben sich <strong>bei</strong>m<br />

59 s. Primärlegasthenie, Kapitel 5.2.1.<br />

60 s. Sekundärlegasthenie, Kapitel 5.2.2.<br />

61 Es kann auch nur ein Bereich betroffen sein.<br />

56


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

Erlernen des Schreibens oder Lesens Schwierigkeiten, die eine biogenetisch bedingte Ursache<br />

haben, ist von einer Primärlegasthenie zu sprechen. Die Betroffenen haben Probleme <strong>bei</strong>m<br />

Erlernen des Schreibens und Lesens „<strong>mit</strong> standardisierten, in den Schulen angebotenen Me-<br />

thoden […], weil die Informationsverar<strong>bei</strong>tung anders erfolgt“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller<br />

2008a, S. 55).<br />

Falls diese Form von <strong>Legasthenie</strong> gleich als solche erkannt wird, kann dem Betroffenen direkt<br />

geholfen werden, so verbleibt er in der Primärlegasthenie, wo<strong>bei</strong> <strong>bei</strong> dieser Ausprägung der<br />

<strong>Legasthenie</strong> keinerlei psychische, physische oder andere Verursachungen <strong>mit</strong>wirken, die die<br />

Anlage negativ beeinflussen könnten.<br />

Wenn die eigentliche Primärlegasthenie unerkannt und unbehandelt bleibt, kann durch die<br />

Frustration oder andere begleitende Umstände eine Sekundärlegasthenie entstehen. Die dann<br />

notwendigen Maßnahmen sind umso umfangreicher und schwieriger. Gegenmaßnahmen zur<br />

Prävention des Auftretens von Sekundärproblematiken sind das Training der Aufmerksam-<br />

keitsfokussierung, die Schärfung der Sinneswahrnehmung sowie das Training an den Fehler-<br />

symptomen. Treten Sekundärprobleme auf, so sind <strong>Intervention</strong>en in den Bereichen, die eine<br />

Sekundärlegasthenie kennzeichnen, anzustreben.<br />

5.2.2 Sekundärlegasthenie<br />

Von einer Sekundärlegasthenie spricht man, wenn sich zu den Schwierigkeiten der Primärle-<br />

gasthenie psychische oder physische Probleme – das können schon vorhandene oder durch<br />

das Nichterkennen der <strong>Legasthenie</strong> und die unterlassene entsprechende Förderung erworbene<br />

sein – hinzugesellen. Die Entwicklung einer Sekundärlegasthenie basiert also auf denselben<br />

Gründen wie eine erworbene Lese-Rechtschreibschwäche oder Rechenschwäche. 62 Demzu-<br />

folge wird das Kind ständig Misserfolge haben und in den Teufelskreis der Lernstörungen<br />

hineingezogen werden, die Begleit- oder Folgeerscheinungen einer unbeachteten <strong>Legasthenie</strong><br />

sind. Vor allem das Unverständnis der Umgebung, ein Mangel an Ermutigung, Lob und Zu-<br />

spruch 63 , das Fehlen von Erfolgserlebnissen, die ständige Überforderung, aber auch der stän-<br />

dige Vergleich <strong>mit</strong> den Klassenkameraden, Zeitdruck, Bloßstellungen u.Ä. führen leicht zu<br />

einer Sekundärlegasthenie <strong>mit</strong> den typischen Anzeichen. Folglich können sich zusätzlich zu<br />

den Lese-, Schreib- oder Rechenproblemen auch im psychischen Bereich Verhaltensauffällig-<br />

keiten zeigen. Zu diesen zählen Aggressionen durch ständige Selbstverteidigung des Kindes,<br />

62 etwa Verursachungen im physischen Bereich und Verursachung im psychischen Bereich.<br />

63 Die Funktion des Lobes ist es, das Kind dazu zu motivieren an einer Sache weiterzuar<strong>bei</strong>ten, es zu<br />

unterstützen und nicht nachzulassen und da<strong>mit</strong> seine Lernbereitschaft zu bekräftigen (vgl. Prange/ Strobel-Eisele<br />

2009, S. 88).<br />

57


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

Depressionen, Destruktivität und Verleugnen der Misserfolge, Abwehrverhalten vor allem<br />

gegen Schulbelange, mangelnde Frustrationstoleranz (dem Kind mangelt es durch die ständi-<br />

gen Misserfolge an Selbstvertrauen und Leistungsbereitschaft), Impulsivität bzw. unerwarte-<br />

tes plötzliches Handeln (das Kind gibt voreilige Antworten, hat Schwierigkeiten Aufträge<br />

ganz zu erfassen, es hat generell Schwierigkeiten <strong>mit</strong> dem Zuhören, unterbricht andere) sowie<br />

Unruhe (diese tritt nur im direkten Zusammenhang <strong>mit</strong> den Tätigkeiten des Schreibens und<br />

Lesens auf und unterscheidet sich dadurch von krankhafter Unruhe, sog. Hyperaktivität) 64<br />

u.v.m.<br />

Die Ausbildung einer Sekundärlegasthenie ist als Prozess aufzufassen. Besonders <strong>bei</strong>m Vor-<br />

handensein von psychischen Auffälligkeiten durchwandert der Betroffene verschiedene Stu-<br />

fen, da die nötige Anerkennung, die jeder Mensch braucht, um gesund zu bleiben, fehlt. Die<br />

auftretenden Leistungsdefizite werden <strong>für</strong> die Betroffenen deutlich spürbar und in dieser Pha-<br />

se suchen viele Kinder die Begründung da<strong>für</strong> <strong>bei</strong> sich selbst (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller<br />

2008a, S. 56). Die <strong>mit</strong> den Leistungsdefiziten zusammenhängende ständige Kritik von Seiten<br />

der Schule (Lehrer sowie Schüler) als auch von Seiten des näheren privaten Umfeldes zu<br />

Hause (Eltern, Geschwister) schädigt das Selbstwertgefühl schwer, was eine Blockade der<br />

Lernbereitschaft zur Folge hat. So<strong>mit</strong> kommt es zu einem scheinbar ausweglosen Zustand. Zu<br />

den speziellen Förderungen im pädagogisch-didaktischen Bereich, die <strong>bei</strong> einer Primärlegas-<br />

thenie <strong>für</strong> einen Erfolg ausreichen, müssen in diesem Fall individuelle <strong>Intervention</strong>en und<br />

so<strong>mit</strong> fachlich gezielte Hilfe durch die Gesundheitsberufe, Psychologen, Mediziner, Ergothe-<br />

rapeuten, Logopäden etc., erfolgen.<br />

5.3 Warum nicht jedes Kind <strong>mit</strong> Problemen <strong>bei</strong>m Lesen- und<br />

Schreibenlernen <strong>Legasthenie</strong> hat …<br />

Kinder <strong>mit</strong> erheblichen Lese-Rechtschreibschwierigkeiten werden in der medizinisch-<br />

psychiatrischen Diagnostik in zwei Gruppen eingeteilt. Die Diagnose „<strong>Legasthenie</strong>“ wird ver-<br />

geben, wenn zwischen der gemessenen Intelligenz eines Kindes und seinem Abschneiden in<br />

normierten Lese- und Rechtschreibtests eine starke Diskrepanz vorliegt. Ist der Unterschied<br />

zwischen den Werten im Intelligenztest und im Lese-Rechtschreibtest nicht so groß und<br />

64 Die echte Hyperaktivität ist eine hirnbiologisch bedingte Krankheit, die auch als ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom)<br />

bezeichnet wird. Sie kann von der genannten Unruhe nur schwer unterschieden<br />

werden, weil die Symptomatik sehr ähnlich bis gleich ist.<br />

58


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

kommen komorbide Störungen 65 hinzu, wird die Diagnose „LRS“ gestellt. Diese Vorgehens-<br />

weise ist international längst höchst umstritten 66 , da diese Diagnostik meist nur zu sehr gene-<br />

rellen Empfehlungen führt und keine Bedeutung <strong>für</strong> die Förderung hat. Außerdem gibt es<br />

(psychometrische) Schwierigkeiten <strong>bei</strong> der Diagnostik 67 und die <strong>bei</strong>den Kindergruppen unter-<br />

scheiden sich in ihren Leseleistungen und leserelevanten kognitiven Fähigkeiten nicht oder<br />

nur äußerst schwach voneinander. Es wird den <strong>Kindern</strong> – wenn überhaupt – viel zu spät ge-<br />

holfen, da die Diagnose „<strong>Legasthenie</strong>“ oder „LRS“ meist frühestens am Ende der zweiten<br />

Klasse gestellt werden kann.<br />

Es wird im Allgemeinen zwischen der biogenetischen Problematik (<strong>Legasthenie</strong>) und der er-<br />

worbenen Problematik (LRS) unterschieden (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 42).<br />

LRS ist eine Problematik, die durch besondere Umstände im Leben des Kindes bedingt und<br />

erworben werden kann, sie ist die Bezeichnung <strong>für</strong> alle Störungen, die dazu führen, dass Le-<br />

sen und/oder Rechtschreiben nicht bzw. nur schlecht erlernt werden kann. Hier<strong>bei</strong> ist selbst-<br />

verständlich die Verursachung zu beachten, eine gezielte Förderung im Fehlerbereich ist drin-<br />

gend erforderlich. Zum einen können diese Verursachungen im physischen Bereich 68 und zum<br />

anderen im psychischen Bereich 69 liegen. Im psychischen Bereich können sich außerdem<br />

Verhaltensstörungen wie Unruhe (besonders <strong>bei</strong>m Lesen oder Rechnen), Abwehrhaltung<br />

hauptsächlich auf Schulbelange bezogen, Aggressionen durch andauernde Selbstverteidigung<br />

von Seiten des Kindes, Depressionen, Impulsivität sowie Destruktivität entwickeln (vgl.<br />

a.a.O., S. 47f.). Um das Jahr 1970 brachte R. Valtin die Bedeutung des Milieus <strong>für</strong> die Entste-<br />

hung der <strong>Legasthenie</strong> ins Gespräch und fand als Ursache <strong>für</strong> eine LRS Merkmale einer sozia-<br />

len Grundschicht vor, die dazu zu neigen scheint, ihre Kinder zu vernachlässigen (vgl. Valtin<br />

1970a). Als solche Merkmale bezeichnete sie schlechte Wohnverhältnisse, hohe Geschwister-<br />

zahl, allgemeine sprachliche Schwäche, geringes Bildungsniveau der Eltern sowie wenig Zeit<br />

und Interesse <strong>für</strong> das Kind. Hieraus schloss Vatlin, dass LRS neben endogener Disposition<br />

auch durch die Zugehörigkeit zur sozialen Grundschicht begünstigt würde. Da legasthene<br />

65<br />

Als Komorbidität wird in der Medizin ein zusätzlich zu einer Grunderkrankung vorliegendes, diagnostisch<br />

abgrenzbares Krankheits- oder Störungsbild bezeichnet. Komorbiditäten können, müssen aber nicht – im Sinne<br />

einer Folgeerkrankung – ursächlich <strong>mit</strong> der Grunderkrankung zusammenhängen.<br />

66<br />

Ar<strong>bei</strong>ten zur Fragwürdigkeit der Diskrepanz-Definition der <strong>Legasthenie</strong> aus Deutschland sind bspw. Marx/<br />

Weber/Schneider 2001, aus den USA bspw. Lyon/Fletcher 2001.<br />

67<br />

So kann ein Kind z.B. <strong>bei</strong> wiederholter Testung die Gruppe wechseln, weil ein anderer IQ-Wert und/oder<br />

Lese-Rechtschreibtestwert gemessen wird.<br />

68<br />

Das sind <strong>bei</strong>spielsweise Störungen in der motorischen Entwicklung, der Seh- oder Hörfunktion, in der<br />

Sprachentwicklung, kognitiven Entwicklung etc. Hierzu gehören auch die durch Sehfehler bedingten<br />

Lesestörungen, die durch Korrektur z.B. <strong>mit</strong>tels einer Sehhilfe schnell und nachhaltig verbessert werden können.<br />

69<br />

Hierzu zählen etwa der Wechsel im sozialen Umfeld, Krankheit bzw. längeres Fehlen im Unterricht, der Tod<br />

eines dem Kind nahestehenden Menschen, die Scheidung der Eltern, sexueller Missbrauch, Geschwisterrivalität,<br />

Überforderung und Frustration.<br />

59


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

Kinder aus der Oberschicht wesentlich mehr Förderangebote bspw. in Form von Privatkursen<br />

erfahren als Kinder aus der Mittel- und Unterschicht 70 , darf die Rolle des Milieus nicht unter-<br />

schätzt werden. Erkennungsmerkmale sind Augenprobleme wie etwa Schielen oder unerkann-<br />

te Fehlsichtigkeit, Entwicklungsstörungen des sensorisch-integrativen Bewegungssystems,<br />

aber auch sozio-ökonomische oder kulturelle Deprivation 71 und emotionale Probleme 72 <strong>bei</strong>m<br />

Lesen- und Schreibenlernen sowie viele Rechtschreibfehler, die sich jedoch nicht in Katego-<br />

rien einteilen lassen, vielmehr liegt die schwache Lese- und Rechtschreibleistung in der Un-<br />

kenntnis des Wortes, in Flüchtigkeitsfehlern und in lückenhaftem Regelwissen begründet. So<br />

wird z.B. ein Wort in einem Text immer gleich falsch geschrieben. Durch ein gezieltes Trai-<br />

ning an den Fehlern und durch Verbesserung des Regelwissens werden gute Erfolge erzielt.<br />

Bei der LRS sind keine differenten Sinneswahrnehmungen vorhanden, sie kann durch intensi-<br />

ves und gezieltes Üben an den Fehlern und eine eventuell notwendige psychologische<br />

und/oder medizinische Betreuung korrigiert werden. Wurde in einer pädagogischen Förderdi-<br />

agnostik festgestellt, dass es sich um eine erworbene LRS handelt, so ist eine multiaxiale Di-<br />

agnostik 73 sowie eine Hilfe durch entsprechende Gesundheitsberufe anzustreben, da sich an-<br />

dernfalls eine Behebung oder Verbesserung und da<strong>mit</strong> der gewünschte Erfolg nicht einstellen<br />

wird (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 47, 77). Da auch mehrere Ursachen parallel<br />

wirken können, ist <strong>für</strong> die Erstellung eines Förderplans eine genaue Diagnostik notwendig.<br />

Die <strong>Legasthenie</strong> sowie die LRS umfassen den gesamten Problembereich im Lesen und Recht-<br />

schreiben. Bei manchen <strong>Kindern</strong> besteht ein erhöhtes Risiko <strong>für</strong> die Entstehung bzw. das<br />

Vorhandensein einer <strong>Legasthenie</strong>, wenn z.B. deren Sprachentwicklung im Vorschulalter ge-<br />

70 Studien zeigen, dass der schulische Erfolg durch <strong>Legasthenie</strong> stark beeinträchtigt wird. Bei großer Unterstützung<br />

durch finanziell gut situierte Eltern können betroffene Kinder und Jugendliche, die häufiger auch über<br />

einen überdurchschnittlichen IQ verfügen, höhere Schulabschlüsse erreichen. Tritt die <strong>Legasthenie</strong> <strong>mit</strong> weiteren<br />

Störungen, z.B. Verhaltensstörungen und ADHS auf und kommt das Kind zusätzlich aus einem Elternhaus <strong>mit</strong><br />

geringeren/geringen Ressourcen, verschlechtern sich seine Chancen deutlich (vgl. Strehlow 2004).<br />

71 z.B. das Aufwachsen in einem schriftfernen Elternhaus. Das bedeutet, dass es dort wenig Bildungsgüter – also<br />

anregende und kindgerechte <strong>Bücher</strong> und Zeitschriften, Computer und Software, Rückzugsmöglichkeiten zum<br />

Lesen etc. – gibt und das Kind wenig literalitätsfördernde Interaktionen erlebt. Möglicherweise besteht im Elternhaus<br />

eine Intoleranz gegenüber dem Lesen oder den Lesestoffen, sodass das Kind keine Lesevorbilder hat.<br />

72 Scheidung, Todesfall in der Familie, aber auch Überbehütet-Sein.<br />

73 Die multiaxiale Diagnostik besteht aus drei Ebenen, und zwar aus der pädagogischen, der psychologischen<br />

und der medizinischen Diagnose. Diese Form der Diagnostik dient dazu, weitere mögliche Ursachen von<br />

Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Erlernen des Lesens, Schreibens und/oder Rechnens aufzudecken. Der erste<br />

Ansprechpartner ist zunächst natürlich der Klassenlehrer sowie eine pädagogische Institution. Bei den folgenden<br />

Schritten kommt es auf der externen Ebene zur Untersuchung von seelischen Erkrankungen, zum Überprüfen der<br />

Intelligenzentwicklung, der Entwicklung der Sprache, der Motorik, des Lebensumfeldes des Kindes sowie der<br />

familiären und schulischen Gegebenheiten (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 77f.).<br />

60


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

stört oder verzögert verläuft oder eine einschlägige familiäre Vorbelastung vorliegt 74 (vgl.<br />

Fischer/DeFries 2002; Schulte-Körne 2001a).<br />

Der Begriff <strong>Legasthenie</strong> wird <strong>für</strong> Schwächen <strong>bei</strong>m Erlernen von Lesen, Schreiben oder<br />

Rechtschreibung, die nicht durch Verursachungen im physischen und psychischen Bereich<br />

oder durch allgemeine geistige Minderbegabung verursacht sind, verwendet. Im Gegensatz<br />

zur LRS wird die <strong>Legasthenie</strong> durch differente Sinneswahrnehmung und dadurch entstehende<br />

Desorientierung hervorgerufen. Sofern keine weiteren körperlichen Ursachen festgestellt wer-<br />

den, können vereinzelt vorschulisch Auffälligkeiten im akustischen Bereich, wie verzögerter<br />

Sprechbeginn, eingeschränktes Sprachverständnis, Sprechschwierigkeiten, beobachtet wer-<br />

den. Eine relativ gute Vorhersage erlauben standardisierte Verfahren, die in den letzten Jahren<br />

publiziert wurden, z.B. das „Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-<br />

Rechtschreibfähigkeit“ (BISC), das im Kindergarten eingesetzt wird. Faktoren, die infolge<br />

einer <strong>Legasthenie</strong> auffallen, sind im Wesentlichen Einschränkungen im phonematischen Be-<br />

reich, in der Wahrnehmung und der Unterscheidung von Reimen, Silben und Lauten. Proble-<br />

me in anderen schulischen Teilgebieten sind darüber hinaus möglich. <strong>Legasthenie</strong>-Betroffene<br />

weisen trotz mindestens durchschnittlicher Intelligenz einen deutlichen Rückstand in ihrer<br />

Lese- und Rechtschreibfähigkeit gegenüber Mitschülern auf. Die multikausal verursachte Le-<br />

gasthenie wird oft vererbt und ist als biogenetische Anlage vorhanden. Das bedeutet, dass<br />

<strong>Legasthenie</strong> ein Leben lang besteht und nicht „heilbar“ ist. Nur durch ein spezielles Training<br />

können Erfolge im Aufmerksamkeits- und Sinneswahrnehmungsbereich und schließlich im<br />

Symptombereich erzielt werden. Linder grenzte Legastheniker ab: nicht nur von den unter-<br />

durchschnittlich intelligenten <strong>Kindern</strong>, sondern auch von solchen <strong>mit</strong> manifesten Störungen<br />

oder sonstigen körperlichen Behinderungen. <strong>Legasthenie</strong> sei erkennbar an typischen Fehlern,<br />

den Reversionen 75 , sowie an typischen Erscheinungsformen wie Raumlagelabilität bzw.<br />

Rechts-Links-Unsicherheit, visuellen Gliederungsschwächen und Linksdominanz (vgl. Linder<br />

1951). Sehr typisch ist, dass in einem Text unterschiedliche Schreibweisen eines Wortes zu<br />

finden sind. Hier führt das Üben an den Fehlern nur zu Frustration und Blockaden, <strong>bei</strong> aus-<br />

bleibender Hilfe sogar zu psychischen Störungen. Es muss ein individuelles, speziell auf das<br />

Kind abgestimmtes Trainingsprogramm erstellt werden, indem besonders die differenzierten<br />

Sinneswahrnehmungen des Kindes geschult werden. Die Vorstellung von Verar<strong>bei</strong>tungs-<br />

schwächen in verschiedenen Wahrnehmungsbereichen, in der Motorik und im Zusammen-<br />

74 Dies sind Kinder, deren nahe Familienangehörige (Eltern, Großeltern, Geschwister) während der Schulzeit <strong>mit</strong><br />

gravierenden Lese-Rechtschreibproblemen zu kämpfen hatten.<br />

75 Verwechslungen spiegelbildlicher Buchstaben oder Vertauschungen der Reihenfolge von Buchstaben.<br />

61


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

spiel zwischen Wahrnehmungsbereichen und Motorik, macht zugleich einsichtig, warum die<br />

Lernprobleme legasthener Kinder nichts <strong>mit</strong> zu geringer Intelligenz zu tun haben (vgl. Dum-<br />

mer-Smoch 2002, S. 45). Neben einer mindestens durchschnittlichen bis überdurchschnittli-<br />

chen Intelligenz ist <strong>für</strong> die Diagnostizierbarkeit einer <strong>Legasthenie</strong> wichtig, dass keine erkenn-<br />

baren Gründe <strong>für</strong> das Versagen <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen, wie bspw. ein Seh- oder<br />

Hörfehler, vorliegen.<br />

In Deutschland unterscheidet man die Begriffe <strong>Legasthenie</strong> und Lese-Rechtschreibschwäche<br />

meist überhaupt nicht. Dies bedeutet <strong>für</strong> legasthene Kinder oft schwere Nachteile, da die För-<br />

derung meist ausschließlich ein Üben am Symptom <strong>mit</strong> sich bringt. Die Münchner Psycholo-<br />

gin Dr. E. Klasen betont, dass Lese-Rechtschreibschwäche nicht gleichzusetzen ist <strong>mit</strong> Lese-<br />

Rechtschreibstörung, da Schwächen auch <strong>bei</strong> <strong>Kindern</strong>, die zweisprachig sind oder die die<br />

Schule versäumt bzw. gewechselt haben, vorliegen können. Sie sind vorübergehender Art und<br />

können <strong>mit</strong> entsprechender Hilfe meist bald überwunden werden. Eine <strong>Legasthenie</strong>, die hier<br />

synonym <strong>mit</strong> einer Lese-Rechtschreibstörung verwendet wird, ist dagegen eine neuropsycho-<br />

logische Teilleistungsstörung im Bereich der Schriftsprache (vgl. Klasen 2003), die den<br />

Schriftspracherwerb erheblich beeinträchtigt. Betroffen sind wichtige höhere Funktionen des<br />

Gehirns, sodass die Verar<strong>bei</strong>tung des Wahrgenommenen im Gehirn nicht fehlerfrei funktio-<br />

niert. Wie wichtig eine mehrdimensionale Unterstützung von legasthenen <strong>Kindern</strong> ist, zeigen<br />

die beträchtlichen Erfolge, die man <strong>mit</strong> einem umfassenden Training erzielen kann.<br />

Die Unterscheidung der biogenetisch bedingten <strong>Legasthenie</strong> und der erworbenen Lese-<br />

Rechtschreibschwäche ist deshalb von größter Wichtigkeit, weil die Förderungen und Inter-<br />

ventionen, die in <strong>bei</strong>den Fällen stattfinden sollten, unterschiedlich sein müssen. Vorausset-<br />

zungen <strong>für</strong> den angestrebten Erfolg sind nicht nur das rechtzeitige Erkennen der <strong>Legasthenie</strong><br />

und die individuelle Förderung, sondern auch das weitreichende Verständnis, das dem legas-<br />

thenen Kind von seiner Umgebung sowie von der Gesellschaft entgegengebracht werden soll-<br />

te.<br />

5.4 Das legasthene Kind<br />

Die Prävalenzrate <strong>für</strong> die von <strong>Legasthenie</strong> Betroffenen divergiert nach Aussage verschiedener<br />

Wissenschaftler von 2 bis 20% der Bevölkerung, wo<strong>bei</strong> eine Prävalenz von 4-5% im<br />

internationalen Vergleich konvenabel ist (vgl. hierzu Scheerer-Neumann 1996; Schulte-Körne<br />

2001a; auch Eichler 2002). Den Anforderungen des Unterrichts zu genügen, gelingt<br />

Legasthenikern trotz großer Anstrengungen nur mühsam oder gar nicht. Obwohl es<br />

62


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

inzwischen zahlreiche Untersuchungen über die LRS und <strong>Legasthenie</strong> gibt, sind diese<br />

Beeinträchtigungen noch lange nicht vollständig erforscht.<br />

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die <strong>Legasthenie</strong>, im Sinne der zehnten Internati-<br />

onalen Klassifikation <strong>für</strong> psychische Störungen (ICD-10), als Entwicklungsstörung anerkannt,<br />

jedoch unterstützt dies eine medizinisch definierte Auffassung der Problematik. Da die Ebe-<br />

nen der Gesundheitsberufe und des pädagogisch-didaktischen Bereichs auseinanderzuhalten<br />

sind und die Relevanz der Pädagogen und ihrer Ar<strong>bei</strong>t betont werden sollte, wird die Patholo-<br />

gisierung von <strong>Legasthenie</strong>, wie sie vor allem durch die ICD-10 gerechtfertigt scheint, da<br />

Probleme <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb in diesem Fall als Krankheit bezeichnet werden, abge-<br />

lehnt. Dies ist eine Definition der Gesundheitsebene, wo<strong>mit</strong> eine Feststellung und auch eine<br />

<strong>Intervention</strong> auf pädagogischer Ebene völlig ausgeblendet werden, sodass diese Definition aus<br />

pädagogischer Sicht als völlig unzureichend anzusehen ist.<br />

Da sich die <strong>Legasthenie</strong> nur im Zusammenhang <strong>mit</strong> Symbolen (Buchstaben und Zahlen) ne-<br />

gativ auswirkt, ist es leider nur begrenzt möglich, im Kleinkindalter Erkenntnisse über das<br />

Vorhandensein einer <strong>Legasthenie</strong> zu erlangen. <strong>Legasthenie</strong> wird meist erst ab Beginn der<br />

Schriftsprachaneignung diagnostiziert, da sie sich definitionsgemäß als Schriftsprachproblem<br />

zeigt. Allerdings können bereits im Kindergartenalter im Bereich der <strong>für</strong> den Lese-<br />

Rechtschreiberwerb notwendigen Vorläuferleistungen Risikofaktoren festgestellt werden 76 .<br />

Generell spricht man die <strong>Legasthenie</strong> betreffend von einer völlig natürlichen Veranlagung, da<br />

das legasthene Gehirn lediglich genbedingt anders gesteuert wird. Je jünger der Betroffene ist,<br />

umso wandlungsfähiger und flexibler ist auch sein Gehirn, daher ist ein frühes Training der<br />

Basissinne erstrebenswert und notwendig, um die reibungslose Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung<br />

zu ermöglichen. Da legasthene Menschen eine genbedingt andersartige Wahrnehmung haben,<br />

muss diese <strong>mit</strong> gezielter Förderung trainiert werden. Im Bereich der Sinneswahrnehmungen<br />

kann und sollte daher schon sehr früh im Bereich des Tastsinnes (taktil), des Gleichgewichts-<br />

sinns (vestibulär), der Raumlage (propriozeptiv) in Kombination <strong>mit</strong> den auditiven und opti-<br />

schen Sinnen <strong>mit</strong> einem individuellen Training begonnen werden. Gerade die kompetente<br />

Frühförderung der Vorläuferfähigkeiten bzw. die Beseitigung von organischen Beeinträchti-<br />

gungen wie Augen- und Ohrenproblemen ist von größter Wichtigkeit, da sich legastheniebe-<br />

dingte Schriftspracherwerbsprobleme so <strong>bei</strong> Schulantritt weniger drastisch auswirken. Das<br />

Erlernen schriftsprachlicher Kompetenzen ergibt sich aus dem Zusammenwirken vielfältiger<br />

Wahrnehmungs- und Ausdrucksfunktionen. Störungen in diesem komplexen System können<br />

76 Näheres hierzu s. Kapitel 3.1.<br />

63


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

ein Anzeichen <strong>für</strong> <strong>Legasthenie</strong> sein. Dieses komplexe System ist ein kompliziertes Gefüge aus<br />

Funktionen auf psychischer, emotionaler, sozialer und körperlicher Ebene, das vom ersten<br />

Atemzug an richtig zusammengefügt werden muss, um dem Kind erfolgreiches Lesen- und<br />

Schreibenlernen sichern zu können. Dieser sensible Prozess kann von vielerlei Störfaktoren<br />

beeinträchtigt werden (Klein/Träbert 2009, S. 26ff.). Angesichts der Tatsache, dass legasthene<br />

Kinder aufgrund ihrer differenten Teilleistungen durch enorme Leistungsschwankungen auf<br />

sich aufmerksam machen, kann dem hyperkinetischen Syndrom 77 in Zusammenhang <strong>mit</strong> Le-<br />

gasthenie nicht genug Beachtung geschenkt werden. Doch ist dringend zwischen einer Unru-<br />

he, ausgelöst durch die nicht zu bewältigende Anforderung des Umgangs <strong>mit</strong> der Schriftspra-<br />

che, und einer krankhaften Hyperaktivität zu unterscheiden. Bei mindestens durchschnittlicher<br />

Intelligenz nimmt ein legasthener Mensch seine Umwelt anders wahr, weshalb oft Probleme<br />

<strong>mit</strong> der Umsetzung der gesprochenen Sprache in die geschriebene Sprache auftreten. Sobald<br />

ein legasthenes Kind auf Buchstaben oder Zahlen trifft, lässt seine Aufmerksamkeit nach, da<br />

die Basissinne ungleichmäßig zusammenar<strong>bei</strong>ten und es die Buchstaben und Zahlen durch<br />

seine differenten Sinneswahrnehmungen anders verar<strong>bei</strong>tet als nicht legasthene Menschen.<br />

So<strong>mit</strong> verläuft auch die Verar<strong>bei</strong>tung der Sprache und vor allem der Vorgänge <strong>bei</strong>m Sprechen<br />

anders. Dadurch ergeben sich Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Erlernen des Lesens, Schreibens oder<br />

auch Rechnens, was das Üben auch in diesem Bereich unabdinglich <strong>für</strong> ein ganzheitliches<br />

Training 78 macht.<br />

Legasthene Kinder benötigen <strong>bei</strong>m Schreiben und Lesen mehr Zeit und werden oft noch aus-<br />

gelacht, wenn sie laut vorlesen müssen. Unwissende Lehrer ermahnen das Kind oft, es solle<br />

mehr zu Hause üben, doch dies ist hier fehl am Platz. Auch haben die Eltern oft den Eindruck,<br />

dass das Kind nur nicht lernen will und bockt. In dieser Situation ist das Kind völlig überfor-<br />

dert und dadurch an seine physischen sowie psychischen Grenzen gestoßen. Es verliert den<br />

Anschluss an den Leistungsstand der Klasse und fühlt sich dumm, missverstanden und ausge-<br />

grenzt. Das Selbstbewusstsein leidet stark, die intrinsische Lernmotivation 79 geht verloren.<br />

Das macht legasthene Kinder zu einer Randgruppe, da in unserem Kulturkreis fälschlicher-<br />

77 Wird vom hyperkinetischen Syndrom gesprochen, sind Kinder gemeint, die hauptsächlich durch motorische<br />

Unruhe, Impulsivität <strong>mit</strong> spontanen Aktionen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, Störungen der Aufmerksamkeit<br />

und Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, leichte Erregbarkeit im Gefühlsbereich und erhebliche<br />

Stimmungsschwankungen auffallen. Je nach Störungsbild steht die Hyperaktivität (also das ständige Zappeln,<br />

die exzessive Ruhelosigkeit) oder die Aufmerksamkeitsstörung im Vordergrund.<br />

78 Ein solches ganzheitliches Training umfasst summarisch den Bereich der Aufmerksamkeit, der<br />

Sinneswahrnehmungen (Funktionen) sowie den der Symptome (den Bereich des Lesens und Rechtschreibens).<br />

Diese drei Bereiche sind im Training <strong>mit</strong> der AFS-Methode impliziert.<br />

79 Diese intrinsische Motivation entspringt dem „anfänglichen Lernen“ (Prange/ Strobel-Eisele 2009, S. 52), das<br />

offenbar einer „einer inneren, biophysisch angelegten Zielstrebigkeit, die <strong>für</strong> die Übungsbereitschaft sorgt“ folgt<br />

(ebd.).<br />

64


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

weise von einer mangelnden Rechtschreibfähigkeit auf mangelnde Intelligenz geschlossen<br />

wird. Da legasthene Kinder in der Regel über einen mindestens durchschnittlichen Intelli-<br />

genzquotienten verfügen, sind sie sich ihrer Defizite sehr häufig bewusst und merken schnell,<br />

dass sie mehr Probleme als ihre Mitschüler haben. Um zu verhindern, dass ihre Schwächen<br />

bemerkt werden, setzen sie oft Vermeidungsstrategien in Gang, was zu Verhaltensstörungen<br />

sozialer und emotionaler Art führen kann. Der schulische Erfolg wird durch <strong>Legasthenie</strong> stark<br />

beeinträchtigt, und obwohl sie sich gerade in den ersten <strong>bei</strong>den Schuljahren sehr bemühen,<br />

gute Leistungen zu erbringen, sind ihre Anstrengungen ohne die richtige, im besten Fall früh-<br />

kindliche Förderung nicht von Erfolg gekrönt. Bei großer Unterstützung der Eltern können<br />

betroffene Kinder höhere Schulabschlüsse erreichen. Tritt die <strong>Legasthenie</strong> <strong>mit</strong> sekundären<br />

Störungen auf und kommt das Kind zusätzlich aus einem Elternhaus <strong>mit</strong> geringeren Ressour-<br />

cen, verschlechtern sich seine Chancen deutlich. Sind Auffälligkeiten aufgetreten, so sollte<br />

das Kind schnellstmöglich von einem speziell ausgebildeten Lehrer oder <strong>Legasthenie</strong>trainer 80<br />

getestet werden. Ein <strong>Legasthenie</strong>trainer ist dazu berechtigt, das pädagogische AFS-<br />

Testverfahren (vgl. hierzu Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a) zur Feststellung einer eventuell<br />

vorliegenden <strong>Legasthenie</strong> bzw. Dyskalkulie durchzuführen und kann da<strong>mit</strong> sehr schnell Auf-<br />

schluss geben 81 , wo die Förderung einsetzen muss. Durch dieses Testverfahren wird die indi-<br />

viduelle <strong>Legasthenie</strong> eines Kindes festgestellt und kategorisiert. Durch testtheoretische<br />

Grundkenntnisse und Wissen über Diagnostik der Intelligenz, Lese- und Rechtschreibfertig-<br />

keiten, Wahrnehmungsstörungen, Sprech- und Sprachstörungen, motorische Störungen sowie<br />

psychopathologische oder neurologische Gutachten ist es dem <strong>Legasthenie</strong>trainer auch mög-<br />

lich, anderweitig erstellte Diagnosen zu erfassen und sie in seiner Ar<strong>bei</strong>t zu berücksichtigen.<br />

Wird ein betroffenes Kind auch in psychologischer oder medizinischer Hinsicht auffällig, so<br />

sollte der <strong>Legasthenie</strong>trainer Hilfe durch Psychologen, Ärzte, Ergotherapeuten, Logopäden<br />

etc. implementieren.<br />

80 Der Beruf des <strong>Legasthenie</strong>trainers ist ein Berufsstand, der sich 1996 im deutschsprachigen Raum etablierte.<br />

Der Erste Österreichische Dachverband <strong>Legasthenie</strong> (EÖDL) bildet diplomierte <strong>Legasthenie</strong>trainer aus, die<br />

durch ständige Fortbildung stets auf dem neuesten Stand der Wissenschaft sind. Durch ihre umfassende Ausbildung<br />

verfügen diplomierte <strong>Legasthenie</strong>trainer über Kenntnisse der Sprachentwicklung, der motorischen Entwicklung,<br />

der emotionalen Entwicklung und auch über die in diesen Bereichen auftretenden Störbilder. Sie haben<br />

ein umfassendes Wissen über neurobiologische Grundlagen, insbesondere hinsichtlich des Schriftspracherwerbs,<br />

der Bedeutung der Sinneswahrnehmungen und der Relevanz des Aufmerksamkeitsbereiches <strong>für</strong> den intakten<br />

Lese-, Schreib- und Rechenprozess sowie lernpsychologische und lerntheoretische Kenntnisse. Sie ar<strong>bei</strong>ten<br />

<strong>mit</strong> den Betroffenen in einer systematischen Vorgehensweise <strong>mit</strong>tels wissenschaftlich fundierter Methoden.<br />

81 Das pädagogische Testverfahren überprüft die Aufmerksamkeit sowie die Sinneswahrnehmungen/Funktionen/<br />

Teilleistungen (Optik, Akustik, Raumwahrnehmung, Serialität, Intermodalität). Das pädagogische Testverfahren<br />

trifft keine Aussagen über etwaige Entwicklungsverzögerungen, medizinische oder psychologische,<br />

psychosomatische oder psychopathologische, grob- bzw. feinmotorische Probleme, Sprech- oder<br />

Sprachprobleme oder den Lebensbereich des Testkandidaten.<br />

65


5 Begrifflich-definitorische Aspekte<br />

Je eher <strong>mit</strong> einem angemessenen individuellen Training begonnen wird, desto besser funktio-<br />

nieren auch die <strong>für</strong> das Lesen und Schreiben erforderlichen Basissinne. Das Training dieser<br />

Sinne, sowohl die gezielte Förderung der Motorik, des Gleichgewichts als auch der Körper-<br />

und Raumwahrnehmung, sollte bereits in der frühkindlichen Förderung stattfinden, die grund-<br />

sätzlich <strong>für</strong> alle Kinder wichtig ist, um späteren Schwierigkeiten in den Bereichen der Sin-<br />

neswahrnehmungen vorzubeugen. Setzt man früh genug in diesen Bereichen an und begreift<br />

das Kind all seine Sinne zur Benutzung und Erfassung der Welt, werden auch die ersten<br />

Schritte im Schriftspracherwerb weniger beschwerlich. Demnach ist eine frühe sensorische<br />

Förderung der Sinnesorgane auf jeden Fall richtig und wichtig. Da<strong>bei</strong> sollte vor allem die Be-<br />

zeichnung „Therapie“ vermieden und statt dessen von „Training“ gesprochen werden. Zentral<br />

ist hier<strong>bei</strong> das Einbeziehen aller <strong>für</strong> das Lesen- und Schreibenlernen erforderlichen Sinne, um<br />

das Denken und Handeln zusammenzuführen. Lernen durch Handeln statt stupidem Lernen,<br />

wie es in spielerischer Form geboten werden kann, ist <strong>für</strong> ein legasthenes Kind sehr wichtig.<br />

Dies zeigt, dass die frühkindliche Förderung die wichtigste Basis überhaupt ist.<br />

Die Andersartigkeit der von <strong>Legasthenie</strong> betroffenen Kinder muss in das Bewusstsein der<br />

Gesellschaft vorrücken, um den von <strong>Legasthenie</strong> betroffenen <strong>Kindern</strong> die verdiente gesell-<br />

schaftliche Akzeptanz zu gewährleisten. Einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung die-<br />

ser Vision leistet Dr. A. Kopp-Duller.<br />

66


6 Was ist eine pädagogische <strong>Intervention</strong>?<br />

Teil III<br />

Ansätze und Möglichkeiten pädagogischer Inter-<br />

vention <strong>bei</strong> legastheniebedingten Schriftspracher-<br />

werbsschwierigkeiten<br />

6 Was ist eine pädagogische <strong>Intervention</strong>?<br />

Im Kontext der vorliegenden Ar<strong>bei</strong>t ist unter „pädagogischem“ Handeln jene fachspezifische,<br />

also auf die richtige Erziehung ausgerichtete Handlungsrichtung zu verstehen, die nicht thera-<br />

peutisch, psychologisch oder medizinisch orientiert ist. Eine „<strong>Intervention</strong>“ ist das Eingreifen<br />

in ein Geschehen (vgl. Duden 2007, S. 893). Oft wird die Pädagogik, ebenso wie pädagogi-<br />

sche <strong>Intervention</strong>smöglichkeiten, im Gegensatz zu neurobiologischen und genetisch-<br />

biologisch orientierten Forschungsergebnissen degradiert, da sie aufgrund der mangelnden<br />

messbaren Effizienz weniger plakative und praxisgemäße Behandlungsmöglichkeiten auf-<br />

weist. Ein Erfolg pädagogischen Handelns ist nicht vorhersagbar, da nicht alle Tätigkeiten im<br />

pädagogisch-professionellen Kontext auf beschreibbare Bestimmungen und Prämissen zu-<br />

rückzuführen sind, sodass pädagogisches Handeln vor allem nicht nur situationsabhängig ist,<br />

sondern auch angestrebte Effekte nicht konform und <strong>mit</strong> zureichender Sicherheit kontrollieren<br />

kann (vgl. Koring 1992a). Der Terminus der pädagogischen Tätigkeit nimmt in Korings Ar-<br />

gumentation eine wichtige Stellung ein. Zunächst lässt sich eine Annäherung an diesen Be-<br />

griff über die allgemeine Bedeutung des Wortes „Tätigkeit“ finden, das <strong>für</strong> die „Gesamtheit<br />

derjenigen Verrichtungen, <strong>mit</strong> denen jmd. in Ausübung seines Berufs zu tun hat“ steht (Duden<br />

2007, S. 1664). Da<strong>bei</strong> handelt es sich, bezogen auf die pädagogische Tätigkeit, um alle Ver-<br />

richtungen, die ein professioneller Pädagoge im Rahmen seiner beruflichen Ausübung voll-<br />

zieht. Dementsprechend fasst Koring unter der pädagogischen Tätigkeit jene menschlichen<br />

Aktivitäten zusammen, „die darauf zielen, anderen Menschen Lernangebote zu machen, sie<br />

zum Lernen zu bringen, Lernsituationen herzustellen und ihnen Beratung, Kontrolle und Hilfe<br />

<strong>bei</strong>m Lernen zu geben“ (Koring 1999, S. 127) 82 . Dieses Verständnis des Begriffes umfasst<br />

sowohl alle zwischen dem pädagogisch Tätigen und seinem Klienten ablaufenden Aktivitäten<br />

82 Daher umfasst der Begriff der pädagogischen Tätigkeit auch den Begriff der Erziehung, jedoch bleibt unklar,<br />

warum Koring dennoch <strong>bei</strong>de stets explizit getrennt nennt, wenn er von der pädagogischen Tätigkeit spricht.<br />

67


6 Was ist eine pädagogische <strong>Intervention</strong>?<br />

als auch jene Prozesse, welche im Rahmen dieser zwischenmenschlichen Aktivitäten vom<br />

pädagogisch Tätigen durchgeführt werden. Von Koring wird der Begriff der pädagogischen<br />

Tätigkeit in das pädagogische Handeln und das pädagogische Deuten unterteilt, welche er<br />

<strong>bei</strong>de als „die grundlegenden Operationen, die jeder Pädagoge lernen und beherrschen muß“<br />

bezeichnet (Koring 1992a, S. 61) 83 . „Beim Handeln werden Wissenselemente aus Wissen-<br />

schaft, konkreter Praxis und Profession verknüpft, um gemeinsam <strong>mit</strong> den Adressaten in be-<br />

stimmten Formen deren Lebensprobleme und Lerninteressen zu bear<strong>bei</strong>ten“ (Koring 1992b,<br />

S. 299). Nach Koring wird das pädagogische Handeln als die aktiv-gestaltende Komponente<br />

der pädagogischen Tätigkeit, die sich durch die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis<br />

zur Bear<strong>bei</strong>tung von Lernproblemen kennzeichnet, bestimmt. 2007 entwickelte er seine 1992<br />

getroffene Untergliederung des pädagogischen Handelns in die drei Grundformen Unterrich-<br />

ten, Beraten und Arrangieren, weiter und benennt nun Unterrichten, Beraten und Erziehen als<br />

die Grundformen der pädagogischen Tätigkeit. Demnach wird nun das Arrangieren nicht<br />

mehr den Grundformen, sondern den Grundoperationen zugeordnet und bezieht sich auf „das<br />

Gestalten von Lernsituationen in sachlicher, zeitlicher und sozialer und organisatorischer<br />

Hinsicht“ (Koring 2007, S. 135). Summarisch betrachtet geht es um das Lernen des Men-<br />

schen, sodass jedem einzelnen die sinnvolle Partizipation an der Gesellschaft möglich wird,<br />

wo<strong>mit</strong> die pädagogische Tätigkeit letztendlich auf Partizipationsfähigkeit, verstanden als<br />

Teilnehmen am gesellschaftlichen Leben, zielt. Grundlegend bezieht sich professionelles pä-<br />

dagogisches Handeln auf die Ermöglichung von Lernvorgängen. Das professionelle pädago-<br />

gische Handeln kann folglich als bewusste, planvolle, zielgerichtete Aktivität, die auf einem<br />

systematischen und in der Regel wissenschaftlichen, durch eine spezielle Ausbildung erwor-<br />

benen Wissen basiert und darauf abzielt, Lernen zu ermöglichen, um da<strong>mit</strong> die Option der<br />

individuellen Weiterentwicklung und der selbstständigen Lebensgestaltung zu eröffnen, defi-<br />

niert werden.<br />

<strong>Pädagogische</strong>s Handeln ist speziell auf die Bedürfnisse eines Kindes abgestimmt. Die Übun-<br />

gen sind spielerisch und so<strong>mit</strong> besonders kinderfreundlich gestaltet. Es gab und gibt keine<br />

Methode, die in jedem Fall hilfreich ist, da <strong>Legasthenie</strong> in ihrer Ausprägung immer individu-<br />

ell ist (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 135). In diesem Kontext sind die AFS-<br />

Methode und die Materialien Montessoris geeignete vorschulische Mittel zur Prävention spä-<br />

terer legastheniebedingter Schulprobleme. Erst wenn man <strong>mit</strong> pädagogisch-didaktischer In-<br />

83 Da Koring den Operationsbegriff später in ähnlicher Weise wie Prange verwendet, kann die offenbar nicht<br />

ausschlaggebende terminologische Differenz bezüglich der Verwendung des Operationsbegriffs an dieser Stelle<br />

vernachlässigt werden.<br />

68


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

tervention an die Grenze gelangt, z.B. <strong>bei</strong> Begleitsymptomatik wie psychischen oder physi-<br />

schen Problemen, sollte eine medizinische, neuropsychologische, ergotherapeutische oder<br />

psychologische <strong>Intervention</strong>sebene herangezogen werden und als zusätzliche Unterstützung<br />

<strong>für</strong> das legasthene Kind und seine Familie fungieren.<br />

7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

7.1 Die Bedeutung der Früherkennung von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten<br />

und präventiver Maßnahmen<br />

Die Bedeutung der Früherkennung 84 (vgl. Dummer-Smoch 2001; Rosenkötter 2004) von<br />

Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb und der Maßnahmen zu deren Prävention wird in<br />

Theorie und Praxis übereinstimmend betont. Mit der Konzeption von Entwicklungsmodellen<br />

des Schriftspracherwerbs, der Integration von Prozessmodellen des Lesens und<br />

Rechtschreibens in die Schriftspracherwerbsforschung und der Durchführung von<br />

theorieabgeleiteten Längsschnittstudien gelang es, die Bedeutung einiger im Vorschulalter<br />

erfasster individueller Voraussetzungen näher zu bestimmen (vgl. hierzu Schneider et al.<br />

1994; Küspert 1998, Snow et al. 1998, Jansen et al. 2002).<br />

Einen zentralen Punkt <strong>bei</strong> der Förderung legasthener Kinder nimmt die Motivation ein.<br />

Hierdurch können enorme und nachhaltige Erfolge erzielt werden (vgl. Kopp-Duller/Pailer-<br />

Duller 2008a, S. 147ff.). Die Rechtschreibung kann viel ungestörter aufgebaut werden, wenn<br />

das legasthene Kind in kleineren Schritten voranschreitet als andere Schüler, da<strong>bei</strong> aber<br />

Erfolg erlebt (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 37). Sofern <strong>Legasthenie</strong> frühzeitig erkannt wird,<br />

kann sie sehr effektiv behandelt werden. Präventive Maßnahmen vor dem eigentlichen<br />

Schriftspracherwerb oder innerhalb der ersten Schulklasse sind am erfolgreichsten. Solche<br />

präventiven Maßnahmen basieren meist auf der Förderung der phonologischen Bewusstheit,<br />

da diese, wie bereits gezeigt wurde, das wichtigste spezifische Vorläufermerkmal des<br />

Schriftspracherwerbs ist (vgl. Ehri et al. 2001; Schwenck/Schneider 2003; Alloway et al.<br />

2005). Potentielle Schwierigkeiten sollten idealerweise erkannt und gegengesteuert werden,<br />

bevor überhaupt Probleme <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb auftreten. Bleiben dauerhafte Probleme<br />

bestehen, so ist ein möglichst frühzeitiger Beginn der Förderung zu empfehlen, da<br />

84 Vgl. dazu Prof. Dr. Henning Rosenkötter (2010), der sich <strong>mit</strong> der Früherkennung von LRS und <strong>Legasthenie</strong><br />

beschäftigt.<br />

69


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

<strong>Intervention</strong>smaßnahmen ihre größte Wirkung in den <strong>bei</strong>den ersten Grundschulklassen<br />

entfalten (vgl. Landerl/Wimmer 1994; Küspert 1998). Danach besteht die Möglichkeit einer<br />

raschen Chronifizierung der Probleme. Aus diesem Grund scheint eine Forderung nach<br />

Früherkennung von Leselernproblemen möglichst vor dem Schuleintritt , nach einer<br />

möglichst frühen Feststellung von <strong>Legasthenie</strong> inklusive Diagnose von Stärken und<br />

Schwächen in den allgemeinen Lernvoraussetzungen, nach einer speziellen Förderung <strong>mit</strong><br />

kompensatorischen Hilfen 85 sowie nach Information und Beratung der Eltern über die Stärken<br />

und Schwächen ihres Kindes und über Hilfen, die sie zu Hause geben können, angemessen.<br />

Woran und wann Probleme <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen erkannt werden und welche<br />

präventiven <strong>Intervention</strong>en eingeleitet werden, hängt nicht nur von den theoretischen<br />

Annahmen über den ungestörten Schriftspracherwerb und seiner Gefährdung ab, sondern auch<br />

von den Vorstellungen darüber, welche Lern- und Verar<strong>bei</strong>tungsprozesse gefördert werden<br />

sollen. Diese Vorstellungen haben sich erheblich verändert, seit sich in der<br />

Schriftsprachforschung der Trend abzeichnet, den frühen Erwerbsprozess genauer zu<br />

untersuchen und Voraussetzungen zu identifizieren, die <strong>für</strong> den Erfolg von <strong>Kindern</strong> <strong>bei</strong>m<br />

Lesen- und Schreibenlernen wichtig sind.<br />

Die internationale Forschung hat die phonologische Bewusstheit bzw. die<br />

metaphonologischen Fähigkeiten als wichtige Voraussetzung des alphabetischen<br />

Schriftspracherwerbs dokumentiert und diskutiert. Ob metaphonologische Fähigkeiten durch<br />

eine gezielte Förderung schon vor dem Schuleintritt deutlich verbessert werden können und<br />

ob eine solche vorschulische <strong>Intervention</strong> dazu führen würde, dass das Lesen- und<br />

Rechtschreibenlernen in der Schule besser gelingt, wurde in verschiedenen aktuellen<br />

<strong>Intervention</strong>sstudien untersucht (vgl. u.a. Wehr 1994; Breuer/Weuffen 1993, 2000, 2002;<br />

Georgiewa et al. 2002; Weber et al. 2002; Rosenkötter 2004). Hinter diesen<br />

Forschungsar<strong>bei</strong>ten stehen wissenschaftliche und praxisbezogene Ziele. Zum einen soll der<br />

Stellenwert der phonologischen Bewusstheit <strong>für</strong> den Schriftspracherwerb besser geklärt<br />

werden. Zum anderen ist <strong>mit</strong> solchen Studien die Intention verknüpft, theoriegeleitete<br />

<strong>Intervention</strong>en zu entwickeln und zu evaluieren, die darauf abzielen, den Anteil der Kinder,<br />

die Lese-Rechtschreibschwächen ausbilden, zu vermindern (vgl. Schneider et al. 1998, 2000;<br />

Catts et al 2001; Jansen et al. 2002). Bisherige <strong>Intervention</strong>sstudien <strong>mit</strong> unausgelesenen<br />

Stichproben sprechen da<strong>für</strong>, dass die phonologische Bewusstheit von Vorschulkindern durch<br />

ein systematisches Training erfolgreich gefördert werden kann. Noch wichtiger ist es, dass ein<br />

85 Mit Hilfe der kompensatorischen Entwicklungsförderung sollen Entwicklungs- und Lerndefizite von <strong>Kindern</strong><br />

ausgeglichen und Versäumtes nachgeholt werden.<br />

70


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

solches Training über kurzfristige Effekte hinaus erleichternde Auswirkungen auf den<br />

Schriftspracherwerb hat. Aufgrund dieser positiven Befunde ist gegenüber dem<br />

Präventionsansatz der phonologischen Bewusstheit eine etwas euphorische Stimmung<br />

aufgekommen. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass zur Entwicklung,<br />

Implementierung und Wirksamkeit von metaphonologischen Vorschultrainings verschiedene<br />

Fragen noch offen bzw. unzureichend geklärt sind (vgl. Blachman 1997; Byrne et al. 1997).<br />

Da aktuell nicht ausreichende Befunde aus <strong>Intervention</strong>sstudien vorliegen, um die Frage der<br />

Stabilität und Generalisierung der Effekte von metaphonologischen Vorschultrainings <strong>bei</strong><br />

solchen <strong>Kindern</strong> schlüssig beantworten zu können, werden weitere Studien gefordert.<br />

Im angloamerikanischen Raum weist Catts (1998) auf das Forschungsdefizit zum<br />

Präventionsansatz der phonologischen Bewusstheit hin, das speziell in Bezug auf<br />

sprachgestörte Kinder besteht. Kinder <strong>mit</strong> Sprachentwicklungsstörungen haben sehr häufig<br />

Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen, die zumeist <strong>mit</strong> weiteren Schulproblemen<br />

einhergehen. Solche Kinder gelten daher als Risikokinder <strong>für</strong> LRS. Im Vergleich zu<br />

unauffälligen <strong>Kindern</strong> verfügen sprachgestörte Kinder <strong>bei</strong>m Schuleintritt nicht über die reiche<br />

sprachliche Grundlage, auf der die Schriftsprachentwicklung aufbauen kann. Vorwiegend<br />

angelsächsische Studien belegen, dass Vorschulkinder <strong>mit</strong> primärsprachlichen Störungen<br />

häufig auch Rückstände in spezifischen Voraussetzungen des Schriftspracherwerbs haben<br />

(vgl. Magnusson/Nauclér 1993; Snow et al. 1998; Romonath 1998). Eine wesentliche Rolle<br />

<strong>bei</strong> der präventiven Förderung kommt den Logopäden zu. Sie erfassen und betreuen sprach-<br />

und sprechgestörte Kinder häufig schon vor dem Schuleintritt. Vorschulische <strong>Intervention</strong>en<br />

zur Ausdifferenzierung und Erweiterung sprachlich-kommunikativer Basisfähigkeiten bilden<br />

ohne Zweifel ein wichtiges Element der Prävention von kindlichen Schriftspracherwerbs- und<br />

Schriftsprachproblemen sowie anderen Schulschwierigkeiten. Allerdings muss bezweifelt<br />

werden, dass die herkömmlichen logopädischen Fördermaßnahmen ausreichen, um<br />

sprachgestörte Kinder vor Misserfolgen <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen bewahren zu<br />

können. Deshalb wird gefordert, vermehrt spezifische <strong>Intervention</strong>en zur Prävention von<br />

legastheniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten in die (heil-)pädagogische Ar<strong>bei</strong>t 86<br />

<strong>mit</strong> Vorschulkindern einfließen zu lassen. Das Forschungsdefizit betrifft besonders auch den<br />

deutschsprachigen Raum. In der Literatur wird die Bedeutung einer frühen präventiven<br />

86 Die Heilpädagogik als ganzheitlicher Förderansatz ist ein wichtiger Bestandteil der Frühförderung. Gerade im<br />

Vorschulalter, in einer Zeit extremer Lernfähigkeit, ist es notwendig, Schädigungen, Funktionsschwächen und<br />

Entwicklungsrisiken möglichst frühzeitig zu erkennen und ihnen gezielt entgegenzuwirken. Praktiker erhalten<br />

<strong>mit</strong> Übungen zur Wahrnehmung, zu Motorik und Kognition, zu schulischen Fertigkeiten, zum Sozialverhalten<br />

und zur Sprache immer neue Anregungen <strong>für</strong> eine abwechslungsreiche Gestaltung der täglichen Förderar<strong>bei</strong>t.<br />

71


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

<strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> lese-rechtschreibschwachen <strong>Kindern</strong> zwar betont, und es wurden bereits<br />

Prinzipien und Möglichkeiten der metaphonologischen Förderung vorgestellt, doch mangelt<br />

es an vergleichenden Untersuchungen der metaphonologischen Voraussetzungen von lese-<br />

rechtschreibschwachen und nicht lese-rechtschreibschwachen Vorschulkindern wie auch an<br />

Studien zur Überprüfung der Effekte von präventiven metaphonologischen <strong>Intervention</strong>en <strong>für</strong><br />

lese-rechtschreibschwache Kinder. Diese Feststellung erstaunt wenig, da die deutschsprachige<br />

Sprachheilpädagogik/Logopädie die Grundlagen- und <strong>Intervention</strong>sforschung bislang stark<br />

vernachlässigt hat: Konzepte und Verfahren sowie Unterrichtsmethoden werden<br />

problematischerweise nur sehr selten hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft (vgl.<br />

Grohnfeldt 1989). Dieser Sachverhalt ist umso bedenklicher, als die Evaluation von<br />

pädagogisch-therapeutischen <strong>Intervention</strong>en zur berufsethischen Pflicht der Heilpädagogen<br />

gehört. Obgleich das Prinzip der pädagogischen Effizienzkontrolle im Hinblick auf die<br />

heilpädagogische Berufsethik „zu einseitig und zu vereinfachend“ ist, würde ein Verzicht auf<br />

dieses Prinzip „eine fatale Fehleinschätzung“ (Haeberlin 1996, S. 348f.) verantwortbaren<br />

heilpädagogischen Handelns bedeuten.<br />

Um den <strong>Kindern</strong> eine frühe und effektive Hilfestellung <strong>für</strong> das Lesen- und Schreibenlernen<br />

geben zu können, werden besonders gezielte Fördermaßnahmen zur phonologischen<br />

Bewusstheit als sinnvoll angesehen und empfohlen (vgl. Magnusson/Nauclér 1993; Catts<br />

1998). Diese Frühförderung sollte auf pädagogisch-didaktischer Ebene stattfinden. Erste<br />

Studien zeigen, dass eine vorschulische metaphonologische Förderung von <strong>Kindern</strong> möglich<br />

und erfolgversprechend ist. Paula Thallal (2000) stellte das reibungslose Funktionieren<br />

optischer und akustischer Sinneswahrnehmungen als unumgängliche Voraussetzung <strong>für</strong> ein<br />

erfolgreiches Erlernen des Schreibens und Lesens fest (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a,<br />

S. 152f.). Da Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben das Kind sowohl in der Schule als<br />

auch in anderen Lebensbereichen beeinträchtigt und belastet, sind Hilfestellungen, etwa in<br />

Form von <strong>Intervention</strong>en, relevant. Zur Überprüfung der Wirksamkeit diverser Trainings oder<br />

neu entwickelter Methoden werden Trainingsstudien (vgl. Schneider et al. 2000;<br />

Küspert/Schneider 1999, 2006, 2008) durchgeführt. Eltern, Lehrer, Schüler und<br />

Erziehungswissenschaftler geben in den letzten Jahren vermehrt ihre Unzufriedenheit <strong>mit</strong> der<br />

gegenwärtigen Situation unseres Bildungs- und Schulsystems kund. In öffentlichen und auch<br />

privaten Diskussionen wird verzweifelt nach Lösungen <strong>für</strong> die aktuell proklamierte<br />

Bildungsmisere verlangt. Verstärkt wird hier<strong>bei</strong> auch wieder im reformpädagogischen<br />

Repertoire gesucht, um zu überprüfen, welche in Vergessenheit geratenen Ideen heute<br />

potentielle Lösungsansätze bieten könnten. In diesem Kontext rücken gegenwärtig sowohl<br />

Aspekte der Montessori-Pädagogik als auch anderer reformpädagogischer Ansätze in den<br />

72


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

Fokus der öffentlichen Diskussionen. Inwiefern deren Verknüpfung <strong>mit</strong> der Berufsgruppe der<br />

Vorschulpädagogen heutzutage dazu <strong>bei</strong>tragen kann, lese-rechtschreibschwachen und<br />

besonders legasthenen <strong>Kindern</strong> eine angemessene Förderung zur Erleichterung des<br />

Schriftspracherwerbs zu ermöglichen, bedarf einer fundierten Überprüfung. Maßnahmen in<br />

die Richtung der öffentlichen Anerkennung und Kostenübernahme <strong>bei</strong> Lese- und<br />

Schreibproblemen, wenn durch Spezialisten auf pädagogisch-didaktischer Ebene geholfen<br />

wird, sind mehr als erstrebenswert. Klare gesetzliche Regelungen, die eindeutig festlegen,<br />

welche Berufsgruppe wann zum Einsatz kommen muss, müssten erfolgen (vgl. Kopp-<br />

Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 133), das bedeutet, dass es <strong>für</strong> alle beteiligten Gruppen<br />

umfassende Richtlinien geben sollte, wann wer <strong>Intervention</strong>en setzen muss, wenn Lese- oder<br />

Schreibprobleme auftreten. Solche Festlegungen fehlen bis heute.<br />

Ausgehend von dieser Standortbestimmung beschäftigt sich dieser Teil der vorliegenden<br />

Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> Möglichkeiten der Prävention von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten durch<br />

vorschulische <strong>Intervention</strong>smaßnahmen sowie <strong>mit</strong> Ansätzen und Möglichkeiten elterlich-<br />

präventiver Frühförderung der <strong>für</strong> den Schriftspracherwerb primär bedeutsamen<br />

Sinneswahrnehmungen.<br />

7.1.1 Einbindung der Eltern in die frühkindliche Förderung<br />

Eine der größten Herausforderungen im Leben vieler Eltern ist die Erziehung eines Kindes.<br />

Im Allgemeinen verfügt jeder Elternteil selbst über Erfahrungen und Kompetenzen, um die<br />

Herausforderungen des täglichen Erziehungsgeschehens zu bewältigen. Jedoch gibt es immer<br />

wieder Momente, in denen Eltern an ihre Grenzen stoßen und nach geeigneter, optimaler För-<br />

derung verlangen. Die Anforderungen an Familien sind in den letzten Jahrzehnten durch Ver-<br />

änderungen im Berufsleben und in der Gesellschaft stark gestiegen. Deshalb sollte auch eine<br />

adäquate Berücksichtigung der spezifischen Schwierigkeiten im Umfeld der betroffenen Kin-<br />

der angestrebt werden und nicht nur eine Verbesserung der Lese-Rechtschreibfähigkeit. Hier<br />

kann pädagogische Beratung (vgl. Krause 2003; Hechler 2010) und Elternbildung 87 die ge-<br />

suchte Information und Unterstützung bieten und Sicherheit in der Bewältigung der Erzie-<br />

hungsaufgaben des Alltags geben.<br />

Da im Falle des Vorhandenseins von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten oft wertvolle Zeit<br />

vergeudet wird, ist Erziehungsberatung, besonders wenn <strong>Legasthenie</strong> <strong>mit</strong> erheblichen psychi-<br />

schen Störungen einhergeht, unerlässlich. Zunächst erweist sich die Aufklärung der Eltern<br />

87 Elternbildung bedeutet Informationssammlung, Austausch von Erfahrungen, eigene Stärken zu entdecken und<br />

schließlich auch praktische Anregungen <strong>für</strong> den Erziehungsalltag zu erhalten.<br />

73


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

über das Phänomen <strong>Legasthenie</strong> als sehr wichtig, wo<strong>bei</strong> die Information über Möglichkeiten<br />

der familiären, schulischen und therapeutischen Hilfe sowie schul- und sozialrechtliche Be-<br />

lange zentral sind. Es ist bewusst zu machen, dass <strong>Legasthenie</strong> eine kräftezehrende Barriere<br />

<strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb darstellt und das Kind seine Energien nicht durch Abwehrmecha-<br />

nismen erschöpfen darf. Hier<strong>bei</strong> müssen Elternhaus und jeweilige Institutionen (später etwa<br />

die Schule) zusammenar<strong>bei</strong>ten, sodass Konfliktsituationen weitestgehend vermieden werden.<br />

Es ist unabdingbar, auch das Kind über seine Schwäche, vor allem aber über seine Stärken<br />

aufzuklären und es darauf hinzuweisen, dass es keine Schuld – vor allem keine durch Dumm-<br />

heit oder Faulheit hervorgerufene – an seinen schulischen Problemen hat.<br />

Beratung <strong>für</strong> <strong>Legasthenie</strong>-Betroffene wird von verschiedenen Berufsgruppen und Institutio-<br />

nen angeboten. So wird bspw. auch in psychologischen Beratungs- und Erziehungsstellen<br />

Beratung <strong>bei</strong> <strong>Legasthenie</strong> durchgeführt. Auch der zuständige schulpsychologische Dienst und<br />

die öffentliche Jugendhilfe (Jugendamt) bieten Beratung an. Auch in Einrichtungen, die die<br />

Diagnostik durchführen, wird Beratung angeboten, hierzu zählen die Ärzte <strong>für</strong> Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, psychologische Praxen und private Anbieter 88 , die ihr<br />

diagnostisches Angebot <strong>mit</strong> einer Therapieempfehlung verbinden.<br />

Einen sehr großen Anteil der Beratungsar<strong>bei</strong>t übernehmen Elternselbsthilfegruppen, wo<strong>bei</strong><br />

der überwiegende Teil dieser Selbsthilfegruppen in den Landesverbänden der einzelnen Bun-<br />

desländer organisiert ist. Die Landesverbände wiederum sind im Bundesverband <strong>Legasthenie</strong><br />

(BVL) zusammengefasst. Der BVL, ein Eltern-Selbsthilfe-Verband 89 , hat sich zur Aufgabe<br />

gemacht, Eltern zu informieren, ihnen Mut zu machen und ihnen zu zeigen, wie sie <strong>mit</strong> ihren<br />

<strong>Kindern</strong> üben können. So erscheint es notwendig, den Eltern <strong>für</strong> eine Reihe von Grundsätzen<br />

gewissermaßen Hilfestellung zu geben, da<strong>mit</strong> sie nicht falsch und erfolglos üben und womög-<br />

lich gemeinsam <strong>mit</strong> dem Kind verzweifeln. Hier wird die Beratung von Eltern übernommen,<br />

die im Rahmen einer Selbsthilfegruppe Elternabende veranstalten. Diese Abende dienen dem<br />

gegenseitigen Austausch, der Beratung <strong>bei</strong>m Umgang <strong>mit</strong> Schulen, dem Austausch von Emp-<br />

fehlungen zu Förderangeboten und bieten Hilfen <strong>bei</strong> der Umsetzung sozialrechtlicher Ansprü-<br />

che. Es ist sinnvoll, vor der Durchführung des Elterntrainings im Rahmen eines Elternabends<br />

oder über einen Fragebogen die Interessen und Bedürfnisse abzuklären. Fragen an die Eltern<br />

sind u.a. deren Wahrnehmung und Bewertung der kindlichen Schriftsprachentwicklung sowie<br />

ihr Vorwissen zu sprachtheoretischen Inhalten. Ebenso wichtig sind Informationen zum elter-<br />

88 Die freien, privaten Anbieter sind sehr unterschiedlich. Verschiedene Berufsgruppen, wie z.B.<br />

Ergotherapeuten, Lehrer, Sozialar<strong>bei</strong>ter, Sozialpädagogen oder Logopäden, bieten hier ihre Dienste an.<br />

89 vgl. Bundesverband <strong>Legasthenie</strong> und Dyskalkulie e.V.<br />

74


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

lichen Belastungserleben und zu Bewältigungsprozessen sowie die Frage nach der elterlichen<br />

Motivation zur Mitar<strong>bei</strong>t.<br />

Da sich die Probleme, die legasthene Kinder in der Schule haben, auf die ganze Familie aus-<br />

wirken, kommt der Mutter 90 in der Regel eine zentrale Rolle zu, weil sie durch die Betreuung<br />

der Hausaufgaben meist genauere Beobachtungen nicht nur zu den Fehlern sondern auch zu<br />

den Stimmungen des Kindes macht. Es ist meist ihre Aufgabe, in der ganzen Familie Sach-<br />

verstand und Problemverständnis zu erreichen, da<strong>mit</strong> nicht durch ein unbedachtes Wort das<br />

Selbstwertgefühl des Kindes und der Erfolg bereits stattfindender Hilfen gefährdet werden.<br />

Oft sperrt sich ein Familien<strong>mit</strong>glied schon gegen den Gedanken, dass das Kind Legastheniker<br />

sein könnte, wo<strong>mit</strong> es wiederum zum Verlust wertvoller Zeit <strong>für</strong> eine frühestmögliche Förde-<br />

rung kommen kann. Da <strong>Legasthenie</strong> auch in der heutigen Gesellschaft noch immer von vielen<br />

Menschen als Makel empfunden wird, spielt bisweilen Prestigedenken <strong>mit</strong> Rücksicht auf die<br />

Umwelt eine fatale Rolle. Mit einer aufklärenden Beratung und angemessener Elternbildung<br />

ist es möglich, solche Missverständnisse abzubauen und <strong>bei</strong>m legasthenen Kind – zumindest<br />

in der eigenen Familie – Sicherheit, Motivation und besonders ein gesundes Selbstwertgefühl<br />

aufzubauen. Trotz aller Aufklärung kann es <strong>bei</strong> der Zusammenar<strong>bei</strong>t zwischen Mutter und<br />

Kind zu Spannungen in der Mutter-Kind-Beziehung kommen. Im Wesentlichen ist die Ursa-<br />

che hier<strong>für</strong> der Rollenkonflikt, da die Mutter in der Förderung und <strong>bei</strong>m gemeinsamen Üben<br />

zwangsläufig in die Rolle der Lehrerin schlüpft, die das Kind <strong>mit</strong> Forderungen, die es nur<br />

schwer oder gar nicht erfüllen kann, <strong>mit</strong> Leistungsbewertung im Klassenmaßstab, insofern<br />

<strong>mit</strong> Misserfolgen und dem Anspruch, noch mehr zu üben, verbindet. Jedoch sollte die Mutter<br />

<strong>für</strong> das Kind primär die Bezugsperson <strong>für</strong> emotionale Bedürfnisse, <strong>für</strong> Trost, Zuflucht, Liebe,<br />

Geborgenheit sein. Sofern die Mutter auch zur Lehrerin wird, entstehen <strong>für</strong> das Kind Schwie-<br />

rigkeiten, die am ehesten überwunden werden können, indem die Mutter verdeutlicht, dass sie<br />

<strong>für</strong> ihr Kind die Mutter bleibt und eine partnerschaftliche Haltung einnimmt, ihr Kind moti-<br />

viert und ihm helfend zur Seite steht (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 90). Dies dient wiederum<br />

dazu, das Kind möglichst zum selbstständigen Ar<strong>bei</strong>ten zu führen. Trotz dieser Selbstständig-<br />

keit benötigen Kinder, und besonders legasthene Kinder, sobald ihnen etwas schwerfällt, die<br />

Nähe der Mutter. Firnhaber (1995) befasst sich ausführlich <strong>mit</strong> der Zusammenar<strong>bei</strong>t von Mut-<br />

ter und Kind 91 . Um das Kind optimal zu fördern, können alle Familien<strong>mit</strong>glieder die Hilfe in<br />

90 Traditionell betrachtet ist es meist der Vater, der berufstätig ist, sodass die Mutter mehr Zeit <strong>mit</strong> dem Kind und<br />

dessen Problemen verbringt. Betrachtet man jedoch moderne Familienkonstellationen, so ist durchaus auch der<br />

Vater derjenige, der sich mehr der Erziehung des Kindes widmet, wenn die Mutter berufstätig ist, sofern nicht<br />

<strong>bei</strong>de Elternteile berufstätig und paritätisch in die Kindeserziehung eingebunden sind.<br />

91 Als Negativ<strong>bei</strong>spiel vgl. auch Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, S. 187.<br />

75


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

Anspruch nehmen. Von besonderer Wichtigkeit <strong>für</strong> Eltern legasthener Kinder ist das Wissen<br />

über die jeweilige Entwicklungsphase 92 ihres Kindes sowie über die Schwerpunkte innerhalb<br />

einzelner Lebensphasen. Zusätzlich wird der partnerschaftliche Umgang <strong>mit</strong>einander weiter-<br />

entwickelt, unterschiedliche Möglichkeiten der Konfliktlösung werden kennengelernt, die<br />

Gesprächsfähigkeit wird gestärkt. 93 Infolgedessen werden sich Eltern ihrer Stärken in der Va-<br />

ter- bzw. Mutterrolle bewusst, so kann der persönliche Erziehungsstil weiterentwickelt wer-<br />

den, aber vor allem können eventuell auftretende Probleme frühzeitig erkannt und rechtzeitig<br />

eine geeignete Hilfe in Anspruch genommen werden. Hier<strong>bei</strong> ist darauf Wert zu legen, den<br />

Eltern auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, da sowohl die Pädagogen als auch die Eltern<br />

Expertenwissen einbringen, das von <strong>bei</strong>den Seiten anerkannt werden sollte.<br />

Verschiedene Förderprogramme konnten nachweisen, dass eine wirksame und nachhaltige<br />

Förderung erst dann gesichert ist, wenn sie von der gut angeleiteten und motivierten Mutter<br />

durchgeführt wird (vgl. Bronfenbrenner 1974 zit. nach Kerkhoff 1982, S. 160). Aus den Be-<br />

reichen Psychologie und Pädagogik besteht Einigkeit über die Risiko- und Schutzfaktoren der<br />

Familie bzw. der Bezugspersonen <strong>für</strong> die kindliche Entwicklung. Neben der Erzieherrolle<br />

können und müssen Eltern daher auch als wertvolle Ressource <strong>für</strong> eine gezielte frühkindliche<br />

häusliche Förderung einbezogen werden. Ob Eltern un<strong>mit</strong>telbar in den Förderprozess inte-<br />

griert werden sollen, ist <strong>für</strong> den Einzelfall zu beurteilen. Das Bewusstsein der Eltern bezüglich<br />

der Stärken und Schwächen ihres Kindes <strong>für</strong> eine häusliche Frühförderung des späteren<br />

Schriftspracherwerbs ist meist nicht ausreichend, auch wenn das Kind nicht von <strong>Legasthenie</strong><br />

betroffen ist. Daher ist es wichtig, die Eltern über das Störungsbild zu informieren und hin-<br />

sichtlich der erreichbaren Erfolge unter Betrachtung der Schwächen und Stärken des Kindes<br />

realistische Erwartungen zu erar<strong>bei</strong>ten (vgl. Suchodoletz 2006, S. 288). Bei der Integration<br />

elterlicher Frühförderung <strong>für</strong> die kindliche Förderung gilt eine gelingende Interaktion zwi-<br />

schen Kind und Eltern als wesentliche Voraussetzung <strong>für</strong> sämtliche Förderinhalte, die in der<br />

Elternar<strong>bei</strong>t 94 weitergegeben werden sollen. Daraus ergibt sich die notwendige Kombination<br />

von Einzel- und Gruppenar<strong>bei</strong>t, die im Elterntraining umgesetzt werden soll. Je nach Instituti-<br />

92 Die Bezeichnung „Entwicklungsstufe“ wird im Allgemeinen nicht mehr verwendet, da sie leicht zu<br />

Missverständnissen führt. Entwicklung geht nicht in eng abgrenzbaren Schritten vor sich, sondern es breiten sich<br />

Vernetzungen aus, die differenzierbarer werden. Unbestritten ist jedoch, dass eine Entwicklung auch komplexer<br />

Systeme von einfachen Formen zu immer ausgeprägteren vor sich geht.<br />

93 Es ist besonders wichtig, <strong>mit</strong> dem legasthenen Kind ins Gespräch zu treten und ihm zu verdeutlichen, dass es<br />

nicht dumm ist, es zu motivieren und so<strong>mit</strong> dessen Selbstwertgefühl aufzubauen.<br />

94 Elternar<strong>bei</strong>t versteht sich als eine partnerschaftliche Zusammenar<strong>bei</strong>t zwischen den Fachkräften einer<br />

pädagogischen Institution und den Eltern. Neben den Eltern werden ebenso alle weiteren wesentlichen<br />

Bezugspersonen des Kindes einbezogen. Ziel ist es, das Kind gemeinsam nach besten Kräften in seiner<br />

Entwicklung zu fördern (vgl. Dusolt 2008, S. 11).<br />

76


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

on wird die Elternar<strong>bei</strong>t in unterschiedlichem Umfang umgesetzt. Im Bereich der Sonderpä-<br />

dagogik hat sie einen besonderen Stellenwert. Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzung<br />

einzelner Institutionen steht die kindliche Entwicklung im Mittelpunkt der Elternar<strong>bei</strong>t 95 .<br />

Formen einer aktiven Elternar<strong>bei</strong>t sind z.B. persönliche Elterngespräche sowie regelmäßige<br />

Elterninformationen oder Erziehungsvereinbarungen. Voraussetzung <strong>für</strong> die Zusammenar<strong>bei</strong>t<br />

ist von Seiten der Pädagogen eine intensive Kenntnis der Lebenswelt des Kindes und der el-<br />

terlichen Ressourcen. Es ist entscheidend, „dass die Elternressourcen genutzt und wertge-<br />

schätzt werden als Helfer, Mitwirkende und Rückmeldende“ (Eikenbusch 2006, S. 9). Den<br />

Eltern ist der kindliche Entwicklungsprozess verständlich zu machen (vgl. Hardmeier-Hauser<br />

1997), die informierenden, beratenden und anleitenden Inhalte sind über die Dauer der Durch-<br />

führung in den Familienalltag zu integrieren. Zunächst wird die Eltern-Kind-Interaktion opti-<br />

miert, um darauf aufbauend positiven Einfluss auf die davon abhängigen kindlichen Entwick-<br />

lungen (Sprache, Lernen, Verhalten) nehmen zu können. Um die Erziehung eines Kindes zu<br />

einer selbstbewussten, eigenständigen Persönlichkeit zu gewährleisten, bietet Elternbildung<br />

die geeignete Information, Unterstützung und Sicherheit in der Bewältigung der Erziehungs-<br />

aufgaben des Alltags. Die Elternbildung sollte die Eltern-Kind-Beziehung stärken, die Kom-<br />

petenz von Eltern bzw. Bezugspersonen in Erziehungsfragen unterstützen, über kindliche Be-<br />

dürfnisse und Entwicklung informieren, Selbstreflexion, Erfahrungsaustausch und eine emo-<br />

tional-affektive Entlastung ermöglichen sowie präventiv gegen Erziehungsprobleme und Ge-<br />

waltanwendung wirken.<br />

Elternbildung wird vor allem von gemeinnützigen Trägern organisiert und im gesamten Bun-<br />

desgebiet von Bildungseinrichtungen wie Familienorganisationen, Eltern-Kind-Zentren, öf-<br />

fentlichen Anbietern und zahlreichen privaten initiativen Veranstaltungsreihen sowie Einzel-<br />

veranstaltungen angeboten.<br />

Das Bundesministerium <strong>für</strong> Wirtschaft, Familie und Jugend informiert Eltern über die Viel-<br />

zahl der Möglichkeiten, zusätzlich trägt die Ar<strong>bei</strong>t des Ministeriums zur Sicherung der Quali-<br />

tät der elternbildenden Angebote sowie zur Reduktion der Kosten <strong>bei</strong>.<br />

7.1.2 Institutionelle Frühförderung und Prävention im Kindergarten<br />

In deutschen Kindergärten steht die ganzheitliche Erziehung im Vordergrund. Der vorschuli-<br />

sche Bildungsauftrag besteht in einer umfassenden Unterstützung der Handlungs-, Lern- und<br />

Bildungsfähigkeit von <strong>Kindern</strong>. Alle Persönlichkeitsbereiche sollen im Kindergarten ange-<br />

95 Themen sind Betreuung, Entwicklungsförderung und Wissensver<strong>mit</strong>tlung <strong>mit</strong> Sozialisations- und<br />

Kompensationsfunktion.<br />

77


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

sprochen und gefördert werden, wo<strong>bei</strong> der curriculare Zielsetzungskatalog eine Vielzahl von<br />

Fähigkeiten (soziale, emotionale, sprachliche, kognitive, motorische u.a.) nennt, welche die<br />

Kinder erwerben sollen, <strong>mit</strong> Schwerpunktsetzung auf dem emotionalen und sozialen Bereich<br />

(vgl. Brazelton/Greenspan 2002).<br />

Phonologische Bewusstheit, hier verstanden als Einsicht in die Lautstruktur der Sprache,<br />

sowie die Fähigkeit, sprachliche Einheiten wie Silben und Phoneme zu erkennen und <strong>mit</strong><br />

diesen Einheiten kontrolliert zu operieren, gilt als die am besten untersuchte Lese- und<br />

Schreiblernvoraussetzung. Trotz der Hinweise, dass sich metaphonologische Fähigkeiten<br />

teilweise auch als Folge des Lese- und Schreibunterrichts entwickeln (vgl. Dehn 1977; Bentin<br />

et al. 1991), wird deren kausale Rolle im Schriftspracherwerb klar gesehen. Es gibt keinen<br />

Zweifel daran, dass von einer bedeutenden Beziehung zwischen vorschulischer<br />

phonologischer Bewusstheit und dem späteren schulischen Schriftspracherwerb auszugehen<br />

ist. Die förderliche Vorhersage des späteren Erfolges <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen durch<br />

Indikatoren <strong>für</strong> frühe metaphonologische Fähigkeiten sollte grundsätzlich Möglichkeiten der<br />

vorschulischen Prävention 96 von kindlichen Lese-Rechtschreibschwierigkeiten eröffnen (vgl.<br />

hierzu u.a. Scheerer-Neumann 1996; Blachman 1997; Küspert 1998; Snow et al. 1998; Jansen<br />

et al. 2002).<br />

Kritiker beanstanden die Förderung eines einzelnen Aspekts, da ganzheitliche Erziehung der<br />

Kinder wichtiger sei und es den <strong>Kindern</strong> einen Teil ihrer Kindheit rauben würde, wenn man<br />

sie schon vor Schuleintritt <strong>mit</strong> schulischem Wissen belaste (vgl. Blässer 1994). Der Forderung<br />

nach einer gezielten Förderung von metaphonologischen Voraussetzungen des Schriftsprach-<br />

erwerbs im Kindergarten stehen in Deutschland der pädagogische Standpunkt einer ganzheit-<br />

lichen Erziehung und die Be<strong>für</strong>chtung einer Verschulung der Kindergartenar<strong>bei</strong>t entgegen,<br />

weshalb der Schriftspracherwerb ausgeklammert wird. In Deutschland und anderen deutsch-<br />

sprachigen Ländern ist es demnach pädagogisch unerwünscht, schulbezogene Elemente in den<br />

Kindergartenalltag hineinzutragen, und hierzu gehört eben auch ein Training zur phonologi-<br />

schen Bewusstheit (vgl. Blässer 1994; Scheerer-Neumann 1996). Blässer erachtet die Integra-<br />

tion von metaphonologischen Trainings in deutschen Kindergärten als wünschenswert. Sie<br />

weist aber darauf hin, dass in den deutschsprachigen Ländern der Streit darüber, ob im Kin-<br />

96 Dieser Ansatz früher Förderung besteht in einem Training der phonologischen Bewusstheit bereits im<br />

Kindergarten, ein Jahr vor der Einschulung. Man testet und übt diese Fähigkeit, indem man Aufgaben<br />

bereitstellt, die das Heraushören von bspw. Anfangslauten, von Endlauten oder aller Laute in einem kurzen,<br />

gesprochenen Wort erfordern. Auch die Erfassung der Silbenzahl eines Wortes ist eine Leistung der<br />

phonologischen Bewusstheit und ebenso die Fähigkeit, unter drei oder vier verschiedenen Wörtern zwei<br />

herauszufinden, die sich reimen. Auf spielerische Weise entwickelt das Kind durch diese „Spiele <strong>mit</strong> Wörtern“<br />

ein Gefühl <strong>für</strong> die Schriftsprache.<br />

78


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

dergarten eine präventive Förderung von <strong>Kindern</strong> hinsichtlich spezifischer Voraussetzungen<br />

<strong>für</strong> das schulische Lesen- und Schreibenlernen erlaubt ist oder nicht, recht ideologische Züge<br />

angenommen hat. Daher muss „noch sehr viel Überzeugungsar<strong>bei</strong>t geleistet werden“, wenn<br />

man metaphonologische Trainings in das Kindergartencurriculum einführen will (vgl. Blässer<br />

1994, S. 236). Da<strong>bei</strong> geht die Autorin nicht weiter auf die Frage ein, inwieweit es sinnvoll ist,<br />

metaphonologische Trainings flächendeckend einzusetzen. Ein solches Training kommt letzt-<br />

lich allen <strong>Kindern</strong> zugute: „Selbst wenn man gar nicht von einem drohenden Risiko <strong>für</strong> LRS<br />

sprechen will, ist eine Erleichterung des beginnenden Schriftspracherwerbs auf jeden Fall zu<br />

begrüßen“ (Blässer 1994, S. 159).<br />

Andere Autoren hingegen erachten es als nicht erforderlich, im Kindergarten alle Kinder zu<br />

trainieren (vgl. Küspert/Schneider 1999, 2006, 2008; Marx/Weber 2004). Eine präventive<br />

<strong>Intervention</strong> ist in erster Linie <strong>bei</strong> solchen <strong>Kindern</strong> indiziert, die Schwierigkeiten in der pho-<br />

nologischen Bewusstheit und in weiteren Voraussetzungen des Schriftspracherwerbs zeigen.<br />

Da<strong>bei</strong> sind Kinder angesprochen, „die nicht reimen können, die Schwierigkeiten haben, Wör-<br />

ter in Silben zu zerlegen; es mögen auch Kinder sein, die prinzipiell Schwierigkeiten haben,<br />

sich auf die klanglichen Einheiten der gesprochenen Sprache zu konzentrieren“ (Küs-<br />

pert/Schneider 1999, S. 17).<br />

7.1.3 Vorschulische Förderung der phonologischen Bewusstheit<br />

Das „Bielefelder Screening“ (BISC) (vgl. Jansen et al. 2002; Marx/Weber 2004), ein im deut-<br />

schen Sprachraum ziemlich verbreitetes Testverfahren zur <strong>Legasthenie</strong>risikoklassifikation,<br />

greift neben der visuellen Aufmerksamkeitssteuerung konsequenterweise vor allem Merkmale<br />

der phonologischen Informationsverar<strong>bei</strong>tung auf. Kombiniert <strong>mit</strong> einer Überprüfung des<br />

Sprachentwicklungsstandes des jeweiligen Kindes ergibt sich da<strong>mit</strong> die Möglichkeit einer<br />

zufriedenstellenden Bestimmung eines Risikos <strong>für</strong> legastheniebedingte Schriftspracherwerbs-<br />

probleme <strong>bei</strong> Kindergartenkindern (vgl. u.a. Schneider et al. 1994; Schneider 2004; Marx et<br />

al. 2005a,b), wo<strong>bei</strong> sich wiederum die phonologische Bewusstheit als wertvollstes Vorhersa-<br />

gemerkmal herauskristallisierte.<br />

Eine Möglichkeit zur Förderung der phonologischen Bewusstheit bietet das bereits in der 5.<br />

Auflage vorliegende Förderprogramm „Hören, lauschen, lernen“ (vgl. Küspert/Schneider<br />

1999, 2006, 2008; Küspert 1998). Die Programmstruktur <strong>bei</strong>nhaltet sechs Übungseinheiten,<br />

die inhaltlich aufeinander aufbauen und das Ziel verfolgen, den Vorschulkindern Einblick in<br />

die Lautstruktur der gesprochenen Sprache zu ver<strong>mit</strong>teln. Hier steht nicht das Erlernen des<br />

79


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

Lesens und Schreibens, sondern die akustische Diskrimination bzw. Abstraktion sprachlicher<br />

Segmente, etwa Wörter, Reime, Silben und Laute, im Fokus.<br />

Das Training beginnt <strong>mit</strong> der ersten der sechs Übungseinheiten, die aus dem Training des<br />

„Lauschens“ besteht. Es wird also <strong>mit</strong> Lauschspielen begonnen, <strong>bei</strong> denen Geräusche, Flüs-<br />

tersprache und klingende Wörter 97 zum Einsatz kommen. Hier<strong>bei</strong> werden die Kinder über<br />

konzentriertes Lauschen, Orten und Identifizieren von Geräuschen auf die darauffolgende<br />

Einheit des Programms, nämlich die Sprachspiele, eingestimmt.<br />

Die zweite Einheit besteht darin, den Umgang <strong>mit</strong> Reimen, und so<strong>mit</strong> die Beachtung der for-<br />

malen Struktur der gesprochenen Sprache, <strong>mit</strong> den <strong>Kindern</strong> zu üben. Zu Beginn dieser<br />

Übungseinheit spricht der Erzieher bzw. Pädagoge Reime vor und lässt die Kinder wiederho-<br />

len, wo<strong>bei</strong> viele bekannte Kinderreime zum Einsatz kommen. Anschließend dürfen die Kinder<br />

selbst Reimwörter zu vorgegebenen Wörtern bilden.<br />

In der nachfolgenden dritten Einheit lernen die Kinder Sätze und Wörter, dass sich (gespro-<br />

chene) Sätze in kleinere Einheiten, nämlich Wörter, zerlegen lassen. Sie lernen auch, Wörter<br />

zu verbinden 98 , sie ergänzen Sätze um jeweils ein Wort und beginnen auch bereits, Wörter<br />

hinsichtlich ihrer Länge 99 zu vergleichen.<br />

Die vierte Übungseinheit „Silben“ umfasst Spiele zum Umgang <strong>mit</strong> Silben und <strong>mit</strong> der Sil-<br />

bengliederung, <strong>mit</strong> der die Kinder meist recht vertraut sind 100 . Sie vertiefen ihre Erfahrungen,<br />

indem sie vorgegebene Einzelsilben zu Wörtern zusammenfügen (Synthese) oder Wörter in<br />

Silben zerlegen (Analyse). Dies wiederum ist immer kombiniert <strong>mit</strong> rhythmischen Bewegun-<br />

gen zur Synchronisierung von Sprache und Motorik.<br />

Nachdem die Kinder <strong>mit</strong> der Silbe vertraut geworden sind, wird in der fünften Übungseinheit<br />

nun die kleinste sprachliche Einheit, der Laut, eingeführt. Da Laute koartikuliert werden und<br />

dementsprechend schwer zu isolieren sind, muss eine Abstraktionsleistung vollbracht werden.<br />

Um den <strong>Kindern</strong> den Zugang zu den Einzellauten zu erleichtern, wird <strong>mit</strong> der Identifizierung<br />

des Anlauts im Wort begonnen, wo<strong>bei</strong> zunächst relativ leicht erkennbare Laute wie Vokale<br />

oder dehnbare Laute (/m/, /s/, /r/), und erst später Plosivlaute (/p/, /k/, /t/) eingeführt und be-<br />

handelt werden. Bei der Einführung in die Welt der Laute gilt es, den <strong>Kindern</strong> diesen Schritt<br />

durch möglichst vielfältige Sinneserfahrungen zu erleichtern. So können Laute gehört, an der<br />

Mundstellung des anderen erkannt oder über Resonanzräume unseres Körpers erfühlt werden.<br />

97 Minimalpaare: Phonologisch gesehen bilden zwei Wörter oder Ausdrücke ein Minimalpaar, wenn sie<br />

unterschiedliche Bedeutung haben und sich da<strong>bei</strong> in nur einem Phonem unterscheiden (z.B. Wand – Wind).<br />

98 Z.B. ergibt die Zusammensetzung der Wörter „Schnee“ und „Mann“ das neue Wort „Schneemann“.<br />

99 also hinsichtlich der Zeit, die man zum Aussprechen braucht.<br />

100 etwa durch Singen oder rhythmische Übungen im Kindergartenalltag.<br />

80


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

Zu Beginn dieser Einheit spricht der Erzieher bzw. Pädagoge verschiedene Wörter vor und<br />

dehnt da<strong>bei</strong> den Anlaut (z.B. Ssssssonne), nachdem die Kinder nachgesprochen haben, dürfen<br />

sie bspw. aus Bildkarten diejenigen aussuchen, die Wörter <strong>mit</strong> gleichem Anlaut darstellen.<br />

Die sechste und letzte Trainingseinheit schließlich dient der Analyse und Synthese von Lau-<br />

ten. Die Kinder beschäftigen sich in dieser Einheit <strong>mit</strong> den Lauten, die sie innerhalb eines<br />

Wortes hören können. Zunächst werden Übungen zur Phonemsynthese durchgeführt, wo<strong>bei</strong><br />

die Erzieherin ein Wort in Einzellauten vorspricht und die Kinder diese zu dem Wort zusam-<br />

menfügen. Auch die Analyse wird ähnlich eingeführt. In den folgenden Spielen wird der Um-<br />

gang <strong>mit</strong> Lauten geübt, indem z.B. aus einem Set von Bildkarten dasjenige herausgesucht<br />

werden soll, auf dem das Wort <strong>mit</strong> den meisten Lauten dargestellt ist. Schließlich beschäfti-<br />

gen sich die Kinder auch <strong>mit</strong> Phonemen, den bedeutungsunterscheidenden Einheiten der<br />

Sprache, indem sie etwa untersuchen, in welchem Laut sich zwei Wörter unterscheiden.<br />

Die Einheiten des Trainingsprogramms werden in täglichen zehn- bis fünfzehnminütigen Sit-<br />

zungen während der letzten zwanzig Wochen des Kindergartenjahres in Kleingruppen in ei-<br />

nem separaten Raum des Kindergartens durchgeführt, wo<strong>bei</strong> die Förderung schwächerer Kin-<br />

der vorrangig ist. Das Programm ist <strong>mit</strong> vielen Bildern, Bewegungs- und Singspielen sehr<br />

spielerisch gestaltet und soll den <strong>Kindern</strong> nicht nur Einblick in die Welt der Laute geben, son-<br />

dern auch Freude am spielerischen und kreativen Umgang <strong>mit</strong> Sprache ver<strong>mit</strong>teln. Ein detail-<br />

lierter und exakt einzuhaltender Trainingsplan regelt die gesamte Trainingsphase. Für weiter-<br />

reichende Ausführungen wird u.a. auf Schneider 1989 und Roth/Schneider 2002 verwiesen.<br />

Weitere Trainingsprogramme zur phonologischen Bewusstheit sind z.B. das „Lautwortopera-<br />

tionsverfahren“ (Kossow 1979) 101 , der „Kieler Leseaufbau“ (Dummer-Soch & Hacketal<br />

1996), das „Marburger Rechtschreibtraining“ 102 (Schulte-Körne/Mathwig 2009), „hören, lau-<br />

schen, lernen …“ (Küspert/Schneider 1999, 2006, 2008), „hören, lauschen, sprechen …“<br />

(Küspert/Schneider 2006) sowie „hören, sehen, verstehen“ (Rosenkötter et al. 2007). Je nach<br />

Alter und individueller Symptomatik des Kindes führen diese Verfahren nachgewiesenerma-<br />

ßen zu Verbesserungen der Lese- und/oder Rechtschreibleistung.<br />

101 Als eine der frühesten Veröffentlichungen stellte Kossow (1979) Aufbau und Erprobung eines Programms zur<br />

Behandlung von Lese-Rechtschreibproblemen im Rahmen einer wissenschaftlichen Veröffentlichung vor.<br />

Dieses Trainingsprogramm nach Kossow stellt ein theoretisch begründetes, umfangreiches Förderprogramm <strong>für</strong><br />

lese-rechtschreibschwache Kinder in den ersten Grundschulklassen dar und enthält sowohl kognitive als auch<br />

lerntheoretische Prinzipien.<br />

102 Für eine theoretische Einordnung des Trainingskonzepts ist das Phasenmodell von Frith (1985) relevant.<br />

81


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

7.1.4 Frühkindliche Wahrnehmungsförderung zur Prävention legastheniebedingter<br />

Schriftspracherwerbsschwierigkeiten<br />

Da sich verschiedene wissenschaftliche Disziplinen <strong>mit</strong> dem Prozess der Wahrnehmung be-<br />

schäftigen, sind in der Literatur viele Definitionen <strong>für</strong> die Begrifflichkeit zu finden. So wird<br />

Wahrnehmung etwa im medizinischen Wörterbuch als „allgemeine Bezeichnung <strong>für</strong> den kom-<br />

plexen Vorgang von Sinneswahrnehmung, Sensibilität und integrativer Verar<strong>bei</strong>tung von<br />

Umwelt- und Körperreizen“ definiert (Pschyrembel 2002, S. 1779). R. Zimmer versteht<br />

Wahrnehmung als „Prozess der Informationsaufnahme aus Umwelt- und Körperreizen […]<br />

und der Weiterleitung, Koordination und Verar<strong>bei</strong>tung dieser Reize im Gehirn“ (Zimmer<br />

2005, S. 32), <strong>bei</strong> dem individuelle Erfahrungen, Erlebnisse und subjektive Bewertungen be-<br />

deutend sind. Generell folgen der Aufnahme und Verar<strong>bei</strong>tung von Informationen Reaktionen<br />

in der Motorik oder auch im Verhalten eines Menschen, die wiederum zu neuen Wahrneh-<br />

mungen führen (vgl. ebd.). Bereits im Embryonalstadium beginnt die Sinnesentwicklung (vgl.<br />

Fröhlich/Büker 2005, S. 40), wo<strong>bei</strong> sich zuerst das taktile System (der Tastsinn), später, je-<br />

doch ebenfalls bereits im pränatalen Verlauf, das vestibuläre System (der Gleichgewichtssinn)<br />

und die auditive Wahrnehmung herausbilden, während sich die visuelle Wahrnehmung zuletzt<br />

entwickelt. Vom Tag der Geburt an sind die Sinne des Menschen voll funktionsfähig (vgl.<br />

Zimmer 2005, S. 52; Spallek 2004, S. 42f.). In diesem Zusammenhang spricht Fröhlich von<br />

einer Grundausstattung, <strong>mit</strong> der das neugeborene Kind auf die Welt kommt (vgl. Fröh-<br />

lich/Büker 2005, S. 42), jedoch entwickelt sich die Zusammenar<strong>bei</strong>t der Sinne in ihrer Entität,<br />

die vom täglichen Gebrauch der Sinnesorgane abhängig ist, erst während der ersten Lebens-<br />

wochen und -monate. Um zunehmend sensible Wahrnehmung zu ermöglichen, benötigt diese<br />

Entwicklung vielfache Übungen, wozu sämtliche Handlungen des Säuglings bzw. Kindes<br />

dienen. Bei diesen Handlungen werden die benötigten Erfahrungen gemacht und im Gedächt-<br />

nis gespeichert, wodurch sich synaptische Verbindungen im Gehirn bilden, die ein immer<br />

dichteres und verzweigter werdendes Netz bilden, das wiederum einen schnelleren und zuver-<br />

lässigeren Austausch von Informationen ermöglicht. Da<strong>mit</strong> derartige Vernetzungen stattfin-<br />

den können, muss eine ausreichende sensorische Stimulation der Sinnesrezeptoren gewähr-<br />

leistet sein (vgl. ebd.). Dieser Prozess führt zu einer zunehmend differenzierteren Wahrneh-<br />

mung.<br />

Die Begriffe Wahrnehmung bzw. Perzeption werden als Prozess des Auffassens und des Er-<br />

kennens, ohne gedankliche Verar<strong>bei</strong>tung oder Beurteilung, als ein ganzheitlicher, komplexer<br />

und aktiver Prozess, der durch die subjektive Auswahl und Einschätzung des Wahrgenomme-<br />

82


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

nen eine emotionale Färbung bekommt (vgl. Fröhlich/Büker 2005, S. 17; Lueger 2005, S. 33)<br />

und der nicht der willkürlichen Hinwendung der Aufmerksamkeit bedarf, definiert.<br />

Der Prozess der Wahrnehmung wird von Zimmer als mehrstufiger Kreislauf verstanden (s.<br />

Abb. 8), demzufolge Umweltreize zunächst über die Rezeptoren des korrespondierenden Sin-<br />

nesorgans aufgenommen werden, wo<strong>bei</strong> bereits an dieser Stelle die Reize nach aktuell subjek-<br />

tiver Bedeutsamkeit vorausgewählt werden. Diesbezüglich spricht Ayres auch von hemmen-<br />

den Kräften, die die unwichtigen Reize unterdrücken und die Impulsmenge auf die wichtigs-<br />

ten reduzieren (vgl. Becker 2005, S. 22). Nachdem diese präselektierten Reize über aufstei-<br />

gende Bahnen in die entsprechenden sensorischen Zentren des Gehirns weitergeleitet worden<br />

sind, wird das Perzipierte dort gespeichert und <strong>mit</strong> bereits Perzipiertem verglichen und bewer-<br />

tet. Hier werden die Reize <strong>mit</strong> initialisierten Handlungen und Erfahrungen verknüpft. Schließ-<br />

lich sendet das Gehirn über absteigende Bahnen Impulse zu den ausführenden Organen, wo-<br />

durch eine Resonanz in Form einer motorischen Handlung hergerufen wird. Infolgedessen<br />

kommt es schließlich zu erneuten Wahrnehmungen. Diesbezüglich spricht Zimmer von einem<br />

sich repetitiv erneuernden Regelkreis (vgl. Zimmer 2005, S. 46). Ayres spricht von sensori-<br />

scher Integration. Im Unterschied zu Affolter vertritt Ayres die Auffassung, dass jedes Kind<br />

<strong>mit</strong> einer bestimmten Kondition sensorischer Integration geboren wird, die durch das kindli-<br />

che Spielen kombiniert <strong>mit</strong> vielfältiger Erfahrung <strong>bei</strong> der Auseinandersetzung <strong>mit</strong> seiner<br />

Umwelt gefördert und weiterentwickelt wird (vgl. a.a.O., S. 9). Nach Ayres verläuft die um-<br />

fassende Entwicklung der sensorischen Integration in so genannten Anpassungsreaktionen,<br />

die sie als eine primär zielgerichtete und sinnvolle Reaktion auf sinnliche Erfahrungen defi-<br />

niert 103 . Während der Mensch Herausforderungen bewältigt und immer wieder neue Erfah-<br />

rungen macht, entwickelt sich sein Gehirn weiter, sodass es zunehmend bessere Organisation<br />

erlernt. Da Kleinkinder ihre Erfahrungen bis zum siebten Lebensjahr insbesondere <strong>mit</strong>tels der<br />

Motorik und ihrer Sinneswahrnehmungen generieren und Anpassungsreaktionen weniger vom<br />

Verstand ausgehen, spricht Ayres von einem Lebensabschnitt „der sensomotorischen Ent-<br />

wicklung“ (a.a.O., S. 10f.). Trotz der im Verlauf der weiteren Entwicklung zunehmend durch<br />

geistige sowie soziale Resonanzen ersetzen Teile sensomotorischer Prozesse bleibt die Moto-<br />

rik die Basis <strong>für</strong> komplexe sensorische Integration, wie sie etwa <strong>für</strong> den Schriftspracherwerb<br />

vorausgesetzt wird. Je besser diese Sensomotorik in den ersten Lebensjahren ausgeprägt ist,<br />

desto leichter wird <strong>für</strong> das Kind der Schriftspracherwerb und das spätere Erlernen von geisti-<br />

gen und sozialen Fähigkeiten (vgl. a.a.O., S. 11).<br />

103 So versucht etwa ein Baby, einen Gegenstand, den es sieht, durch Ausstrecken seiner Hand zu erreichen.<br />

83


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene<br />

Wie gezeigt werden konnte, sind Wahrnehmung und Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung ein wichti-<br />

ger Indikator <strong>für</strong> einen erfolgreichen Schriftspracherwerb. Da die Entwicklung einer zuneh-<br />

mend sensiblen Wahrnehmung vielfacher Übung bedarf, wozu sämtliche Handlungen des<br />

Kindes dienen und wo<strong>bei</strong> die benötigten Erfahrungen gemacht und im Gedächtnis gespeichert<br />

werden, sollte dem Kind eine dazu geeignete und so<strong>mit</strong> an Übungsmöglichkeiten reiche Um-<br />

gebung bereitgestellt werden. Diese vorbereitete Umgebung ermöglicht den Aufbau von Ge-<br />

wohnheiten und Routinen, besonders auf das Lernen bezogen. „Die Gewöhnung ist am besten<br />

zu erreichen, wenn sie alternativlos und latent erfolgt. Das heißt, der Erzieher ist gehalten,<br />

ein bestimmtes, abgeschlossenes soziales Umfeld zu gestalten, das andere, gegenläufige Ein-<br />

flüsse oder alternative Erfahrungen ausschließt. (Prange/ Strobel-Eisele 2009, S. 55).<br />

Unter diesem Aspekt sollen in Kapitel 8 die Möglichkeiten pädagogisch-didaktischer Inter-<br />

vention nach dem Modell Maria Montessoris sowie nach dem Konzept der AFS-Methode<br />

Astrid Kopp-Dullers sowie Ansätze und Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong> le-<br />

gastheniebedingter Schriftspracherwerbsschwierigkeiten näher erörtert werden. Zuvor soll<br />

noch dieses Kapitel der präventiven Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene <strong>mit</strong> lern-<br />

theoretischen Reflexionen über vorbeugendes pädagogisches Intervenieren seinen Abschluss<br />

finden.<br />

7.2 Lerntheoretische Überlegungen zur pädagogisch-präventiven<br />

<strong>Intervention</strong><br />

Im Wesentlichen umfasst eine lerntheoretische Basis von Frühförderprogrammen die Durch-<br />

führung und Strukturierung der Förderung, ohne dass da<strong>mit</strong> Annahmen über den Gegenstand<br />

der Förderung verbunden sind. So werden lerntheoretische Prinzipien <strong>bei</strong> unterschiedlichen<br />

Entwicklungsstufen des Schriftspracherwerbs eingesetzt, wie bspw. <strong>bei</strong> der Ver<strong>mit</strong>tlung von<br />

phonologischem und orthographischem Wissen (vgl. Suchodoletz 2006, S. 34).<br />

Aus der empirischen Forschung (z.B. Kossow 1979; Mannhaupt 1992; Schulte-Körne/<br />

Mathwig 2009) können folgende Ableitungen <strong>für</strong> das Übungs- und Lernverhalten zusammen-<br />

gefasst werden: Förderung der intrinsischen kindlichen Motivation, der sukzessive Aufbau<br />

der Lernschritte, sukzessives Vorgehen 104 , Gliederung, Akzentsetzungen und Sinnverbindun-<br />

gen des Lernstoffs, Unterstützung von Selbstregulation und Anleitung zu planvollem Han-<br />

deln, Lernen durch Nachahmung, Unterstützung einer positiven Haltung zur Lernsituation<br />

und zu eigenen Fähigkeiten, un<strong>mit</strong>telbare Rückmeldung über den Erfolg bzw. Fehlerkontrolle<br />

104 Entdecken, Aneignen, Verbalisieren, Verinnerlichen, Automatisieren.<br />

84


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

sowie Beachtung der Prinzipien der Ermüdung 105 (vgl. Suchodoletz 2006, S. 38). Lerntheore-<br />

tisch fundierte Ansätze können sowohl schulisch als auch außerschulisch umgesetzt werden<br />

(vgl. a.a.O., S. 55). So lässt sich auch eine häusliche Förderung durchführen. In diesem Rah-<br />

men werden in den Förderstudien von Machemer (1979) und Schulte-Körne (et al. 1997,<br />

1998) Eltern beauftragt, fünfmal in der Woche <strong>für</strong> kurze Intervalle <strong>mit</strong> ihren <strong>Kindern</strong> von den<br />

Beratern hoch strukturiert vorgegebene Rechtschreibübungen durchzuführen. Die Studien zur<br />

Wirksamkeit des präventiven Trainingsprogramms „hören, lauschen, lernen“ (Küspert 1998;<br />

Schneider et al. 1994, 1998, 2000) unterstützen die Interpretation, dass <strong>mit</strong> der einfachen<br />

Maßnahme des aufgeteilten Lernens die Effektivität der Förderung verbessert werden könnte.<br />

Der Einsatz lernstrategisch orientierter Förderprogramme kontrastiert unter lernpsychologi-<br />

scher Perspektive besonders, da in Studien, in denen sich lese-rechtschreibschwache Kinder<br />

unterschiedlichen Alters entweder eine komplette Schreibhandlungsstrategie (Mannhaupt<br />

1992) oder spezifische Rechtschreibstrategien (Nock et al. 1988; Scheerer-Neumann 1988;<br />

Schulte-Körne et al. 1997; 1998) aneignen sollten, positive Befunde festgestellt werden konn-<br />

ten. Gerade diese Belege verlangen in Verbindung <strong>mit</strong> den aktuellen Lernforschungserkennt-<br />

nissen den Einsatz von Fördermaßnahmen, die den <strong>Kindern</strong> Einsicht in die Schritte ihres Tuns<br />

ver<strong>mit</strong>teln und ihnen Anregung zur strategischen Selbstkontrolle geben.<br />

Insgesamt ist der Einsatz lerntheoretisch begründeter Behandlungsmöglichkeiten <strong>bei</strong> der För-<br />

derung von lese-rechtschreibschwachen <strong>Kindern</strong> zu empfehlen.<br />

8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell<br />

Maria Montessoris und der AFS-Methode nach Astrid<br />

Kopp-Duller<br />

8.1 Ansätze nach dem Konzept von Maria Montessori<br />

Kein reformpädagogisches Konzept ist so weit verbreitet wie das von Maria Montessori. Al-<br />

lein in Deutschland gibt es mehr als 400 Montessori-Kinderhäuser und über 1000 Montessori-<br />

Schulen. Viele Förderschulen wie auch Diagnose- und Förderklassen ar<strong>bei</strong>ten nach dieser<br />

Methode. Der Ansatz ist darüber hinaus weltweit verbreitet. Seit den 1990er Jahren kann man<br />

einen regelrechten Boom des Ansatzes feststellen. Neue Montessori-Einrichtungen werden<br />

105 die Abnahme der Reaktionsbereitschaft auf einen bestimmten Reiz.<br />

85


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

gegründet, zahlreiche Veröffentlichungen sind in den letzten Jahren erschienen und Ausbil-<br />

dungskurse werden verstärkt angeboten, offensichtlich weil die Nachfrage entsprechend groß<br />

ist. Schließlich versuchen auch viele Regeleinrichtungen, Elemente der Ar<strong>bei</strong>t nach Montes-<br />

sori in ihren Alltag zu integrieren. Ein Beispiel da<strong>für</strong> ist die so genannte Freiar<strong>bei</strong>t, die derzeit<br />

an Grundschulen umgesetzt wird. Die Motivation, sich <strong>mit</strong> dem Ansatz Maria Montessoris zu<br />

beschäftigen, ist sehr unterschiedlich. Für einige Pädagogen sind allgemeine (Erziehungs-)<br />

Probleme Anlass, nach neuen Wegen zu suchen, <strong>für</strong> andere sind es Konzentrations- und Auf-<br />

merksamkeitsschwächen und Probleme <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb. Es bereitet zunehmend<br />

Schwierigkeiten, Kinder <strong>mit</strong> solchen Problemen in den Gruppenalltag (wie er vor allem in der<br />

Schule stattfindet) zu integrieren. Auch der Wunsch, individueller <strong>mit</strong> <strong>Kindern</strong> zu ar<strong>bei</strong>ten,<br />

spielt <strong>für</strong> Pädagogen eine Rolle. Durch die Montessori-Pädagogik erhofft man sich, mehr auf<br />

das Kind eingehen zu können, wo<strong>bei</strong> man erwähnen sollte, dass Erzieher bewusst Elemente<br />

der Montessori-Pädagogik aufnehmen, deshalb aber nicht zu einer Montessori-Einrichtung<br />

werden oder werden möchten, indem sie womöglich die Gesamtkonzeption verändern. Es<br />

stellt sich die Frage, welche Erfolgschancen der Ansatz bietet, dass er sich so lange weitge-<br />

hend unverändert hält und immer neue Anhänger findet. Ist er auch geeignet, Antworten auf<br />

aktuelle pädagogische Fragen und Probleme zu geben? In diesem Kontext interessiert, ob der<br />

Ansatz von Montessori geeignet ist, neue Wege in der Prävention von legastheniebedingten<br />

Schulproblemen bzw. Problemen <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb aufzuzeigen.<br />

Spätestens seit den Ergebnissen der PISA-Studie scheint die Forderung nach einer gezielten<br />

(Früh-)Förderung unserer Kinder wieder in aller Munde zu sein, jedoch war diese schon vor<br />

über einem Jahrhundert eine der zentralen Forderungen in den pädagogischen Ansätzen von<br />

Maria Montessori. Sie hatte die Gelegenheit, kleinere Kinder in ihrem Umgang <strong>mit</strong> und in<br />

ihren Reaktionen auf verschiedene Materialien zu beobachten, und als Ärztin war sie in der<br />

Lage, ihre Beobachtungen entwicklungspsychologisch einzuordnen. So ist es nicht<br />

verwunderlich, dass sie zu einer Zeit, als es die Neuropsychologie dem Namen nach noch gar<br />

nicht gegeben hat, ihrem pädagogischen Konzept eine neuropsychologische Grundlage gab.<br />

Aber das ist nur ein Aspekt, ein weiterer ist die tiefe Achtung vor der Würde des Kindes, das<br />

bereits den zukünftigen Erwachsenen in sich birgt und dem es zu einer sinnvollen<br />

Entwicklung zu verhelfen gilt. Um die frühen Lernphasen der Kinder zu nutzen und wichtige<br />

Lernpotentiale nicht zu vergeuden, schuf sie die ersten Kinderhäuser, in welchen schon<br />

Vorschulkindern ab dem dritten Lebensjahr eine gezielte Bildung und Erziehung ermöglicht<br />

werden sollte. Die Zeit von der Geburt an bis zum sechsten Lebensjahr hat Montessori als die<br />

Phase des absorbierenden Geistes (vgl. Montessori 1996) beschrieben, da das Kind in dieser<br />

86


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Lebensspanne <strong>mit</strong> großer Leichtigkeit vielerlei Lernanreize aufzunehmen vermag und diese<br />

einfach zu absorbieren scheint. Das Alter vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr stellt eine<br />

der wichtigen Entwicklungsphasen im Leben des Kindes dar, in der eine gezielte Förderung<br />

von außen <strong>bei</strong>m Kind Anklang finden kann, da viele Entwicklungsfenster geöffnet sind und<br />

folglich das Lernen besonders leichtfällt. Ab dem dritten Lebensjahr ist das Kind<br />

„sensomotorisch betrachtet“ ein „reifes Wesen, das sprechen und zu vielen Menschen<br />

Kontakt aufnehmen kann“ (Ayres 2002, S. 42). In dieser Zeit werden die Fundamente <strong>für</strong> den<br />

Erwerb der höheren intellektuellen Funktionen gelegt.<br />

Jedes Kind durchläuft Entwicklungsphasen, sie sind Ausdrucksformen neurologischer<br />

Reifungsprozesse, und diese werden wiederum durch das biologische Potential, genetische<br />

Anlagen und eine Umwelt, die Erfahrungen und da<strong>mit</strong> Lernen ermöglicht, bestimmt. In all<br />

diesen Bereichen, im Bereich der Sensomotorik, der Motorik, des Spracherwerbs und<br />

schließlich des Verhaltens, ist eine neurologische Entwicklung zu beobachten, die das Kind<br />

selbst <strong>mit</strong>bestimmt (vgl. Milz 1999, S. 60f.), indem es sich durch seine Lebensneugier der<br />

Umwelt zuwendet. Montessori spricht im Zusammenhang <strong>mit</strong> diesen Entwicklungsschritten,<br />

wie oben erwähnt, vom absorbierenden Geist 106 . Durch diese Zuwendung zur Umwelt werden<br />

immer wieder neue Reize verar<strong>bei</strong>tet, die die Grundlage <strong>für</strong> komplexe Verar<strong>bei</strong>tungssysteme<br />

bilden. „Bei den psychischen Funktionen kann die Reife nur durch Erfahrungen in der<br />

Umwelt eintreten, die während der einzelnen Entwicklungsabschnitte unterschiedlich sind.<br />

[…]“ (Mon-tessori 1984, S. 88). Von Geburt an soll sich das Kind zu einem<br />

selbstverantwortlichen, unabhängigen Menschen entwickeln, wo<strong>bei</strong> Erwachsene – Eltern,<br />

Erzieher und Lehrer – die beschriebene Entwicklungsar<strong>bei</strong>t so wenig wie möglich stören und<br />

dem Kind genügend Freiraum <strong>für</strong> die kindliche Entwicklung gewähren sollten. „Wird das<br />

Kind von den Möglichkeiten, diese Erfahrungen zu sammeln, ferngehalten zu dem Zeitpunkt,<br />

da es die Natur dazu bestimmt, vergeht diese spezielle, anregende Sensitivität, und die<br />

Entwicklung, wie auch die Reife, werden dadurch gestört“ (ebd.). Das Kind soll in seiner<br />

ganzen Person geachtet werden, um ihm die Möglichkeit zu geben, so individuell wie<br />

möglich zu ar<strong>bei</strong>ten und ganzheitlich <strong>mit</strong> all seinen Sinnen zu lernen. So kann dem Kind<br />

ermöglicht werden, selbstständig und kritisch zu denken und zu handeln, eigene<br />

Entscheidungen zu treffen und verantwortungsbewusst <strong>mit</strong> Freiheit umzugehen.<br />

106 Neurowissenschaftler bestätigen diese „Geistesform“ und verfeinern die Beschreibung, z.B. beschreibt Stern<br />

(1992) die selektive Wahrnehmung von Säuglingen. Weitere Erkenntnisse sind die reizabhängige Entwicklung<br />

des Gehirns, die Bedeutung der Umgebung sowie der bewussten Förderung.<br />

87


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Die Montessori-Materialien sind besonders da<strong>für</strong> entwickelt, diese Reize anzubieten und dem<br />

Kind so<strong>mit</strong> Entwicklungsanstöße zu geben bzw. seine Umwelt angemessen <strong>für</strong> die Entwick-<br />

lungsphasen des Kindes zu gestalten. So kann ihm die Möglichkeit gegeben werden, die sen-<br />

siblen Phasen auszuschöpfen und eventuell versäumte Lerninhalte durch Reize auf spieleri-<br />

sche Weise nachzuholen. Nach M. Fritz lässt sich das allgemeinere „Problem versäumter<br />

Lernbereitschaften“ <strong>mit</strong> Hilfe der phasenspezifisch erar<strong>bei</strong>teten Materialien Montessoris prä-<br />

ventiv lösen, weil auf diese Weise ein „Ausfall von Lernprozessen“ (Fritz 1971, S. 139f.) di-<br />

daktisch verhindert wird.<br />

8.1.1 Grundlagen des Montessori-Modells<br />

Auch in der Montessori-Pädagogik geht man davon aus, dass die Phonetik der Zugang <strong>bei</strong>m<br />

Erlernen unbekannter Wörter ist. Aus diesem Grund nutzt man in dieser Pädagogik die phone-<br />

tische Annäherung an das Lesen (vgl. Montessori 2001a, S. 152). Von Bast wird die Montes-<br />

sori-Pädagogik „als in Deutschland bis heute wirkungsmächtige Strömung“ angesehen, <strong>bei</strong><br />

der „das Kognitive und das Aufgeklärte der Mittelpunkt ihrer Pädagogik“ (Bast 1996, S. 167)<br />

sind. Ein Kind wird <strong>mit</strong> dem Drang zu lernen und zu wachsen geboren. Dieser Drang geht<br />

einher <strong>mit</strong> dem spontanen Bedürfnis, sich aktiv <strong>mit</strong> der Umwelt auseinanderzusetzen, was zu<br />

Erkenntnisprozessen führt, die seine Persönlichkeit bilden. So erlebt jedes einzelne Kind sein<br />

Wachstum, sofern es von einfühlsamen Erwachsenen begleitet wird und in einer anregenden<br />

Umwelt lebt, <strong>mit</strong> großer Freude. Im Wesentlichen ist der Erziehungsprozess demzufolge ein<br />

Selbsterziehungsprozess, den es <strong>mit</strong> Hilfe von außen zu unterstützen und zu fördern gilt.<br />

Folglich geht Entwicklung nach Montessori vom Kind aus, welches nicht Objekt, sondern<br />

Subjekt in diesem von biologischen Rahmenbedingungen beeinflussten Prozess ist (vgl. Bast<br />

1996, S. 55). Nach Maria Montessori kann eine Person niemals von einer anderen Person<br />

entwickelt werden, genauso wie auch Entwicklung nicht gelehrt werden kann (vgl. Montesso-<br />

ri 1984, S. 184). Nach Montessori muss Erziehung immer entwicklungsgemäß sein, d.h., dass<br />

sie den inneren Kräften und den Bedürfnissen des Kindes auf seiner jeweiligen Entwick-<br />

lungsphase entsprechen muss. Demnach darf das Kind weder überfordert noch geistig unter-<br />

fordert werden. Da Entwicklung in Wechselwirkung von Bewegung und Wahrnehmung ge-<br />

schieht, werden Sinnesreize <strong>mit</strong> Hilfe von Bewegungen aufgenommen, bekommen Bedeu-<br />

tung, machen Erkennen möglich und führen wiederum zu motorischen Reaktionen. So ent-<br />

steht ein Regelkreis, der im Zusammenspiel von Empfindung und Gedächtnis zu neuen Ver-<br />

netzungen und da<strong>mit</strong> zu Fähigkeiten führt. Dadurch werden Denken und Sprechen und da<strong>mit</strong><br />

Kommunikation <strong>mit</strong> dem sozialen Umfeld möglich. Für eine differenzierte Ausprägung dieses<br />

88


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Netzwerks sind vielfältige Erfahrungen <strong>mit</strong> der Umgebung, die aufgenommen, verar<strong>bei</strong>tet und<br />

gespeichert werden, notwendig. Montessori entwickelte ihre weltbekannte Methode, um die<br />

Erziehung und Förderung behinderter wie auch nicht behinderter Kinder zu ermöglichen, wo-<br />

<strong>bei</strong> sie schwerpunktmäßig <strong>mit</strong> dieser Methode „als Organisation des Lernprozesses begon-<br />

nen“ und „später […] theoretisch nachgeholt [hat], was in ihrem Konzept <strong>für</strong> die Praxis<br />

schon lange realisiert war, nämlich die Verbindung von Inhalt und Methode“ (Raapke 2003,<br />

S. 238). Montessori erstellte eine komplexe Verknüpfung zwischen wissenschaftlicher Theo-<br />

rie und erzieherischer Praxis, wo<strong>bei</strong> sich in diesem Erziehungsmodell das pädagogisch orien-<br />

tierte Handeln im Kontext der kindlichen Entwicklung bewegt. Dieser Kontext impliziert so-<br />

wohl körperliche als auch geistige, psychische sowie intellektuelle Bedürfnisse des Kindes,<br />

wo<strong>bei</strong> das Material als Leiter <strong>für</strong> die psychischen Bedürfnisse fungiert (vgl. Montessori 1987,<br />

S. 84).<br />

„Die Sinne sind ‚Greiforgane‘ der Bilder der Außenwelt, die <strong>für</strong> den Verstand so notwendig<br />

sind, wie die Hand als Greiforgan der <strong>für</strong> den Körper notwendigen Dinge. Doch <strong>bei</strong>de – Sin-<br />

ne und Hand – können sich über solche einfachen Aufgaben hinaus verfeinern und dadurch<br />

immer wertvollere Gehilfen des großen inneren Motors werden, der sie in seinen Dienst<br />

stellt“ (Montessori 1987, S. 165). Wie hier beschrieben erkannte Montessori dank ihrer Fä-<br />

higkeit zur genauen Beobachtung sowie ihrer ärztlichen Ausbildung, die sie dazu befähigte,<br />

ihre Hypothesen über kindliches Verhalten in ein neuropsychologisches Raster einzuordnen,<br />

welche Bedeutung der Verar<strong>bei</strong>tung von Sinnesreizen im Rahmen der kindlichen Entwick-<br />

lung zukommt. Montessori geht davon aus, dass jeder Mensch <strong>bei</strong> der Geburt über einen „in-<br />

neren Bauplan“ 107 verfügt, der die Entwicklung steuert.<br />

Die Montessori-Pädagogik steht sozusagen auf zwei Säulen, die erste Säule ist die Entwick-<br />

lung des Kindes, das <strong>mit</strong> einem genetischen Potential geboren wird, dessen Ziel das Wachsen<br />

und Lernen ist (vgl. Raapke 2001, S. 14). Ihr ist der Grundsatz, Folge dem Kind, es wird dir<br />

seinen Weg zeigen, zuzuordnen, während die zweite Säule ihrer Pädagogik die Umwelt des<br />

Kindes ist, durch die es nur lernen und wachsen kann, indem es sich <strong>mit</strong> ihr auseinandersetzt.<br />

Der Grundsatz der zuletzt genannten Säule lautet demnach: Hilf mir, es selbst zu tun (ebd.;<br />

Montessori 1978, S. 274). Das Kind weist den Weg, der Pädagoge folgt ihm, indem er ange-<br />

messene Materialien 108 vorbereitet. Das Sinnesmaterial 109 soll helfen, die erworbenen Sinnes-<br />

107<br />

Die Anlagen <strong>für</strong> die geistige Entwicklung liegen im Kind verborgen, der Plan entfaltet sich in vielen Entwicklungsschritten<br />

durch eine „geheimnisvolle Kraft“.<br />

108<br />

Angemessenes Material folgt dem methodischen Vorgehen nach dem Prinzip der kleinen didaktischen<br />

Lernschritte unter Beachtung der Entwicklungsphasen eines Kindes.<br />

89


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

eindrücke zu ordnen und so<strong>mit</strong> geistige Kategorien zu erzeugen. Es ist ihrem Ausgangspunkt<br />

gemäß, dass sich jedes Kind in der aktiven Auseinandersetzung <strong>mit</strong> der Umwelt entwickelt.<br />

Nach Montessori soll das von ihr erar<strong>bei</strong>tete Material „kein Ersatz <strong>für</strong> die Welt sein, soll nicht<br />

allein die Kenntnis der Welt ver<strong>mit</strong>teln, sondern soll Helfer und Führer sein <strong>für</strong> die innere<br />

Ar<strong>bei</strong>t des Kindes. Wir isolieren das Kind nicht von der Welt, sondern wir geben ihm ein<br />

Rüstzeug, die ganze Welt und die Kultur zu erobern. Es ist wie ein Schlüssel zur Welt und ist<br />

nicht <strong>mit</strong> der Welt selbst zu verwechseln“ (Montessori 1985, S. 274). Das Lern- und Entwick-<br />

lungsmaterial verschafft dem Kind also einen Zugang zur abstrakten Welt, indem bereits er-<br />

worbenes Wissen betrachtet, objektiviert, geordnet und bewertet wird, so werden unreflektier-<br />

te, ganzheitlich aufgenommene Eindrücke zu reflektierter Erfahrung gemacht. Mit Hilfe des<br />

didaktischen Materials von Montessori als Grundlage ist es möglich, die Wahrnehmung des<br />

Kindes gezielt und individuell zu fördern. In diesem Kontext kann der Umgang <strong>mit</strong> dem di-<br />

daktischen Material als das zentrale Moment Montessoris <strong>bei</strong> der Erziehung der Sinne be-<br />

zeichnet werden (vgl. Montessori 2001a, S. 112). Zu diesen Materialien gehören das Material<br />

zur Unterscheidung von Dimensionen (rosa Turm, braune Treppe, rote Stangen, Einsatzzylin-<br />

der, farbige Zylinder), das Material zur Unterscheidung von Formen (geometrische Kommo-<br />

de, konstruktive Dreiecke, geometrische Körper) 110 sowie das Material zur Unterscheidung<br />

elementarer Sinnesempfindungen (zur Unterscheidung von Farben, Oberflächen- und Materi-<br />

alstrukturen, Gewichten, Geräuschen und Tönen, Gerüchen, Wärmequellen und zur Unter-<br />

scheidung des Geschmacks). Montessoris Sinnesmaterial setzt sich aus einem System von<br />

Gegenständen zusammen, die nach spezifischen Eigenschaften wie Farbe, Form, Gewicht,<br />

Oberflächenbeschaffenheit, Temperatur, Klang usw. geordnet werden können (vgl. Holtstiege<br />

1977, S. 103). Eine weitere Dimension, die das Material erschließt, ist die Fähigkeit zur Kate-<br />

gorienbildung, sodass Sinneseindrücke in abstrakter Weise organisiert und benannt werden<br />

können. Didaktisch entsprechend geordnet und aufbereitet ermöglicht das Material auch le-<br />

gasthenen <strong>Kindern</strong> einen <strong>für</strong> sie gangbaren Weg <strong>für</strong> den Schriftspracherwerb. Dies bildet die<br />

fundamentalen didaktischen Auswahlprinzipien und so<strong>mit</strong> die Qualitäten des von Montessori<br />

erar<strong>bei</strong>teten Sinnesmaterials. Diese Isolierung der einzigen Eigenschaften im Material wird in<br />

109 Bereits im 19. Jahrhundert entwickelten Itard und Sequin die „physiologische Methode“ <strong>für</strong> die Behandlung<br />

von geistig behinderten <strong>Kindern</strong>, die später auch <strong>für</strong> die Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> normal intelligenten übernommen wurde.<br />

Maria Montessori übernimmt weite Teile des Werks von Itard und Sequin. Die physiologische Methode bedeutet<br />

„die Einheit von Intellekt und Sinnestätigkeit bzw. Motorik und die Aktivierung des Intellekts durch Einwirkung<br />

auf die Sinne und den Bewegungszusammenhang. […] Die Aktivierung des Geistes geschieht daher über die<br />

Sinne. Durch die Peripherie wird auf das Zentrum eingewirkt“ (Heiland 1991, S. 39).<br />

110 Die Übungen <strong>mit</strong> diesen Materialien dienen in besonderer Weise der Vorbereitung des mathematischen<br />

Denkens.<br />

90


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Ästhetik, Abstufung, Anregung, Begrenztheit, Organisiertheit, Fehlerkontrolle sowie das<br />

kindliche Interesse kategorisiert. Die Isolierung des Materials ist so gestaltet, dass <strong>bei</strong> dessen<br />

Umgang jeweils eine Eigenschaft isoliert wird. Es sind Gegenstände vorzubereiten, die <strong>mit</strong><br />

Ausnahme der unterschiedlichen Eigenschaften untereinander vollkommen gleich sind. Zu<br />

große Komplexität und Phantasie würden nur Verwirrung stiften. Die gesamten Materialien,<br />

wie auch die Umgebung, sind harmonisch und ästhetisch ansprechend gestaltet, sodass sie die<br />

Kinder anziehen. Jedoch dient diese Ästhetik nicht in erster Linie der Freude oder der Ver-<br />

vollkommnung des sinnlichen Eindrucks, sondern sie soll dem Kind ver<strong>mit</strong>teln, sorgfältig <strong>mit</strong><br />

dem Material umzugehen. Zudem sollte das Material dem Kind Anregung zum Handeln ge-<br />

ben und so<strong>mit</strong> seine Tätigkeit hervorlocken. Nach Montessori ist es unzweckmäßig, wenn ein<br />

Kind von zu vielen Reiz<strong>mit</strong>teln umgeben ist. Sie vertritt den Standpunkt, dass ein Kind keine<br />

Reiz<strong>mit</strong>tel benötigt, die es „aufwecken bzw. anreizen“, um <strong>mit</strong> der konkreten Umgebung in<br />

Kontakt zu treten. Vielmehr müsste ihm die Gelegenheit gegeben werden, die vielfältigen<br />

Eindrücke, die wie ein Chaos aus der Umgebung auf es einwirken, zu ordnen. „In der Begren-<br />

zung der Hilfs<strong>mit</strong>tel, die das Kind dazu führen, Ordnung in seinen Geist zu bringen und ihm<br />

das Verständnis der unendlich vielen Dinge erleichtern, die es umgeben, liegt das höchste<br />

Erfordernis, das es dem Kind ermöglicht, seine Kräfte zu schonen und das es sicher auf den<br />

schwierigen Pfaden seiner Entwicklung voranschreiten läßt“ (Montessori 1987, S. 119). Nach<br />

Montessori soll das Prinzip der quantitativen Begrenzung (vgl. Fischer et al. 1999) gelten,<br />

d.h., dass der Pädagoge bewusst die Zahl der einzelnen Lehr<strong>mit</strong>tel begrenzt und zwischen<br />

dem Erforderlichen und dem Ausreichenden entscheidet, da zu viele Lernmaterialien die<br />

Konzentrationsfähigkeit blockieren und zu wenige die Wahlmöglichkeit einschränken. Die<br />

Aufgaben dürfen vom Kind beliebig oft, gemäß dem Prinzip der Wiederholbarkeit (vgl. ebd.),<br />

wiederholt werden. Die Abstufung gestaltet sich durch bestimmte physikalische Eigenschaf-<br />

ten des Materials wie Farbe, Form, Maße, Klang, Zustand von Rauheit, Gewicht, Temperatur<br />

usw. „Jede einzelne Gruppe verfügt über die gleiche Eigenschaft, jedoch in verschiedenen<br />

Abstufungen; es handelt sich also um eine Abstufung, <strong>bei</strong> der sich der Unterschied von einem<br />

Gegenstand zum anderen gleichmäßig verändert und, wenn möglich, mathematisch festgelegt<br />

ist“ (Montessori 2001a, S. 114). Zusätzlich wird das Material mengenmäßig begrenzt, um<br />

einerseits ein äußeres Chaos durch zu viele Materialien zu verhindern und andererseits des-<br />

halb, da<strong>mit</strong> die Kinder einen Weg <strong>für</strong> ihre Entdeckungen finden, ohne Umwege machen zu<br />

müssen. Das kindliche Interesse wird dahingehend berücksichtigt, dass nur ein Material aus-<br />

gewählt wird, das sich erfahrungsgemäß <strong>für</strong> die Erziehung eignet und „das kleine Kind auch<br />

tatsächlich interessiert“ (ebd.). Die Erfahrung, etwas Neues benennen zu können, eine Entde-<br />

91


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

ckung gemacht zu haben, führt zu weiteren Erkundungen in der vorbereiteten Umgebung, die<br />

Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein fördern. Es gibt jedoch Kinder, die bestimmte Materia-<br />

lien bewusst meiden. Es besteht hier die Möglichkeit, dass eine Beeinträchtigung der Wahr-<br />

nehmungsverar<strong>bei</strong>tung vorliegt. Diesen <strong>Kindern</strong> sollte in besonderer Weise und <strong>mit</strong> behutsa-<br />

mem, gezieltem Vorgehen „Entwicklungshilfe“ gegeben werden. Schließlich ist ein ebenso<br />

wichtiges Merkmal die Gestaltung und der Umgang <strong>mit</strong> den Lernmaterialien auf die Art und<br />

Weise, dass die Möglichkeit zur selbstständigen Fehlerkontrolle 111 gegeben ist. Das Kind soll<br />

im Umgang <strong>mit</strong> dem Material auf seine Fehler aufmerksam werden. „Die sachliche Fehler-<br />

kontrolle führt das Kind dazu, <strong>bei</strong> seinen Übungen überlegt, kritisch, <strong>mit</strong> seiner an Genauig-<br />

keit immer stärker interessierten Aufmerksamkeit, <strong>mit</strong> einer verfeinerten Fähigkeit kleine Un-<br />

terschiede zu erkennen. So wird das Bewußtsein des Kindes durch die Kontrolle der Fehler<br />

vorbereitet, auch, wenn diese nicht immer stofflich oder sinnlich 112 wahrnehmbar sind“<br />

(Montessori 1987, S. 117; Verweis B.D.). Das Kind soll sich <strong>mit</strong> dem selbstständigen Erler-<br />

nen der Gesetzmäßigkeit des Materials beschäftigen, ohne vom Erwachsenen, der indirekten<br />

Erziehung entsprechend, davon abgebracht zu werden. Dies trägt wiederum zur Selbststän-<br />

digkeit <strong>bei</strong>. Voraussetzung da<strong>für</strong> ist die den spezifischen Kriterien entsprechende Gestaltung<br />

der Umgebung und des Lernmaterials. Diese Fehlerkontrolle beschränkt sich nicht nur auf das<br />

Material, sondern erstreckt sich auf die gesamte Umgebung.<br />

Die Altersangaben, die <strong>bei</strong> der Beschreibung der Materialien und <strong>für</strong> deren Einsatz angegeben<br />

sind, sollen einen Anhaltspunkt geben, ab wann es sinnvoll ist, die jeweiligen Materialien<br />

anzubieten. Je nach Entwicklungsphase des Kindes sind diese als Richtwert zu verstehen.<br />

Auch das Sprachverständnis und die Sprachbenutzung älterer Kinder sollte aufmerksam beo-<br />

bachtet werden. Das Lern- bzw. Sinnesmaterial sollte ausschließlich <strong>für</strong> den Zweck genutzt<br />

werden, <strong>für</strong> den es geschaffen wurde. Die entwicklungsanregenden Mittel sollten so genau<br />

bestimmt sein, dass eine wirkliche Kongruenz zwischen den inneren Bedürfnissen und den<br />

Anregungen gegeben ist (vgl. Montessori 1985, S. 82, 125), wo<strong>mit</strong> sich die Auswahl der För-<br />

der<strong>mit</strong>tel am Kind selbst, an dessen Alter, seinen jeweiligen Fähigkeiten und der Umgebung<br />

orientieren. Folglich ist das vorbereitete Material sowohl der sensiblen Phase als auch der<br />

Entwicklungsphase des Kindes angepasst. Hier<strong>bei</strong> wird auf das Prinzip des aufbauenden<br />

111<br />

Dies kann etwa durch bestimmte Merkmale, die auf die Rückseite des Aufgabenkärtchens aufgetragen sind,<br />

erfolgen.<br />

112<br />

Der Ausdruck „sinnlich“ kann hier leicht zu Missverständnissen führen. Gemeint ist wohl eine so<br />

konzentrierte Hinwendung, dass Fehler ohne sensorisch-motorische Kontrolle empfunden werden. So wie<br />

Kinder, die an eine bestimmte Ordnung im Raum gewöhnt sind, bereits auf kleine Veränderungen aufmerksam<br />

werden.<br />

92


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Schwierigkeitsgrades (vgl. Fischer et al. 1999) geachtet, welches die Aufschlüsselung kom-<br />

plexer Sachverhalte in logisch aufeinanderfolgenden Stufen verlangt 113 .<br />

Die unter neuropsychologischem Verständnis in Wechselwirkung zueinander geschehende<br />

Zuordnung von Gegenstand, oder seiner Eigenschaft, und der zugehörigen Benennung ver-<br />

deutlicht, wie notwendig die Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> dem Sinnesmaterial auf die von Montessori empfoh-<br />

lene Art und Weise <strong>für</strong> die Sprachentwicklung und die Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung, auch <strong>für</strong><br />

Kinder <strong>mit</strong> beeinträchtigter Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung und Sprachkompetenz, sein kann.<br />

Ausgangspunkt <strong>für</strong> die Entwicklung des Materials ist die Notwendigkeit, die kindlichen Sinne<br />

zu entwickeln und zu differenzieren. Schließlich muss sich ein Kind <strong>mit</strong> seiner Umwelt ver-<br />

ständigen, was es nur anhand von Erfahrungen kann. Die Erwachsenen müssen ihm die Frei-<br />

heit lassen, diese Erfahrungen auf seine eigene Weise machen zu können. Wenn möglich soll-<br />

ten sie ihm zugleich helfen, seine Welt und die darin herrschenden Prinzipien zu erkunden<br />

und sich zu assimilieren. Daher müssen sie eine Brücke zwischen ihrer Welt und der des Kin-<br />

des schlagen. In Gestalt einer besonders vorbereiteten Umgebung schlägt die Montessori-<br />

Pädagogik eben diese Brücke.<br />

Das Ziel, auf das alle didaktischen Bemühungen gerichtet sind, besteht nach Montessori in der<br />

Intention, dem Kind zu helfen, sich durch Selbstständigkeit zur freien Persönlichkeit zu ent-<br />

wickeln (vgl. Holtstiege 2009, S. 84). Dies geschieht durch die <strong>mit</strong> didaktischer Systematik<br />

vorbereitete Umgebung. Alles, was ein Kind zum Lernen braucht, soll in dieser vorbereiteten<br />

Umgebung (vgl. Holtstiege 2009, S. 128ff., 181) bereitgestellt werden, sodass das Kind in der<br />

freien Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> dem Lernmaterial allein ar<strong>bei</strong>tet und lernt. Die erzieherische Praxis und so-<br />

<strong>mit</strong> die Aufgabe des Erziehers bzw. Pädagogen stellt sich nun als die Bereitstellung der äuße-<br />

ren Bedingungen, also der <strong>mit</strong> didaktischer Systematik vorbereiteten und geordneten Umwelt<br />

dar, die der freien Entwicklung sowie dem ursprünglichen Wissensdrang und so<strong>mit</strong> den Be-<br />

dürfnissen und Interessen des Kindes entspricht (vgl. Montessori 1996, S. 12). Mehrheitlich<br />

lernt das Kind in diesem Zusammenhang im handelnden Umgang <strong>mit</strong> konkreten Gegenstän-<br />

den. Das Fundament <strong>für</strong> die intellektuelle kindliche Entwicklung konstruiert das Kind nur<br />

durch Konzentration, also durch das konzentrierte Ar<strong>bei</strong>ten (vgl. Montessori 1987, S. 84),<br />

weshalb Konzentration zum zentralen Begriff von Montessoris Methode wurde (vgl. von Oy<br />

1996, S. 12). Solche tiefen Konzentrationsprozesse kommen besonders <strong>bei</strong> jüngeren <strong>Kindern</strong>,<br />

bezüglich des Lernens <strong>mit</strong> vorbereiteten Materialien, unter Inklusion der Bewegung vor (vgl.<br />

113 Z.B. werden zunächst Buchstaben durch das Ertasten von Sandpapierbuchstaben kennengelernt, anschließend<br />

wird <strong>mit</strong> der Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> Buchstabenkärtchen begonnen.<br />

93


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Holtstiege 2009, S. 101). Diese vorbereitete Umgebung ist notwendig, weil sich eine Persön-<br />

lichkeit in der Gesellschaft nur hier ungehindert entwickeln kann (vgl. von Oy 1996, S. 16).<br />

Nach Montessoris Meinung ist es „besser als alle Leistungsanforderungen und Erwartungen,<br />

die an Kinder gestellt werden […], dass das Kind die Umgebung und die Anreize bekommt,<br />

die es zur ungehinderten Entfaltung seiner Anlagen braucht“ (vgl. a.a.O., S. 11). Außerdem<br />

müsse man „eine Umgebung schaffen, in der das Kind das wachsende Bedürfnis seines Le-<br />

bens befriedigen kann. In der Umgebung muss es deshalb auch Nahrung finden, <strong>mit</strong> der es<br />

sein Wissen vertiefen und die Fähigkeiten seines Verstandes entwickeln kann. […] Wenn das<br />

Kind die Gelegenheit bekommt, aus der Umgebung nach seinem eigenen Rhythmus und seiner<br />

eigenen Ar<strong>bei</strong>tsweise Wissen zu erwerben, entwickelt es sich auf erstaunliche Weise. Beim<br />

Erwerb dieses Wissens ist das Kind immer tätig“ (Montessori 2003, S. 73). Diese vorbereitete<br />

Umgebung ist nur eines der gewichtigen Kernprinzipien der Montessori-Pädagogik. Weitere<br />

sind u.a. die Schulung der Wahrnehmungsfunktion, Bewegung, Aktivität und Ar<strong>bei</strong>t – „tun<br />

durch Tun lernen“ (vgl. Montessori 2001b, S. 16), – Gleichgewicht, Rhythmus, Ordnung,<br />

wiederum eng verknüpft <strong>mit</strong> der programmierten und dem Kind angepassten Vorbereitung<br />

durch den Pädagogen, Individualität und Selbstwertungsprozess, außerdem Freiheit und<br />

Spontaneität, Entdeckungen sowie Entwicklungen und besonders das „Kind als Baumeister<br />

seiner selbst“ (vgl. Raapke 2001, S. 39; hierzu auch Abb. 4). „Durch den Kontakt <strong>mit</strong> der<br />

Umgebung und ihre Erforschung baut der Verstand diesen Schatz wirkender Gedanken auf,<br />

ohne die seine abstrakten Funktionen, Grundlagen und Präzision, Genauigkeit und Inspirati-<br />

on entzogen wären. Dieser Kontakt wird durch die Sinne und die Bewegung hergestellt. Es ist<br />

zwar möglich, die Sinne zu erziehen und zu verfeinern, auch wenn es sich da<strong>bei</strong> nur um einen<br />

zeitlich begrenzten Gewinn im Leben des einzelnen handelt […]. Der Wert dieser Erziehung<br />

der Sinne wird jedoch deshalb nicht geringer, denn gerade während dieser Entwicklungsperi-<br />

ode nehmen die Grundgedanken und -gewohnheiten des Verstandes Gestalt an“ (Montessori<br />

2001a, S. 112f.). „Mit dem sich allmählich äußernden Bewusstsein und Willen ergibt sich ein<br />

zwingendes Bedürfnis, Ordnung und Klarheit zu schaffen und zwischen Wesentlichem und<br />

Zufälligem zu unterscheiden [...] Um dieses Bedürfnis zu erkennen, braucht das Kind eine<br />

exakte wissenschaftliche Führung, wie sie durch unsere Ausstattung <strong>mit</strong> Anschauungsmaterial<br />

und unsere Übungen möglich wird“ (a.a.O., S. 113).<br />

Die Montessori-Pädagogik basiert auf den verborgenen, schöpferischen Kräften des Kindes,<br />

sodass die Aufgabe des Pädagogen darin liegt, diese Kräfte zu erwecken und zu aktivieren,<br />

um das Kind zu motivieren und zu harmonisieren (vgl. Montessori 2001b, S. 15). Da<strong>bei</strong> soll<br />

die Führung vom Material ausgehen, das vom Pädagogen vorbereitet ist und zur Lösung ent-<br />

94


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

wicklungsfördernder Aufgaben motiviert. So<strong>mit</strong> wird ein Lehrer, Erzieher bzw. Pädagoge im<br />

Sinne Maria Montessoris zu einem Organisator verschiedener Lernprozesse (vgl. Montessori<br />

2002, S. 9ff.). Wie bereits erwähnt, muss ein Erzieher also lernen 114 zu beobachten, wie Kin-<br />

der die unterschiedlichen Mittel benutzen, wie oft sie diese Materialien gebrauchen, welche<br />

Reaktionen durch sie im Kind hervorgerufen werden „und vor allem, welche Entwicklung<br />

dadurch ermöglicht wurde“ (Montessori 2001a, S. 112). Diese Beobachtungsgabe ist nach<br />

Montessori die pädagogische Basisqualifikation (vgl. hierzu auch Hagemann/Börner 2009, S.<br />

109f.), sie ist auch notwendig, um Ergänzungsmaterialien so zu gestalten, dass sie die Polari-<br />

sation der Aufmerksamkeit 115 (vgl. Holtstiege 2009, S. 134, 180ff., 195; Hedderich 2005, S.<br />

42; hierzu auch Abb. 6), einen Zustand, der gleichzusetzen ist <strong>mit</strong> Konzentration, der Bindung<br />

der kindlichen Kräfte, dem intensiven Kontakt des Kindes <strong>mit</strong> dem Lerngegenstand 116 , auslö-<br />

sen kann. „Das ist wohl der Schlüssel der ganzen Pädagogik: diese kostbaren Augenblicke<br />

der Konzentration zu erkennen, um sie […] auszunützen“ (Montessori 1954, S. 59).<br />

Auch die Wissenschaft, z.B. die Aufmerksamkeitsdefizithypothese (vgl. u.a. Holcomb et al.<br />

1985; Facoetti et al. 2002, 2003), liefert wesentliche Erkenntnisse <strong>für</strong> die gezielte Förderung<br />

von legasthenen Menschen, woraus sich u.a. die Erkenntnis ergibt, dass legasthene Menschen<br />

in den Bereichen der Aufmerksamkeit eine gezielte Förderung benötigen, um der zeitweise<br />

auftretenden Unaufmerksamkeit <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben entgegenzuwirken. Daraus lässt<br />

sich folgern, dass „die Stärkung bzw. Schärfung der Funktion der Sinneswahrnehmungen, die<br />

man <strong>für</strong> das Erlernen des Schreibens und Lesens braucht, und eine Förderung im Symbolbe-<br />

reich“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 153) stattfinden müssen. Eine signifikante<br />

Voraussetzung <strong>für</strong> diese Polarisation der Aufmerksamkeit ist die Selbstständigkeit, die <strong>bei</strong> der<br />

Bewegung in der vorbereiteten Umgebung von essentieller Bedeutung ist. „Das Kind wird<br />

da<strong>bei</strong> zum Entdecker der Welt und hat den Wunsch immer tiefer einzudringen und seine Ent-<br />

deckungen zu verwerten. Konzentration als tätige Meditation am Detail bedeutet ein Sich-<br />

Auftun des Geistes, das […] als aktives Verstehen bezeichnet wird und ein schöpferisches<br />

Phänomen darstellt“ (Montessori 1976, S. 101, 118, 204).<br />

114 Grundlegend da<strong>für</strong> ist die entsprechende Aufklärung der Eltern durch pädagogische Beratung sowie<br />

elternbildende Maßnahmen (s.o. Kapitel 7.1.1).<br />

115 Findet das Kind während einer sensiblen Phase eine seinen Bedürfnissen exakt entsprechende Beschäftigung,<br />

so ist es zu einer tiefen Konzentration fähig, die als Polarisation der Aufmerksamkeit bezeichnet wird. Das<br />

Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit wird heute von der Neuropsychologie bestätigt.<br />

116 Für das Auftreten dieser Polarisation der Aufmerksamkeit sind der Altersstufe des Kindes entsprechende<br />

Lernmethoden zu entwickeln.<br />

95


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

So löst jeder neue bzw. bedeutungsvolle Reiz eine Aktivierungsreaktion aus. Nach mehrmali-<br />

ger Wiederholung desselben Reizes tritt die Habituation ein. Wird ein neuer Reiz angeboten<br />

oder wird der alte Reiz bzw. Anteile dessen verändert, tritt diese allgemeine Aktivierung wie-<br />

der auf. Die Ausdauer, Aufnahmebereitschaft und Konzentration sind von Kind zu Kind un-<br />

terschiedlich, daher muss der Erzieher, um jedem Kind in „einer vorbereiteten Umgebung die<br />

notwendigen Erziehungsmöglichkeiten zu eröffnen“ (Montessori 2002, S. 130), fähig sein,<br />

eine dem Kind entsprechende pädagogische Strategie zu erar<strong>bei</strong>ten. Nach langjährigen Be-<br />

obachtungen erkannte Montessori einen dreiteiligen Ar<strong>bei</strong>tszyklus: „Die Konzentration um-<br />

faßt demnach drei Stufen: die ‚vorbereitende Stufe‘, die ‚Stufe der großen Ar<strong>bei</strong>t‘, die <strong>mit</strong><br />

einem Gegenstand der äußeren Welt im Zusammenhang steht, und eine dritte, die sich nur im<br />

Inneren abspielt und die dem Kinde Klarheit und Freude verschafft“ (Montessori 1992a, S.<br />

52f.). Hieraus leitet sich die zentrale Frage der Montessoripädagogik ab: durch welche didak-<br />

tischen Bedingungen dieses Phänomen wiederholt hervorgerufen werden kann. In einer sol-<br />

chen tiefen Konzentrationsphase lässt sich das Kind durch keine anderen Reize von seiner<br />

Tätigkeit abbringen. Dieser Erkenntnisprozess beeinflusst nicht nur sein Denken, sondern<br />

seine gesamte Persönlichkeitsentwicklung positiv. Für diesen Prozess prägt Montessori den<br />

Begriff der Normalisation bzw. Normalisierung (vgl. Holtstiege 2009, S. 18, 189ff.; Raapke<br />

2001, S. 206), der nach Montessori den Prozess und den Zustand beschreibt, nach dem Kinder<br />

allmählich friedlich und ausgeglichen werden, sich in aller Ruhe an eine selbst gewählte Ar-<br />

<strong>bei</strong>t machen, sich den Umgang <strong>mit</strong> einem bestimmten ausgewählten Material zeigen lassen,<br />

daran solange sie wollen intensiv ar<strong>bei</strong>ten und zufrieden <strong>mit</strong> dem Ergebnis, und <strong>mit</strong> sich<br />

selbst, die Ar<strong>bei</strong>t abschließen können. Hier<strong>mit</strong> ist demnach die Wiederherstellung der wahren<br />

positiven Möglichkeiten, über die das Kind von Natur aus verfügt, die aber <strong>bei</strong> einer unange-<br />

messenen Behandlung durch die Erwachsenen verbogen werden, gemeint.<br />

Bereits die Bezeichnung „Sinnesmaterial“ weist darauf hin, welche Bedeutung Montessori der<br />

Schulung der Sinne <strong>bei</strong>gemessen hat. Diese Schulung der Sinne ist eine Übung im differen-<br />

zierten Empfinden, <strong>mit</strong> Hilfe der Sprache im Wahrnehmen und da<strong>mit</strong> auch im Bedeutungge-<br />

ben, als ein Weg zur Entwicklung und Förderung der Kognition. Und in diesem Sinne soll<br />

dieser Ausdruck auch verstanden werden. Alle von ihr erar<strong>bei</strong>teten Materialien, die der Förde-<br />

rung einer differenzierten Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung dienen sollten, waren in Abstimmung<br />

darauf, in welchem Entwicklungsalter das Material Interesse wecken und zu konzentriertem<br />

Handeln anregen konnte und auch welche Ausmaße es haben müsste, konzipiert (vgl. Mon-<br />

tessori 1987). Was nach Montessori <strong>mit</strong> dem Material erreicht wird, ist eine zunehmend feine-<br />

re Verar<strong>bei</strong>tung von Reizen diverser Modalitäten. Es ist die differenzierte Wahrnehmungsver-<br />

96


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

ar<strong>bei</strong>tung, die zu immer komplexeren funktionellen Systemen und da<strong>mit</strong> schließlich zu kogni-<br />

tiven Leistungen führt. Das Material soll durch seine Ästhetik Anziehungskraft auf das Kind<br />

ausüben und es so zur Tätigkeit anregen. „Um eine Sache interessant zu machen, genügt es<br />

nicht, daß sie von sich aus interessant ist, sondern sie muß dem Tätigkeitsdrang des Kindes<br />

angemessen sein. Wenn das Kind einen unveränderlichen Gegenstand nur „sehen“ oder „hö-<br />

ren“ oder „anfassen“ darf, ist das Interesse nur oberflächlich und springt von einer Sache zu<br />

anderen“ (Montessori 1987, S. 118).<br />

Sinnvollerweise muss das Material einerseits der jeweiligen Entwicklungsphase 117 des Kindes<br />

entsprechen, d.h., es muss <strong>mit</strong> ihm umgehen, es bewegen und benutzen können. Der Ansatz,<br />

bzw. die Orientierung dieser Pädagogik ist die konsequente Art und Weise, dem Kind <strong>bei</strong><br />

seiner Entwicklung zum menschlichen Werden geeignete Hilfe im Kontext und unter der Be-<br />

dingung menschlichen Fortschritts anzubieten. Zu solch wichtigsten Hilfen gehört die Lehre<br />

über die sensitiven Phasen 118 . Dem Kind zur Selbstständigkeit zu verhelfen 119 und „zu erken-<br />

nen, was das Kind in den verschiedenen Zeitpunkten seiner Entwicklung lernen muss“ (zit.<br />

nach Holtstiege 1997, S. 10), war <strong>für</strong> Montessori von zentraler Bedeutung. Jedes Kind durch-<br />

läuft verschiedene Entwicklungsphasen, die jeweils durch bestimmte Sensibilitäten, Montes-<br />

sori nennt sie sensible Perioden (Montessori 1978, S. 46f.), gekennzeichnet sind. Es sind Pha-<br />

sen in der Entwicklung des Kindes, die von einer besonderen Empfänglichkeit <strong>für</strong> bestimmte<br />

Lernvorgänge und spezifische Fähigkeiten (z.B. Bewegung, Sprache u.a.) in der Begegnung<br />

<strong>mit</strong> der Umwelt geprägt sind, weshalb sich das Kind <strong>mit</strong> intensiver Konzentration entspre-<br />

chenden Bildungsanreizen zuwenden kann, formale und inhaltliche Kompetenzen erwirbt und<br />

sich diese dauerhaft einprägt. Es handelt sich da<strong>bei</strong> um ein „entwicklungsspezifisches inneres<br />

Gerichtetsein auf die Umwelt zur Bewältigung immanent gesetzter Aufgaben, deren Lösung<br />

erst Reifung ermöglicht“ (Röhrs 1998, S. 263). Für Montessori bezeichnen die sensiblen Peri-<br />

oden quasi den Strukturplan der geistigen Entwicklung des Kindes. Sie beschreibt diese sen-<br />

siblen Phasen wie folgt: „Das Kind macht seine Erwerbungen in seinen Empfänglichkeitspe-<br />

rioden. […] Auf Grund dieser Empfänglichkeit vermag das Kind einen außerordentlich inten-<br />

siven Zugang zwischen sich und der Außenwelt herzustellen, und von diesem Augenblick an<br />

117<br />

Auf die Bezeichnung „Entwicklungsstand“ wird verzichtet, da Entwicklung fließend und nicht stufenartig<br />

und in exakt voneinander abgegrenzten und abgrenzbaren Stufen verläuft.<br />

118<br />

Diese Begriffe werden als Synonyma verwendet <strong>für</strong>: „sensible Perioden“, „sensible Phasen“ oder auch<br />

„Empfänglichkeitsphasen“.<br />

119<br />

Die zunächst extrinsische Motivation nach einer ersten Begegnung des Kindes <strong>mit</strong> dem Montessori-Material<br />

wandelt sich später <strong>bei</strong> vielen <strong>Kindern</strong> zu einer intrinsischen Motivation. Anfangs kennt das Kind das Material<br />

nicht, doch bald kann es selbstständig da<strong>mit</strong> umgehen.<br />

97


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

wird ihm alles leicht, begeisternd, lebendig. Jede Anstrengung verwandelt sich in einen<br />

Machtzuwachs. Erst wenn während einer solchen Empfänglichkeitsperiode die entsprechende<br />

Fähigkeit errungen worden ist, senkt sich ein Schleier der Gleichgültigkeit und Müdigkeit<br />

über die Seele des Kindes. Kaum ist jedoch eine dieser seelischen Leidenschaften erloschen,<br />

da entzünden sich auch schon andere Flammen, und so schreitet das Kind von einer Erobe-<br />

rung zur nächsten fort“ (Montessori 1996, S. 49). Die kindliche Entwicklung teilt Montessori<br />

in drei Hauptgruppen ein (vgl. Montessori 1996). Die „Zeit des Aufbaus“ betrifft Kinder von<br />

der Geburt an bis zum dritten Lebensjahr, das Kind lernt unbewusstes Absorbieren von Sin-<br />

neseindrücken <strong>für</strong> das Laufenlernen sowie das Sprechen und einen Sinn <strong>für</strong> Ordnung (absor-<br />

bierender Geist 120 ) (vgl. u.a. Holtstiege 2009, S. 35f., 39f., 70, 77). Vom dritten bis zum<br />

sechsten Lebensjahr entwickelt sich eine Sensibilität <strong>für</strong> Feinmotorik, erstes begriffliches Ka-<br />

tegorisieren, Sprachdifferenzierung und <strong>für</strong> soziale Beziehungen. Die zweite Hauptgruppe<br />

bildet die „Zeit des Ausbaus“, die das Alter von sechs bis zwölf Jahren umfasst. In dieser<br />

Phase entwickelt sich die Sensibilität <strong>für</strong> moralische Wertungen, kooperative Sozialbeziehun-<br />

gen und Naturerscheinungen unterschiedlichster Art. Die dritte Hauptgruppe schließlich ist<br />

die „Zeit des Umbaus“, umschließt das Alter von zwölf bis achtzehn und fokussiert Sensibili-<br />

tät <strong>für</strong> Gerechtigkeit und Menschenwürde, soziale und gesellschaftliche Prozesse, wissen-<br />

schaftliche Erkenntnisse und politische Verantwortung.<br />

Die Ausdauer, Aufnahmebereitschaft und Konzentration sind von Kind zu Kind unterschied-<br />

lich, daher muss der Erzieher, um jedem Kind in „einer vorbereiteten Umgebung die notwen-<br />

digen Erziehungsmöglichkeiten zu eröffnen“ (Montessori 2002, S. 130), fähig sein, eine dem<br />

Kind entsprechende pädagogische Strategie zu erar<strong>bei</strong>ten.<br />

Die pädagogische Folgerung daraus ist die Tatsache, dass diese Sensibilitäten durch erzieheri-<br />

sche Hilfen herausgefordert und optimal gefördert werden müssen, denn „keine Erziehung<br />

kann später auslöschen, was in der konstruktiven Epoche der Kindheit inkarniert wurde“<br />

(Montessori 1987, S. 161). So führt bspw. die Sensibilität <strong>für</strong> Bewegung <strong>bei</strong> einem kleinen<br />

Kind zur Freude an allen Übungen, die entscheidend zur Bewegungskoordination, zum Be-<br />

greifen der Umwelt und zur Selbstbeherrschung <strong>bei</strong>tragen. Die Sensibilität <strong>für</strong> Ordnung führt<br />

zum Aufbau geistiger Ordnungsstrukturen und zum Erfassen ordnender Kategorien 121 , wäh-<br />

rend die Sensibilität <strong>für</strong> Sprache zum mühelosen Absorbieren jeder Muttersprache und die<br />

120 Der absorbierende Geist stellt einen sehr dominierenden Aspekt der Geistesform des Kindes dar: als die Form<br />

der unbewussten Tätigkeit der kindlichen Intelligenz.<br />

121 Eigenschaften von Gegenständen wie Größe, Länge, Gewicht etc., von zeitlichen Ordnungen, von Ritualen<br />

usw.<br />

98


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Sensibilität <strong>für</strong> soziale Interaktionen (bereits <strong>bei</strong> Neugeborenen) zur Kontaktaufnahme <strong>mit</strong> der<br />

Umwelt führen 122 .<br />

Diese Empfänglichkeitsphasen sind jedoch von vorübergehender Dauer, es besteht die poten-<br />

tielle Gefahr, sie zu verpassen, da sie an bestimmte Entwicklungsphasen geknüpft sind. Des-<br />

halb ist es <strong>für</strong> Montessori, um Rückschlüsse darauf ziehen zu können, welche Lernangebote in<br />

dieser Phase vonnöten sind, von großer Bedeutung, die Kinder genau in ihrem Verhalten, <strong>bei</strong><br />

ihrer Ar<strong>bei</strong>t und ihrer Artikulation zu beobachten. Da sich Entwicklung individuell innerhalb<br />

einer gewissen zeitlichen Variationsbreite vollzieht und ein Nachreifen neben der Motivation<br />

des Kindes auch von der Plastizität des Gehirns abhängt, ist nach Montessori dieses Nachrei-<br />

fen nicht der sensiblen Phase entsprechend, sodass das Kind auch nicht mehr „auf natürliche<br />

Weise“ lernt. Als Folge eines Versäumnisses einer sensiblen Phase „können weitere Errun-<br />

genschaften nur <strong>mit</strong> reflektierender Tätigkeit, <strong>mit</strong> Aufwand von Willenskraft, <strong>mit</strong> Mühe und<br />

Anstrengung gemacht werden. […] Es gibt also eine besondere innere Lebenskraft, welche<br />

die wunderbaren natürlichen Errungenschaften des Kindes erklärt. Stößt das Kind jedoch<br />

während einer Empfänglichkeitsperiode auf ein Hindernis <strong>für</strong> seine Ar<strong>bei</strong>t, so erfolgt in der<br />

Seele des Kindes eine Art Zusammenbruch, eine Verblindung“ (Montessori 1996, S. 49). „Die<br />

Ergebnisse dieser gehemmten Sensitivitäten prägen sich dann als Fehler <strong>für</strong> den Rest des Le-<br />

bens ein“ (Montessori 1978, S. 120f.). Die Einflüsse, die das Reifen, Lernen und Verhalten<br />

bestimmen, sind so vielfältig, dass es oftmals erstaunlich ist, was <strong>bei</strong> einem Kind trotz un-<br />

günstiger Voraussetzungen möglich ist. Doch es ist wichtig, die Bedeutung der sensiblen Pha-<br />

sen innerhalb der kindlichen Entwicklung zu kennen, in der Pädagogik zu berücksichtigen<br />

und <strong>für</strong> die Erziehung der Kinder die Konsequenzen daraus zu ziehen. Es ist Aufgabe der er-<br />

ziehenden Personen, durch genaue Beobachtung zu erkennen, welche Aspekte der Umgebung<br />

sich das Kind <strong>für</strong> das Lernen besonders intensiv nutzbar machen kann. Der Erzieher sollte<br />

sich also an den Lernbedürfnissen der jeweiligen Entwicklungsphase orientieren, da<strong>mit</strong> er<br />

durch entsprechende Angebote bestmöglich darauf antworten kann. In diesem Zusammen-<br />

hang spricht die Entwicklungsbiologie des 21. Jahrhunderts von Zeitfenstern oder kritischen<br />

Perioden, innerhalb derer ein bestimmtes Verhalten erlernt werden muss, da es nach dem<br />

Schließen dieses Fensters schwer oder fast unmöglich ist, dieses Verhalten noch zu erwerben<br />

(vgl. Klein 2007, S. 30).<br />

Der zentrale Punkt aller Überlegungen Montessoris und so<strong>mit</strong> ihres ganzen Erziehungskon-<br />

zepts ist ihre Grundhaltung dem Kind gegenüber. Priorität haben die Liebe und Achtung der<br />

122 So kann das Kind in die menschliche Gemeinschaft hineinwachsen.<br />

99


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Erwachsenen gegenüber den <strong>Kindern</strong>, <strong>für</strong> die die Menschenrechte selbstverständlich ebenso<br />

gültig sind wie <strong>für</strong> Erwachsene (vgl. Raapke 2001, S. 18). Das gesamte pädagogische Kon-<br />

zept sowie die von Montessori entwickelte Didaktik und ihre umfassende Pädagogik lassen<br />

sich <strong>für</strong> die Förderung geistig behinderter, normal entwickelter und auch legasthener Kinder<br />

einsetzen 123 . Zu Recht darf Montessoris pädagogisches Konzept nach Biewer nicht als „Ka-<br />

non eindeutiger festgelegter pädagogischer Maßnahmen“ (Biewer 2001, S. 197), sondern<br />

eher als Ansatz zum richtigen pädagogischen Handeln gesehen werden.<br />

8.1.2 Aktualität des Montessori-Modells<br />

Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen <strong>bei</strong> <strong>Kindern</strong> sind eine ebenso vielbeklagte<br />

Auffälligkeit wie die Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben, wodurch der Sichtweise<br />

Montessoris aktuelle Bedeutung zukommt. Die Montessori-Pädagogik lebt in vielfältiger na-<br />

tionaler und internationaler 124 Form auch im neuen Jahrtausend. Insgesamt gibt es in Deutsch-<br />

land ca. 1000 Montessori-Einrichtungen, die die frühpädagogischen Montessori-<br />

Einrichtungen, die Montessori-Kitas (Kinderhäuser) und die Montessori-Schulen der Primar-<br />

sowie Sekundarstufen umfassen 125 . In vielen Bundesländern haben sich eigene Montessori-<br />

Landesverbände gegründet, die als Interessensvertretung fungieren und als Anlaufstellen die-<br />

nen. Um die Interessen auch auf Bundesebene zusammenzuführen, bildungspolitische Öffent-<br />

lichkeitsar<strong>bei</strong>t zu betreiben, allgemeine Ausbildungsstandards und die Qualitätsentwicklung<br />

von Montessori-Einrichtungen zu garantieren, wurde im Jahr 2004 der Montessori-<br />

Dachverband Deutschland e.V. (MDD) gegründet. Die Aktualität der Montessori-Pädagogik<br />

lässt sich neben dem durch eine Fülle empirischer Untersuchungsergebnisse belegten wissen-<br />

schaftlichen Interesse auch in der Pädagogik nachweisen.<br />

Durch falsches Erziehungsverhalten kann Entwicklung leicht beeinflusst bzw. beeinträchtigt<br />

und sogar gestört werden, weshalb es ein pädagogischer Auftrag ist, die Umwelt so zu gestal-<br />

ten, dass Entwicklung nicht gefährdet wird. Hier<strong>bei</strong> ist es wichtig, dass Erzieher und Pädago-<br />

gen gute Kenntnisse über die Entwicklung bzw. die Bedürfnisse eines Kindes besitzen, die sie<br />

123 Einige Elemente lassen sich <strong>für</strong> die Förderung bzw. das Training lese- und rechtschreibgestörter Kinder<br />

vielversprechend einsetzen, da es sich <strong>bei</strong> den elementaren didaktisch-pädagogischen Materialeigenschaften um<br />

grundlegende Eigenschaften handelt, die allen Gegenständen der erzieherischen Umwelt eines Kindes<br />

entsprechen sollen, nämlich Ästhetik, Begrenzung, Aktivitätsmoment und Fehlerkontrolle (vgl. hierzu auch<br />

Holtstiege 2009, S. 110ff.).<br />

124 Z.B. zeichnet Gebhardt-Seele (1999) die Geschichte der Montessori-Pädagogik nach, eine ausführliche<br />

Darstellung der internationalen Entwicklung der Montessori-Pädagogik findet sich <strong>bei</strong> Ludwig (1999).<br />

125 Vgl. dazu Montessori Dachverband Deutschland, Homepage (2010).<br />

100


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

über die genaue Beobachtung von <strong>Kindern</strong> gewinnen können. Auf der Grundlage dieser An-<br />

nahmen entwickelte Maria Montessori ein bis in die heutige Zeit gültiges Handlungskonzept<br />

<strong>für</strong> Erzieher und Lehrkräfte (vgl. hierzu u.a. Missmahl-Maurer 1994; Ludwig 2009), wo<strong>bei</strong><br />

die Bedeutung der Ar<strong>bei</strong>t Montessoris <strong>für</strong> die Gegenwart darin zu liegen scheint, Kriterien <strong>für</strong><br />

die Beschaffenheit von didaktischen Entwicklungsmaterialien, die eine angemessene Heraus-<br />

forderung von Entwicklung durch gezielte didaktische Mittel und Materialien ermöglichen,<br />

gefunden zu haben. Das Material Montessoris gilt nur als Mittel zum Zweck, nämlich dem<br />

Kind aktiv <strong>bei</strong> seiner Entwicklung zu helfen, wo<strong>bei</strong> das Kind immer das Wichtigste in allen<br />

Bemühungen bleibt (vgl. Holtstiege 2009, S. 119). „Mit Montessori hätten wir eine Orientie-<br />

rung, eine pädagogische Leitlinie innerhalb der wohl zeitgemäße Erkenntnisse <strong>mit</strong> berück-<br />

sichtigt werden, auf der aber nicht am Symptom, sondern an der Verursachung, den nicht<br />

befriedigten Bedürfnissen des Kindes, angesetzt wird“ (Milz 1999, S. 87). Die Grundsätze und<br />

Prinzipien Montessoris lassen sich durchaus in angemessener Weise auf die heutige Zeit über-<br />

tragen, sie haben immer noch eine gewisse Aktualität, doch sollte berücksichtigt werden, dass<br />

man es <strong>mit</strong> einer „veränderten Kindheit“ zu tun hat, da die Kinder in der heutigen Zeit in einer<br />

ganz anderen Umwelt aufwachsen und viel weniger Bezug zur Natur haben als die Kinder vor<br />

einer oder zwei Generationen. Da die meisten Kinder ihre Zeit hauptsächlich in der Wohnung<br />

verbringen, wenig Bewegung haben und immer mehr Kinder ohne Geschwister oder <strong>mit</strong> al-<br />

leinerziehenden Elternteilen aufwachsen, machen sie völlig andere Kindheitserfahrungen.<br />

Zieht man die Übungen des praktischen Lebens als Beispiel heran, so kommt der Sorge <strong>für</strong><br />

die Umgebung heute eine noch tiefere Bedeutung zu und da<strong>mit</strong> auch der Montessori-<br />

Pädagogik Aktualität. Betraf dieser Bereich ursprünglich Haus und Garten, so muss der Blick<br />

unter den heute gegebenen Umständen auf eine bedrohte Umwelt erweitert werden. Heute<br />

werden die damals von Montessori empfohlenen Materialien 126 von den Übungen <strong>mit</strong> Gegen-<br />

ständen des täglichen Gebrauchs in Kombination <strong>mit</strong> solchen, die <strong>mit</strong> etwas Phantasie leicht<br />

selbst herzustellen sind, ergänzt (vgl. Milz 1999, S. 91). Solche Elemente aus dem pädagogi-<br />

schen Konzept Montessoris 127 haben heute durch neuropsychologische Erkenntnisse eine neue<br />

Bestätigung bekommen (vgl. Milz 1997, S. 229; Schulze-Frieling 2003b, S. 119). Bereits<br />

kleine Kinder müssen zu einer Verantwortlichkeit gegenüber ihrer Umwelt erzogen werden,<br />

126<br />

Mit ihrem Werk „Ein Weg <strong>für</strong> alle“ (1996) hat Lore Anderlik eine Fülle von Anregungen dazu gegeben.<br />

Ausführlich hierzu: s. Hellwig 2007.<br />

127<br />

wie die Schulung der Sinne, die sensorische Stimulation zur Wahrnehmungsförderung (vgl. Holtstiege 2009,<br />

S. 98), die vielfältigen Variationen zur Generalisierung der erworbenen Fähigkeiten, Erziehung des<br />

Selbstbewusstseins des Kindes durch das eigene Tun.<br />

101


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

die sie entsprechend ihrer Entwicklungsphase leisten können. In diesem Kontext spricht Mon-<br />

tessori von komischer Erziehung 128 (Montessori 1988), einem wesentlichen Erziehungsansatz.<br />

„Einzelheiten lehren bedeutet Verwirrung stiften. Die Beziehung unter den Dingen herstellen<br />

bedeutet Erkenntnisse ver<strong>mit</strong>teln“ (Montessori 1988, S. 126). Der Pädagoge soll dem Kind<br />

zunächst den Ablauf der betreffenden Tätigkeit zeigen, das Kind soll dann jedoch die Freiheit<br />

haben, die Aktion auf seine eigene Weise auszuführen. Montessori unterscheidet zwischen<br />

Zeigen 129 und Lehren (vgl. Milz 1999, S. 91), besonders wichtig ist allerdings, dass da<strong>bei</strong> die<br />

Serialität, das geordnete Nacheinander, deutlich erfahren wird.<br />

Ist die Montessori-Pädagogik also eine moderne Pädagogik, die Neues oder zumindest ande-<br />

res als die verschiedenen Varianten der konventionellen Pädagogik bringt, die wir alle mehr<br />

oder weniger kennen? Befindet sie sich auf der Höhe der Zeit, ohne nur eine modische Strö-<br />

mung zu sein? Betrachten wir dazu einige Punkte der Montessori-Pädagogik genauer.<br />

In der Montessori-Pädagogik hat jedes Kind das Recht, seinen eigenen individuellen Weg zu<br />

gehen, wodurch ein hohes Maß an individueller Unabhängigkeit entsteht, jedoch nur im Rah-<br />

men eines pädagogisch vorstrukturierten Raumes. In ihrem Werk „Die Entdeckung des Kin-<br />

des“ beschreibt Montessori zahlreiche didaktische Materialien und gibt außerdem Hinweise<br />

zur deren Einsatzmöglichkeiten. Ein besonderes Maß an eigenständigem Lernen bietet die<br />

beliebige Wiederholbarkeit der Lernaktivitäten und eine Isolierung der Lernschwierigkeit im<br />

Material. Dieses von Montessori entwickelte Material und die zugeordneten Übungen fördern<br />

tätige, die Sinnesorgane ansprechende Vorgänge, die von geistiger Konzentration begleitet<br />

werden und zur Ordnung sowie zur Polarisation der Aufmerksamkeit führen. Das pädagogi-<br />

sche Ziel Montessoris besteht demzufolge darin, durch die richtige erzieherische Methode<br />

zum Zusammentreffen von körperlicher und geistiger Konzentration <strong>bei</strong>m Kinde <strong>bei</strong>zutragen<br />

und die bestmögliche Selbstentfaltung des Kindes zu gewährleisten. Diesem Ziel kommt die<br />

Theorie einer Entwicklungspädagogik nach H. Roth sehr nahe, nach der Entwicklung in er-<br />

zieherischer Perspektive als ein beeinflussbares Geschehen betrachtet wird, das durch das<br />

Interesse des Pädagogen und die Ermöglichung aktiver Entwicklungshilfe und aktiver Ent-<br />

wicklungssteigerung „bis zum Optimum der potentiellen Möglichkeiten eines Kindes“ (Roth<br />

1971, S. 26) gelenkt wird. Die zwei vorausgesetzten Auffassungen dieser Theorie sind zum<br />

einen die Entwicklung des Menschen als eine aktiv zu betreibende Aufgabe im Sinne einer<br />

fördernden Beeinflussung und zum anderen die Einsicht, dass Entwicklung abhängig ist „von<br />

128 Die aktuelle Wissenschaft spricht von Tiefenökologie.<br />

129 Zum Begriff des Zeigens in der Pädagogik ausführlicher auch Prange/ Strobel-Eisele 2006.<br />

102


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

einer angemessenen Herausforderung des sich entwickelnden Kindes […] durch initiierende<br />

Aufgaben […]“ (Roth 1971, S. 34). Selbstverständlich ist eine solche Entwicklungsförderung<br />

von der Entwicklungsphase des jeweiligen Kindes und von einer angemessenen Herausforde-<br />

rung abhängig. Darunter ist die Bereitstellung von Anregungen in Familie, Kindergarten und<br />

Schule zu verstehen. Als Beispiel eines angemessenen Modells kann das Prinzip der Passung<br />

(vgl. Holtstiege 2009, S. 7, 86, 120) nach H. Heckhausen (1969) herangezogen werden. Die<br />

entwicklungspädagogische Herausforderung gemäß dem Prinzip der Passung ist gebunden an<br />

die Gestaltung von Förderungsprogrammen nach dem Grundsatz der Kontinuität – eine For-<br />

derung, die sich <strong>bei</strong> Maria Montessori bereits verwirklicht findet.<br />

Ferner bestehen Übereinstimmungen der Montessori-Pädagogik <strong>mit</strong> aktuellen systematisch-<br />

konstruktivistischen Denkmodellen der heutigen Pädagogik. In Pädagogik, Heil- und Sonder-<br />

pädagogik, Frühförderung, Beratung und Therapie der 90er Jahre hat das systematisch-<br />

konstruktivistische Gedankengut 130 breite Anerkennung gefunden (vgl. Hedderich 2005, S.<br />

127). Eine Parallele zu Montessori wird von Mantura und Varela (1987) gezogen, die Selbst-<br />

organisation als grundlegenden Mechanismus des Lebendigen sehen. Diese Selbstorganisati-<br />

on liegt <strong>bei</strong> Montessori im Kind, das „Baumeister seines Selbst“ ist. In der Heil- und Sonder-<br />

pädagogik hat der skizzierte Bezugsrahmen besondere Berücksichtigung erfahren, da auch ein<br />

Mensch <strong>mit</strong> Behinderung nicht ein defizitäres, sondern ein sich selbst organisierendes Wesen<br />

ist. In der neueren Diskussion zur Frühförderung zielt diese auf die individuell bestmögliche<br />

Entwicklung ab. Nach Kautter et al. (1988) wird das Kind folglich als „Akteur seiner Entwick-<br />

lung“ (Kautter et al. 1988) charakterisiert, „der sich konstruktiv und verstehbar <strong>mit</strong> der indivi-<br />

duellen Lebenswelt auseinandersetzt, in der er sich vorfindet, als kreatives Wesen, das <strong>für</strong> die<br />

in seiner Lebenswelt auftretenden Probleme Lösungen findet, die <strong>für</strong> es akzeptabel sind“<br />

(Kautter 2002, S. 194), charakterisiert. Dies bedeutet konkret, dass die Verhaltensweisen des<br />

Kindes als individuelle, eigenständige Lernwege in eine angemessene, kindgemäße Förderung<br />

einzubeziehen sind, wie es auch nach Montessoris Methode geschehen soll 131 .<br />

Obwohl es sich <strong>bei</strong> der Montessori-Pädagogik um eine Konzeption handelt, die zur Jahrhun-<br />

dertwende entwickelt wurde, bietet sie wertvolle Anregungen <strong>für</strong> Erziehung und Unterricht<br />

auch nach der Jahrtausendwende. Notwendig ist es allerdings, das Kind „als Kind des 21.<br />

Jahrhunderts“ in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken und zu verstehen.<br />

130 Ein bedeutsamer Vertreter dieses sog. radikalen Konstruktivismus ist u.a. Piaget.<br />

131 S.o.: „Hilf mir, es selbst zu tun“ (Raapke 2001, S. 14), d.h., dass das Kind den Weg weist und die erziehende<br />

Person ihm folgt, indem sie angemessene Materialien vorbereitet.<br />

103


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Der Begriff „Methode“ war Montessori <strong>für</strong> ihre erzieherische Konzeption zu eng, da es „viel-<br />

mehr um eine umfassende Förderung menschlicher Personalität“ gehe (vgl. Ludwig 2000, S.<br />

14). Schließlich kann zu Recht gesagt werden, dass Montessori wahrscheinlich immer aktuell<br />

sein wird 132 , weil durch die von ihr entwickelten Materialien ein systematisch durchdachtes<br />

Programm der Förderung und Anregung sowie der spielerisch herausfordernden, initiierten<br />

Aufgaben durch stimulierendes Beschäftigungsmaterial gegeben ist.<br />

8.1.3 Pädagogisch orientiertes <strong>Legasthenie</strong>training <strong>mit</strong> Montessori-Material<br />

Die italienische Ärztin und Pädagogin entwickelte ihre pädagogische Methode <strong>für</strong> die Ar<strong>bei</strong>t<br />

<strong>mit</strong> behinderten <strong>Kindern</strong> und übertrug sie später auf normal entwickelte Kinder (vgl. Montes-<br />

sori 2001a, S. 29ff.). Die Ärztin Montessori beobachtete zunächst das Kind und stellte dann<br />

ihre Diagnose, indem sie den Entwicklungsfortschritt 133 des Kindes einschätzte und beobach-<br />

tete, wo<strong>für</strong> es sich von sich aus interessierte. Erst danach machte sie ein „Trainingsangebot“<br />

und beobachtete weiterhin, wo<strong>für</strong> sich das Kind von sich aus interessierte. Montessoris Päda-<br />

gogik ist eine Pädagogik, die das Kind als eigenständige, individuell orientierte Persönlichkeit<br />

betrachtet, auf die der Unterricht und die Erziehung ausgerichtet sein sollten, da<strong>mit</strong> das Prin-<br />

zip der freien Wahl (vgl. Fischer et al. 1999) und der individuellen Erziehung Geltung haben.<br />

Die natürlich initiierte Neugier der Kinder wird zum Fokus, sie erhalten Motivation über ihre<br />

Lernschritte durch die freie Wahl, selbst entscheiden zu können und da<strong>bei</strong> gut in ihrer Ent-<br />

wicklung fortzuschreiten. So liegt in der Montessori-Pädagogik beständig die Betonung auf<br />

Reziprozität bzw. Interaktion, Differenzieren, Vergleichen und Verifizieren, was ein Hilfs<strong>mit</strong>-<br />

tel <strong>für</strong> die genaue, wissenschaftliche Erkundung seiner Lebenswelt darstellt. Folglich sind die<br />

von Montessori erar<strong>bei</strong>teten Materialien <strong>für</strong> das selbstständige Erar<strong>bei</strong>ten von Sachinhalten<br />

konzipiert. Bei dieser freien Beschäftigungswahl gelten das Prinzip der relativen Zeitfrei-<br />

heit 134 und das Prinzip der relativen Wahlfreiheit 135 , d.h., dass die Lernutensilien in ihrer Be-<br />

schaffenheit vom Kind selbstständig genutzt werden können, dass sie also kindgerecht be-<br />

132<br />

wenn auch im Laufe der Jahre immer wieder <strong>mit</strong> kleineren Abänderungen bzw. Ergänzungen zu rechnen sein<br />

muss.<br />

133<br />

In Montessoris Buch „Das kreative Kind“ (1984) finden sich Diagramme <strong>für</strong> bestimmte Bereiche der<br />

Entwicklung des kleinen Kindes: Bewegung, Sprache, Stadien der Unabhängigkeit und möglicherweise<br />

gegenläufiger Regressionen. Hier sind Entwicklungsverläufe schematisiert worden. Die Zeitraster sind<br />

selbstverständlich nicht <strong>für</strong> jedes Kind gleich. Wenn ein Kind eine bestimmte Entwicklungsphase zum<br />

angegebenen Zeitpunkt noch nicht erreicht hat, besteht noch kein Grund zur Besorgnis, jedoch ist es ein<br />

Hinweis, diese Entwicklung etwas genauer zu beobachten.<br />

134<br />

Wann und wie lange es sich <strong>mit</strong> einer Aufgabe bzw. einem Material beschäftigt, kann das Kind selbst<br />

bestimmen, wo<strong>bei</strong> selbstverständlich die Zeitressourcen, z.B. durch eine Trainingsstunde, begrenzt sind.<br />

135<br />

Das Kind wählt aus den vorhandenen Materialressourcen.<br />

104


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

schaffen sind. Das Kind wird <strong>mit</strong> dem Material in der Dreistufenlektion (vgl. Milz 1999, S.<br />

130f.) vertraut gemacht. Die erste Stufe bildet die Verbindung von Sinneswahrnehmung und<br />

Assoziation, indem ein Gegenstand benannt wird. Der Pädagoge weist auf den Gegenstand<br />

oder dessen Eigenschaft hin und nennt klar und deutlich den zugehörigen Namen. Außer dem<br />

Namen darf kein Wort gesprochen werden, da ausschließlich Gegenstand und Name in Asso-<br />

ziation zueinander das Bewusstsein des Kindes erreichen dürfen. Nachdem das Kind die Be-<br />

nennung wiederholt hat, gelangt es zur zweiten Stufe, auf der der Name des entsprechenden<br />

Gegenstandes repetiert wird. Dies ist der wichtigste Abschnitt, da er die Festigung der Zuord-<br />

nung des Namens zum Gegenstand oder zur Eigenschaft <strong>bei</strong>nhaltet. Er wird durch ab-<br />

wechslungsreiche Aufgaben interessant und unterhaltsam gestaltet, wo<strong>bei</strong> der Bewegungs-<br />

drang des Kindes berücksichtigt werden muss. Die dritte Stufe schließlich besteht aus der<br />

Erinnerung an die Abstraktion, die dem Gegenstand entspricht. In dieser Phase wird die As-<br />

soziation zwischen Gegenstand und Namen überprüft. Wenn das Kind das Material kennt, <strong>mit</strong><br />

seinem Gebrauch vertraut und in der Lage dazu ist, die jeweiligen Eigenschaften zu unter-<br />

scheiden, soll es demnach auch in die genauen Benennungen eingeführt werden. Dies ge-<br />

schieht durch Fragen wie z.B. „Was ist das?“ oder „Wie ist es?“ Falls die Aussprache des<br />

Kindes noch unsicher ist, kann sie durch wiederholtes Vor- und Nachsprechen gefestigt wer-<br />

den. Da<strong>mit</strong> werden das Sprachverständnis und die Sprachbenutzung gefördert, es wird dem<br />

Kind ermöglicht, seinen Wortschatz zu erweitern. Vor allem aber wird durch die Verbindung<br />

der erfahrenen Qualitäten, ihrer Gleichheiten oder Unterschiede <strong>mit</strong> der dazugehörigen Be-<br />

zeichnung auch die Fähigkeit zum differenzierten Wahrnehmen unterstützt. Hier<strong>bei</strong> geht es<br />

um eine Wechselwirkung von Erkennen und Benennen, wo<strong>bei</strong> die korrekte Handlung das<br />

Bindeglied darstellt. Schafft man es, das Kind zur konzentrierten Tätigkeit zu bringen, so darf<br />

es durch keine äußeren Einflüsse von seiner Ar<strong>bei</strong>t abgelenkt bzw. gestört werden. Die Auf-<br />

gabe des Trainers ist es, <strong>für</strong> eine ruhige Atmosphäre in einer geeigneten Umgebung zur sor-<br />

gen.<br />

Nachdem das Kind durch das Spiel <strong>mit</strong> Montessori-Material Selbstbewusstsein erlangt und<br />

gelernt hat, seine initiierte Motivation zu steuern, folgt als Ziel der Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> dem Montesso-<br />

ri-Material die Materialablösung, d.h., dass das zunächst konkret und aktiv Gelernte ab-strakt<br />

erfasst werden soll. Der Pädagoge trägt zum Erfolg der Montessori-Methode <strong>bei</strong>, indem er<br />

neben der Beobachtungsgabe auch über „Flexibilität, adäquate Reaktionen und entsprechen-<br />

des Handeln“ (Montessori 2002, S. 129) verfügt, sodass er sich immer wieder auf neue Kin-<br />

der, deren Eltern und neue Situationen einstellt. Die von Montessori erar<strong>bei</strong>teten Materialien<br />

und Methoden können auf diese Weise die Grundlage <strong>für</strong> eine systematische Behandlung le-<br />

105


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

gasthener Kinder schaffen. Montessori ist vor allem die Entwicklung eines umfassenden Kon-<br />

zepts zur Schulung der Sinneswahrnehmung bzw. die Bereitstellung von Materialien zur För-<br />

derung der gesprochenen und geschriebenen Sprache (vgl. Holtstiege 2009, S. 100) zu ver-<br />

danken, hier wird die Bedeutung <strong>für</strong> die Behandlung der <strong>Legasthenie</strong> evident. Für den Um-<br />

gang <strong>mit</strong> legasthenen <strong>Kindern</strong>, deren seelischer Bereich besonders empfindsam sein kann,<br />

benötigt der Trainer Einfühlungsvermögen, Beobachtungsgabe und Phantasie. Durch ständi-<br />

ge, kritische Überprüfung können die Grenzen der kindlichen Entwicklung und der Möglich-<br />

keiten des Kindes erkannt werden (vgl. von Oy 1996, S. 15). Die Aktivität des Kindes besteht<br />

im möglichst richtigen Handeln. So findet das Kind <strong>bei</strong> jedem Schritt Neues und schreitet <strong>mit</strong><br />

der inneren Kraft vorwärts, die ihm Befriedigung gibt. Es geht auch nicht um ein eigenständi-<br />

ges Suchen, Finden und vielleicht sogar Erfinden, da dies das Heraussuchen von etwas aus<br />

einem komplexen Ganzen voraussetzt. In der Montessori-Pädagogik wird nur gesucht, was<br />

eindeutig gefunden werden kann, und nur erfunden, was sich aus der zwingenden Logik des<br />

Materials und seiner Organisation in der adäquat vorbereiteten Umgebung ergibt. Das Sin-<br />

nesmaterial Montessoris ist nicht nur ein in seiner Logik <strong>mit</strong>einander vernetztes didaktisches<br />

(Lern-)Material, sondern es kann ebenso diagnostischen Zwecken dienen. So lassen sich<br />

bspw. <strong>mit</strong> Geräuschdosen sehr schnell Hörschäden erkennen, die sonst vielleicht unbemerkt<br />

bleiben und derentwegen das Kind schlimmstenfalls später als lernbehindert erklärt werden<br />

würde, nur weil es im Unterricht nicht ausreichend hören konnte. Die speziellen Farbtäfelchen<br />

können eine Farbblindheit erkennbar machen. Aber auch Schwierigkeiten in der Bewegungs-<br />

koordination, im Formgefühl und in der visuellen Wahrnehmung können <strong>bei</strong>m Umgang <strong>mit</strong><br />

dem Sinnesmateriel schon früh erkannt und, wenn nötig, behandelt werden. Dies gilt <strong>für</strong> den<br />

berühmten „rosa Turm“, die „roten Stangen“ oder die „braune Treppe“ ebenso wie <strong>für</strong> das<br />

Material zum Riechen oder zum Tasten (vgl. auch Raapke 2001).<br />

Was Kinder in den Regelschulen lernen sollen, steht im Lehrplan oder in den Rahmenrichtli-<br />

nien. Da<strong>bei</strong> wird die Frage, ob ein Kind individuell in seiner psychischen Konstitution sowie<br />

in seiner Intelligenzentwicklung so weit fortgeschritten ist, dass es sich <strong>mit</strong> Interesse diesen<br />

Anforderungen widmen und sie so auch bewältigen kann, offiziell nicht berücksichtigt. Maria<br />

Montessori hatte kein Interesse daran, dass alle Kinder im gleichen Zeitraum <strong>mit</strong> dem glei-<br />

chen Tempo die gleichen Ziele erreichen, da jedes Kind seinen eigenen, individuellen Weg<br />

gehen sollte. Ebenso wie auch anderen Pädagogen war Montessori bewusst, dass Kinder über<br />

unterschiedliche Talente sowie verschiedene Lernfähigkeiten verfügen. Leistungskonkurrenz<br />

und Begabungsdifferenzen waren <strong>für</strong> sie unwesentlich, woraus zu schließen ist, dass sie kein<br />

Interesse an Selektion und Leistungsdifferenzierung hatte (vgl. Raapke 2001, S. 18). Erst<br />

106


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

dann, wenn das Kind von sich aus die Kraft dazu hat, werden Leistungen erwartet, denn auch<br />

wenn Kinder unterschiedliche Voraussetzungen <strong>für</strong> den Schriftspracherwerb <strong>mit</strong>bringen, soll-<br />

ten sie alle die gleichen Möglichkeiten haben. Nur unter besonderer Berücksichtigung der<br />

oben beschriebenen Bedingungen kann die von Montessori betonte Normalisation erreicht<br />

werden. Das bedeutet, dass das legasthene Kind die eigene <strong>Legasthenie</strong> akzeptieren, die<br />

Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben so weit wie möglich überwinden, zum seelischen<br />

Gleichgewicht kommen und so<strong>mit</strong> zur Integration in die Gesellschaft vorbereitet werden<br />

kann. Denn „ein Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen […] oder das soziale Wesen<br />

par excellence“ (zit. nach Ludwig 2000, S. 15).<br />

8.2 Ansätze nach der AFS-Methode von Astrid Kopp-Duller<br />

8.2.1 Grundlagen der AFS-Methode<br />

Die AFS-Methode bietet eine Möglichkeit der gezielten pädagogischen Förderung legasthener<br />

Kinder. Ausgehend von der Tatsache, dass legasthene Menschen 136 eine andere Informations-<br />

verar<strong>bei</strong>tung haben, die sich lediglich <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreibenlernen bemerkbar macht und<br />

aufgrund dessen Betroffene eine andere Lernfähigkeit haben, wurde die AFS-Methode entwi-<br />

ckelt. Ziel ist es, den Menschen <strong>mit</strong> Schreib- und Leseproblemen eine individuelle Förderung<br />

zu ermöglichen, pädagogisch-didaktisch orientiertes Handeln besser zu erklären und planbar<br />

zu machen, um da<strong>mit</strong> einen Beitrag zur Professionalisierung zu leisten. Die AFS-Methode<br />

wird auch als umfassende Methode bezeichnet, weil die Förderung auf allen Gebieten ansetzt,<br />

in denen das Kind Auffälligkeiten zeigt. Die Entwicklung dieser speziellen Methode erfolgte<br />

auch im Hinblick auf die zunehmende Fülle an empirischen Forschungsergebnissen, die im-<br />

mer größer werdende Diskrepanz zwischen der Wissenschaftsentwicklung und den unbewäl-<br />

tigten Praxisproblemen. Zwischen der Wissenschaft und der Praxis einen Bezugspunkt zu<br />

schaffen, indem wissenschaftliche Forschungsergebnisse <strong>für</strong> die praktische Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> Betrof-<br />

fenen umgesetzt werden, ist von großer Bedeutung.<br />

Die multisensorische Methode, die sowohl den Ursachen als auch den Symptomen einer Le-<br />

gasthenie gerecht wird, ist Ergebnis qualitativer und quantitativer empirisch-pädagogischer<br />

Forschung und bietet einen neuen modernen Weg der pädagogischen Förderung <strong>bei</strong> Lese- und<br />

Schreibproblemen. Ihre Entwicklung wurde durch Feldstudien in interdisziplinärer Zusam-<br />

136 Im Rahmen der AFS-Methode sind, wenn von legasthenen Menschen oder von Menschen <strong>mit</strong> Lese- und<br />

Schreibproblemen gesprochen wird, dyskalkule Menschen (also solche <strong>mit</strong> Rechenproblemen) impliziert.<br />

107


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

menar<strong>bei</strong>t unter Einbeziehung neuester wissenschaftlicher Forschungsergebnisse ermöglicht<br />

(vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 151ff.). Studien, die im Rahmen pädagogischer<br />

Forschung durchgeführt wurden, belegen, dass <strong>bei</strong> einem Teil der von Lese- und Schreibprob-<br />

lemen betroffenen Menschen die alleinige vermehrte Förderung am Symptom, d.h. an den<br />

Fehlern, nur eine geringe oder gar keine Wirkung zeigt, also nicht erfolgreich ist. Das Funda-<br />

ment der Methode bildet die „logische Schlussfolgerung, dass ein legasthener Mensch nur<br />

durch ein spezielles und umfassendes Training“ (Kopp-Duller 2008a, S. 39) befähigt wird,<br />

das Schreiben und Lesen zu erlernen, da seine differenten Sinneswahrnehmungen und Sinnes-<br />

leistungen <strong>mit</strong>einbezogen werden müssen. Besonders im Falle einer genetisch bzw. biologisch<br />

bedingten Verursachung, wenn also eine <strong>Legasthenie</strong> vorhanden ist, ist eine verstärkte Förde-<br />

rung alleine im Schreib- und Lesebereich in Form von vermehrtem Üben nicht ausreichend.<br />

Da der Denk- und Handlungsprozess <strong>bei</strong> legasthenen <strong>Kindern</strong> meist nicht parallel verläuft, ist<br />

eine weitere Grundlage der AFS-Methode die Forderung nach einem Zusammenschluss dieser<br />

<strong>bei</strong>den Prozesse (vgl. a.a.O., S. 40).<br />

Die Erkenntnis, dass ein ausschließliches Schreib- und Lesetraining <strong>bei</strong> einem legasthenen<br />

Menschen nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt 137 , impliziert die <strong>Intervention</strong>en im<br />

Aufmerksamkeits- und Sinneswahrnehmungsbereich. Daher verbindet die AFS-Methode spe-<br />

zielle Elemente zur Gewährleistung einer umfassenden Förderung. Die Besonderheit der<br />

AFS-Methode ist das Zusammenwirken der drei besonders zu fördernden Komponenten –<br />

Aufmerksamkeit, Funktion, Symptom – zusätzlich zum bedeutenden Lobes- und Zeitfaktor.<br />

All diese Elemente sollen sich gegenseitig ergänzen, ineinander wirken und so<strong>mit</strong> das legas-<br />

thene Kind <strong>bei</strong> seiner Entwicklung unterstützen. Die grundlegenden Anforderungen, die er-<br />

füllt sein sollten, sind folgende: „Das bewusste Steigern der Aufmerksamkeit <strong>bei</strong>m Lesen und<br />

Schreiben muss erreicht werden, […] die Sinneswahrnehmungen, die Funktionen, müssen<br />

durch ein gezieltes Training verbessert werden,, […] im Symptombereich, also <strong>bei</strong>m Schrei-<br />

ben, Lesen und Rechnen, müssen spezielle Techniken angewendet werden“ (a.a.O., S. 39), um<br />

dem legasthenen Menschen die Bewältigung der Kulturtechniken zu ermöglichen. Die zusätz-<br />

lichen Faktoren zu diesen drei bedeutsamen Bestrebungen, der „Lobesfaktor“ und der genau-<br />

so relevante „Zeitfaktor“ (vgl. ebd.), müssen die grundlegenden Elemente umrahmen. Da le-<br />

gasthene Menschen in wesentlich größerem Ausmaß als nicht legasthene auf eine positive<br />

Rückmeldung und Motivation (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 148) bezüglich ihrer<br />

Leistungen im Schreiben und Lesen angewiesen sind, ist es besonders wichtig, jede auch noch<br />

137 Hierzu tragen maßgeblich die genaue Beobachtung sowie die daraus gezogenen Schlüsse <strong>bei</strong>.<br />

108


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

so kleine Leistung positiv zu reflektieren. Ohne Lob, das bereits ein Erfolgserlebnis darstellt,<br />

können betroffene Kinder die Schule nicht ohne Sekundärschäden bewältigen. Zusätzlich zu<br />

diesen positiven Resonanzen benötigen Legastheniker „effektiv mehr Zeit, um Buchstaben,<br />

Wörter, Zahlen oder Rechenoperationen im Gedächtnis zu verankern“ (Kopp-Duller 2008a, S<br />

40). Nur <strong>mit</strong> Rücksichtnahme auf diese <strong>bei</strong>den genannten Faktoren ist ihnen die Möglichkeit<br />

gegeben, Lesen und Schreiben relativ mühelos zu erlernen. Die AFS-Methode kann ein opti-<br />

males Resultat, nämlich das erfolgreiche Erlernen der Kulturtechniken, nicht ohne diese <strong>bei</strong>-<br />

den Faktoren erreichen (vgl. ebd.).<br />

Die AFS-Methode garantiert eine Orientierung an den Bedürfnissen des Betroffenen selbst,<br />

d.h., dass jeder Ansatz, der zur Verbesserung der Schreib- und Lesefertigkeiten eines legas-<br />

thenen Menschen führt, integriert werden kann. Die Offenheit dieser Methode sichert indivi-<br />

duelle <strong>Intervention</strong>en (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 147ff.), wo<strong>mit</strong> diese der mul-<br />

tikausalen Problematik gerecht wird und sich dadurch ein Erfolg einstellen kann. Nach einem<br />

pädagogischen Feststellungsverfahren, dem AFS-Computertestverfahren (vgl. ebd., S. 29ff.) –<br />

das gleichzeitig <strong>mit</strong> der AFS-Methode entwickelt worden ist und dem Spezialisten eine indi-<br />

viduelle Planung des Trainings ermöglicht – soll dem Betroffenen dort geholfen werden, wo<br />

seine Probleme liegen. Dies ist <strong>für</strong> einen optimalen Erfolg unbedingt notwendig, da jede Le-<br />

gasthenie eine individuelle Ausprägung hat. Ein enormer Vorteil der Methode ist die Flexibi-<br />

lität, jederzeit das Angebot ändern zu können und auf die aktuellen Bedürfnisse des Betroffe-<br />

nen einzugehen. Dank der intensiven wissenschaftlichen Forschung rückt die „unbedingt not-<br />

wendige pädagogisch-didaktische Hilfe“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 145) <strong>bei</strong> Lese-<br />

und Schreibproblemen immer mehr in den Fokus. Mit rechtzeitiger Hilfe auf dieser Ebene ist<br />

garantiert, dass dem Kind Sekundärproblematiken, die sich zumeist im psychischen Bereich<br />

zeigen, erspart bleiben.<br />

Die Daten und Fakten der Langzeitstudie, die zwischen den Jahren 2001 und 2006 <strong>mit</strong> insge-<br />

samt 3370 Probanden durchgeführt wurde, bestätigen die Wirksamkeit der Methode. 85% der<br />

Probanden verbesserten ihre Schreib-, Lese- und Rechenleistungen kontinuierlich im zweijäh-<br />

rigen Beobachtungszeitraum und konnten so<strong>mit</strong> die Anforderungen in der Schule erfüllen<br />

(vgl. a.a.O., S. 165ff.).<br />

8.2.2 Pädagogisch orientiertes <strong>Legasthenie</strong>training nach der AFS-Methode<br />

Es ist außerordentlich wichtig, dass man den individuellen Anforderungen eines legasthenen<br />

Menschen <strong>bei</strong> <strong>Intervention</strong>en im Schreib- und Lesebereich als <strong>Legasthenie</strong>spezialist, Lehrer<br />

und auch als Elternteil nachkommt. Die Kombination von vorgegebenen Strukturen und frei<br />

109


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

wählbaren Teilen 138 der AFS-Methode erlaubt ein völlig individuelles Eingehen auf die Be-<br />

dürfnisse des Kindes (vgl. a.a.O., S. 162).<br />

Aufmerksamkeitstraining<br />

Legastheniker, die gelernt haben, ihre Gedanken, also ihre Aufmerksamkeit, bewusst zu be-<br />

nutzen und zu lenken, erzielen wesentlich bessere Leistungen <strong>bei</strong>m Schreiben, Lesen oder<br />

Rechnen. Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu halten, wenn es um das Schreiben, Lesen<br />

oder Rechnen geht, ist <strong>bei</strong> legasthenen Menschen stark beeinträchtigt, betroffene Kinder drif-<br />

ten meist <strong>mit</strong> ihrer Aufmerksamkeit ab und sind nicht konzentriert <strong>bei</strong> der Sache. Eine der<br />

Grundlagen der AFS-Methode ist es, Denken und Handeln wieder zu verknüpfen. Diese Fä-<br />

higkeit, die Aufmerksamkeit bewusst zu lenken, zu erwerben, erfordert viel Geduld und Ein-<br />

fühlsamkeit. Gedankenlenken ist eine Leistung, die Zeit zum Üben, Geduld und liebevolle<br />

Unterstützung benötigt. Auch Übungen der Edu-Kinästhetik, des autogenen Trainings und<br />

anderer bewährter körpertherapeutischer Methoden werden im Aufmerksamkeitstraining ge-<br />

nutzt (s. Abb. 7). Neben dieser intensiven Ar<strong>bei</strong>t ist es selbstverständlich notwendig, dass von<br />

Seiten des Kindes der Wunsch und der Wille, seine Situation wirklich zu verbessern, vorhan-<br />

den sind (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 41), da eine Verbesserung seines Zustandes nur <strong>mit</strong> der<br />

Bewusstheit und der Mitar<strong>bei</strong>t des legasthenen Kindes her<strong>bei</strong>geführt werden kann. Grundle-<br />

gend hier<strong>für</strong> ist zum einen das Gespräch (vgl. ebd.). Das konstante Trainieren der Aufmerk-<br />

samkeit bringt wesentliche Fortschritte, indem sich das Kind angewöhnt (vgl. a.a.O., S. 43),<br />

sich selbst zu beobachten, und selbst immer öfter wahrnimmt, dass es abgelenkt war. Die<br />

Technik des Gedankenlenkens sollte so tief in das Bewusstsein des Kindes dringen (vgl.<br />

ebd.), dass sie schließlich automatisch angewendet wird 139 . Doch auch da ist die Unterstüt-<br />

zung der Erwachsenen gefordert. Zum anderen besteht eine Möglichkeit zur Hilfe <strong>bei</strong>m<br />

Schriftspracherwerb in der „Anwendung verschiedener Techniken und Übungen zur Steige-<br />

rung der Aufmerksamkeit“ (vgl. a.a.O., S. 44), wo<strong>bei</strong> <strong>mit</strong> Hinblick auf die Offenheit der Me-<br />

thode alle Methoden und Ansätze 140 erlaubt und erwünscht sind, die dem Kind helfen, seine<br />

Gedanken besser zu fokussieren. Es ist wichtig, „dass konsequent unterschiedliche Übungen<br />

zu den einzelnen Teilleistungen <strong>mit</strong> und ohne Symbolik durchgeführt werden“ (Kopp-Duller<br />

2008a, S. 50).<br />

138 Dies ist vergleichbar <strong>mit</strong> Montessoris Gesetz der Sache bezüglich vorgegebener Strukturen und <strong>mit</strong> dem<br />

Prinzip der freien Wahl hinsichtlich der frei wählbaren Teile in der AFS-Methode.<br />

139 Sobald sich das Kind dem Schreiben, Lesen oder Rechnen widmet, aktiviert sich diese erworbene Fähigkeit.<br />

140 Viele so genannte Alternativmethoden können ein erfolgreiches <strong>Legasthenie</strong>training ergänzend abrunden.<br />

110


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Funktionstraining<br />

Dank der kontinuierlichen Verbesserung der Wahrnehmungsleistungen durch das Training der<br />

Aufmerksamkeit werden wesentliche Voraussetzungen <strong>für</strong> bessere Leistungen <strong>bei</strong>m Lesen,<br />

Schreiben oder Rechnen geschaffen. Zu diesen Voraussetzungen gehören besonders die Sin-<br />

neswahrnehmungen. Zweifellos sind intakte und gut entwickelte Sinneswahrnehmungen 141<br />

eine enorm wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> einen problemlosen Schriftspracherwerb. Ein weiterer<br />

bedeutender Bereich, der in einem pädagogisch-didaktischen Training unbedingt zu beachten<br />

ist und eine individuelle Förderung erfordert, ist die Notwendigkeit der Aufmerksamkeit <strong>bei</strong>m<br />

Lesen und Schreiben. Nicht nur Übungen zur Steigerung der Aufmerksamkeit, sondern auch<br />

eine ausreichende Erklärung, warum genau eine gute Aufmerksamkeit vor Fehlern <strong>bei</strong>m Le-<br />

sen und Schreiben bewahrt, ist <strong>für</strong> die Betroffenen hilfreich. Dieses Postulat ist als Analogie<br />

zu Montessoris Polarisation der Aufmerksamkeit anzusehen. Unter Funktionen der Sinnes-<br />

wahrnehmungen 142 ist, wie der Begriff schon nahelegt, ein einwandfreies Zusammenspiel der<br />

verschiedenen Sinneswahrnehmungen <strong>bei</strong>m Schreiben und Lesen zu verstehen (vgl. a.a.O., S.<br />

45). Sobald einige dieser Sinneswahrnehmungen different ar<strong>bei</strong>ten, ergeben sich Schwierig-<br />

keiten. Es ist wichtig, dass <strong>bei</strong> „diesem Prozess der Umsetzung von Lauten zu Buchstab, die<br />

Sinneswahrnehmungen Optik, Akustik und Raumlage funktionieren“ (a.a.O., S. 47) und <strong>mit</strong>ei-<br />

nander korrespondieren. Sowohl die Optik als auch die Akustik werden jeweils in drei Unter-<br />

kategorien gegliedert, wo<strong>bei</strong> zur Optik die Kategorien optische Differenzierung, optisches<br />

Gedächtnis, optische Serialität und zur Akustik die Kategorien akustische Differenzierung,<br />

akustisches Gedächtnis sowie die akustische Serialität gehören 143 . Optische Informationen<br />

werden von den Betroffenen generell schlecht gespeichert, weshalb die meisten Kinder <strong>mit</strong><br />

differenter optischer Wahrnehmung alles anfassen müssen, um es begreifen zu können. Diese<br />

Probleme setzen sich <strong>bei</strong>m Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen fort.<br />

Weitere Sinneswahrnehmungen, die <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb korrekt funktionieren müssen,<br />

sind die Raumorientierung und das Körperschema. Beim Lesen fallen Kinder <strong>mit</strong> Raumlage-<br />

problemen besonders durch sehr langsames, unsicheres Lesen auf. Beim Lesen fehlt die Ori-<br />

entierung im Text und <strong>bei</strong>m Schreiben kann die Aufteilung des Blattes (Raum) nur schlecht<br />

eingeschätzt werden. Unter die Raumorientierung fällt außerdem das gesamte Raum- und<br />

141 Diese wichtige Voraussetzung intakter Sinneswahrnehmungen kann durch das Training <strong>mit</strong> dem Montessori-<br />

Material erreicht werden. Dieses „Sinnesmaterial“ ist naturgemäß zum Training der Sinneswahrnehmungen<br />

konzipiert.<br />

142 Diese werden auch Teilleistungen genannt.<br />

143 Ausführliches hierzu: s. Kopp-Duller 2008a, S. 46ff.<br />

111


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Zeitgefüge (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 48) 144 , Distanzen, Größen oder Einheiten erscheinen<br />

als nicht Greifbares. <strong>Kindern</strong>, die Schwierigkeiten <strong>mit</strong> dem Körperschema haben, gelingt die<br />

Einschätzung der Lage und Richtung am eigenen Körper nicht, häufig fällt eine Rechts-Links-<br />

Verwechslung auf, deshalb ist das Körperschema auch anders ausgeprägt als <strong>bei</strong> nicht legas-<br />

thenen Menschen. Nicht hinreichend entwickelte Wahrnehmungsleistungen im optischen<br />

und/oder akustischen Bereich sind, im Gegensatz zu anderen Sinneswahrnehmungen 145 , rela-<br />

tiv häufig anzutreffen (vgl. a.a.O., S. 49). Da besonders die Sinneswahrnehmungen den Lese-<br />

und Schreibprozess stark beeinflussen, nimmt das Funktionstraining in der AFS-Methode<br />

einen besonders wichtigen Platz ein. Das Übungsmaterial sollte hier besonders abwechslungs-<br />

reich sein und die Übungen müssen genau auf die Bedürfnisse des jeweiligen Kindes abge-<br />

stimmt werden. Nur wenn in diesem Bereich wesentliche Veränderungen eintreten, sind Fort-<br />

schritte und Erfolgserlebnisse <strong>für</strong> das legasthene Kind im Schreiben, Lesen und Rechnen<br />

möglich. Wie <strong>bei</strong>m Aufmerksamkeitstraining ist auch <strong>bei</strong>m Funktionstraining konsequent auf<br />

unterschiedliche Übungen zu achten.<br />

Symptomtraining<br />

Auch einer individuellen Förderung im Symptombereich wird in der AFS-Methode eine gro-<br />

ße Bedeutung <strong>bei</strong>gemessen. Das Erlernen der Buchstaben und Zahlen in den ersten Monaten<br />

der Schulzeit ist <strong>für</strong> ein legasthenes Kind eine besondere Leistung. Je früher eine Hilfe ein-<br />

setzt, desto schneller wird der Lernprozess vorangehen. „Leider wird gerade der schwierige<br />

Prozess des Buchstaben- und Zahlenlernens <strong>bei</strong>m legasthenen Kind oft völlig unterschätzt“<br />

(a.a.O., S. 52). Deshalb ist es besonders wichtig, dass auch Eltern selbst <strong>mit</strong>wirken, wo<strong>bei</strong> es<br />

selbstverständlich legitim ist, die Hilfe inner- oder außerschulischer Spezialisten in Anspruch<br />

zu nehmen. Von den Eltern sollte das <strong>Legasthenie</strong>training durch einen individuell <strong>für</strong> das<br />

Kind zusammengestellten Trainingsplan ergänzt werden. Dieser Trainingsplan wird von ei-<br />

nem Trainer <strong>für</strong> einen bestimmten Zeitraum entworfen und dann immer wieder den nächsten<br />

Entwicklungsphasen des Kindes angepasst. Selbstverständlich wird sowohl <strong>mit</strong> dem Lehrer<br />

als auch <strong>mit</strong> den Eltern des Kindes intensiv zusammengear<strong>bei</strong>tet, wo<strong>bei</strong> der Trainer Förder-<br />

möglichkeiten vorschlägt.<br />

144 Die Kinder können ihre Position im Raum nicht richtig einschätzen und sie haben oftmals ein sehr schlechtes<br />

Zeitgefühl und ein geringes Orientierungsvermögen.<br />

145 Es kommt so gut wie nie vor, dass <strong>bei</strong>m legasthenen Kind alle Sinneswahrnehmungen different ausgeprägt<br />

und betroffen sind, wodurch die erwünschte Lese-, Schreib- oder Rechenleistung nicht erbracht werden könnte.<br />

112


8 Möglichkeiten der pädagogischen <strong>Intervention</strong> <strong>mit</strong> dem Modell Maria Montessoris und der<br />

AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller<br />

Das individuelle Training im Lese- und Schreibbereich ist eine Notwendigkeit, die als konse-<br />

quent durchgeführte, ausgiebige und anhaltende Übung auch zu einem nachhaltigen Erfolg in<br />

allen Bereichen führen kann.<br />

113


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

Für die Planung einer Förderung ist die Einbeziehung des Elternhauses wesentlich. Daher<br />

sollten die Eltern ausführlich beraten und durch eine aktive Beteiligung an den <strong>Intervention</strong>en<br />

ihren Beitrag leisten können (z.B. Schulte-Körne et al. 1997, 1998). Bei der Durchführung der<br />

Förderung durch Behandlungsmaßnahmen ist vor allem die emotionale Unterstützung von<br />

großer Bedeutung. Durch das Vermeiden von Schuldzuweisungen und das Schaffen einer <strong>für</strong><br />

das Kind protektiven familiären Atmosphäre kann der Schweregrad einer Lese-<br />

Rechtschreibstörung beeinflusst werden. Bedeutung kommt der Art der Verstärkung (positive<br />

und negative Verstärkung) zu, z.B. in der späteren Hausaufgabensituation, <strong>bei</strong> der Unterstüt-<br />

zung <strong>bei</strong>m Lernen in Form von Hilfen und <strong>bei</strong>m Umgang <strong>mit</strong> Fehlern. Durch adäquate Anre-<br />

gungen und Unterstützungen, bspw. <strong>bei</strong>m Lesen, können <strong>für</strong> das Kind lernförderliche Bedin-<br />

gungen im Elternhaus geschaffen werden. Da<strong>bei</strong> spielt das regelmäßige Vorlesen, das Spre-<br />

chen über die <strong>Bücher</strong> (oder zusätzlich auch das Hören von CDs) und überhaupt eine sprach-<br />

lich und kommunikativ anregende Umwelt eine große Rolle. Relativ leichte Texte sollten so<br />

gewählt werden, dass das Interesse des Kindes geweckt wird und das Lesen keine übermäßi-<br />

gen Probleme bereitet. Es kommt da<strong>bei</strong> weniger auf das richtige Lesen an, sondern darauf,<br />

dass sich das Kind <strong>mit</strong> dem Lesen beschäftigt, sich da<strong>mit</strong> auseinandersetzt und Freude daran<br />

findet (vgl. auch Suchodoletz 2006, S. 288). Indirekt wird dadurch auch die phonologische<br />

Bewusstheit trainiert, da das Kind <strong>bei</strong>m Zuhören den Klang, den Rhythmus sowie die Beto-<br />

nung der Sprache erfassen kann. Wenn dem Kind so<strong>mit</strong> Möglichkeiten <strong>für</strong> Erfolgserlebnisse<br />

eingeräumt werden, kann es ein besseres Selbstbewusstsein im Umgang <strong>mit</strong> der Schriftspra-<br />

che entwickeln.<br />

Längsschnittstudien konnten belegen, dass die phonologische Informationsverar<strong>bei</strong>tung von<br />

entscheidender Wichtigkeit <strong>für</strong> den Schriftspracherwerb ist. Die bedeutsamste Komponente<br />

da<strong>bei</strong> ist die phonologische Bewusstheit, die auch bereits im Kindergartenalter in Form von<br />

kindgemäßen spielerischen Übungen 146 trainiert werden kann. Metaanalysen (z.B.<br />

Bus/Ijzendoorn 1999) haben gezeigt, dass das Training effizienter ist, wenn es <strong>mit</strong> einem<br />

Buchstaben-Laut-Training kombiniert wird. Haben Kinder sprachliche Defizite bzw. Spra-<br />

chentwicklungsstörungen, so ist eine gezielte frühe Sprachförderung bzw. Sprachtherapie<br />

notwendig.<br />

146 Diese sind z.B. Reime, Silben, Anlaute, Lautsynthese und Lautanalyse.<br />

114


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

9.1 Wie können Eltern die pädagogisch-didaktischen Erkenntnisse<br />

der Frühförderung legasthener Kinder einsetzen?<br />

Die Eltern und andere Bezugspersonen sichern im Allgemeinen Lernen und Wachstum des<br />

Kleinkindes, sie wenden sich ihrem Kind liebevoll zu und geben ihm Orientierung durch Zu-<br />

verlässigkeit der persönlichen Beziehungen und durch einen geregelten Tagesablauf. Sie spre-<br />

chen <strong>mit</strong> ihm und lassen es an ihrem Leben teilhaben. Bestimmte Fehlertendenzen werden<br />

den Eltern <strong>bei</strong> den täglichen Beobachtungen ihres Kindes deutlicher auffallen als Außenste-<br />

henden. Darüber sollten sie offen <strong>mit</strong> dem Kind sprechen, um gemeinsam <strong>mit</strong> ihm herauszu-<br />

finden, wie es sich <strong>bei</strong> diesen Fehlern selbst wirksam kontrollieren kann. Das elterliche Poten-<br />

tial zur Unterstützung des kindlichen Schriftspracherwerbs, der Kognition und Emotion wird<br />

meist nicht ausgeschöpft. Da der soziale Kontext der Familie „als stabilisierend und för-<br />

dernd“ (Dehnhardt/Ritterfeld 1998) betrachtet wird, stellt die Familie eine wertvolle Ressour-<br />

ce dar. So<strong>mit</strong> muss die Hilfe auf das gesamte familiäre und pädagogische Umfeld ausgeweitet<br />

werden, da nicht nur das betroffene Kind bestimmte Auffälligkeiten zeigt, sondern auch das<br />

Lebensumfeld des Kindes dessen Situation beeinflusst (vgl. Kramer/Trappe 2006). Im Rah-<br />

men der Elternar<strong>bei</strong>t geht es darum, wie sie ihr Wirken bestmöglich in die frühkindliche För-<br />

derung integrieren können (vgl. Siegert/Ritterfeld 2000), ein „konsequentes Weiterdenken“<br />

(Rodrian 2008, S. 57) der Frühförderung bezüglich des psychosozialen Umfeldes des Kindes<br />

ist zielführend.<br />

Hinweise auf Defizite der Kinder, etwa in der phonologischen Bewusstheit, von Erzieherin-<br />

nen oder aus eigener Vermutung bzw. Beobachtung sollten unbedingt ernst genommen wer-<br />

den und ggf. auch von psychologisch-pädagogisch geschulten Fachkräften in Frühförderstel-<br />

len, Erziehungsberatungsstellen usw. fachdiagnostisch abgeklärt werden. Wenn sich die El-<br />

tern dann zur Förderung der eigenen Kinder entschließen, sollten sie auch Kontakt zu ge-<br />

schulten Fachkräften an Frühförderstellen und Erziehungsberatungsstellen halten, die sie <strong>bei</strong><br />

dieser Fördermaßnahme beratend begleiten, da es nicht hilfreich ist, verschiedene Lernmetho-<br />

den, die möglicherweise sich widersprechende Instruktionen <strong>bei</strong>nhalten, gleichzeitig anzu-<br />

wenden. Dass Eltern in der Lage sind, ihr Kind adäquat zu fördern, konnte in mehreren empi-<br />

rischen Ar<strong>bei</strong>ten nachgewiesen werden. So untersuchten Bushell et al. (1982) sowie Fry<br />

(1977) den Therapieeffekt verschiedener Programme zur Förderung der Lesefähigkeit, die<br />

Eltern <strong>mit</strong> ihren leseschwachen <strong>Kindern</strong> durchführten. Es konnte gezeigt werden, dass alle<br />

Kinder hinsichtlich der Lesegenauigkeit wie auch des Leseverständnisses durch das Üben <strong>mit</strong><br />

ihren Eltern profitierten. Eltern konnten anhand eines Lernprogrammes ihre Kinder sowohl im<br />

Lesen als auch in der Rechtschreibung erfolgreich fördern, was sich auch auf die schulischen<br />

115


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

Leistungen übertrug (vgl. Thurston/Dasta 1990). Für den deutschsprachigen Raum fanden<br />

Schulte-Körne et al. (1997, 1998) heraus, dass Eltern unter systematischer und regelmäßiger<br />

Anleitung in der Lage sind, die Rechtschreibleistung ihres Kindes zu verbessern. Auch die<br />

positive Veränderung der Interaktion und die Tatsache, dass das Selbstwertgefühl der Kinder<br />

durch das Eltern-Kind-Training signifikant verbessert wurde, sind ein weiterer wesentlicher<br />

Befund dieser Untersuchungen. Sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, können El-<br />

tern also <strong>mit</strong> der Unterstützung von Fachleuten auch spezifische Förderprogramme <strong>mit</strong> ihrem<br />

Kind durchführen. Zu diesen Voraussetzungen zählen etwa ausreichende Zeit von Seiten der<br />

Eltern und konsequentes Üben über einen längeren Zeitraum hinweg, wo<strong>bei</strong> die Beziehung<br />

zwischen Eltern und Kind nicht durch negative Lernerfahrungen belastet sein darf, wenn ein<br />

gemeinsames Üben etwa zu ausgeprägten Auseinandersetzungen führt. Außerdem sollte die<br />

Möglichkeit einer Beratung bezüglich des Förderprogramms bestehen. Das Marburger Recht-<br />

schreibtraining (Schulte-Körne/Mathwig 2009) ist ein Beispiel <strong>für</strong> ein Programm, das hin-<br />

sichtlich seiner Wirksamkeit als Elterntraining überprüft ist.<br />

Weder professionelle Pädagogen noch die Eltern können wissen, auf welche Weise das legas-<br />

thene Kind seine Schwächen kompensieren kann, wie es lernt und wann es eine Pause<br />

braucht. Ebenso wie die Pädagogen können und müssen auch Eltern das Kind <strong>für</strong> eine Zu-<br />

sammenar<strong>bei</strong>t gewinnen. Es soll ihnen sagen, was ihm schwerfällt, wie es versucht, sich<br />

selbst zu helfen, und wo es ratlos ist. Dies ist jedoch nur in einer Atmosphäre der Gleichbe-<br />

rechtigung und des verstehenden und angstfreien Umgangs <strong>mit</strong>einander möglich. Es wird<br />

meist gelingen, <strong>mit</strong> dem Kind gemeinsam herauszufinden, was es besonders gut kann. Zeigt<br />

ein Kind kein Interesse an den angebotenen Materialien, sollte das <strong>für</strong> Eltern ein Anlass sein,<br />

das Kind und seine Situation noch einmal genauer zu betrachten, da es möglicherweise über-<br />

fordert ist. Sobald Kinder ihre Schwierigkeiten spüren, versuchen sie automatisch, problem-<br />

behaftete Situationen zu meiden. In diesem Fall ist es besonders wichtig, das Interesse behut-<br />

sam zu wecken, indem das Kind <strong>mit</strong> vereinfachten Aufgaben an die Ar<strong>bei</strong>t herangeführt wird.<br />

Bei mangelnder Förderung könnte es später in der Schule weiterhin ein Vermeidungsverhal-<br />

ten zeigen, das wiederum negative Auswirkungen auf das Selbstbild und Selbstbewusstsein<br />

des Kindes hat. Voraussetzungen <strong>für</strong> eine solche häusliche Förderung und Hilfe von Seiten<br />

der Eltern sind vor allem die Anerkennung der Eigenart der Lese-Rechtschreibstörung des<br />

Kindes und viel Geduld, um dem Kind langfristig Hilfen zu geben. Der Rückhalt in der Fami-<br />

lie ist zentral <strong>für</strong> die Unterstützung eines legasthenen Kindes. Die Anerkennung durch die<br />

Eltern trotz minderer Leistungen bildet die Basis <strong>für</strong> eine positive Entwicklung des legasthe-<br />

nen Kindes. Die Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> dem Kind bringt immer wieder neue Erkenntnisse im Hinblick auf<br />

Tätigkeiten, die es ausführen kann oder auch nicht, oder auf Leistungen, die in einigen Berei-<br />

116


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

chen möglich sind und in anderen eben nicht. So soll bspw. das Erfassen von Beeinträchti-<br />

gungen nach dem Ansatz von M. Frostig 147 zur Planung einer Förderung dienen, um einen<br />

Ausgangspunkt <strong>für</strong> einen Weg zu finden 148 , den man <strong>mit</strong> dem Kind gehen kann (vgl. Frostig<br />

1976). Da die Diagnose <strong>Legasthenie</strong> nicht selten erst relativ spät gestellt wird und die Bezie-<br />

hung zwischen dem legasthenen Kind und den Eltern durch quälendes Üben u.U. schon ex-<br />

trem angespannt ist, ist die Entlastung des Kindes und der Eltern wichtig (vgl. Warnke et al.<br />

1989). Diese Entlastung erfolgt meist schon durch die Diagnose 149 und die Aufklärung über<br />

die Problematik. Beim Vorhandensein einer <strong>Legasthenie</strong> sollte eine spezielle pädagogisch-<br />

didaktische Förderung durchgeführt werden, was eine Unterstützung des Schriftspracherwerbs<br />

von Seiten der Eltern keinesfalls ausschließt. Elterliche Hilfe muss pädagogisch zweckmäßig<br />

sein, sodass daraus eine Entlastung des Kindes resultiert und zugleich chronische Konflikte<br />

vermieden werden. Zur häuslichen Förderung können bspw. Wortspiele <strong>mit</strong> Bildern und Me-<br />

mory-Spiele zum Training der phonologischen Bewusstheit 150 leicht selbst zusammengestellt<br />

werden. Eltern könnten z.B. Bilder von Wörtern <strong>mit</strong> gleichen Anfangslauten aussuchen, an-<br />

fangs besonders <strong>mit</strong> den dehnbaren Konsonanten /l/, /m/, /n/, /r/, /s/, /w/ und /z/ (vgl. Dum-<br />

mer-Smoch 2001, S. 45). Ebenso bieten sich Bilder, <strong>mit</strong> denen man Reimpaare finden kann,<br />

oder Bilder von Wörtern <strong>mit</strong> gleicher Silbenzahl zum Üben an (vgl. ebd.). Lerntipps <strong>für</strong> Eltern<br />

sind z.B. auch Farben, <strong>mit</strong> denen etwas hervorgehoben und gekennzeichnet werden kann.<br />

Außerdem ist Lautgebärdensprache <strong>bei</strong>m Einüben von Buchstaben und <strong>bei</strong>m Buchstabieren<br />

von Wörtern hilfreich, was besonders legasthenen <strong>Kindern</strong> eine große Hilfe bietet, da diese<br />

Schwierigkeiten <strong>mit</strong> der Wahrnehmung haben und ihnen auf diese Weise die Möglichkeit zur<br />

mehrkanaligen Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung gegeben wird. Zusätzlich sind Merkwörter bzw.<br />

„Eselsbrücken“ aus eben genannten Gründen hilfreich. Das Kind wird „Eselsbrücken“ aus-<br />

probieren oder sich selbst welche konstruieren, daher sollten Eltern versuchen, gemeinsam<br />

<strong>mit</strong> dem Kind solche hilfreichen Assoziationen <strong>für</strong> spezielle Rechtschreibprobleme zu finden<br />

und möglichst viele Übungen als Spiel durchzuführen, weil Lernen im Spiel viel leichter fällt.<br />

So<strong>mit</strong> können <strong>bei</strong>m Lernen möglichst viele Sinne genutzt werden. Legasthene Kinder sind<br />

bereit, mehr zu lernen als andere Kinder, wenn sie motiviert werden und ihr Problem akzep-<br />

147 Der Ansatz von Frostig beruht auf der Annahme, dass sich Lernstörungen auf gestörte oder unzureichend<br />

ausgebildete Wahrnehmungsfunktionen zurückführen lassen und dass spezifische Lernstörungen ebenso spezifischen<br />

perzeptiven Dysfunktionen entsprechen.<br />

148 Für Frostig besteht die Möglichkeit dazu in einer Art Bestandsaufnahme, die sie als Evaluation bezeichnet.<br />

149 Diese kann z.B. durch das pädagogische AFS-Testverfahren (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008b, S. 51ff.)<br />

oder den <strong>Pädagogische</strong>n Sinneswahrnehmungstest im Vorschulalter (PSV) (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 51ff.)<br />

erfolgen.<br />

150 Siehe hierzu auch „hören, lauschen, lernen“ nach Küspert/Schneider (1999, 2006, 2008) oder „hören, sehen,<br />

verstehen“ nach Rosenkötter et al. (2007).<br />

117


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

tiert wird (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 79). Dennoch ist von großer Bedeutung, dass sie<br />

weder durch den Zeitaufwand noch durch den Schwierigkeitsgrad der Übungen überfordert<br />

werden dürfen.<br />

Für weitere Anregungen zur pädagogisch orientierten elterlich-präventiven <strong>Intervention</strong> wird<br />

auf die Werke der Autoren Irene Klöck und Caroline Schorer, Charmaine Liebertz, Armin<br />

Sohns, Matthias Paul Krause, Walter Straßmeier, Alexandra Braunmiller, Karin Grether, Mar-<br />

tin Thurmair und Monika Naggl verwiesen.<br />

Im Folgenden sollen Ansätze und Möglichkeiten elterlicher Frühförderung durch das Material<br />

und das Konzept Maria Montessoris sowie durch die AFS-Methode zur Prävention von legas-<br />

theniebedingten Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb diskutiert werden.<br />

9.2 Wie können Eltern zur Prävention von legastheniebedingten<br />

Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb <strong>bei</strong>tragen?<br />

Im Vorschulalter sollten alle Sinne (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 41ff.), etwa durch Seh- und<br />

Hörspiele, musikalisch rhythmische Erziehung, bildnerische Gestaltung und Werken, zur<br />

Entwicklung einer bewussteren Wahrnehmung gefördert werden. Hierzu trägt auch die Schu-<br />

lung der Sinne besonders im Bereich der Mengenerfassung und im Bereich der Berührung<br />

<strong>bei</strong>. „Mit Sand, Wasser und Gefäßen zu hantieren“ sowie die Vorbereitung auf die Fertigkeit,<br />

Schreibgeräte zu halten, „durch das ausgiebige Befassen <strong>mit</strong> Ton oder anderen Knetmassen“<br />

(a.a.O., S. 42) sollte den <strong>Kindern</strong> ermöglicht werden, da diese interaktive Wahrnehmungsför-<br />

derung eine wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> die Denkförderung ist und den Schriftspracherwerb<br />

erleichtert. Demzufolge besteht „zwischen der Sinnesschulung und den motorischen Aktivitä-<br />

ten des Kindes“ (ebd.) ein relevanter Zusammenhang.<br />

In der Schule werden das Hören und Sehen überbeansprucht, wohingegen das Fühlen und<br />

Tasten <strong>mit</strong> Haut und Muskeln relativ selten gebraucht wird. Infolgedessen bleibt die Koordi-<br />

nation der Bewegungen oft unterentwickelt, was sich höchstwahrscheinlich auf die schuli-<br />

schen Leistungen auswirkt. Wurde vor dem Schuleintritt nicht genug Anreiz zur Entwicklung<br />

der sensorischen Integration gegeben, so kann hier <strong>mit</strong> Hilfe des von Montessori entwickelten<br />

Sinnesmaterials nachgear<strong>bei</strong>tet werden (vgl. Raapke 2001, S. 40). Das zentrale Thema der<br />

didaktischen Materialien Montessoris und da<strong>mit</strong> der gesamten Montessori-Pädagogik ist der<br />

Zusammenhang von Intelligenz und Bewegung, Körper und Geist, Kopf und Hand. Die sen-<br />

somotorischen Prozesse der taktilen Ebene spielen also eine zentrale Rolle in Montessoris<br />

pädagogisch-didaktischem Konzept (vgl. Hellwig 2007). Nach Ingeborg Milz sind die Prinzi-<br />

pien der Montessori-Pädagogik <strong>für</strong> legasthene Kinder von besonderer Bedeutung, da Montes-<br />

118


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

sori auf die Förderung der Sinne sowie der gesprochenen und geschriebenen Sprache einen<br />

besonderen Wert legte und eine Methode und Materialien erar<strong>bei</strong>tete, <strong>mit</strong> denen „besonders<br />

<strong>bei</strong> teilleistungsschwachen <strong>Kindern</strong> eine Grundlage <strong>für</strong> eine systematische Behandlung“<br />

(Milz 1997, S. 229) gegeben ist. Selbstverständlich fühlen sich nicht alle Kinder von der Ar-<br />

<strong>bei</strong>t nach Montessori angesprochen, weshalb auch kein Kind „dazu gezwungen“ werden soll-<br />

te. Durch die ständigen Misserfolge, die die legasthenen Kinder <strong>bei</strong>m Lesen- und Schreiben-<br />

lernen begleiten, entwickelt sich <strong>bei</strong> ihnen eine gewisse Abneigung dieses Prozesses. Sie ver-<br />

fügen zwar über eine normale, oft auch überdurchschnittliche Intelligenz, zeigen aber kein<br />

spontanes Interesse und verlangen eine ständige aktive Erregung ihrer Aufmerksamkeit. 151<br />

Deshalb müssen sie nach Montessoris Prinzipien zur Beobachtung, zum Vergleichen aufge-<br />

fordert und zur Tätigkeit ermuntert werden (vgl. Montessori 2001a, S. 198). Die Förderung<br />

durch das Montessori-Material und nach Montessori-Prinzipien soll <strong>bei</strong> legasthenen <strong>Kindern</strong><br />

u.a. auch die fehlende Lern- und Wissbegierde wecken, wo<strong>bei</strong> das Verhalten und der Lernstil<br />

in einer geeigneten Umgebung genau beobachtet und jeder Schritt analysiert werden soll. Erst<br />

wenn das Kind den zu bear<strong>bei</strong>tenden Stoff aufgenommen und richtig erkannt hat, sollten wei-<br />

tere Trainingsschritte unternommen werden. Da<strong>bei</strong> ist nicht das Lernvorgehen, wie es im üb-<br />

lichen schulischen Unterricht praktiziert wird, gemeint, da es sich um eine außerschulische<br />

Förderung der kognitiven, sensorischen und motorischen Fähigkeiten des Kindes in einer vor-<br />

bereiteten Umgebung handelt. Durch das ständige Ver<strong>mit</strong>teln zwischen Material und Kind<br />

werden Entwicklungsspielräume eröffnet, da<strong>mit</strong> das Kind sich entfalten kann (vgl. Montessori<br />

2002, S. 129), da sich nur so „die Betonung der motorischen und sensorischen Fähigkeiten<br />

der Montessori-Pädagogik positiv aus[wirkt]. Sie liefert dem Erzieher [<strong>Legasthenie</strong>trainer]<br />

Anhaltspunkte <strong>für</strong> die Beobachtung. Die konzentrierte Tätigkeit, vom Kind […] direkt vollzo-<br />

gen, von dem Erzieher […] reflektiert beobachtet“ (Oy 1996, S. 14), ist ein Weg <strong>für</strong> die Be-<br />

wältigung der Schwierigkeiten eines legasthenen Kindes.<br />

Gerade aufgrund der häufig zusätzlich vorliegenden Konzentrationsstörung <strong>bei</strong> legasthenen<br />

<strong>Kindern</strong> sind die Elemente der vorbereiteten Umgebung und der Stille von besonderer Bedeu-<br />

tung. Bei der Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> dem Sinnesmaterial geht es Montessori, die sich viele Jahre <strong>mit</strong> der<br />

Förderung der Sinneswahrnehmung beschäftigte sowie zahlreiche Materialien und Vorge-<br />

hensweisen zu diesem Zweck entwickelt hat, um die gezielte Förderung einer differenzierten<br />

Verar<strong>bei</strong>tung. Diese differenzierte Wahrnehmung soll durch das Ordnen der erworbenen Ein-<br />

drücke und das Unterscheiden zwischen Wesentlichem und Zufälligem angeregt werden, um<br />

151 Eine Polarisation der Aufmerksamkeit lässt sich <strong>bei</strong>m Legastheniker kaum feststellen.<br />

119


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

den Erwerb von Konzept- und Begriffsbildung und die Aufdeckung von Beeinträchtigungen<br />

der Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung zu einem Zeitpunkt, in dem eine gezielte Förderung noch<br />

Aussicht auf Erfolg haben kann, zu ermöglichen (vgl. Milz 1999, S. 126). Betrachtet man die<br />

Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> dem Entwicklungs- bzw. Sinnesmaterial Montessoris unter neuropsychologischem<br />

Gesichtspunkt, bekommt sie einen neuen Stellenwert und eine aktuelle Bedeutung <strong>für</strong> die<br />

heilpädagogische Praxis im Bereich der Frühförderung, insbesondere in Kindergarten, Vor-<br />

schule und Schule, aber auch <strong>für</strong> häusliche Frühförderung legasthener Kinder. „Mit der Sin-<br />

nesausbildung muß in der formativen Periode begonnen werden, wenn wir sie später durch<br />

Erziehung <strong>für</strong> jede besondere Form von Bildung vervollkommnen und verwerten wollen. Des-<br />

halb soll die Sinnesausbildung im kindlichen Alter methodisch beginnen und dann während<br />

der Periode des Unterrichts fortgeführt werden, dessen Aufgabe es ist, den einzelnen auf das<br />

praktische Leben in der Umwelt vorzubereiten“ (Montessori 1987, S. 164). Methodisches<br />

Vorgehen bedeutet in diesem Zusammenhang: die Förderung der sensorischen und motori-<br />

schen Entwicklung durch das von Montessori erar<strong>bei</strong>tete Material und auf die von ihr emp-<br />

fohlene Art und Weise durch gezielte Angebote. Zur Förderung und Unterstützung der Wahr-<br />

nehmungsentwicklung des Legasthenikers eignet sich insbesondere das Kinderhaus- und Vor-<br />

schulmaterial, das von Montessori als „Schlüssel zur Umwelt“ bezeichnet wurde (vgl. Mon-<br />

tessori 1985; von Oy, 1996, S. 16). Die Materialien können je nach Schwerpunkt der Teilleis-<br />

tungsstörung eingesetzt werden und dienen gleichermaßen der Sprach-, Lese- und Recht-<br />

schreibförderung. Da sich die äußeren Reize zur Erziehung des Kindes in dessen Umgebung<br />

befinden, muss diese so gestaltet sein, dass sie alles enthält, was dem Reifegrad des Kindes<br />

angepasst ist und die Entwicklung fördern kann. Demzufolge gehören gezielte Angebote und<br />

Anreize zum individuellen und sozialen Lernen zu einer vorbereiteten Umgebung. Es wurde<br />

mehrfach darauf hingewiesen, dass die Entwicklung eines Kindes Zeit und Raum zur Entfal-<br />

tung der inneren Kräfte benötigt. Wird davon ausgegangen, dass Entwicklung durch biologi-<br />

sches Potential, die genetische Veranlagung und die Interaktion <strong>mit</strong> der Umwelt bestimmt<br />

wird, wird deutlich, wie wichtig der Einfluss der Umgebung <strong>für</strong> das Kind ist. Zur vorbereite-<br />

ten Umgebung gehören vor allem auch die Erwachsenen, die Eltern und Erzieher des Kindes<br />

(vgl. Milz 1999, S. 189). Da<strong>mit</strong> bekommt der Begriff „Umgebung“ einen weiten Rahmen, der<br />

die Pädagogen vorrangig <strong>mit</strong> einbezieht und hohe Anforderungen an sie stellt. In dieser ent-<br />

sprechend „reiz-voll“ gestalteten Umgebung, deren Reize jedoch begrenzt angeboten werden,<br />

erfolgt die Förderung der Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung durch Tätigkeiten und Handlungen. Es<br />

geht darum, Bewegung, Sprache, die Wahrnehmungsbereiche und die höheren kognitiven<br />

Funktionen im Entwicklungszusammenhang zu fördern. Wichtige Voraussetzungen da<strong>für</strong><br />

sind das Verständnis und die Zusammenar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> Eltern. Das Verständnis der Bezugsperson,<br />

120


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

möglicherweise unter Einbeziehung verschiedener diagnostischer Ebenen, und der beteiligten<br />

Pädagogen <strong>für</strong> die Situation und die besonderen Bedürfnisse des jeweiligen Kindes ist da<strong>bei</strong><br />

Voraussetzung <strong>für</strong> eine elterliche, häusliche Förderung (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller<br />

2008a, S. 133).<br />

Bei Montessori geht es immer um die Förderung der Entwicklung, die besonders die Aufgabe<br />

der Eltern und Vorschulpädagogen ist. Da<strong>für</strong> sind insbesondere die Übungen des praktischen<br />

Lebens (Holtstiege 2009, S. 94f.) nach Montessori geeignet. Die verschiedenen Bereiche, die<br />

unter dem Oberbegriff Übungen des praktischen Lebens zusammengefasst sind, geben dem<br />

Kind vielfältige Möglichkeiten, grundlegende Fähigkeiten im Rahmen von praktischem All-<br />

tagsgeschehen zu erwerben. Gegenstände des täglichen Gebrauchs sind kein Spielmaterial im<br />

herkömmlichen Sinn, sie geben dem Kind nach sorgfältiger und exakter Einführung die Mög-<br />

lichkeit, Erfahrungen und Erkenntnisse zur Schulung der unterschiedlichen Wahrnehmungen,<br />

zum Training der Grob- und Feinmotorik, zum Erwerb eines großen Wortschatzes, zum Er-<br />

kennen mathematischer Grundeinheiten sowie zum gezielten Handeln zu sammeln und ver-<br />

helfen ihm da<strong>mit</strong> zu einem kleinen Stückchen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit (vgl.<br />

Anderlik 1996, S. 125). Diese Grundfähigkeiten sind die Voraussetzung <strong>für</strong> die sog. „höheren<br />

psychischen Funktionen“ (vgl. Luria 1992; vgl. auch Abb. 2), wo<strong>mit</strong> kognitive Leistungen,<br />

bspw. auch Schulleistungen, gemeint sind. Diese höheren psychischen Funktionen setzen zu-<br />

nächst zu erlernende elementare Verar<strong>bei</strong>tungsprozesse voraus, wozu es vielfältiger Anregung<br />

bedarf. Diese Anregungen bieten die Entwicklungs- bzw. Sinnesmaterialien Montessoris.<br />

Voraussetzung <strong>für</strong> eine Übung des praktischen Lebens in dieser Form und <strong>für</strong> die Vertiefung<br />

einer konkret erfahrenen Handlung ist allerdings, dass die Umgebung da<strong>für</strong> entsprechend vor-<br />

bereitet ist. Sowohl <strong>für</strong> den Elternteil als auch <strong>für</strong> das Kind ist es wichtig, den Verlauf des<br />

Vorgehens zu strukturieren. Die Serialität muss deutlich erfahrbar sein (vgl. Milz 1999, S.<br />

102). So kann etwa die Tätigkeit des Herstellens eines Zitronensaftgetränkes „unter heilpäda-<br />

gogischem Aspekt zur Förderung unterschiedlicher Entwicklungsstufen und in verschiedenen<br />

Erfahrungsbereichen hilfreich sein (Milz 1999, S. 103), indem sie die Sensomotorik, die Mo-<br />

torik, die Sprachbenutzung sowie eventuell soziales Miteinander fördert. Es sollte immer um<br />

die Erfahrungen gehen, die das Kind konkret macht und zu denen es die Anregung aus der<br />

vorbereiteten Umgebung bekommt. Es ist wichtig zu bedenken, dass viele Kinder in ihrer<br />

häuslichen Umgebung wenige Möglichkeiten <strong>für</strong> lebenspraktische Selbsterfahrungen haben,<br />

da ihnen zu oft Entscheidungen abgenommen und Lösungswege vorgegeben werden. Je nach<br />

Alter des Kindes können sich Aufgaben zur Erweiterung des Wortschatzes, zur Sprachpflege,<br />

zur Wortlehre und zur Begriffsbestimmung anschließen, solche können etwa Wortkästchen<br />

<strong>mit</strong> Wörtern der verschiedenen Wortarten sein.<br />

121


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

Wie alle Tätigkeiten in der Montessori-Pädagogik dienen auch die Übungen des praktischen<br />

Lebens zur Förderung der Entwicklung. In seinem Werk „Maria Montessori. Leben und<br />

Werk“ hat E. M. Standing, ein langjähriger pädagogischer Wegbegleiter Montessoris, ihre<br />

pädagogischen Grundsätze dargestellt. Nach Standing besteht die Hilfe darin, dass „in der<br />

vorbereiteten Umgebung ‚Anreize zum Tätigsein‘ angeboten werden, die eine spezielle Ant-<br />

wort auf eben die sensitive Periode des Kindes geben, die es gerade durchläuft. Neben dem<br />

intensiven Interesse an ‚synthetischen (aufbauenden, <strong>mit</strong>einander verbundenen) Bewegungen‘<br />

eignet dem Kind zugleich die besondere Fähigkeit, sie zu fixieren, sie sich zur Gewohnheit zu<br />

machen, und zwar <strong>mit</strong> einer Leichtigkeit und Spontaneität, die niemals wiederkehren“ (Stan-<br />

ding 1959, S. 125). Beispiele <strong>für</strong> Tätigkeiten sind folgende: Gegenstände nach deren Ge-<br />

brauch wegräumen, Staub wischen, Gegenstände abwischen, Tisch decken und abräumen,<br />

Fußboden säubern, Geschirr spülen, Tier- und Pflanzenpflege sowie Tätigkeiten, die sich im<br />

Zusammenhang <strong>mit</strong> der äußeren Umgebung anbieten, wie etwa Blätter zusammenrechen oder<br />

Unkraut jäten. Im Wesentlichen handelt es sich da<strong>bei</strong> um Tätigkeiten, wie sie in Haus und<br />

Garten vorkommen, wo<strong>bei</strong> das Kind den Zusammenhang von Ursache und Wirkung erfährt<br />

und erlebt. Die Sorge <strong>für</strong> die Umgebung kann Verantwortungsgefühl und Ordnungssinn ent-<br />

wickeln. Im Umgang <strong>mit</strong> Lappen und Besen macht das Kind räumliche Erfahrungen, durch<br />

die besonders legasthene Kinder den Umgang <strong>mit</strong> Begriffen, die Beziehungen definieren und<br />

den Raum strukturieren 152 , lernen. So kann einer Raumlagelabilität oder einer Seitigkeitsano-<br />

malie schon früh gegengear<strong>bei</strong>tet werden. Störungen im Bereich der Raumlage-Orientierung<br />

stehen häufig in Verbindung <strong>mit</strong> Störungen des Körperschemas, vor allem <strong>mit</strong> unausgeprägter<br />

Seitigkeit. <strong>Kindern</strong>, die eine Figur-Grund- und Raumlage-Wahrnehmungsstörung haben, so-<br />

dass sie ähnlich aussehende Buchstaben verwechseln oder oft gar nicht voneinander unter-<br />

scheiden können 153 , kann durch Förderung des Tastsinns <strong>mit</strong> Montessori-Sandpapierbuch-<br />

staben geholfen werden. Zur vorschulischen Förderung kann <strong>mit</strong> Übungen <strong>mit</strong> verschiedenen<br />

geometrischen Figuren aus Sandpapier und anderen Stoffen trainiert werden. Quadrate, Krei-<br />

se, Dreiecke u.Ä., in verschiedenen Größen und Positionen in den Tastkasten gelegt, müssen<br />

blind ertastet und erkannt werden. Hier<strong>bei</strong> sollen sie vom Kind genau erkannt und nicht <strong>mit</strong><br />

152 Dazu zählen Begriffe wie: oben, unten, hinten, vorne, zwischen, neben, innen und außen.<br />

153 Später in der Schule wird auf dreierlei Beeinträchtigungen kaum geachtet: Kinder, die <strong>mit</strong> der Raumlageverar<strong>bei</strong>tung<br />

Probleme haben, werden u.U. Schwierigkeiten <strong>mit</strong> Buchstaben- und Zahlenvertauschungen und Verdrehungen<br />

bekommen, z.B. <strong>bei</strong> /, /, /, /, /, /, auch <strong>mit</strong> und<br />

und <strong>mit</strong> den Ziffern 6/9. Sie werden als „typische“ Legastheniker in Förderkursen behandelt, oft nur <strong>mit</strong><br />

geringem Erfolg, weil die Ursachen nicht alleine im kognitiven Bereich zu suchen sind, sondern auch im körperlichen.<br />

Das Körperschema ist unzureichend entwickelt. Manche dieser Kinder kommen in die Sonderschule,<br />

obwohl sie (mindestens) durchschnittlich intelligent sind. Sie quälen sich Jahr <strong>für</strong> Jahr <strong>mit</strong> dem Gefühl, dumm zu<br />

sein.<br />

122


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

ähnlichen Formen verwechselt werden. Hat das Kind die Formkonstanz dieser Figuren wahr-<br />

genommen, wird <strong>mit</strong> ähnlich aussehenden Buchstaben, wie „p“/„q“, „W“/„M“, „u“/„n“,<br />

„b“/„d“, die sich nur bzgl. der Raumlage unterscheiden, genauso verfahren, sofern das Kind<br />

die Buchstaben-Laut-Zuordnung beherrscht 154 . „Unsere Hand, die taktil-kinästhetische Wahr-<br />

nehmung, hat uns im Laufe unserer Entwicklung gelehrt. So erkennen wir im Allgemeinen<br />

auch unter perspektivischer Veränderung die eigentliche Form, sie ist <strong>für</strong> uns konstant“ (Milz<br />

1997, S. 123). So wird durch das Trainieren der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung der<br />

Hand die Buchstabengestalt oder die Buchstabenfolge über das Muskelgedächtnis gespeichert<br />

und kann auf diesem Wege behalten, vorgestellt und wieder abgerufen werden.<br />

Die von Montessori da<strong>für</strong> vorgesehenen Übungen zur Entwicklung von Bewegung und Ge-<br />

schicklichkeit betreffen vor allem die Förderung des Gleichgewichts und da<strong>mit</strong> grundlegende<br />

neuropsychologische Funktionen, die an der Wahrnehmung des eigenen Körpers beteiligt<br />

sind. Es ist nicht nur die Geschicklichkeit 155 (Koordination), die gefördert wird, sondern es<br />

werden auch Beziehungen zu Gegenständen, Tätigkeiten und Personen hergestellt. Diese Er-<br />

fahrungen des In-Beziehung-Setzens können unter psychoanalytischer Sichtweise auch als<br />

Erwerb von Objektbeziehungen betrachtet werden. Bei der Koordination handelt es sich um<br />

das Zusammenspiel, die Integration von taktil-kinästhetischen Reizen, die im Gehirn verar<strong>bei</strong>-<br />

tet werden. Nach Katz werden durch die tastende Hand genaue Vorstellungen über die Welt<br />

ver<strong>mit</strong>telt. Demnach zieht nach seiner Ansicht die Welt als Tastvorstellung durch die Hand<br />

ins Bewusstsein ein, da der Mensch durch das Tasten über die taktilen Eigenschaften der Din-<br />

ge informiert wird. Die Tastvorstellungen, die durch Berührungsempfindungen entstehen,<br />

werden im Gedächtnis gespeichert. Katz spricht hier<strong>bei</strong> vom „Gedächtnistasten“ (vgl. Katz<br />

1989). Beim Tasten werden Hypothesen gebildet, Eindrücke analysiert, korrigiert, wieder<br />

aufgenommen und zu Bildern vereint (vgl. Holtstiege 2001, S. 11). Die Hand ist demnach das<br />

eigentliche Tastorgan, da<strong>bei</strong> sind Fingerspitzen die tastempfindlichsten Körperteile. Je besser<br />

und differenzierter diese Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung gelingt, umso präziser können auch die<br />

Bewegungen ausgeführt werden. Diese Präzision von Bewegungen, besonders die Feinmoto-<br />

rik betreffend, ist von großer Bedeutung <strong>für</strong> den kindlichen Schriftspracherwerb. Die Wahr-<br />

nehmung des eigenen Körpers, das Bewusstwerden einzelner Körperteile und deren Stellung<br />

154 So legt man die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge nach und lässt sie <strong>bei</strong> geschlossenen Augen <strong>mit</strong> den<br />

Fingerspitzen, <strong>mit</strong> dem Zeige- und Mittelfinger nachfahren, erkennen und benennen. Dann werden die<br />

Buchstaben gemischt und das Kind versucht, sie zu ertasten und zu benennen. Schwierigkeiten bereitende<br />

Buchstaben werden aussortiert. Im weiteren Verlauf wird ein Buchstabe vor das Kind gelegt und <strong>mit</strong> <strong>bei</strong>den<br />

Schreibfingern nachgefahren. Dann soll dieser unter die anderen gemischte Buchstabe vom Kind gefunden und<br />

erkannt werden.<br />

155 Montessori spricht von der Anmut der Bewegung, die durch die Übungen des praktischen Lebens gefördert<br />

werde.<br />

123


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

zueinander sind Voraussetzung <strong>für</strong> die extrakorporale Raumwahrnehmung. Da<strong>bei</strong> kann es<br />

sich um den ganz nahen Raum, wie z.B. das Heft und die Linien, auf denen das Kind schreibt,<br />

oder auch um den erweiterten Raum, in dem es sich orientieren muss, handeln.<br />

Die Übungen des praktischen Lebens betrachtet Montessori als eine regelrechte „Gymnastik“<br />

(Montessori 1987, S. 165), durch die alle Bewegungen verfeinert werden und wozu die Um-<br />

gebung den Anlass gibt. Neuropsychologisch betrachtet ist diese Verfeinerung der Bewegung<br />

bereits ein Entwicklungsprozess, an dem verschiedene Empfindungen und Reaktionen betei-<br />

ligt sind (vgl. Milz 1999, S. 97). Sie ermöglichen die Eigenwahrnehmung des Menschen, an<br />

der wiederum die Kinästhesie beteiligt ist. Der Schulung des Tastsinns widmet Montessori<br />

viel Aufmerksamkeit, weshalb sie hier<strong>für</strong> ihre ins Detail gehenden Übungsvorschriften gibt<br />

(vgl. Katz 1989), indem sie empfiehlt, dem Kind das Berühren und Betasten einer Oberfläche<br />

<strong>bei</strong>zubringen. Da<strong>bei</strong> bewegt sich die Hand um den Gegenstand herum, wodurch der „Gegen-<br />

stand konkreter und genauer wahrnehmbar“ (Montessori 2002, S. 129, 132) wird. So wird<br />

durch das Hinzukommen des Muskelsinns die Speicherung möglichst vieler Eindrücke im<br />

Muskelgedächtnis ermöglicht. Zu diesem Zweck hat Montessori eine Sammlung von Tastma-<br />

terialien und Übungen entwickelt, die das Kind befähigen, verschiedene Oberflächenstruktu-<br />

ren zu erkennen und so<strong>mit</strong> den Tastsinn auszubauen. Zu diesen tastsinnfördernden und so<strong>mit</strong><br />

auch tastgedächtnisfördernden Materialien sind die geometrische Kommode oder verschiede-<br />

ne Stoffe und Sandpapierbuchstaben zu zählen. Dieses Material sollte die Vorschulkinder auf<br />

den Schriftspracherwerb vorbereiten, indem die dazu notwendige Feinmotorik und das ge-<br />

nannte Muskelgedächtnis trainiert werden. Auch zur Förderung legasthener Kinder kann es<br />

eingesetzt werden, da die <strong>Legasthenie</strong> häufig in Kombination <strong>mit</strong> einer beeinträchtigten Fein-<br />

bzw. Grobmotorik sowie einer reduzierten Merkfähigkeit vorzufinden ist (vgl. Schulze-<br />

Frieling 2003a, S. 118.). Für die Bewältigung der Lese-Rechtschreibstörungen ist u.a. die<br />

Förderung des Tastsinns die Voraussetzung. Vom Tasten gewinnen die legasthenen Kinder<br />

über das Muskelgedächtnis neue Erkenntnisse, indem sie die „Beschaffenheit der Umwelt <strong>mit</strong><br />

den Händen kennenlernen“ (Kükelhaus/Zur Lippe 1982, S. 119). Um das Tastgefühl zu ent-<br />

wickeln, werden Materialien <strong>mit</strong> verschiedenen Eigenschaften wie rau und glatt, hart und<br />

weich, starr und elastisch angeboten, wo<strong>bei</strong> es sehr wichtig ist, stufenweise vorzugehen 156 , da<br />

sich <strong>bei</strong>m Zugreifen nur Wahrnehmungen verschiedenen Drucks und verschiedener Grade<br />

von Warm und Kalt ertasten lassen. „Erst im Betasten, d.h. im leichten Hingleiten über die<br />

Flächen und im vorsichtigen Umfahren der Gegenstände werden besondere Qualitäten,<br />

156 Am Anfang soll an der Entwicklung des Fingerspitzengefühls gear<strong>bei</strong>tet werden, bevor man zum Zugreifen<br />

übergeht.<br />

124


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

Strukturen fühlbar“ (a.a.O., S. 119). Für die Förderung des Fingerspitzengefühls sind Übun-<br />

gen <strong>mit</strong> den Perlen einsetzbar, die <strong>mit</strong> den Fingern aufgefädelt werden, wo<strong>bei</strong>, beginnend <strong>mit</strong><br />

Daumen und Zeigefinger, immer nur zwei Finger benutzt werden. Ist <strong>mit</strong> jedem Finger eine<br />

Perle aufgefädelt worden, wird in umgekehrter Reihenfolge, beginnend <strong>mit</strong> dem kleinen Fin-<br />

ger, wieder zurückgefädelt. Aufgefädelt wird erst <strong>mit</strong> der rechten, dann <strong>mit</strong> der linken Hand,<br />

zu Beginn wird das Auffädeln <strong>mit</strong> den Augen verfolgt, nach einiger Zeit darf die Übung <strong>mit</strong><br />

geschlossenen Augen durchgeführt werden. Nach mehreren Trainingswiederholungen kann<br />

die Aufgabe erschwert werden 157 . Eine weitere Möglichkeit zur Förderung des Tastsinns bie-<br />

tet die Tastkiste. Zum Tasttraining <strong>mit</strong> verschiedenen Materialien gehören Täfelchen aus glat-<br />

tem Papier und Sandpapier, Pappkarton und Plastik, Holz, Schaumstoff und Metall, Seiden-<br />

und Wollstoffen. Es werden z.B. Haus- und Wildtiere aus Plastik betastet, erkannt und be-<br />

nannt. Das Kind sitzt vor dem Tisch und seine Hände befinden sich in einer „Tastkiste“. Ein<br />

Gegenstand wird vom Trainer hereingeschoben, bleibt aber <strong>für</strong> das Kind verdeckt. So wird die<br />

Konzentration durch die Hände auf das Fühlen gelenkt. Die Aufgabe besteht darin, die Mate-<br />

rialien <strong>mit</strong> den Fingerspitzen zu betasten, zu erkennen und zu benennen. So wird in der ersten<br />

Stufe die Assoziation von Sinneswahrnehmung 158 hergestellt. Taktil-kinästhetische Erfah-<br />

rung, also das Spüren, ist die Voraussetzung <strong>für</strong> Geschicklichkeit, denn „die Hand ist das Or-<br />

gan des Geistes“ (Montessori 1984, S. 137) und das „Kind baut sich auf durch das Werk sei-<br />

ner Hände“ (Montessori 1992a, S. 108). So verhilft differenzierte Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>-<br />

tung zu Sicherheit und Selbstvertrauen, zu Selbstbewusstsein und Selbstkontrolle und hat<br />

letztlich auch Auswirkungen auf die Entwicklung der Kognition (vgl. a.a.O.). Jedoch ist allein<br />

durch die Förderung des Tastsinns <strong>bei</strong> einem legasthenen Kind noch lange nicht das Lese-<br />

Rechtschreibproblem behoben. Um einen Erfolg zu erzielen, muss <strong>mit</strong> der gespeicherten tak-<br />

til-kinästhetischen Erfahrung eine Leistung der visuellen Information eng verbunden werden<br />

(vgl. Affolter 1975, S. 234). Andererseits aber wird eine Störung im taktil-kinästhetischen<br />

Sinnesbereich durch das Training des visuellen Bereichs kompensiert (vgl. Affolter 1977, S.<br />

210). Da die optische Differenzierungsfähigkeit die Voraussetzung <strong>für</strong> das Schreiben- und<br />

Lesenlernen ist, weil die Sinnentnahme aus einem Text ohne differenzierte Erfassung der<br />

Struktur der einzelnen Buchstaben unmöglich ist, ist das Training des visuellen Bereichs als<br />

besonders wichtig einzuschätzen. Demnach sind neben der phonologischen Bewusstheit und<br />

der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung die Koordination von Hand und Auge, die Figur-<br />

157 Das Kind soll z.B. verschiedenfarbige Reihen <strong>mit</strong> jeweils 8 Perlen und später 4 verschiedenfarbige Reihen<br />

<strong>mit</strong> jeweils 4 Perlen auffädeln. All diese Übungen sollten nach einigen Trainingsstunden auch <strong>mit</strong> geschlossenen<br />

Augen durchgeführt werden.<br />

158 In diesem Fall ist es der Tastsinn.<br />

125


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

Grund-Unterscheidung und da<strong>mit</strong> die visuelle Wahrnehmung zusätzlich erforderliche Teil-<br />

funktionen <strong>für</strong> das Erlernen des Lesens und Schreibens. Bei der Koordination von Hand und<br />

Auge handelt es sich um Fertigkeiten, die bereits ein komplexes Zusammenspiel visueller und<br />

motorischer Funktionen voraussetzen. Ist diese sensorisch-motorische Integration noch nicht<br />

oder unzureichend möglich oder ist die Reafferenz verlangsamt, so wirkt sich dies auf die<br />

Feinanpassung und Kraftdosierung aus, was wiederum zur Verlangsamung von Handlungsab-<br />

läufen und zu einem größeren Energieaufwand führt 159 . Wie <strong>bei</strong> den Übungen des praktischen<br />

Lebens sind es also zunächst die Handlungen, die Auge-Hand-Koordination, die taktil-<br />

kinästhetische Wahrnehmung, welche dem Kind die Erfahrungen ver<strong>mit</strong>telt, in welcher Rich-<br />

tung ein Objekt liegt, in welchem Abstand zu ihm selbst und in welchem Abstand zu einem<br />

anderen Objekt. Begriffe wie „vor“, „hinter“, „darüber“, „darunter“ u.v.m., aber auch Relatio-<br />

nen wie „größer“, „kleiner“, „mehr“ oder „weniger“ sind Prämissen <strong>für</strong> den Schriftspracher-<br />

werb. Auch die Fähigkeit zur Seriation wird dadurch bestimmt (vgl. Milz 1999). Abgesehen<br />

von den Schwierigkeiten, die es in der Rechtschreibung geben kann, weil die Beziehung der<br />

Buchstaben untereinander, ihre Reihenfolge im Wort, nicht erfasst und behalten werden kann,<br />

kann sich das auch auf das Sprachverständnis auswirken, wenn ein Kind Probleme im Verste-<br />

hen von Begriffen wie „gegenüber“, „zwischen“, „davor“ und „dahinter“ hat. Neben Missver-<br />

ständnissen <strong>bei</strong> Ar<strong>bei</strong>tsaufträgen zeigt sich das z.B. dann, wenn Geschichten nacherzählt wer-<br />

den sollen, da es hier<strong>bei</strong> vor allem um die zeitlichen Beziehungen geht und Zeit und Raum<br />

untrennbar <strong>mit</strong>einander verbunden sind (vgl. a.a.O.).<br />

Die Figur-Grund-Unterscheidung ist die Fähigkeit, eine Figur visuell aus ihrem Hintergrund<br />

herauszulösen, von ihm zu differenzieren, sie als getrennt von ihm zu erkennen. An diesem<br />

Prozess sind verschiedene Wahrnehmungsfunktionen beteiligt. Hier<strong>für</strong> muss vor allem die<br />

Fähigkeit der visuellen Erfassung einer geometrischen Gestalt entwickelt sein. Hier<strong>für</strong> bedarf<br />

es besonders des In-Beziehung-Setzens von Geraden, Winkeln und Kurven, des Analysierens<br />

und Abstrahierens (Milz 1999, S. 116). Wie ein Kind diese Erfahrungen macht, hängt auch<br />

von der Veranlagung zur Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung und von der jeweiligen Entwicklungs-<br />

phase, in der es sich befindet, ab. Bei Reifungsverzögerungen und <strong>bei</strong> frühkindlicher Hirn-<br />

schädigung kann möglicherweise auch die Fähigkeit zum Analysieren verzögert sein (vgl.<br />

Milz 1999, S. 117). Schließlich spielt auch die genetische Veranlagung zur Bevorzugung der<br />

einen oder anderen Hemisphäre eine Rolle. So gilt es immer, Kinder <strong>mit</strong> Problemen <strong>bei</strong>m<br />

159 Die Kinder werden später im Unterricht <strong>bei</strong>m Schreiben schneller ermüden als ihre Klassenkameraden,<br />

werden unaufmerksam und können sich nicht konzentrieren. Aufgrund dieses Aufmerksamkeitsdefizits kommt<br />

es zu einer Fehlerhäufung in schriftlichen Ar<strong>bei</strong>ten.<br />

126


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

Schriftspracherwerb auch hinsichtlich ihrer Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung zu überprüfen. Be-<br />

einträchtigungen der Figur-Grund-Unterscheidung können sich auf vielfältige Weise auf das<br />

spätere schulische Lernen auswirken und sich gegenseitig bedingen. Sie können das Erkennen<br />

von Buchstabengestalten im Wort, auf einer Heft- oder Buchseite, die Konzentration 160 , die<br />

Aufmerksamkeit sowie das Lesen und Schreiben beeinträchtigen 161 . Dementsprechend kön-<br />

nen Beeinträchtigungen vielfältige und unterschiedliche Auswirkungen haben, je nachdem,<br />

welche Ursachen ihnen zugrunde liegen. Für die Förderung des optisch-visuellen Bereichs<br />

erar<strong>bei</strong>tete Montessori ein bis in die feinsten Details durchdachtes Material. Beim Training<br />

des visuellen Unterscheidungsvermögens kommen zum Erkennen der Dimensionen ein rosa<br />

Turm, eine braune Treppe und rote Stangen zum Einsatz, zum Erkennen der Farben Einsatz-<br />

zylinder und Farbtäfelchen sowie zum Erkennen der Figuren eine geometrische Kommode<br />

(vgl. Hammerer 1997, S. 128).<br />

Das Material zur Unterscheidung von Formen bietet neuropsychologisch betrachtet Hilfen<br />

und Anregungen zur Entwicklung einer differenzierten Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung, gleich-<br />

zeitig sieht Montessori in diesen Materialien eine Möglichkeit zur Vorbereitung des mathema-<br />

tischen Denkens, wo<strong>für</strong> sensorische und motorische Erfahrungen erforderlich sind. Aufgrund<br />

dieser mathematischen Schwerpunktsetzung wird nicht weiter auf diese Materialienkategorie<br />

eingegangen.<br />

Neben den Übungen des praktischen Lebens dient zur Vorbereitung auf den Schrifterwerb im<br />

genannten Kontext das Training der Schreibmotorik z.B. durch metallene Einsatzfiguren. Die-<br />

ses Material besteht aus zehn quadratischen rosa Metallplatten <strong>mit</strong> herausnehmbaren blauen<br />

geometrischen Einsätzen 162 . Wie auch die Einsatzzylinder haben sie einen Knopf zum Anfas-<br />

sen. Vor allem durch das Ausmalen der Figurenumrisse übt das Kind die <strong>für</strong> das Schreiben<br />

notwendige Feinmotorik. Für viele andere Sinnesfunktionen, wie etwa den Farbensinn, Tast-<br />

sinn, Gewichtssinn und den Gehörsinn, gibt es ebenfalls Materialien, die nach den gleichen<br />

Prinzipien aufgebaut sind und in Verbindung <strong>mit</strong> begrifflichen Übungen stehen. Materialien<br />

zum Training dieser <strong>für</strong> den Schriftspracherwerb bedeutenden Vorläuferfertigkeiten sind das<br />

Material zur Unterscheidung elementarer Sinnesempfindungen und das Material zur Unter-<br />

scheidung von Dimensionen. Das Material zur Unterscheidung elementarer Sinnesempfin-<br />

160 Diese erfordert nämlich die Zentrierung der Wahrnehmung.<br />

161 Hier<strong>bei</strong> wird neben dem Erfassen der Buchstabengestalt auch die Figur-Grund-Wahrnehmung beansprucht.<br />

Ob es sich um einzelne Buchstaben oder um Silben handelt, immer ist die Figur-Grund-Wahrnehmung beteiligt.<br />

Wenn diese nicht gut genug ausgebildet ist, kann sich das auf den Leseprozess und die Rechtschreibung<br />

auswirken. Sofern die verschiedenartigen Auswirkungen von Beeinträchtigungen visueller Wahrnehmung<br />

bekannt sind, kann <strong>bei</strong> manchen <strong>Kindern</strong> der Schwerpunkt der Störung anhand von Beobachtungen und<br />

Testergebnissen herausgefunden werden (vgl. Milz 1999, S. 118).<br />

162 Diese sind: Quadrat, Rechteck, Kreis, Ellipse, Trapez, Fünfeck, Kreisbogendreieck, Dreieck und Vierpass.<br />

127


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

dungen impliziert neben Sinneseindrücken von Gewicht, Wärme und Farbe auch das Riechen,<br />

Schmecken, Tasten, Hören und Sehen und solche, die durch Oberflächen- und Tiefensensibi-<br />

lität ver<strong>mit</strong>telt werden. Betrachtet man die Entwicklung eines Kindes von der Geburt an bis<br />

zum Schuleintritt, so setzt der Umgang <strong>mit</strong> den Materialien zur Unterscheidung von Dimensi-<br />

onen und Formen bereits Fähigkeiten voraus, die nur durch die Verar<strong>bei</strong>tung unterschiedli-<br />

cher Sinnesempfindungen auf intermodaler Ebene möglich sind. Es findet also sensorische<br />

Integration statt, durch die einzelne Empfindungen zu einem ganzheitlichen Eindruck verar-<br />

<strong>bei</strong>tet werden. Dieser Prozess, die sog. intermodale Verar<strong>bei</strong>tung, geschieht <strong>für</strong> taktile, kinäs-<br />

thetische, visuelle und auditive Informationen in den sich überlappenden Feldern der Gehirn-<br />

rinde (vgl. Milz 1999). Differenzierte Wahrnehmung beginnt jedoch bereits innerhalb jedes<br />

einzelnen Sinnesbereiches, die sich immer mehr verfeinernde Analyse eingehender Reize be-<br />

treffend. Intramodale Verar<strong>bei</strong>tung im Bereich einer Sinnesmodalität ist an der intermodalen<br />

Verar<strong>bei</strong>tung beteiligt, was möglicherweise der Grund da<strong>für</strong> ist, dass Montessori <strong>bei</strong> dem von<br />

ihr erar<strong>bei</strong>teten Entwicklungsmaterial auch die Förderung elementarer Sinnesbereiche berück-<br />

sichtigte, denn differenziertes Wahrnehmen betrifft die Entwicklung aller o.g. Sinnesbereiche.<br />

Montessori hat darauf geachtet, dass <strong>bei</strong>m Umgang <strong>mit</strong> folgenden Materialien die Wahrneh-<br />

mung auf jeweils einen Sinnesbereich konzentriert ist (s. Kapitel 8.1.1). Zum Material zur<br />

Unterscheidung von Dimensionen gehören: der rosa Turm, die braune Treppe, die roten Stan-<br />

gen, die Einsatzzylinder sowie die farbigen Zylinder 163 (vgl. von Oy 1996). Die Aufgaben zur<br />

Unterscheidung der Dimensionen fördern die Differenzierung sensorischer und motorischer,<br />

visueller und in Verbindung <strong>mit</strong> der Sprache auch auditiver Eindrücke. Die Ar<strong>bei</strong>tsschritte<br />

laufen jeweils nach der bereits erwähnten Dreistufenlektion ab.<br />

Zum rosa Turm gehören zehn rosa lackierte Holzwürfel <strong>mit</strong> einer Kantenlänge von 1 x 1 x 1<br />

cm bis 10 x 10 x 10 cm. Das direkte Ziel des Materials rosa Turm ist die Begriffsbildung<br />

„groß/klein“. Das indirekte Ziel besteht aus der Entwicklung der Motorik, der Koordination<br />

der Bewegung und der Bildung von Ordnungsstrukturen, bezüglich der Wortschatzerweite-<br />

rung sollen die Adjektive „groß/klein“ zusammen <strong>mit</strong> dem Komparativ und Superlativ ver-<br />

knüpft werden. Beim Umgang <strong>mit</strong> dem Material rosa Turm wird die unterschiedliche Größe<br />

der einzelnen Würfel propriozeptiv 164 , taktil-kinästhetisch und visuell empfunden. Im Allge-<br />

meinen ist die Differenzierung angesprochen, insbesondere die Differenzierung einer Figur<br />

163 Zu den folgenden detaillierten Ausführungen des Sinnesmaterials vgl. Oy 1996 und u.a. auch Milz 1999.<br />

164 Das Wort „Propriozeption“ kommt aus dem Lateinischen (proprius = „eigen“, recipere = „aufnehmen“), übersetzt<br />

heißt das Eigenwahrnehmung. Das propriozeptive System ist kein eindeutig lokalisierbares Sinnesorgan.<br />

Die Rezeptoren der propriozeptiven Wahrnehmung heißen Propriozeptoren und liegen über den ganzen Körper<br />

verteilt z.B. in den Sehnen, Bändern, Muskeln und Gelenkkapseln.<br />

128


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

vor ihrem Hintergrund, die Figur-Grund-Differenzierung sowie das Differenzieren von Grö-<br />

ßen. Die Materialeigenschaften werden erfahren und <strong>mit</strong> Hilfe der Sprache erfasst. Durch das<br />

taktile und kinästhetische Abtasten <strong>mit</strong> den Händen und durch das visuelle Abtasten <strong>mit</strong> den<br />

Augen wird die Unterbrechung einer Serie wahrgenommen. Wird die visuelle Wahrnehmung<br />

durch das Schließen der Augen verhindert, so konzentrieren sich die Empfindungen auf das<br />

Umgreifen und die dadurch empfundenen Reize. Insgesamt werden die Beziehungen der<br />

Elemente einer Serie zueinander erfahren. Gefördert wird die Verknüpfung von Vorstellungs-<br />

bild und Vorstellung: das Speichern einer Größenordnung als Vorstellungsbild, das Verglei-<br />

chen des visuellen Vorstellungsbildes <strong>mit</strong> den konkreten Gegenständen der gleichen Gruppe<br />

und die Schulung des Gedächtnisses. Außerdem werden erste Erfahrungen <strong>mit</strong> Schwerpunkt<br />

und Statik erworben. Während das Kind einzelne Würfel aufeinandersetzt, besteht die Mög-<br />

lichkeit zur Beobachtung, ob es bspw. <strong>bei</strong> der Bewegung der Hand einen leichten Tremor 165<br />

gibt, ob es die Hand zielgerichtet steuern kann und ob es aus der Menge der Würfel immer<br />

den richtigen findet. Diese Beobachtungen dienen in erster Linie als Voraussetzung <strong>für</strong> eine<br />

gezielte Förderung. Generell sollte <strong>bei</strong> der beobachtenden Beurteilung der Tätigkeit das Alter<br />

des Kindes berücksichtigt werden und es sollten keine voreiligen diagnostischen Schlüsse<br />

gezogen werden.<br />

Zum Material braune Treppe gehören 10 Holzprismen, die jeweils 20 cm lang und 1 x 1 cm<br />

bis 10 x 10 cm groß sind. Da<strong>mit</strong> schließt sich die braune Treppe dem rosa Turm systematisch<br />

an. Hier lernt das Kind die Unterscheidung von Größenverhältnissen und erweitert seine Ord-<br />

nungsstrukturen auf der Grundlage eines weiteren Materials. Das direkte Ziel des Materials<br />

braune Treppe ist die Begriffsbildung „dick/dünn“. Als indirekte Ziele sind die Entwicklung<br />

der Motorik, die Koordinierung der Bewegung und die Bildung von Ordnungsstrukturen zu<br />

betrachten. Zur Wortschatzerweiterung werden jeweils der Komparativ und der Superlativ<br />

trainiert. Zusätzlich kann die akustische Wahrnehmung <strong>mit</strong> einbezogen werden, indem bspw.<br />

Bälle verschiedenen Materials die Treppe hinuntergerollt werden. Beim Aufbau der Treppe<br />

werden Dicke und Beschaffenheit des Materials <strong>bei</strong>m Umgreifen der einzelnen Quader <strong>mit</strong><br />

den Händen taktil-kinästhetisch wahrgenommen. Es gibt die Möglichkeit, den rosa Turm und<br />

die braune Treppe zu kombinieren, da <strong>bei</strong>de Materialien an den Seiten die jeweils gleichen<br />

Maße haben 166 . Beim Umgang <strong>mit</strong> dem rosa Turm in Kombination <strong>mit</strong> der braunen Treppe<br />

werden das Vergleichen und Vorstellen beansprucht. Piaget (1975) geht davon aus, dass der<br />

Übergang von der Wahrnehmung zur anschaulichen Vorstellung bzw. zu einem Vorstellungs-<br />

165 Das ist ein Muskelzucken oder ein Zittern.<br />

166 Jeweils zwei Flächen der Treppe sind quadratisch und passen zu den Würfeln des rosa Turms.<br />

129


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

bild <strong>mit</strong> einer Übersetzung taktiler Erfahrungen ins Visuelle einhergeht (vgl. Piaget/Inhelder<br />

1975, auch 1990), wo<strong>mit</strong> das sog. Visualisieren trainiert wird. Zusätzlich werden durch die<br />

unterschiedlichen Ausmaße und Gewichte propriozeptive Reize im Gehirn gespeichert, sie<br />

führen über taktil-kinästhetische Eindrücke zu räumlichen Vorstellungen. Die Speicherung<br />

sensomotorischer Vorstellungen, also zunächst die Aufnahme sensorischer und motorischer<br />

Erfahrungen, um sie dann aus der Erinnerung handelnd zu reproduzieren, sind wichtige<br />

Übungen zur Festigung räumlicher Erfahrungen, räumlicher Vorstellung und räumlichen<br />

Denkens.<br />

Das Material der roten Stangen besteht aus zehn rot lackierten Holzstangen, die jeweils das<br />

Maß 2,5 x 2,5 cm haben, 10 cm bis 100 cm lang sind und sich gegenseitig ergänzen lassen.<br />

Das direkte Ziel dieses Materials ist die Begriffsbildung „lang/kurz“. Die Entwicklung der<br />

Motorik, die Koordinierung der Bewegung, die Bildung von Ordnungsstrukturen sowie die<br />

Vorbereitung auf die Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> den numerischen Stangen sind indirekte Ziele. Zur Wort-<br />

schatzerweiterung werden jeweils der Komparativ und der Superlativ trainiert. Im Umgang<br />

<strong>mit</strong> den roten Stangen werden gezielt Bereiche der visuellen Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung an-<br />

gesprochen. Es sind die Feinmotorik, die Auge-Hand-Koordination, die Figur-Grund-<br />

Differenzierung, die Längenkonstanz, die Raumlage und die Raumbeziehung, das Erkennen<br />

von Abstufungen sowie Gleichmäßigkeiten, die unter dem Aspekt neuropsychologischer Vo-<br />

raussetzungen zur Entwicklung des mathematischen Denkens, aber auch als Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> das Lesen- und Schreibenlernen anzusehen sind. Gleichzeitig werden die sprachliche Ver-<br />

ar<strong>bei</strong>tung und da<strong>mit</strong> das begriffliche Verständnis gefördert. Um räumliche Erfahrungen zu<br />

präzisieren, helfen Begriffe wie „lang“, „länger“, „am längsten“, „kurz“, „kürzer“, „am kür-<br />

zesten“. Sehen, Sprechen und Handeln in Kombination ermöglichen die mehrkanalige Verar-<br />

<strong>bei</strong>tung von Wahrgenommenem, was zu besserer Speicherung und Vorstellung führt.<br />

Die Einsatzzylinder bestehen aus vier Einsatz-Zylinderblöcken <strong>mit</strong> zehn unterschiedlichen<br />

Zylinderbohrungen und jeweils zehn dazugehörigen Einsatzzylindern. Ein Einsatzblock be-<br />

steht aus Einsätzen gleichen Durchmessers und zunehmender Höhe, einer aus Einsätzen zu-<br />

nehmenden Durchmessers und gleichbleibender Höhe, einer aus Einsätzen <strong>mit</strong> zunehmendem<br />

Durchmesser und zunehmender Höhe und einer aus Einsätzen <strong>mit</strong> abnehmendem Durchmes-<br />

ser und abnehmender Höhe. Das direkte Ziel dieses Materials besteht im Erkennen von Di-<br />

mensionsunterschieden <strong>bei</strong> gleichbleibender Form. Es werden Reihen nach vorgegebenen<br />

Ordnungsstrukturen gebildet, Farben sowie Dimensionsunterschiede werden wahrgenommen.<br />

Indirekte Ziele sind die Ausbildung der Feinmotorik der Schreibhand, Vorbereitung auf die<br />

Stifthaltung <strong>bei</strong>m Schreiben und die Bildung von Ordnungsstrukturen im Bereich der Dimen-<br />

sionen. Zur Wortschatzerweiterung werden die Adjektive „dick/dünn“, „hoch/niedrig“,<br />

130


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

„groß/klein“, „tief/flach“ <strong>mit</strong> dem Komparativ und Superlativ eingeführt und trainiert (vgl.<br />

von Oy 1996, S. 68). Hier<strong>bei</strong> wird eine Basis <strong>für</strong> das Erlernen der Rechtschreiblogik gelegt,<br />

da innerhalb einer Wortfamilie der Wortstamm meistens gleich geschrieben wird, und Gram-<br />

matik (Wortdurchgliederung, Wortart, Komparation) geübt. Der Umgang <strong>mit</strong> den verschieden<br />

dimensionierten Zylindern fördert besonders das visuelle und taktil-kinästhetische Unter-<br />

scheiden bzw. das differenzierte Erkennen von Eigenschaften, von abgestuften Reihenfolgen<br />

und von Relationen wie etwa Zusammengehörigkeit, von Gleichheiten und von Gegensätzen.<br />

Zusätzlich werden die Koordination von Auge und Hand, die Figur-Grund-Differenzierung,<br />

das Erkennen räumlicher Strukturen und der Sprachausdruck im Sinne des Gebrauchs von<br />

passenden Adjektiven und des Gebrauchs von Komparativ und Superlativ gefördert. Die Eins-<br />

zu-Eins-Zuordnung der Zylinder in die passenden Öffnungen bildet eine Vorbereitung zum<br />

späteren Abzählen. Durch die taktil-kinästhetische Rückmeldung <strong>bei</strong>m Einsetzen eines Zylin-<br />

ders in eine Öffnung geschieht eine Vorbereitung auf eine Leistung im mathematischen Be-<br />

reich. Zum Material der farbigen Zylinder gehören vier Aufbewahrungskästen <strong>mit</strong> verschie-<br />

denfarbigen Deckeln, die verschiedene Sätze Zylinder, insgesamt 40, enthalten. Die Farbe<br />

eines jeden Zylindersatzes hat eine besondere Bedeutung. So <strong>bei</strong>nhaltet der blaue Kasten Zy-<br />

linder gleicher Durchmesser und unterschiedliche Höhe, der rote Kasten <strong>bei</strong>nhaltet Zylinder<br />

unterschiedlichen Durchmessers und gleicher Höhe, der gelbe Kasten <strong>bei</strong>nhaltet Zylinder,<br />

deren Höhe und Durchmesser synchron kleiner werden, und der grüne Kasten <strong>bei</strong>nhaltet Zy-<br />

linder, deren Höhe und Durchmesser sich gegenläufig verändern. Das Erkennen und Verglei-<br />

chen nach Seriengesetzen bildet das direkte Ziel dieses Materials, während das indirekte Ziel<br />

das Bilden von Reihen nach selbst gefundenen oder vorgegebenen Ordnungskriterien und das<br />

Erkennen der Gesetze der Statik sind. Die Wortschatzerweiterung gleicht der der Einsatzzy-<br />

linder.<br />

Hier<strong>bei</strong> ist allein die visuelle Wahrnehmung angesprochen. Es gibt keine eindeutige sensomo-<br />

torische Fehlerkontrolle, was neuropsychologisch verstanden eine komplexe Leistung erfor-<br />

dert und wo<strong>für</strong> die bereits gemachten taktil-kinästhetischen Erfahrungen die Voraussetzung<br />

bilden. Da<strong>mit</strong> wird eine höhere Anforderung an die Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung des Kindes<br />

gestellt. Die farbigen Zylinder können übereinander angeordnet werden, wo<strong>mit</strong> die Serialität<br />

nicht nur in der horizontalen, sondern auch in der vertikalen Richtung trainiert wird. Zusätz-<br />

lich erweitern die Begriffe „unter“, „darüber“, „darunter“ den Wortschatz.<br />

Bei der Ar<strong>bei</strong>t <strong>mit</strong> den Farbtäfelchen wird <strong>bei</strong> jedem Training <strong>mit</strong> nur einer bestimmten Farbe<br />

gear<strong>bei</strong>tet. Sie sind <strong>für</strong> das Training von Vorschul- sowie Schulindern geeignet. Das Kind<br />

wird aufgefordert, die Farbtäfelchen nach Farbabstufungen zu sortieren, z.B. die hellgrünen,<br />

grünen, dunkelgrünen. Unter die Farbtäfelchen werden Kärtchen <strong>mit</strong> dem dazugehörigen Be-<br />

131


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

griff, in Druckschrift in derselben Farbe geschrieben, gelegt. Für Kinder, die Leseprobleme<br />

haben, werden die Farbtäfelchen und die Wortkärtchen gemischt. Das Kind muss sie richtig<br />

auslegen, zuordnen und benennen. Dann werden die farbig beschriebenen Kärtchen durch<br />

schwarz beschriftete ausgewechselt. Das Kind soll sich an das Wortbild erinnern und es dem<br />

entsprechenden Farbtäfelchen zuordnen. Beherrscht das Kind bereits das Lesen und Schrei-<br />

ben, so wird das Wort <strong>mit</strong> geschlossenen Augen noch einmal buchstabiert und dann in das<br />

Heft geschrieben. So wird die Beziehung vom abstrakten Wort „grün“ zum konkreten Far-<br />

benbild und zum Wortbild hergestellt. Genauso wird <strong>mit</strong> den anderen Farbabstufungen ver-<br />

fahren. Montessoris Farbtäfelchen bieten weitere Möglichkeiten, die optische Differenzierung<br />

und das optische Gedächtnis zu fördern und so<strong>mit</strong> gleichzeitig zum besseren Lesen und<br />

Schreiben <strong>bei</strong>zutragen, indem eine Reihe von Farbtäfelchen, die zu einer Farbe in verschiede-<br />

nen Farbabstufungen gehören, vor das Kind gelegt wird. Die <strong>bei</strong>den kontrastreichsten Täfel-<br />

chen werden dem Kind gezeigt und auf den Tisch gelegt. Das Kind vergleicht die Farbtäfel-<br />

chen <strong>mit</strong>einander und stuft sie gleichmäßig in eine Farbreihe ein. Danach werden die übrigen<br />

Täfelchen ihrer Schattierung entsprechend nacheinander so geordnet, dass eine abgestufte<br />

Farbreihe von hell bis dunkel entsteht (vgl. a.a.O., S. 66.). Die Übung wird mehrmals wieder-<br />

holt. Das Kind wird aufgefordert, die Farbabstufungen zu benennen, indem es auf ein entspre-<br />

chendes Kärtchen zeigt und da<strong>bei</strong> „hell, heller, am hellsten“, „dunkler als“ usw. ausspricht.<br />

Dann werden Kärtchen <strong>mit</strong> dem entsprechenden Begriff, die in derselben Farbschattierung<br />

beschriftet sind, unter die Farbtäfelchen gelegt, die Begriffe werden gelesen und buchstabiert.<br />

Mit geschlossenen Augen muss das Kind <strong>mit</strong> dem Zeigefinger der rechten Hand über das aus<br />

Sandpapierbuchstaben ausgelegte Wort fahren. Noch einmal wird <strong>mit</strong> geschlossenen Augen<br />

buchstabiert. Nachdem das Kärtchen <strong>mit</strong> den Begriffen vom Kind ausgesucht und dement-<br />

sprechend zugeordnet und gelesen worden ist, soll es abgeschrieben werden. Schließlich darf<br />

das Kind <strong>mit</strong> derselben Farbe, <strong>mit</strong> der gear<strong>bei</strong>tet wurde, ein Phantasiebild malen, z.B. einen<br />

Kobold <strong>mit</strong> dunkelgrünen Augen, hellgrünem Haar, einer Mütze in einer anderen Abstufung<br />

der Farbe Grün. Genauso werden das Hemd, die Hose, die Schuhe, die Strümpfe etc. bemalt.<br />

Als zusätzliche Trainingsaufgabe werden die Kärtchen <strong>mit</strong> den erlernten Begriffen, die in der<br />

Farbe, <strong>mit</strong> der gear<strong>bei</strong>tet wurde, beschriftet sind, an einem Ort befestigt, an dem das Kind sie<br />

öfter sehen kann. Es dürfen jeweils nicht mehr als fünf Begriffe sein. Von Vorteil ist, wenn<br />

sie zu einer Wortfamilie gehören, z.B. hellgrün, hell, heller, am hellsten. Zusätzlich kann das<br />

Computer-Programm „Easy-Training“ vom Kärtner Landesverband <strong>Legasthenie</strong> <strong>für</strong> die häus-<br />

liche Förderung dem Training des optischen Gedächtnisses und der optischen Serialität auf<br />

eine ähnliche Weise dienen. Die Übung heißt Opticlick. Nachdem das Programm gestartet<br />

wurde, erscheinen auf dem Monitor zwei Reihen aus je sechs Farbtafeln (hellgrün, hellblau,<br />

132


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver <strong>Intervention</strong><br />

dunkelgrün, dunkelblau, rot und grau). Die untere Farbreihe wird nach 20 Sekunden ausge-<br />

blendet und die Aufgabe <strong>für</strong> das Kind besteht nun darin, sich die Reihenfolge der unteren<br />

Farbreihe zu merken und sie per Mausklick der oberen Reihe richtig zuzuordnen, ähnlich wie<br />

<strong>bei</strong>m Memory-Spielprinzip.<br />

Beim Umgang <strong>mit</strong> dem Sinnesmaterial geht es also um die Entwicklung und Förderung einer<br />

differenzierten Wahrnehmungsverar<strong>bei</strong>tung verschiedener Sinnesempfindungen, wo<strong>bei</strong> unter-<br />

schiedliche Reifungsebenen und unterschiedlich komplexe Leistungen angesprochen werden.<br />

Diese bauen neuropsychologisch gesehen aufeinander auf, obgleich sie in der Praxis nicht<br />

unbedingt in festgelegter Reihenfolge angeboten werden, da sich die Vorgehensweise nach<br />

der Entwicklungsphase des jeweiligen Kindes zu richten hat. Für Montessori ist die Erziehung<br />

der Sinne (vgl. Montessori 1987, S. 230, 304), die einem biologischen und einem sozialen<br />

Ziel dient, von höchstem pädagogischem Interesse. Das Soziale besteht nach Montessori in<br />

der Vorbereitung des Individuums auf die Umwelt, wo<strong>bei</strong> die biologische Komponente darin<br />

besteht, die natürliche Entwicklung des Kindes zu unterstützen. Der Zweck der Erziehung der<br />

Sinne besteht nach Montessori darin, durch wiederholte Übung eine Verfeinerung in der<br />

Wahrnehmung der Unterschiede der Sinnesreize her<strong>bei</strong>zuführen. „Sie hat ein Unterrichtsma-<br />

terial <strong>für</strong> die Erziehung der wichtigsten Sinne konstruiert, das dazu dienen soll, dem Kind die<br />

Selbstverbesserung nahe zu legen, indem es Irrtümer ohne Weiteres erkennen lässt“ (Katz<br />

1925, S. 83).<br />

133


10 Abschließende Diskussion<br />

10 Abschließende Diskussion<br />

In den letzten Jahren hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung <strong>mit</strong> der Entwicklung des<br />

Lesens und Schreibens sowie <strong>mit</strong> Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten einen rasanten Auf-<br />

schwung erlebt. Mehrere wissenschaftliche Disziplinen befassen sich <strong>mit</strong> diesem Themenbe-<br />

reich: Sprach- und Kommunikationswissenschaftler ebenso wie Psychologen, Pädagogen und<br />

Mediziner. Da<strong>bei</strong> wird von einem recht weiten Verständnis von Schriftspracherwerbsschwie-<br />

rigkeiten bzw. <strong>Legasthenie</strong> ausgegangen. Es handelt sich nicht nur um Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m<br />

Worterkennen, also <strong>bei</strong>m Lesen im engeren Sinn, und <strong>bei</strong>m Rechtschreiben als seinem Ge-<br />

genstück, sondern auch um Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Leseverständnis, <strong>bei</strong>m schriftlichen Aus-<br />

druck und <strong>bei</strong>m Schreiben, also <strong>bei</strong> der motorischen Ausführung selbst. In all diesen Berei-<br />

chen haben sich neue Entwicklungen abgezeichnet.<br />

Die Schulreife setzt einen gewissen Grad an neuropsychologischer Reife voraus, wie er sich<br />

bspw. auch in der grob- und feinmotorischen Geschicklichkeit und in der Ausbildung einer<br />

Seitigkeit 167 darstellt. Spätestens dann, wenn ein Kind in die Schule kommt, sind besonders<br />

die Fähigkeiten im sozialen Bereich wie auch die Voraussetzungen zum Erlernen der Kultur-<br />

techniken von Bedeutung. Die Voraussetzungen <strong>für</strong> den Schriftspracherwerb sind neben der<br />

motorischen Geschicklichkeit, dem Gedächtnis, der zweckvollen Aktivität und der Raum-<br />

wahrnehmung auch die Bereiche der visuellen Wahrnehmung, die u.a. Marianne Frostig in<br />

mannigfaltiger Weise beschrieben hat (vgl. u.a. Frostig et al. 1977; Büttner et al. 2008). Sie<br />

sind von entscheidender Bedeutung <strong>für</strong> das Erlernen des Lesens und Schreibens. Selbstver-<br />

ständlich kommen weitere Fähigkeiten, wie das Gedächtnis, die visuelle Vorstellung, das vo-<br />

rausschauende Planen, also die Antizipation, die Fähigkeit, Denkvorgänge hintereinander<br />

auszuführen, die Fähigkeit zur Umstellung auf neue Aufgabenformen sowie die Anwendung<br />

bestimmter Prinzipien auf wechselnde Situationen hinzu, insbesondere jedoch die Sprache.<br />

Für all diese Fähigkeiten, und da<strong>mit</strong> auch <strong>für</strong> die kognitive Entwicklung, sind neuropsycholo-<br />

gische Prozesse 168 , im Besonderen funktionierende Sinneswahrnehmungen, die Vorausset-<br />

zung.<br />

Trotz der Tatsache, dass <strong>Legasthenie</strong> nicht geheilt werden kann, werden die Kinder und Ju-<br />

gendlichen, die ihre Schulkarriere normal durchlaufen, später auch kein Problem mehr im<br />

Beruf haben. Frühestmögliches Erkennen von Defiziten im Bereich des Schriftspracherwerbs<br />

167 Das ist die Dominanz einer Hemisphäre <strong>für</strong> bestimmte Funktionen.<br />

168 Wenn Montessori im Kontext der Erziehung der Sinne von einem biologischen Ziel spricht, ist die neuropsychologische<br />

Entwicklung gemeint, die eng in Wechselwirkung <strong>mit</strong> dem sozialen Ziel steht.<br />

134


10 Abschließende Diskussion<br />

und dem Kind das Gefühl des Versagens nehmen zu können, sind wichtige Ziele. Bei legas-<br />

theniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten handelt es sich um eine Problematik,<br />

die sowohl von individuellen Lernvoraussetzungen als auch von der Umgebung und der För-<br />

derung beeinflusst wird. Hier<strong>bei</strong> ist von einer wechselseitigen Einflussnahme auszugehen.<br />

Von besonderer Bedeutung sind die Fortschritte im Verständnis <strong>für</strong> die biologischen Grund-<br />

lagen der <strong>Legasthenie</strong>. Der Beitrag der Vererbung <strong>für</strong> das Auftreten der Lernprobleme ist in<br />

den letzten Jahren deutlich sichtbar geworden. Bisherige Untersuchungen weisen darauf hin,<br />

dass ein größerer Teil dieser Risikokinder früh auffällig wird. Hier ergeben sich Chancen <strong>für</strong><br />

eine gezielte frühkindliche Prävention legastheniebedingter Probleme <strong>bei</strong>m Schriftspracher-<br />

werb. Auch an die weiteren Untersuchungen der neurophysiologischen Grundlagen des Wort-<br />

erkennens knüpfen sich Hoffnungen. Die Messung der hirnphysiologischen Aktivitäten wäh-<br />

rend des Lesens bzw. <strong>bei</strong> speziellen Aufgaben könnte es in Zukunft erlauben, die Funktions-<br />

weise verschiedener Teilprozesse <strong>bei</strong>m Lesen und Schreiben differenzierter zu beurteilen und<br />

da<strong>mit</strong> auch einen Beitrag <strong>für</strong> die Planung und die Beurteilung der Fortschritte in der Frühför-<br />

derung zu leisten. Inzwischen wurde eine Vielzahl diagnostischer Methoden, die eine diffe-<br />

renzierte Darstellung der Entwicklungsphasen im Lesen und Schreiben und da<strong>mit</strong> eine ratio-<br />

nale Planung der <strong>Intervention</strong>smaßnahmen ermöglichen sollte, entwickelt. Die breitere An-<br />

wendung dieser diagnostischen Methoden sollte im Weiteren zu Fortschritten <strong>bei</strong> der Indivi-<br />

dualisierung der Förderung führen.<br />

Hierzu können Eltern einen enormen Beitrag leisten, indem sie eine geeignete Förderung fin-<br />

den. Pädagogen sind die erste Anlaufstelle <strong>bei</strong>m Verdacht auf Schriftspracherwerbsschwie-<br />

rigkeiten bzw. <strong>Legasthenie</strong>; gemeinsam <strong>mit</strong> ihnen und <strong>mit</strong> eventuell zusätzlich hinzuzuzie-<br />

henden Experten der Gesundheitsebene sollte dann die geeignete Förderung gewählt werden.<br />

Wie gezeigt werden konnte, beschränkt sich die Förderung legasthener Kinder nicht lediglich<br />

auf ein Training im Symptombereich, also des Lesens und Schreibens. Da <strong>Legasthenie</strong> auch<br />

gravierende Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung hat, muss neben der Förderung<br />

des Schriftspracherwerbs auch eine Erhöhung des Selbstwertgefühls und emotionaler Stabili-<br />

tät ein bedeutendes Behandlungsziel sein. Folglich integriert ein umfassendes Trainingskon-<br />

zept neben institutioneller Hilfe auch den Bereich des Elternhauses. Die Eltern werden <strong>bei</strong> der<br />

häuslichen Frühförderung von Pädagogen unterstützt, sie haben so die Möglichkeit, durch<br />

eine nach sonder- oder heilpädagogischen Grundsätzen aufgebaute Förderung auf die indivi-<br />

duellen Schwächen und Stärken des Kindes einzugehen. Das Elternhaus kann Teilbereiche<br />

der Förderung übernehmen. Für jedes Kind wird in diesem Fall ein individuelles Trainings-<br />

programm zusammengestellt. Ausschlaggebend <strong>für</strong> den Erfolg der Behandlung sind die Un-<br />

terstützung und der Rückhalt in der Familie. Das Ausmaß emotionaler Unterstützung, das die<br />

135


10 Abschließende Diskussion<br />

Kinder in ihrer jeweiligen Familie bekommen, beeinflusst wesentlich die Fortschritte <strong>bei</strong>m<br />

Erlernen des Lesens und Schreibens. Von un<strong>mit</strong>telbarer Bedeutung sind hier sowohl das Feh-<br />

len einer kritischen Haltung seitens der Eltern als auch das Ausmaß an positiver Unterstüt-<br />

zung, Motivation und Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung 169 . So können sich positive Ef-<br />

fekte wie Konzentration und Ruhe einstellen. Gelingt es, Abneigung und Ängste gegenüber<br />

allem Schriftsprachlichen aufzulösen und Lernzuversicht bzw. Motivation zu ver<strong>mit</strong>teln, so<br />

werden sich <strong>bei</strong> der Förderung des Schriftspracherwerbs Erfolge einstellen. Wie Längsschnitt-<br />

studien gezeigt haben, ist die Unterstützung durch das Elternhaus <strong>für</strong> die langfristige Schrift-<br />

spracherwerbsentwicklung des legasthenen Kindes von ausschlaggebender Bedeutung. Unter<br />

diesem Aspekt ist eine außerschulische Betreuung von allen <strong>Kindern</strong> <strong>mit</strong> einer ausgeprägten<br />

<strong>Legasthenie</strong> erforderlich. Statt das Lernen als etwas Unmögliches anzusehen, kann das Kind<br />

auf diese Weise begreifen, dass es seine eigene Lernsituation durch bestimmte Methoden ver-<br />

bessern kann.<br />

Maria Montessori hat das Kind in ihrer Pädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter heute<br />

noch aktuellen Aspekten betrachtet, die deutliche Parallelen zu den derzeit favorisierten sys-<br />

tematisch-konstruktivistischen Denkmodellen aufweisen, sie hat da<strong>mit</strong> weit mehr an „päda-<br />

gogischem Erbe“ hinterlassen als nur eine Methode. Die Montessori-Pädagogik ist pädagogi-<br />

sche Theorie, Erziehungskonzeption und Praxismethode. Nicht nur <strong>für</strong> die frühkindlichen<br />

Fördermaßnahmen im Rahmen allgemeiner Erziehung, sondern besonders auch <strong>für</strong> die Ansät-<br />

ze und Möglichkeiten der Prävention legastheniebedingter Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Schrift-<br />

spracherwerb bedarf es einer Öffnung und Weiterentwicklung ihrer Gedanken. In diesem Sin-<br />

ne bestehen vielerlei Möglichkeiten der pädagogisch-didaktischen Frühförderung legasthener<br />

Kinder, nicht nur in institutionellen Einrichtungen, sondern auch <strong>für</strong> elterlich-präventive In-<br />

tervention.<br />

Im Gesamtgebiet der <strong>Legasthenie</strong>forschung ist die frühkindliche pädagogisch-didaktische<br />

<strong>Intervention</strong> <strong>bei</strong> legasthenen <strong>Kindern</strong> immer noch ein relativ vernachlässigter Bereich. Jedoch<br />

haben sich auch hier wesentliche Fortschritte ergeben. Es ist zu beobachten, dass sich die Si-<br />

tuation zunehmend verbessert, da es vielen Menschen gelingt, sich von althergebrachten Ste-<br />

reotypen zu befreien. Ein besonderer Akzent wurde auf die Frühförderung und die Prävention<br />

von legastheniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten in der Vorschulzeit bzw. in<br />

den ersten Phasen des Erstleseunterrichts gelegt. Es ist klar geworden, dass die frühkindliche<br />

169 Sowohl die Geduld des Kindes als auch die Geduld der Mutter sollte nicht zu sehr strapaziert werden. Beim<br />

Üben bzw. <strong>bei</strong> den Hausaufgaben ist es daher wichtig, sich <strong>bei</strong> der Reihenfolge der Aufgaben nach dem Kind zu<br />

richten (manche möchten <strong>mit</strong> den leichteren beginnen, andere möchten zuerst die schweren hinter sich bringen).<br />

136


10 Abschließende Diskussion<br />

Förderung legasthener Kinder intensive Formen der Unterstützung braucht, da<strong>mit</strong> die Kinder<br />

Fortschritte <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb machen. Um eine optimale individuelle Förderung le-<br />

gasthener Kinder zu ermöglichen, werden auch andere Organisationsformen als die schulische<br />

Förderung im Kurssystem benötigt.<br />

Durch fächerübergreifende Hilfestellungen, besonderes <strong>bei</strong> Auftreten von Begleit- und Se-<br />

kundärproblemen, können die Möglichkeiten und Grenzen professioneller Pädagogen deutlich<br />

besser und sinnvoller eingeschätzt werden. Dies kann sowohl zu einem realen Selbstbild als<br />

auch zu einer realistischen Einschätzung durch die Gesellschaft in Hinblick auf die pädagogi-<br />

schen Leistungen führen. Zudem sollte durch die Akzeptanz der Verwobenheit der Lernpro-<br />

zesse, u.a. <strong>mit</strong> den Rahmenbedingungen, auch der Blick <strong>für</strong> die Bedingungen, unter denen<br />

professionelles pädagogisches Handeln häufig stattfinden muss, geschärft werden.<br />

Die <strong>Legasthenie</strong> ist als eine Normvariante menschlicher Begabung, als eine andere geistige<br />

Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten zu betrachten. Es bedarf noch intensiver Aufklä-<br />

rungsar<strong>bei</strong>t, um eine Akzeptanz in Gesellschaft, Kultur und - ein nicht zu unterschätzender<br />

Faktor - in der Politik zu erreichen. Vor allem die Politik wird in Zukunft die Augen vor der<br />

Tatsache, dass circa 15% der Weltbevölkerung bereits unter <strong>Legasthenie</strong> leiden, nicht ver-<br />

schließen können. Es ist zu hoffen, dass es zu einem gänzlichen Umdenken hinsichtlich des<br />

gesellschaftlichen Verständnisses der <strong>Legasthenie</strong>problematik kommt und diese als pädago-<br />

gisch-didaktisches <strong>Intervention</strong>sgebiet betrachtet wird. Zudem ist es wünschenswert, dass sich<br />

die Gesellschaft wie auch die verschiedenen forschenden Disziplinen weiterhin vermehrt aus<br />

einem pädagogischen Verständnis heraus <strong>mit</strong> der Problematik der <strong>Legasthenie</strong> beschäftigen.<br />

Hier lassen sich viele neue Wege entdecken, wie legasthenen <strong>Kindern</strong> <strong>bei</strong>m Schriftspracher-<br />

werb besser geholfen werden kann – und daher mag sich die Anstrengung lohnen.<br />

Hinter dieser Ar<strong>bei</strong>t stand keinesfalls die Option einer Degradierung neuropsychologischer<br />

bzw. therapeutischer und alternativer behandelnder <strong>Intervention</strong>en <strong>bei</strong> <strong>Legasthenie</strong>. Vielmehr<br />

soll ein Anstoß zur vermehrten Anwendung von Maßnahmen zur unterstützenden präventiven<br />

Förderung und zur pädagogisch-didaktischen <strong>Intervention</strong> <strong>bei</strong> legasthenen <strong>Kindern</strong>, vor allem<br />

von Seiten der Eltern, gegeben werden, um die Erfolgschancen <strong>für</strong> alle Betroffenen zu erhö-<br />

hen. Ich hoffe, <strong>mit</strong> der vorliegenden Ar<strong>bei</strong>t einen Beitrag zu einem gesellschaftlichen Um-<br />

denken in Bezug auf das Verständnis von <strong>Legasthenie</strong> und die da<strong>mit</strong> in Zusammenhang ste-<br />

henden Schriftspracherwerbsschwierigkeiten geleistet zu haben. Es war mir auch ein Anlie-<br />

gen, die wichtige Funktion der Berufsgruppe der Vorschulpädagogen zu betonen: Pädagogen<br />

sind „Mitformer“ der zukünftigen Gesellschaft, und in diesem Kontext sollte auch ihre Ar<strong>bei</strong>t<br />

gesehen werden.<br />

137


Literaturverzeichnis<br />

Affolter, F. (1975): Wahrnehmungsprozesse, deren Störung und Auswirkung auf die Schul-<br />

leistungen. Zeitschrift <strong>für</strong> Kinder- und Jugendpsychiatrie, 3.<br />

Affolter, F. (1977): Aspekte der Erfassung und Therapie. Zeitschrift <strong>für</strong> Pädiatrie und Pädo-<br />

logie, 12.<br />

Affolter, F. (1991): Wahrnehmung, Wirklichkeit und Sprache. 5., unveränd. Aufl. Villingen-<br />

Schwenningen.<br />

Alloway, T. P./Gathercole, S. E./Adams, A. M./Willis, C./Eaglen, R./Lamont, E. (2005):<br />

Working memory and phonological awareness as predictors of progress towards early<br />

learning goals at school entry. British Journal of Developmental Psychology, 23, S. 417-<br />

426.<br />

Anderlik, L. (1996): Ein Weg <strong>für</strong> alle. Dortmund.<br />

Andresen, H. (1985): Schriftspracherwerb und die Entstehung von Sprachbewußtheit.<br />

Opladen.<br />

Angermaier, M. (1970, 1973): <strong>Legasthenie</strong>. Verursachungsmomente einer Lernstörung.<br />

Weinheim.<br />

Augst, G. (1978): Spracherwerb von 6 bis 16. Linguistische, psychologische, soziologische<br />

Grundlagen. Düsseldorf.<br />

Aylward, E./Raskind, W./Richards, T./Berninger, V./Eden, E. (2004): Genetic, neurologi-<br />

cal, and instructional influences in the reading brain. Paper presented at the American As-<br />

sociation for the Advancement of Science. Seattle.<br />

Avramidou, E. K. (2003): Schriftaneignung in der Muttersprache. Ein Vergleich zwischen<br />

griechisch monolingualen und bilingualen <strong>Kindern</strong>. München.<br />

Ayres, J. A. (1984, 1992, 2002): Bausteine der kindlichen Entwicklung. Die Bedeutung der<br />

Integration der Sinne <strong>für</strong> die Entwicklung des Kindes. 4. Aufl. Berlin, Heidelberg.<br />

Bast, R. (1996): Kulturkritik und Erziehung. Anspruch und Grenzen der Reformpädagogik.<br />

Dortmund.<br />

Becker, H. (2005): Kinder <strong>mit</strong> Wahrnehmungsstörungen. Ein Ratgeber <strong>für</strong> Eltern, Pädagogen<br />

und Therapeuten. Idstein.<br />

Bentin, S./Hammar, R./Cahan, S. (1991): The effects of ageing and first grade schooling on<br />

the development of phonological awareness. Psychological Science, 2, S. 271-273.<br />

Berkhan, O. (1899): Über den angeborenen und früherworbenen Schwachsinn. Braun-<br />

schweig.<br />

138


Berninger, V. W./Richards, T. L. (2002): Brain literacy for educators and psychologists.<br />

San Diego.<br />

Biewer, G. (2001): Vom Integrationsmodell <strong>für</strong> Behinderte zur Schule <strong>für</strong> alle Kinder. Neu-<br />

wied, Berlin.<br />

Blachman, B. A. (1997): Early <strong>Intervention</strong> and Phonological Awareness. A Cautional Tale.<br />

In: Blachman, B. A. (ed.): Foundations of Reading Acquisition and Dyslexia. Implications<br />

for Early <strong>Intervention</strong>. Mahwah/NJ, S. 409-430.<br />

Blässer, B. (1994): Die Bedeutung der phonologischen Bewusstheit <strong>für</strong> das frühe Lesen und<br />

Schreiben. Theoretische Fundierung und Förderungsmöglichkeiten. Dissertation Universi-<br />

tät Würzburg.<br />

Blumenstock, L. (1979): Prophylaxe der Lese-Rechtschreibschwäche. Weinheim.<br />

Brazelton, T. B./Greenspan, S. I. (2002): Die sieben Grundbedürfnisse von <strong>Kindern</strong>. Wein-<br />

heim, Basel.<br />

Breuer, H./Weuffen, M. (1993, 2000, 2002): Lernschwierigkeiten am Schulanfang. Schul-<br />

eingangsdiagnostik zur Früherkennung und Frühförderung. Weinheim, Basel.<br />

Bühler-Niederberger, D. (1991): <strong>Legasthenie</strong> - Geschichte und Folgen einer<br />

Pathologisierung. Opladen.<br />

Bundesverband <strong>Legasthenie</strong> und Dyskalkulie e.V. (2010): URL: http://www.bvl-<br />

legasthenie.de/foerderung/legasthenie, Stand 12.10.2010.<br />

Bus, A. G./Van Ijzendoorn, M. H. (1999): Phonological Awareness and Early Reading. A<br />

Meta-Analysis of Experimental Training Studies. Journal of Educational Psychology, 91,<br />

S 403-414.<br />

Bushell, R./Miller, A./Robson, D. (1982): An account of a paired-reading project with junior<br />

school failing readers and their parents. Association of Educational Psychologist Journal,<br />

5, S. 7-13.<br />

Büttner, G./Dacheneder, W./Schneider, W./Weyer, K. (2008): FEW-2. Frostigs<br />

Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung. Göttingen.<br />

Byrne, B. A./Liberman, A. M./Brady, S. A./Tallal, P./Miller, S./Jenkins, W.<br />

M./Merzenich, M. M./Wolf, M./Fletcher, J. M./Morris, R./Lyon, G. Reid/Stuebing, K.<br />

K./Shaywitz, S. E./Shankweiler, D. P./Katz, L./Shaywitz, B. A./Stanovich, K.<br />

E./Siegel, L. S./Gottardo, A./Chiappe, P./Ehri, L. C./Treiman, R./Bryant, P. E./Nunes,<br />

T./Bindman, M./Foorman, B. R./Francis, D. J./Byrne, B./Fielding-Barnsley,<br />

R./Ashley, L./Larsen, K. G./Torgesen, J. K./Wagner, R. K./Rashotte, C. A./Olson, R.<br />

K./Wise, B./Johnson, M. C./Ring, J./Greaney, K. T./Tunmer, W. E./Chapman, J.<br />

W./Vellutino, F. R./Scanlon, D. M./Sipay, E. R./Nicholson, T./Sidhu, R./Bruck,<br />

139


M./Genesee, F./Caravolas, M. (1997): Foundations of reading acquisition and dyslexia.<br />

Implications for early intervention. Mahwah, NJ.<br />

Catts, H. W. (1989): Phonological Processing Deficits and Reading Disabilities. In: Kamhi,<br />

A. G./Catts, H. W. (eds.): Reading Disabilities. A Developement Language Perspective.<br />

New York 1989, S. 101-132.<br />

Catts, H. W./Fey, M. E./Zhang, X./Tomblin, J. B. (2001): Estimating the risk of future<br />

reading difficulties in kindergarten children: A research-based model and its clinical im-<br />

plementation. Language, Speech, and Hearing Services in Schools, 32, S. 38-50.<br />

Coltheart, M. (1978): Lexical access in simple reading tasks. In: Underwood, G. (ed.): Strat-<br />

egies of information processing. London.<br />

Coltheart, M./Curtis, B./Atkins, P./Haller, M. (1993): Models of reading aloud. Dual-route<br />

and parallel-distributed-processing approaches. Psychological Review, 100, S. 589-608.<br />

Coltheart, M./Rastle, K./Perry, C./Langdon, R./Ziegler, J. (2001): DRC: A Dual Route<br />

Cascaded model of visual word recognition and reading aloud. Psychological Review, 108,<br />

S. 204-256.<br />

Daneman, M./MacKinnon, G. E./Waller, T. G. (eds.) (1988): Reading Research. Advances<br />

in Theory and Practice. Volume 6. San Diego.<br />

Davis, R. (2006): <strong>Legasthenie</strong> als Talentsignal. Das Praxisbuch. Kreuzlingen, München.<br />

Dehn, M. (1977): Phonologie und Erstleseunterricht. Grundschule. 6, S. 282-285.<br />

Dehn, M. (1984): Wie Kinder Schriftsprache erlernen – Ergebnisse aus einer Längsschnitt-<br />

untersuchung. In: Naegele, I./Valtin, R. (Hrsg.) (1994): Rechtschreibunterricht in den<br />

Klassen 1-6. Ar<strong>bei</strong>tskreis Grundschule. Frankfurt, S. 28-37.<br />

Dehnhardt, C./Ritterfeld, U. (1998): Modelle der Elternar<strong>bei</strong>t in der sprachtherapeutischen<br />

<strong>Intervention</strong>. Die Sprachheilar<strong>bei</strong>t, 3, S. 128-136.<br />

Dorsch, F./Becker-Carus, Ch. (1994): Psychologisches Wörterbuch. 12., überarb. und erw.<br />

Aufl. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle.<br />

Dt. Ges. f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hrsg.) (2007): Leitlinien<br />

zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und<br />

Jugendalter. 2. überarb. Aufl. Köln, S. 207-224.<br />

Duden (2007): Deutsches Universalwörterbuch. 6., überarb. Aufl. Mannheim.<br />

Dummer-Smoch, L. (1986): Die spezifische <strong>Legasthenie</strong> im Kontext der Biologie (Nach-<br />

schrift und Zusammenfassung zweier Vorträge von Prof. Galaburda am 02.10.1986 in<br />

Hannover und am 10.10.1986 in Brüssel). In: Dummer-Smoch, L. (Hrsg.): <strong>Legasthenie</strong>,<br />

Bericht über den Fachkongreß 1986. Bundesverband <strong>Legasthenie</strong> e.V. Hannover.<br />

140


Dummer-Smoch, L. (2001): Förderdiagnostische Möglichkeiten der Früherkennung von Le-<br />

selernschwierigkeiten durch Beobachtungsspiele. Heinsberg.<br />

Dummer-Smoch, L. (2002): Mit Phantasie und Fehlerpflaster. Hilfen <strong>für</strong> Eltern und Lehrer<br />

legasthenischer Kinder. 4. Aufl. München.<br />

Dummer-Smoch, L./Hackethal, R. (1996): Handbuch zum Kieler Rechtschreibaufbau. 3.<br />

überarb. Aufl. Kiel.<br />

Dusolt, H. (2001, 2008): Elternar<strong>bei</strong>t. Ein Leitfaden <strong>für</strong> den Vor- und Grundschulbereich.<br />

Weinheim.<br />

Eden, G. F./Zeffiro, T. A. (1998): Neural systems affected in developmental dyslexia re-<br />

vealed by functional neuroimaging. Neuron, 21, S. 279-282.<br />

Ehri, L. C. (1999): Phases of development in learning to read words. In: Oakhill, J./Beard, R.<br />

(eds.): Reading development and the teaching of reading. A psychological perspective.<br />

Blackwell, S. 79-108.<br />

Ehri, L. C./Nunes, S. R./Willows, D. M./Schuster, B. V./Yaghoub-Zadeh, Z.,/Shanahan,<br />

T. (2001): Phonemic awareness instruction helps children learn to read: Evidence from the<br />

National Reading Panel’s meta-analysis. Reading Research Quarterly, 3, S. 250–287.<br />

Eichler, W. (2002): Rechtschreiben lernen. Oldenburg.<br />

Eikenbusch, G. (2006): Von der stillen Partnerschaft zum aktiven Dialog. Weg zur Elternar-<br />

<strong>bei</strong>t in der Schule. Pädagogik, 58 (9), S: 6.10.<br />

Fachverband <strong>für</strong> integrative Lerntherapie e.V. (2010): Homepage. URL: http://www.<br />

lerntherapie-fil.de/, Stand 22.08.2010.<br />

Facoetti, A./Cestnick, L./Lorusso, M. L./Paganoni, P./Umilta, C./Zorzi, M./Mascetti, G.<br />

G. (2002): The relationship between orienting of visual attention and non-word reading in<br />

developmental dyslexia, neuro psychologia.<br />

Facoetti, A./Lorusso, M. L./Paganoni, P./Cattaneo, C./Galli, R./Umiltà, C./Mascetti, G.<br />

G. (2003). Auditory and visual automatic attention deficits in developmental dyslexia.<br />

Cognitive Brain Research, 16, S. 185-191.<br />

Firnhaber, M. (1995): <strong>Legasthenie</strong>. Wie Eltern und Lehrer helfen können. Frankfurt a. M.<br />

Firnhaber, M. (2005): <strong>Legasthenie</strong> und andere Wahrnehmungsstörungen. Wie Eltern und<br />

Lehrer Risiken frühzeitig erkennen und helfen können. 3. stark erw. Neuaufl. Frankfurt.<br />

Fischer B./Biscaldi, M./Hartnegg, K. (1998): Die Bedeutung der Blicksteuerung <strong>bei</strong> der<br />

Lese-Rechtschreibschwäche. Sprache Stimme Gehör, 22, S. 18-24.<br />

Fischer, B./Hartneggm, K. (2008): Saccade Control in Dyslexia: Development - Deficits -<br />

Training - Transfer to Reading. Optom Vis Dev, 40, S. 197-205.<br />

141


Fischer, C. (2003): Lernschwierigkeiten <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb. In: Ludwig, H./Fischer,<br />

C.: Verstehendes Lernen in der Montessori-Pädagogik. München.<br />

Fischer, R./Klein-Landeck, M./Ludwig, H. (Hrsg.) (1999): Die „Komische Erziehung” Ma-<br />

ria Montessoris. Münster.<br />

Fischer, S./DeFries, J. (2002): Developmental Dyslexia: Genetic Disposition of a Complex<br />

Cognitive Trait. In: Nature Reviews: Neuroscience, 2002, 3, S. 767-780.<br />

Frith, U. (1985): Beneath the surface of developmental dyslexia. In: Patterson, K.<br />

E./Marshall, J. C./Coltheart, M. (eds.): Surface dyslexia. Neuropsychological and cognitive<br />

studies of phonological reading. Erlbaum, London, S. 301-330.<br />

Fritz, M. (1971): Vorschulische Erziehung <strong>bei</strong> Montessori. In: Evangelische Kinderpflege, 3,<br />

S. 132-140.<br />

Fröhlich, A. D./Büker, U. (Hrsg.) (2005): Wahrnehmungsstörungen und Wahrnehmungsför-<br />

derung. 11. Aufl. Heidelberg.<br />

Frostig, M. (1976): My slow path of learning. In: Kauffman, J. M./Hallahan, D. P. (eds.):<br />

Teaching children with learning disabilities. Personal perspectives. Columbus.<br />

Frostig, M./Horne, D./Miller, A.-M. (1977): Visuelle Wahrnehmungsförderung. Übungs-<br />

und Beobachtungsfolge <strong>für</strong> den Elementar- und Primarbereich. Dortmund.<br />

Fry, L. (1977): Remedial reading using parents as behaviour technicians. Journal of Educa-<br />

tional Studies, 12, New Zealand.<br />

Galaburda, A. M. (1989): From reading to neurons. Cambridge.<br />

Gebhardt-Seele, P. (1999a): Montessori-Pädagogik in den USA. In: Ludwig, H.: Montessori-<br />

Pädagogik in der Diskussion. Aktuelle Forschungen und internationale Entwicklungen.<br />

Freiburg/Br.<br />

Georgiewa, P./Rzanny, R./Gaser, C./Gerhard, U.-J./Vieweg, U./Freesmeyer, D./Mentzel,<br />

H.-J./Kaiser, A. A./Blanz, B. (2002): Phonological processing in dyslexic children: a stu-<br />

dy combining functional imaging and event related potentials. Neuroscience Letters, 318,<br />

S. 5-8.<br />

Gombert, J. E. (1992): Metalinguistic Development. New York, London.<br />

Goswami, U. (2000a): Phonological and lexical processes. In: Kamil, M./Mosenthal,<br />

P./Pearson, P. D./Barr, R. (eds): Handbook of Reading Research: Volume III. Mahwah,<br />

NJ, S. 251-284.<br />

Goswami, U./Bryant, P. E. (1990): Phonological Skills and Learning to Read. Hove.<br />

Graf, E. (1994): Lese-Rechtschreib-Schwäche: Ein prozeßanalytischer Ansatz. Bern.<br />

Grimm, H. (1995): Spezifische Störung der Sprachentwicklung. In: Oerter, R./Montada, L.<br />

(Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim, S. 943-953.<br />

142


Grissemann, H. (1974): <strong>Legasthenie</strong> und Rechenleistungen. Häufigkeit und Arten von Re-<br />

chenstörungen <strong>bei</strong> Legasthenikern. Bern.<br />

Grohnfeldt, M. (1989): Grundlagen der Sprachtherapie. Berlin.<br />

Groschwald, A./Karle, D./Rosenkötter, H. (2007): Hören, sehen, verstehen. Freiberger<br />

Sprachspiele zur Buchstaben-Laut-Verknüpfung. 2. überarb. Aufl.<br />

URL: http://www.netzwerk-sprache.de/2.html.<br />

Günther, H. (1986): Ein Stufenmodell der Entwicklung kindlicher Lese- und Schreibstrate-<br />

gien. In: Brügelmann, H. (Hrsg.): ABC und Schriftsprache. Konstanz.<br />

Günther, H. (1998): Die Sprache des Kindes und die Schrift der Erwachsenen. In: Huber, L./<br />

Kegel, G./Speck-Hamdan, A. (Hrsg.): Einblicke in den Schriftspracherwerb. Braunschweig<br />

1998, S. 21-30.<br />

Guttorm, T./Leppänen, P./Richardson, U./Lytinen, H. (2001): Event-Related Potentials<br />

and Consonant Differentiation in Newborns with Familial Risk for Dyslexia. Journal of<br />

Learning Disabilities, 2001, 34, S. 534-544.<br />

Hackethal, R./Dummer-Smoch, L. (1996): Praxis zum Kieler Leseaufbau und Kieler Recht-<br />

schreibaufbau. Erfahrungsbericht aus sechs Jahren Lese-Intensivmaßnahmen <strong>mit</strong> dem Kie-<br />

ler Leseaufbau und Kieler Rechtschreibaufbau. 3. überarb. Aufl. Kiel.<br />

Hagemann, C./Börner, I. (2009): Schulfähig <strong>mit</strong> Montessori. Optimale Vorbereitung in der<br />

Kita. 2. Aufl. München.<br />

Haeberlin, U. (1996): Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft. Ein propädeutisches<br />

Einführungsbuch in Grundfragen einer Pädagogik <strong>für</strong> Benachteiligte und Ausgegrenzte.<br />

Beiträge zur Heil- und Sonderpädagogik, 20, Bern.<br />

Haeberlin, U. (2005): Grundlagen der Heilpädagogik. Einführung in eine weitergeleitete er-<br />

ziehungswissenschaftliche Disziplin. Bern.<br />

Hägi, H./Bürli, A./Mathis, A. (1970): <strong>Legasthenie</strong>. Weinheim.<br />

Hammerer, F. (1997): Maria Montessoris pädagogisches Konzept. Wien.<br />

Hardmeier-Hauser, S. (1997): Spracherwerb als gemeinsames Abenteuer. Eltern und Logo-<br />

päden begleiten das Kind. Logos Interdisziplinär 2, S. 84-94.<br />

Hartmann, G. (1975): Der Legastheniker auf der Unterstufe der Grundschule. Wien.<br />

Hechler, O. (2010): <strong>Pädagogische</strong> Beratung. Theorie und Praxis eines Erziehungs<strong>mit</strong>tels.<br />

Stuttgart.<br />

Heckhausen, H. (1969): Förderung der Lernmotivierung und der intellektuellen<br />

Tüchtigkeiten. In: Roth, H. (Hrsg.): Begabung und Lernen. Stuttgart, S. 193-228.<br />

Hedderich, I. (2005): Einführung in die Montessori-Pädagogik. 2. Aufl. München.<br />

Hellwig, N. (2007): Mit Montessori <strong>Legasthenie</strong> behandeln. Augsburg.<br />

143


Heiland, H. (1991): Maria Montessori. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten darge-<br />

stellt. Reinbek <strong>bei</strong> Hamburg.<br />

Hofman, B./Sasse, A. (2005): Übergänge. Kinder und Schrift zwischen Kindergarten und<br />

Schule. Frankfurt am Main.<br />

Hofmann, B. (2005): Gehirnforschung und Schriftspracherwerb In: Hofmann, B./Sasse, A.:<br />

Übergänge. Kinder und Schrift zwischen Kindergarten und Schule. Frankfurt am Main, S.<br />

90-116.<br />

Holcomb, P. J./Ackerman, P. T./Dykman, R. A. (1985): Cognitive event-related brain po-<br />

tentials in children with attention and reading deficits. Psychophysiology, 22, S. 656-667.<br />

Holtstiege, H. (1977): Modell Montessori: Grundsätze und aktuelle Geltung der Montessori-<br />

Pädagogik. Freiburg.<br />

Holtstiege, H. (1997): Das psycho-biologische Konzept sensibler Phasen und Montessoris<br />

Theorieansatz. Zeitschrift <strong>für</strong> Montessori-Pädagogik, 1.<br />

Holtstiege, H. (2001): Von der tastenden Hand zum geistigen Anfassen. In: Montessori, M.:<br />

Zeitschrift <strong>für</strong> Montessori-Pädagogik, 1.<br />

Holtstiege, H. (2009): Modell Montessori. Grundsätze und aktuelle Geltung der Montessori-<br />

Pädagogik. 15. Aufl. Freiburg.<br />

Jansen, H. (1992): Untersuchungen zur Entwicklung lautsynthetischer Verar<strong>bei</strong>tungsprozesse<br />

im Vorschul- und frühen Grundschulalter. Egelsbach.<br />

Jansen, H./Mannhaupt, G./Marx, H./Skowronek, H. (2002): Bielefelder Screening zur<br />

Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC). 2. überarb. Aufl. Göttin-<br />

gen.<br />

Januschek, F. (1981): Entwicklung von Sprachbewußtheit. Osnabrück.<br />

Katz, D. (1989): The world of touch. Erlbaum.<br />

Katz, R. (1925): Die Erziehung im vorschulpflichtigen Alter. Leipzig.<br />

Kautter, H. (2002): Das „Außen“ wahrnehmen, das „Innen“ verstehen – Aspekte einer ganz-<br />

heitlichen sonderpädagogischen Diagnostik. In: Mutzeck, W. (Hrsg.): Förderdiagnostik.<br />

Konzepte und Methoden. 3., überarb. Aufl. Weinheim, Basel.<br />

Kautter, H./Klein, G./Laupheimer, W./Wiegand, H.-S. (1988): Das Kind als Akteur seiner<br />

Entwicklung. Idee und Praxis der Selbstgestaltung in der Frühförderung entwicklungsver-<br />

zögerter und entwicklungsgefährdeter Kinder. Heidelberg.<br />

Kerkhoff, W. (1982) Der Terminus: Eltern als Ko-Therapeuten. Vierteljahrsschrift <strong>für</strong> Heil-<br />

pädagogen und ihre Nachbargebiete, 2, S. 152-163.<br />

Kirschhock, E.-M. (2004): Entwicklung schriftsprachlicher Kompetenzen im Anfangsunter-<br />

richt. Bad Heilbrunn.<br />

144


Klasen, E. (1999): <strong>Legasthenie</strong> – umschriebene Lese-Rechtschreibstörung. KLL-Verlag Kla-<br />

genfurt.<br />

Klasen, E. (2003): Was ist nach dem heutigen Verständnis <strong>Legasthenie</strong>? T. 2 ÖBVL aktuell,<br />

4.<br />

Klein J./Träbert, D. F. (2009): Wenn es <strong>mit</strong> dem Lernen nicht klappt. Schluss <strong>mit</strong> Schul-<br />

problemen und Familienstress. Weinheim.<br />

Klein, G. (2007): Aktuelle Perspektiven der Forschung. Montessori-Pädagogik und Gehirn-<br />

forschung. In: Ludwig, H./Fischer, R./Klein-Landeck, M.: Das Lernen in die eigene Hand<br />

nehmen. Mut zur Freiheit in der Montessori-Pädagogik. Berlin, S. 25-47.<br />

Klicpera, C./Gasteiger-Klicpera, B. (1993): Lesen und Schreiben. Entwicklung und Schwie-<br />

rigkeiten. Die Wiener Längsschnittuntersuchungen über die Entwicklung, den Verlauf und<br />

die Ursachen von Lese- und Schreibschwierigkeiten in der Pflichtschulzeit. Bern.<br />

Klicpera, C./Gasteiger-Klicpera, B. (1995): Psychologie der Lese-Rechtschreibschwierig-<br />

keiten: Entwicklung, Ursachen, Förderung. Weinheim.<br />

Klicpera, C./Gasteiger-Klicpera, B. (1998): Psychologie der Lese- und Schreibschwierig-<br />

keiten. Weinheim.<br />

Klicpera, C./Schabmann, A./Gasteiger-Klicpera, B. (2007, 2010): <strong>Legasthenie</strong>. Modelle,<br />

Diagnose, Therapie und Förderung. München.<br />

Kopp-Duller, A. (2008a): <strong>Legasthenie</strong>-Training nach der AFS-Methode. 3. überarb. Aufl.<br />

Klagenfurt.<br />

Kopp-Duller, A. (2008b): <strong>Legasthenie</strong> und LRS. Der praktische Ratgeber <strong>für</strong> Eltern. Frei-<br />

burg, Basel, Wien.<br />

Kopp-Duller, A./Pailer-Duller, L. R. (2008a): <strong>Legasthenie</strong> – Dyskalkulie? Die Bedeutsam-<br />

keit der pädagogisch-didaktischen Hilfe <strong>bei</strong> <strong>Legasthenie</strong>, Dyskalkulie und anderen Schwie-<br />

rigkeiten <strong>bei</strong>m Schreiben, Lesen und Rechnen. Klagenfurt.<br />

Kopp-Duller, A./Pailer-Duller, L. R. (2008b): Training der Sinneswahrnehmungen im Vor-<br />

schulalter. Erfolgreich einer <strong>Legasthenie</strong> und Dyskalkulie vorbeugen. Klagenfurt.<br />

Koring, B. (1992a): Grundprobleme pädagogischer Berufstätigkeit. Eine Einführung <strong>für</strong> Stu-<br />

dierende. Bad Heilbrunn.<br />

Koring, B. (1992b): Bildungsprozesse und pädagogische Tätigkeit als Problem der Ausbil-<br />

dung. In: <strong>Pädagogische</strong> Rundschau, 46, 3, S. 297–303.<br />

Koring, B. (1999): Erziehung und Information. In: Fuhr, T./Schultheis, K. (Hrsg.): Zur Sache<br />

der Pädagogik. Untersuchungen zum Gegenstand der allgemeinen Erziehungswissenschaft.<br />

Bad Heilbrunn, S. 122–135.<br />

145


Koring, B. (2007): <strong>Pädagogische</strong> Orientierung, Orientierung der Pädagogik: Überlegungen zu<br />

den Grundformen pädagogischer Orientierung. In: Aderhold, J./Kranz, O. (Hrsg.): Intenti-<br />

on und Funktion. Probleme der Ver<strong>mit</strong>tlung psychischer und sozialer Systeme. Wiesbaden,<br />

S. 123–139.<br />

Kossow, H.-J. (1979): Zur Therapie der Lese-Rechtschreibschwäche. Aufbau und Erprobung<br />

eines theoretisch begründeten Therapieprogramms. 6. Aufl. Berlin.<br />

Kramer, J./Trappe, K. (2006): Sprachtherapie – gewusst wie! Identitätsbildende Förderung<br />

und sprachliches Lernen im systemischen Kontext. In: Bahr, R./Iven, C. (Hrsg.): Sprache,<br />

Emotion, Bewusstheit, 27. Kongress der Deutschen Gesellschaft <strong>für</strong> Sprachheilpädagogik<br />

(dgs) e.V. Köln, S. 213-219.<br />

Krause, C. (2003): <strong>Pädagogische</strong> Beratung. Grundlagen und Praxisanwendung. Paderborn.<br />

Kükelhaus, H./zur Lippe, R. (1982): Entfaltung der Sinne. Ein Erfahrungsfeld zur Bewe-<br />

gung und Besinnung. Frankfurt am Main.<br />

Küspert, P. (1998): Phonologische Bewusstheit und Schriftspracherwerb. Zu den Effekten<br />

vorschulischer Förderung der phonologischen Bewusstheit auf den Erwerb des Lesens und<br />

Schreibens. Frankfurt am Main.<br />

Küspert, P. (2005): Neue Strategien gegen <strong>Legasthenie</strong>. Lese- und Rechtschreib-Schwäche:<br />

Erkennen, Vorbeugen, Behandeln. 3. Aufl. Ratingen.<br />

Küspert, P./Schneider, W. (1999, 2006, 2008): Hören, lauschen, lernen. Sprachspiele <strong>für</strong><br />

Kinder im Vorschulalter. Würzburger Trainingsprogramm zur Vorbereitung auf den Er-<br />

werb der Schriftsprache. Göttingen.<br />

Landerl, K. (1996): <strong>Legasthenie</strong> in Deutsch und Englisch. Frankfurt am Main.<br />

Landerl, K./Wimmer, H. (1994): Phonologische Bewusstheit als Prädiktor <strong>für</strong> Lese-Recht-<br />

schreibfähigkeiten in der Grundschule. In: Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Pädagogische</strong> Psychologie, 8, S.<br />

165-175.<br />

Lennox, C./Siegel, L. S. (1998): Phonological and orthographic processes in goog and poor<br />

spellers. In: Hulme, C./Joshi, R. M. (eds.): Reading and spelling: Development and disord-<br />

ers. Erlbaum, Hillsdale, NJ.<br />

Lewin, K./Cartwright, D. (Hrsg.) (1951): Field theory in social science. Selected theoretical<br />

papers. New York, S. 169.<br />

Linder, M. (1951): Über <strong>Legasthenie</strong> (spezielle Leseschwäche). 50 Fälle, ihr Erscheinungs-<br />

bild und Möglichkeiten der Behandlung. Zeitschrift <strong>für</strong> Kinderpsychiatrie, 18, S. 97-143.<br />

Livingstone, M. S./Rosen, G. D./Drislane, F. W./Galaburda, A. M. (1991): Physiological<br />

and anatomical evidence for a magnocellular defect in developmental dyslexia. Proceedings<br />

of the National Academy of Sciences of the United States of America 88, S. 7943-7947.<br />

146


Ludwig, H. (2000): Erziehen <strong>mit</strong> Maria Montessori. Frankfurt, Basel, Wien.<br />

Ludwig, H. (Hrsg.) (2009): 100 Jahre Montessori-Kinderhaus. Geschichte und Aktualität<br />

eines pädagogischen Konzepts. Berlin.<br />

Lueger, D. (2005): Beobachtung leicht gemacht. Beobachtungsbögen zur Erfassung kindli-<br />

chen Verhaltens und kindlicher Entwicklungen. Weinheim, Basel.<br />

Luria, A. R. (1992): Das Gehirn in Aktion. Reinbek <strong>bei</strong> Hamburg.<br />

Lyon, G. Reid/Fletcher, J. M. (2001): Early warning system: How to prevent reading dis-<br />

abilities. Education Matters, S. 22-29.<br />

Lyon, G. Reid/Shaywitz, S. E./Shaywitz, B. A. (2003): A Definition of Dyslexia. Annals of<br />

Dyslexia (An Interdisciplinary Journal of The International Dyslexia Association), 53, S.<br />

1-14.<br />

Mach, L. (1937): Lese- und Schreibschwäche <strong>bei</strong> normalbegabten <strong>Kindern</strong>. Diss. Siegen.<br />

Machemer, P. (1979): Entwicklung eines Übungsprogrammes <strong>für</strong> Eltern zur Behandlung von<br />

Legasthenikern nach verhaltenstheoretischem Modell. Schule und Psychologie, 19, S. 336-<br />

346.<br />

Magnusson, E./Nauclér, K. (1993): The development of linguistic awareness in language-<br />

disordered children. In: First language, 13, S. 93-111.<br />

Mann, Ch. (1987): Zur Prävention von LRS im Regelunterricht durch Fortbildung und<br />

Beratung von Lehrern des 1. und 2. Schuljahres – unter besonderer Berücksichtigung der<br />

„Pilotsprache“ – eine Längsschnittuntersuchung. Diss. Göttingen.<br />

Mannhaupt, G. (1992): Strategisches Lernen. Heidelberg.<br />

Mantura, H./Valera, F. J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln<br />

menschlichen Erkennens. Bern.<br />

Marsh, G./Welch, V./Desberg, P. (1980): The development of strategies in spelling. In:<br />

Frith, U. (ed.): Cognitive processes in spelling. Academic Press, London, S. 339-353.<br />

Martinet, C./Valdois, S./Fayol, M. (2004): Lexical orthographic knowledge develops from<br />

the beginning of literary acquisition. Cognition, 91, S. 11-22.<br />

Marx P./Weber, J. (2004): Wie gut lassen sich Lese-Rechtschreibschwierigkeiten bereits im<br />

Kindergarten vorhersagen? Neue Ergebnisse zum Bielefelder Screening. In: Möckel,<br />

A./Breitenbach, E./Drave, W. et al. (Hrsg.): Lese-Schreibschwäche. Vorbeugen, Erkennen,<br />

Helfen. Würzburg, S. 194–208.<br />

Marx, H. (1997): Erwerb des Lesens und Rechtschreibens: Literaturüberblick. In: Weinert, F.<br />

E./Helmke, A. (Hrsg.): Entwicklung im Grundschulalter. Weinheim, S. 85–111.<br />

147


Marx, H./Weber, J. M./Schneider, W. (2001): <strong>Legasthenie</strong> versus allgemeine Lese- und<br />

Rechtschreibschwäche – ein Vergleich der Leistungen in der phonologischen und visuellen<br />

Informationsverar<strong>bei</strong>tung. Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Pädagogische</strong> Psychologie, 15, S. 85-98.<br />

Marx, P./Weber, J./Schneider, W. (2005a): Phonologische Bewusstheit und ihre Förderung<br />

<strong>bei</strong> <strong>Kindern</strong> <strong>mit</strong> Störungen der Sprachentwicklung. Entwicklungspsychologie, Pädagogi-<br />

sche Psychologie, 37, S. 80-90.<br />

Marx, P./Weber, J./Schneider, W. (2005b): Langfristige Auswirkungen einer Förderung der<br />

phonologischen Bewusstheit <strong>bei</strong> <strong>Kindern</strong> <strong>mit</strong> Defiziten in der Sprachentwicklung. Sprach-<br />

heilar<strong>bei</strong>t, 50, S. 280-285.<br />

Milz, I. (1989): Teilleistungsschwächen <strong>bei</strong> <strong>Kindern</strong> und Jugendlichen. Ein heilpädagogi-<br />

sches Problem in unseren Schulen. 2. Aufl. Frankfurt am Main.<br />

Milz, I. (1996): Neuropsychologie <strong>für</strong> Pädagogen. Dortmund.<br />

Milz, I. (1997): Sprechen, Lesen, Schreiben. Programm „Edition Schindele“. Heidelberg.<br />

Milz, I. (1999): Montessori-Pädagogik. Neuropsychologisch verstanden und heilpädagogisch<br />

praktiziert. Dortmund.<br />

Milz, I. (2001): Sprechen, Lesen, Schreiben. Teilleistungsschwächen im Bereich der gespro-<br />

chenen und geschriebenen Sprache. 5., aktualis. und erw. Aufl. Heidelberg.<br />

Missmahl-Maurer, S. (1994): Maria Montessori. Neuere Untersuchungen zur Aktualität und<br />

Modernität ihres pädagogischen Denkens. Frankfurt am Main.<br />

Monroe, M. (1932): Children who cannot read. University of Chicago.<br />

Montessori, M. (1954): Das Kind in der Familie. Stuttgart.<br />

Montessori, M. (1976, 1987): Schule des Kindes. Montessori-Erziehung in der Grundschule.<br />

Freiburg, Basel, Wien.<br />

Montessori, M. (1978; 1996): Kinder sind anders. München.<br />

Montessori, M. (1984): Das kreative Kind. Der absorbierende Geist. 4. Aufl. Freiburg, Basel,<br />

Wien.<br />

Montessori, M. (1985): Grundlagen meiner Pädagogik und weitere Aufsätze zur Anthropolo-<br />

gie und Didaktik. 6. Aufl. Heidelberg.<br />

Montessori, M. (1988): Kosmische Erziehung. Freiburg im Breisgau.<br />

Montessori, M. (1992a): Dem Leben helfen. Freiburg.<br />

Montessori, M. (1992b): Die Macht der Schwachen. Freiburg, Basel, Wien.<br />

Montessori, M. (1996): Montessori Erziehung <strong>für</strong> Schulkinder. In: Von Oy, C. M.: Montes-<br />

sori-Material zur Förderung des entwicklungsgestörten und des behinderten Kindes, Pro-<br />

gramm „Edition Schindele“. Heidelberg.<br />

Montessori, M. (2001a): Die Entdeckung des Kindes. Frankfurt, Berlin, Wien.<br />

148


Montessori, M. (2001b): Kinder lernen schöpferisch. Frankfurt, Berlin, München.<br />

Montessori, M. (2002): Lernen ohne Druck. Freiburg, Basel, Wien.<br />

Montessori, M. (2003): Wissen als Mittel zur Entwicklung der Persönlichkeit. In: Ludwig,<br />

H./Fischer, C.: Verstehendes Lernen in der Montessori-Pädagogik. Münster.<br />

Morais, J. (1991): Phonological Awareness. A Bridge Between Language and Literacy. In:<br />

Sawyer, D. J./Fox, B. (eds.): Phonological Awareness in Reading. The Evolution of Cur-<br />

rent Perspectives. New York.<br />

Morgan, W. P. (1896). A case of congenital word blindness. British Medical Journal, 7, S.<br />

1378-1379.<br />

Morton, J. (1970): A functional model for memory. In: Norman, D. A. (ed.): Models of Hu-<br />

man Memory. New York.<br />

Morton, J. (1979): Word recognition. In: Morton, J./Marshall, J. C. (eds.): Psycholinguistics,<br />

Volume 2, Structures and Processes. London.<br />

Morton, J. (1980): The logogen model and orthographic structure. Experiments causing<br />

change in the logogen model. In: Kolers, P. A./Bouma, H. (ed.) (1979): Cognitive<br />

Processes in Spelling. London, S. 117-133.<br />

Müller, R. G. E. (1964): Die Schreib-Lese-Schwäche als neurotide <strong>Legasthenie</strong> und als Re-<br />

greßphänomen, ZS Sch. U. Psych. 3, München.<br />

Naegele, I. M./Valtin, R. (Hrsg.) (2001): LRS – <strong>Legasthenie</strong> in den Klassen 1-10. Handbuch<br />

der Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Band 2: Schulische Förderung und außerschuli-<br />

sche Therapien. 2. Aufl. Weinheim.<br />

Nave-Herz, R. (2007): Familie heute. Wandel der Familienstrukturen und Folgen <strong>für</strong> die Er-<br />

ziehung. 3., überarb. und erg. Aufl. Darmstadt.<br />

Nickel, S. (2006): Orthographieerwerb und die Entwicklung von Sprachbewusstheit. Zur Ge-<br />

nese und Funktion von orthographischen Bewusstseinsprozessen <strong>bei</strong>m frühen Recht-<br />

schreiberwerb in unterschiedlichen Lernkontexten. Norderstedt.<br />

Niemeyer, W. (1974): <strong>Legasthenie</strong> und Milieu. Ein Beitrag zur Ätiologie und Therapie der<br />

Lese-Rechtschreibschwäche (LRS). Hannover.<br />

Nock, H./Sikorski, P. B./Thiel, R. D. (1988): Die Veränderung der Rechtschreibleistung<br />

durch Selbststeuerung des Denkens in der Diktatsituation. Lehren und Lernen, 14, S. 1-63.<br />

Orton, S. T. (1927). Studies in stuttering. Archives of Neurology and Psychiatry, 18, S. 671-<br />

672.<br />

Piaget, J. (1969): Das Erwachen der Intelligenz <strong>bei</strong>m Kinde. Stuttgart.<br />

Piaget, J./Inhelder, B. (1990): Die Entwicklung des inneren Bildes <strong>bei</strong>m Kind. Frankfurt am<br />

Main.<br />

149


Piaget, J./Inhelder, D. (1975): Die Entwicklung des räumlichen Denkens <strong>bei</strong>m Kinde. Stutt-<br />

gart.<br />

Prange, K./Strobel-Eisele, G. (2006): Die Formen des pädagogischen Handelns. Eine Ein-<br />

führung. Grundriss der Pädagogik/Erziehungswissenschaft. Bd. 32. Stuttgart.<br />

Pschyrembel, W./Bach, M. (2002): Klinisches Wörterbuch. 259., neu bearb. Aufl. Berlin.<br />

Pugh, K. R./Mencl, W. E./Jenner, A. R./Katz, L./Frost, S. J./Lee, J. R. et al. (2000): Func-<br />

tional neuroimaging studies of reading an reading disability (developmental dyslexia).<br />

Mental Retardation and developmental disabilities research reviews, 6, S. 207-213.<br />

Pugh, K. R./Mencl, W. E./Jenner, A. R./Katz, L./Frost, S. J./Lee, J. R. (2001): Neurobio-<br />

logical studies of reading and reading disability. Journal of Communication Disorders, 34,<br />

S. 479-492.<br />

Raapke, H.-D. (2001): Montessori heute. Eine moderne Pädagogik <strong>für</strong> Familie, Kindergarten<br />

und Schule. Reinbek <strong>bei</strong> Hamburg.<br />

Raapke, H.-D. (2003): Montessori an den Pranger? In: Ludwig, H./Fischer, C.: Verstehendes<br />

Lernen in der Montessori-Pädagogik. Münster.<br />

Richards, T. L./Berninger, V. et al. (2005): Brain activation during language task contrasts<br />

in children with and without dyslexia: Inferring mapping processes and assessing response<br />

to spelling instruction. Educational and Child Psychology, 22.<br />

Rodrian, B. (2008): Sprachförderung im familiären Alltag – ein Konzept aus Gruppenar<strong>bei</strong>t<br />

und Einzelar<strong>bei</strong>t. Berlin.<br />

Röhrs, H. (1998): Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf unter internationalem<br />

Aspekt. 5., durchges. und erg. Aufl. Weinheim.<br />

Romonath, R. (1998): Metaphonologische Fähigkeiten <strong>bei</strong> aussprachegestörten <strong>Kindern</strong>. In:<br />

Die neue Sonderschule, 43, S. 171-183.<br />

Rosenkötter, H. (1997): Neuropsychologische Behandlung der <strong>Legasthenie</strong>. Weinheim.<br />

Rosenkötter, H. (2003): Auditive Wahrnehmungsstörungen. Kinder <strong>mit</strong> Lern- und<br />

Sprachschwierigkeiten behandeln. Stuttgart.<br />

Rosenkötter, H. (2004): Studie zur Früherkennung von <strong>Legasthenie</strong>, Forum Logopädie.<br />

Rosenkötter, H. (2007): Neurologische Grundlagen der <strong>Legasthenie</strong>. In: Schöler, H./Welling,<br />

A. (Hrsg.): Sonderpädagogik der Sprache. Göttingen.<br />

Rosenkötter, H. (2010): Homepage. URL: http://www.henning-rosenkötter.de/9.html, Stand<br />

26.11.2010.<br />

Roth, E./Schneider, W. (2002): Langzeiteffekte einer Förderung der phonologischen Be-<br />

wusstheit und der Buchstabenkenntnis auf den Schriftspracherwerb. <strong>Pädagogische</strong> Psycho-<br />

logie, 16, S. 99-108.<br />

150


Roth, H. (1968/1971): <strong>Pädagogische</strong> Anthropologie. 2 Bde. Hannover.<br />

Ruf-Bächtiger, L. (1995): Das frühkindliche psychoorganische Syndrom. Stuttgart.<br />

Rumsey, J. M./Horwitz, B./Donohue, B. C./Nace, K./Maisog, J. M./Andreason, P.<br />

(1997a): Phonological and orthographic components of word recognition. Brain, 120, S.<br />

739-759.<br />

Rumsey, J. M./Donohue, B./Brady, D. R./Nace, K/Griedd, J. N./Andreason, P. (1997b): A<br />

magnetic resonance imaging study of the planum temporale asymmetry in men with deve-<br />

lopmental dyslexia. Archives of Neurology, 54, S. 1481-1489.<br />

Salmelin, R./Service, E./Kiesilä, P./Uutela, K./Salonen, O. (1996): Impaired visual word<br />

pro-cessing in dyslexia revealed with magnetoencephalography. Ann. Neurol., 40, S. 157–<br />

162.<br />

Scheerer-Neumann, G. (1979): <strong>Intervention</strong> <strong>bei</strong> Lese-Rechtschreibstörung. Überblick über<br />

Theorien, Methoden und Ergebnisse. Bochum.<br />

Scheerer-Neumann, G. (1988): Rechtschreibtraining <strong>mit</strong> rechtschreibschwachen Hauptschü-<br />

lern auf kognitionspsychologischer Grundlage. Opladen.<br />

Scheerer-Neumann, G. (1996): Der Erwerb der basalen Lese- und Schreibfertigkeiten. In:<br />

Günther, H./Ludwig, O. (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit, 2. Halbband. Berlin, S. 1153-<br />

1168.<br />

Scheerer-Neumann, G. (1997): Lesen und Leseschwierigkeiten. In: Weinert, F. E. (Hrsg.):<br />

Enzyklopädie der Psychologie. Serie <strong>Pädagogische</strong> Psychologie, Bd. 3. Psychologie des<br />

Unterrichts und der Schule. Göttingen, S. 279-325.<br />

Scheerer-Neumann, G./Kretschmann, R./Brügelmann, H. (1986): Selbstgewählte Wege<br />

zum Lesen und Schreiben. In: Brügelmann, H.: ABC und Schriftsprache. Konstanz, S. 55-<br />

96.<br />

Scheerer-Neumann, G. (2003): LRS und <strong>Legasthenie</strong>. Rückblick und Bestandsaufnahme. In:<br />

Naegele, I. M./Valtin, R. (Hrsg.) (2003): LRS – <strong>Legasthenie</strong> in den Klassen 1-10. Hand-<br />

buch der Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Bd. 1: Grundlagen und Grundsätze der Lese-<br />

Rechtschreib-Förderung. 6. Aufl. Weinheim, S. 32-41.<br />

Schenk, L. (1968): Handbuch der <strong>Legasthenie</strong> im Kindesalter. Weinheim.<br />

Schenk-Danzinger, L. (1975): Handbuch der <strong>Legasthenie</strong> im Kindesalter. 3., durchges. und<br />

erw. Aufl. Weinheim, Basel.<br />

Schenk-Danzinger, L. (1991): <strong>Legasthenie</strong>. Zerebral-funktionelle Interpretation. Diagnose<br />

und Therapie. 2. Aufl. München, Basel.<br />

Schlee, J. (1976): <strong>Legasthenie</strong>forschung am Ende? München.<br />

Schneider, W. (1980): Bedingungsanalysen des Recht-Schreibens. Bern.<br />

151


Schneider, W. (1989): Möglichkeiten der frühen Vorhersage von Leseleistungen im Grund-<br />

schulalter. <strong>Pädagogische</strong> Psychologie 3, S. 157-168.<br />

Schneider, W. (1997): Rechtschreiben und Rechtschreib-Schwierigkeiten. In: Weinert, F. E.<br />

(Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie. Serie <strong>Pädagogische</strong> Psychologie, Bd. 3. Psycholo-<br />

gie des Unterrichts und der Schule. Göttingen, S. 327-363.<br />

Schneider, W. (2004): Frühe Entwicklung von Lesekompetenz. Zur Relevanz vorschulischer<br />

Sprachkompetenzen. In: Artelt, C./Schiefele, U./Schneider, W. et al. (Hrsg.): Struktur,<br />

Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von<br />

PISA 2000. Wiesbaden, S. 13-36.<br />

Schneider, W./Näslund, J. C. (1993): The impact of early metalinguistic competences and<br />

memory capacity on reading and spelling in elementary school: Results of the Munich<br />

Longitudinal Study on the Genesis of Individual Competences (LOGIC). European Jour-<br />

nal of the Psychology of Education, 8, S. 273-287.<br />

Schneider, W./Visé, M./Reimers, P./Blaesser, B. (1994): Auswirkungen eines Trainings der<br />

sprachlichen Bewußtheit auf den Schriftspracherwerb in der Schule. Zeitschrift <strong>für</strong> Päda-<br />

gogische Psychologie, 8, S. 177-188.<br />

Schneider, W./Küspert, P./Roth, E. (1997): Short- and longterm effects of training phono-<br />

logical awareness in kindergarten. Evidence from two german studies. Journal of Experi-<br />

mental Child Psychology, 66, S. 311-340.<br />

Schneider, W./Ennemoser, M./Roth, E./Küspert, P. (1998): Kindergarten prevention of<br />

dyslexia. Does training in phonological awareness work for everybody? Journal of Learn-<br />

ing Disabilities, 32, S. 429-436.<br />

Schneider, W./Roth, E./Ennemoser, M. (2000): Training phonological skills and letter<br />

knowledge in children-at-risk for dyslexia. A comparison of three kindergarten interven-<br />

tion programs. Journal of Educational Psychology, 92, S. 284-295.<br />

Schöler, H. (1987). Zur Entwicklung metasprachlichen Wissens. In: Deutsche Gesellschaft<br />

<strong>für</strong> Sprachheilpädagogik (Hrsg.): Spracherwerb und Spracherwerbsstörungen. Hamburg, S.<br />

339-359.<br />

Schulte-Körne, G. (2001a): Annotation, Genetics of reading and spelling disorder. Journal of<br />

Child Psychology and Psychiatry, 42, S. 985-997.<br />

Schulte-Körne, G. (2001b): <strong>Legasthenie</strong>. Erkennen, verstehen, fördern. Bochum.<br />

Schulte-Körne, G./Schäfer, J./Deimel, W./Remschmidt, H. (1997): Das Marburger Eltern-<br />

Kind-Rechtschreibtraining. Zeitschrift <strong>für</strong> Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychothe-<br />

rapie, 25, S. 151-159.<br />

152


Schulte-Körne, G./Deimel, W./Remschmidt, H. (1998): Das Marburger Eltern-Kind-<br />

Rechtschreibtraining – Verlaufsuntersuchung nach zwei Jahren. Zeitschrift <strong>für</strong> Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 29, S. 7-15.<br />

Schulte-Körne, G./Mathwig, F. (2009): Das Marburger Rechtschreibtraining. Bochum.<br />

Schulze-Frieling, A. (2003a): Montessori-Pädagogik und Hilfen zur Prophylaxe von LRS<br />

durch Funktionsübungen. In: Ludwig, H. u.a.: Verstehendes Lernen in der Montessori-<br />

Pädagogik. München.<br />

Schulze-Frieling, A. (2003b): Zu den Möglichkeiten der Montessori-Pädagogik im Vorfeld<br />

von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. In: Ludwig, H./Fischer, C.: Verstehendes Lernen<br />

in der Montessori-Pädagogik. Erziehung und Bildung angesichts der Herausforderungen<br />

der Pisa-Studie. Münster 2003.<br />

Schwenck, C./Schneider, W. (2003): Der Zusammenhang von Rechen- und Schriftsprach-<br />

kompetenz im frühen Grundschulalter. Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Pädagogische</strong> Psychologie, 17, S.<br />

261-267.<br />

Shaywitz, B. A./Shaywitz, S. E./Pugh, K. R./Mencl, W. E./Fullbright, R. K./Skudlarski,<br />

P./Constable, R. T./Marchione, K. E./Fletcher, J. M./Lyon, G. R./Gore, J. C. (2002):<br />

Disruption of posterior brain systems for reading in children with developmental dyslexia.<br />

Biological Psychiatry, 53, S. 101-110.<br />

Siegert, S./Ritterfeld, U. (2000): Die Bedeutung naiver Sprachlehrstrategien in Erwachse-<br />

nen-Kind-Dyaden. Logos Interdisziplinär 1, S. 37-43.<br />

Silverstein, R., J.D. Director, the Center for the study and advancement of disability<br />

policy (2005): (P.L. 108-446 and the conference report) consortium for citizens with<br />

disabilities. URL: http://www.c-c-d.org/task_forces/education/IdeaUserGuide.pdf Stand:<br />

14.12.2010.<br />

Sirch, K. (1975): Der Unfug <strong>mit</strong> der <strong>Legasthenie</strong>. Stuttgart.<br />

Skowronek, H./Marx, H. (1989): Die Bielefelder Längsschnittstudie zur Früherkennung von<br />

Risiken der Lese-Rechtschreib-Schwäche. Theoretischer Hintergrund und erste Befunde.<br />

Heilpädagogische Forschung, 15, S. 38-49.<br />

Snow, C. E./Burns, S. M./Griffin, P. (1998): Preventing reading difficulties in young<br />

children. Washington D.C.<br />

Sommer-Stumpenhorst, N. (2006): Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Vorbeugen und<br />

überwinden. Von der <strong>Legasthenie</strong> zur LRS, LRS-Diagnose, Förderkonzepte und Übungs-<br />

materialien. Überarb. Neuausg. 10. Aufl. Berlin.<br />

Soremba, E.-M. (1995): <strong>Legasthenie</strong> muss kein Schicksal sein. Was Eltern tun können, um<br />

ihren <strong>Kindern</strong> zu helfen. Freiburg, Basel, Wien.<br />

153


Spallek, R. (2004): Gesunde Sinne <strong>für</strong> starke Kinder. Entwicklungsstörungen erkennen und<br />

handeln. Düsseldorf, Zürich.<br />

Spitta, G. (1997): Kinder schreiben eigene Texte. Klasse 1 und 2. 6. Aufl. Frankfurt am<br />

Main.<br />

Standing, E. M. (1959): Maria Montessori. Leben und Werk. Stuttgart.<br />

Stern, D. (1992): Die Lebenserfahrung des Kindes. Stuttgart.<br />

Strehlow, U. (2004): Langfristige Perspektive von <strong>Kindern</strong> <strong>mit</strong> Lese-Rechtschreibstörungen.<br />

In: Suchodoletz, W. (Hrsg.): Welche Chancen haben Kinder <strong>mit</strong> Entwicklungsstörungen?<br />

Göttingen.<br />

Suchodoletz, W. v. (2006): Therapie der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS). Traditionelle<br />

und alternative Behandlungsmethoden im Überblick. 2. überarb. und erw. Aufl. Stuttgart.<br />

Tallal, P. (2000): Experimental studies of language learning impairments: From research to<br />

remediation. In: Bishop, D. V. M./Leonard, L. (Hrsg.): Speech and Language Impairments<br />

in Children. Causes, Characteristics, <strong>Intervention</strong> and Outcome. Psychology Press Hove, S.<br />

131-151.<br />

Thurston, L./Dasta, K. (1990): An analysis of in-home parent tutoring procedures: Effects<br />

on children’s academic behaviour at home and in school and on parents’ tutoring beha-<br />

viour. Remedial and Special Education, 11, S. 41-52.<br />

Torgesen, J. K. (2008): Ein historischer und konzeptueller Überblick. In: Wong, Bernice Y.<br />

L./Hornung, C. (Hrsg.): Lernstörungen verstehen. Ein Praxishandbuch <strong>für</strong> Psychologen<br />

und Pädagogen. Heidelberg; S. 3-38.<br />

Trossbach-Neuner, E. (1992): Wo<strong>mit</strong> fängt Eimer an? Gesprochene Sprache im Aufbau<br />

phonematischer Bewusstheit. Frankfurt am Main.<br />

Tunmer, W. E./Pratt, C./Herriman, M. L. (1984): Metalinguistic awareness in children:<br />

Theory, research and application. Berlin.<br />

Tunmer, W. E./Rohl, M. (1991): Phonological Awareness and Reading Acquisitions. In:<br />

Sawyer, D. J./Fox, B. J. (eds.): Phonological Awareness in Reading. The Evolution of<br />

Current Perspectives. New York, S. 1-30.<br />

U.S. Individuals with Disabilities Education Act (IDEA) (2004): To reauthorize the<br />

Individuals with Disabilities Education Act, and for other purposes. Public Law 108-446<br />

108th Congress DEC. 3, 2004. S. 118 STAT. 2745. URL:<br />

http://www.copyright.gov/legislation/pl108-446.html Stand: 14.12.2010.<br />

Valtin, R. (1970a): Untersuchungen zur Ätiologie der <strong>Legasthenie</strong>, Zeitschrift <strong>für</strong> Pädagogik,<br />

1.<br />

Valtin, R. (1970b): <strong>Legasthenie</strong> – Theorien und Untersuchungen. Weinheim.<br />

154


Valtin, R. (1974): <strong>Legasthenie</strong> – Theorien und Untersuchungen. 3. Aufl. Weinheim.<br />

Valtin, R. (1975): Ursachen der <strong>Legasthenie</strong>: Fakten oder Artefakte? Kritische Bemerkungen<br />

zum methodischen und theoretischen Konzept der <strong>Legasthenie</strong>forschung. Zeitschrift <strong>für</strong><br />

Pädagogik, 3.<br />

Valtin, R. (1993): Schreiben ist wichtig! Grundlagen und Beispiele <strong>für</strong> kommunikatives<br />

Schreiben(lernen). 3. Aufl. Frankfurt am Main.<br />

Valtin, R. (1997): Stufen des Lesen- und Schreibenlernens – Schriftspracherwerb als<br />

Entwicklungsprozeß. In: Haarmann, D. (Hrsg.): Handbuch Grundschule, Bd. 2. 3. aktualis.<br />

und neu ausgest. Aufl. Weinheim, S. 68-80.<br />

Valtin, R. (2001): Von der klassischen <strong>Legasthenie</strong> zu LRS - notwendige Klarstellungen. In:<br />

Naegele, I. M./Valtin, R.: LRS – <strong>Legasthenie</strong> in den Klassen 1-10. Handbuch der Lese-<br />

Rechtschreib-Schwierigkeiten, Bd. 2: Schulische Förderung und außerschulische Thera-<br />

pien. 2. Aufl. Weinheim, S. 16-35.<br />

Valtin, R./Jung, U. O. H./Scheerer-Neumann, G. (1981): <strong>Legasthenie</strong> in Wissenschaft und<br />

Unterricht. Leseprozeßmodell, Fremdsprachenlegasthenie und Erstlesedidaktik. Darmstadt.<br />

Von Oy, C. M. (1996): Montessori-Material zur Förderung des entwicklungsgestörten und<br />

des behinderten Kindes, Programm „Edition Schindele“. Heidelberg.<br />

Wagner, R. K./Torgesen, J. K. (1987): The Nature of Phonological Processing and its Caus-<br />

al Role in the Acquisition of Reading Skills. In: Psychological Bulletin, 101, S. 192-212.<br />

Warnke, A. (1990): <strong>Legasthenie</strong> und Hirnfunktion. Neuropsychologische Befunde zur visu-<br />

ellen Informationsverar<strong>bei</strong>tung. Bern, Stuttgart, Toronto.<br />

Warnke, A./Remschmidt, H./Niebergall, G. (1989): <strong>Legasthenie</strong>, sekundäre Symptome und<br />

Hausaufgabenkonflikte. In: Dummer-Smoch, L. (Hrsg.): <strong>Legasthenie</strong>. Bericht über den<br />

Fachkongreß, Bundesverband <strong>Legasthenie</strong>. Hannover, S. 13-33.<br />

Warnke, A./Wewetzer, C./Grimm, T. (1998): Lese-Rechtschreibstörungen. Begriff – neuro-<br />

logische Befunde – Prognose. In: Schulte-Körne, G. (2001b): <strong>Legasthenie</strong>. Erkennen, ver-<br />

stehen, fördern. Bochum, S. 32.<br />

Weber, J.-M./Marx, P./Schneider, W. (2002): Profitieren Legastheniker und allgemein lese-<br />

rechtschreibschwache Kinder in unterschiedlichem Ausmaß von einem Rechtschreibtrai-<br />

ning? Psychologische Erziehung Unterricht, 49, S. 56-70.<br />

Wehr, S. (1994): Theorien und Forschungsergebnisse zur metasprachlichen Entwicklung.<br />

Implikationen <strong>für</strong> Diagnose und Therapie sprachbehinderter Kinder. Die Srachheilar<strong>bei</strong>t,<br />

39, S. 288-296.<br />

Weinert, F. E. (1977). <strong>Legasthenie</strong>: Defizitäre Erforschung defizitärer Lernprozesse? Psy-<br />

chologie in Erziehung und Unterricht, 24, S. 164-173.<br />

155


Weinschenk, C. (1981): Die Eingliederungshilfe <strong>für</strong> Legastheniker und Rechengestörte nach<br />

dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Kinder-Jugendpsychiatrie, 9, S. 435-445.<br />

Weiß, E. (2007): Was brauchen kleine Kinder und ihre Familien? Frühförderung Interdiszip-<br />

linär, 2, S. 78-86.<br />

Wimmer, H./Hartl, H. (1991): Erprobung einer phonologischen, multisensorischen Förde-<br />

rung <strong>bei</strong> jungen Schülern <strong>mit</strong> Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Heilpädagogische For-<br />

schung, 17, S. 74-79.<br />

Zimmer, R. (2005): Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen<br />

Bildung und Erziehung. 13. Gesamtaufl. Freiburg im Breisgau.<br />

156


Anhang<br />

Abb. 2: Bausteine der kindlichen Entwicklung<br />

Quelle: Ayres 1984<br />

157


Abb. 3: Das Logogenmodell nach Morton in überar<strong>bei</strong>teter Version nach Ellis<br />

Quelle: zit. nach Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995, S. 98 170 .<br />

170 Die neben den Verbindungspfeilen befindlichen Abkürzungen geben die Art der weitergegebenen<br />

Informationen an visuell, akustisch, grammatikalisch, semantisch, phonemisch, lexikalisch, als motorisches<br />

Muster von Graphemen und kinästhetisch.<br />

158


Abb. 4: Das Grundgerüst der Montessori-Pädagogik<br />

Quelle: Hagemann/Börner 2009, S. 20<br />

Abb. 5: Das Drei-Phasen/Sechs-Stufen-Modell des Erwerbs von Lesen und Schreiben nach Frith<br />

Quelle: Graf 1994, S. 108<br />

159


Abb. 6: Persönlichkeitskonstitution<br />

Quelle: Holtstiege 2009, S. 66<br />

160


Abb. 7: AFS-Methode im visualisierten Überblick nach Kopp-Duller<br />

Quelle: Kopp-Duller 2008a, S. 42<br />

161


Abb. 8: Verlauf des Wahrnehmungsprozesses<br />

Eigene Darstellung in Anlehnung an Zimmer 2005, S. 47<br />

162

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!