Das Erbe
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<strong>Das</strong> <strong>Erbe</strong> – Aktionsforschung im lokalen Aushandlungsfeld von Wertschätzung, Sinn und Bedeutung<br />
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Manches hat er offenbar nicht<br />
mehr realisieren können – die<br />
Figur beispielsweise, die ihren<br />
Kopf in der Hand hält<br />
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umdrehe, wird sichtbar, dass die Metallscheibe ein<br />
Ziffernblatt hat und ich offenbar ein altes Thermometer<br />
mit neuem Verwendungszweck in der<br />
Hand halte. Auf dem ersten hier „aufgespießten“<br />
Papier lese ich: „Sport ist ein Brivileg der Landlosen“<br />
12 . Weiter blätternd finde ich Papiere mit Zahlen<br />
– offenbar Konstruktionsmaße. Auf einem anderen<br />
Zettel ist eine Zeichnung zu sehen. Noch<br />
mehr Zeichnungen auf weiteren Zetteln – in einer Skizze meine ich ein Gefährt zu erkennen,<br />
welches draußen einen Teil des Gartenzauns bildet. Herr Kramer hat es aus Hufeisen gemacht.<br />
Andere in den Papieren auf dem Metallstab sich andeutende Ideen hat er offenbar<br />
nicht mehr realisieren können – die Figur beispielsweise, die ihren eigenen Kopf in der Hand<br />
hält. Es ist der „Haule“, werde ich später erfahren – berühmt berüchtigt aus einer Pfullinger<br />
Sage und den wollte Peter Kramer als Holzskulptur vor sein Haus stellen. 13<br />
Sabine Kramer, seine Tochter sagt:<br />
„Also mein Vadder war für mich schon an richtiger<br />
Künschtler, also ohne Frage. Aber bei seinen<br />
Kunschtprojekten, da hat er au scho emmer so<br />
sein eigena Gschmack ghet oder hat do au so<br />
Sacha gmacht, die däd koi Mensch macha, aber<br />
mein Vadder hot se gmacht.“ 14<br />
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Ein fraglos richtiger Künstler?<br />
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Ein fraglos richtiger Künstler? Ein Fragezeichen drängt sich mir auf. Handelt es sich bei dem<br />
<strong>Erbe</strong> um Kunst? Ist das Haus in der Gönninger Straße 112 ein Künstlerhaus?<br />
Der verstorbene Vater wird hier von der Tochter als Künstler vorgestellt, der nicht in Frage zu<br />
stellen sei. Deutet diese Betonung vielleicht darauf hin, dass er eben gerade doch in Frage<br />
gestellt ist bzw. wurde? Sie beschreibt seinen "eigenen Geschmack" als etwas, was wie eine<br />
Einschränkung klingt − "aber". Dabei könnte man doch glauben, so denke ich mir, dass der<br />
eigene Geschmack ja einen Künstler gerade ausmacht. Ein solches Verständnis scheint aber<br />
entweder aus Sicht der Sprecherin oder aus Sicht des von ihr gedachten Publikums meiner<br />
Filmaufnahmen nicht vor zu herrschen. Ich frage mich? Weist das vielleicht auf ein bestimmtes<br />
Verständnis im Umfeld des Hauses hin, nach dem der Künstler einen bestimmten – und<br />
eben gerade nicht „eigenen“ − Geschmack zu haben habe?<br />
Eine weitere Frage erscheint mir bedenkenswert: Um was für eine Art von Situation geht es<br />
hier eigentlich?<br />
Der Vater ist gestern gestorben. Sein Tod war noch vor einigen Tagen von der Tochter nicht<br />
erwartet worden. Direkt nach seinem Ableben im Reutlinger Krankenhaus fuhren seine beiden<br />
Kinder von dort zu seinem Haus in der Gönninger Straße 112. Tochter und Sohn befestigten<br />
ein schwarzes Trauerband in einem Fenster, hinter welchem er "immer saß". Es wurde<br />
eine Kerze ins Fenster gestellt und einige weitere Kerzen in den Garten.<br />
Die Tochter bat mich als einen ihr persönlich verbundenen „Aktionsforschungsfilmer“ das<br />
Haus, so wie Peter es verlassen hatte, zu dokumentieren. Dabei geht es ihr ausschließlich um<br />
das alte Bauernhaus, das er nicht bewohnte. Der Zustand seines Wohnhauses soll nicht dokumentiert<br />
werden. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen geht die Tochter offenbar davon aus, dass<br />
das entstehende Video vor Publikum gezeigt werden wird. Sabine Kramer hat, so scheint es<br />
12 Dokument 9.10.10 / 1<br />
13 Vgl. Feldnotiz vom 24.3.11 (Auskunft von Sabine Kramer)<br />
14 Videodokument 9.10.10<br />
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