Christopher Purves bass - Chandos
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CHAN 3121 BOOK.qxd 12/9/06 4:19 pm Page 34<br />
Die Zauberflöte bedeutet für jeden etwas<br />
anderes, und dies gilt, wie sich herausstellen<br />
wird, gleichermaßen für männliche wie für<br />
weibliche Hörer. Das Werk ist komisch,<br />
zugleich aber auch todernst. Es eignet sich als<br />
populäre Unterhaltung, ist aber auch hohe<br />
Kunst. Die Handlung ist zutiefst<br />
geheimnisvoll und doch klar wie der helle Tag.<br />
Auf die seit seiner Entstehung vergangene Zeit<br />
bezogen mag das Werk alt sein, 1791 war es<br />
jedoch überraschend neu und originell – und<br />
das ist es eigentlich auch noch heute. Und<br />
heute werden nur die früh Gealterten unter<br />
uns etwas anderes darin sehen als ein Wunder<br />
an Erfindungsgabe, die seinerzeit jegliche<br />
Schablonen sprengte.<br />
Mit der Zauberflöte durchbrach Mozart<br />
tatsächlich die gängigen Konventionen der<br />
Oper. Er schrieb das Werk nicht für den<br />
Wiener Hof wie seine vorangehende deutsche<br />
Oper, Die Entführung aus dem Serail. Er<br />
schrieb es nicht für ein städtisches<br />
Opernpublikum, das vorgab, italienisch zu<br />
verstehen, sondern für das Theater auf der<br />
Wieden, ein baufälliges altes Theater in der<br />
Vorstadt, aus Holz und nicht für die Ewigkeit<br />
Mozart: Die Zauberflöte<br />
gebaut – heute ist es längst verschwunden. Der<br />
Schauspieler und Manager Emanuel<br />
Schikaneder, dessen Ensemble ausgedehnte<br />
Tourneen durch die deutschsprachigen Länder<br />
(er war ein gefeierter Hamlet und Lear), hatte<br />
das Theater gepachtet und wollte mit<br />
volkstümlicher Unterhaltung etwas Geld<br />
verdienen – ihm schwebte ein lose gestricktes<br />
Märchen von der Art vor, wie sie seinerzeit in<br />
Wien sehr populär waren. Das Theater<br />
verfügte über die Mittel zu spektakulären<br />
Bühneneffekten, mit allerhand Flugkünsten an<br />
Drähten und Falltüren. Eine Pantomime am<br />
Hackney Empire im Londoner Eastend wäre<br />
eine hilfreiche Analogie.<br />
Schikaneder schrieb das Libretto selbst,<br />
höchstwahrscheinlich mit Unterstützung von<br />
Mitgliedern seines Ensembles, und da er<br />
offensichtlich nicht nur ein großer Tragöde<br />
sondern auch als Komödiant ein Naturtalent<br />
war, übernahm er selbst die Rolle des<br />
Papageno, eine der großen komischen Figuren<br />
der Opernliteratur. Mozart setzte sich über die<br />
Gattungsbeschränkungen des Märchens<br />
hinweg und man spürt, wie er die Freiheit<br />
genoß, die sich sowohl aus dem Format ergab<br />
als auch aus dem Umstand, daß er für ein<br />
volkstümliches und nicht für ein typisches<br />
Opernpublikum schrieb. Es fehlte der Zwang,<br />
irgendwelche Erwartungen zu erfüllen, der<br />
selbst in der Da-Ponte-Trilogie bestanden<br />
hatte: Keine Bravourarien, keine bindenden<br />
konventionellen Formen, keine<br />
Notwendigkeit, jemandem eine Arie zu geben,<br />
bloß weil er da war. Mozart konnte tun, was er<br />
wollte, und das tat er auch – und hierin liegt<br />
der Grund, warum die Zauberflöte auch heute<br />
noch so frisch wirkt.<br />
Im Laufe der Jahre ist über den<br />
geheimnisvollen Charakter des Librettos viel<br />
Tinte verschrieben worden. Insbesondere<br />
wurde behauptet, daß die Handlung nach der<br />
Hälfte des ersten Akts eine plötzliche<br />
Wandlung durchmacht, da die Königin der<br />
Nacht, die als “gutes” Wesen begann, nun zum<br />
Bösewicht wird, während Sarastro sich<br />
umgekehrt entwickelt. Doch davon läßt sich<br />
nur der naive Theatergänger überzeugen – es<br />
ist nie weise, alles zu glauben, was die Leute<br />
von sich selbst behaupten, schon gar nicht im<br />
Theater. Edward Dent, der sich mehr als<br />
irgendjemand anderes im zwanzigsten<br />
Jahrhundert für die Popularisierung von<br />
Mozarts Opern einsetzte – nicht zuletzt auch<br />
durch seine Übersetzungen –, beschrieb das<br />
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Libretto der Zauberflöte 1913 als “eines der<br />
absurdesten Exemplare dieser Literaturform, in<br />
der die Absurdität als selbstverständlich<br />
hingenommen wird”. Dent hatte einen<br />
ausgeprägten Sinn für Humor und meinte dies<br />
vielleicht nicht ganz ernst. Goethe hatte ein<br />
Jahrhundert zuvor geschrieben, es gehöre mehr<br />
Kenntnis dazu, dieses Libretto zu verstehen als<br />
sich darüber lustig zu machen; und Goethe<br />
mußte es wissen, denn er hatte selbst den<br />
Versuch unternommen (und war daran<br />
gescheitert), eine Fortsetzung zu schreiben.<br />
Man kann die Geschichte auf den<br />
verschiedensten Ebenen verstehen. Auf der<br />
einfachsten ist dies die Erzählung einer Reise<br />
aus der Dunkelheit ins Licht. Sie beginnt in<br />
der Nacht, dem Reich der Königin, und endet<br />
in strahlendem Sonnenlicht, Sarastros<br />
Domäne. Auf der kompliziertesten handelt es<br />
sich bekanntlich um eine logisch und stringent<br />
entwickelte Allegorie der Rituale des<br />
Freimaurertums, die keineswegs so wacklig<br />
konstruiert ist wie das Theater, in dem das<br />
Werk zuerst aufgeführt wurde – jede Zeile hat<br />
ihre Bedeutung. Nun, entweder man kennt<br />
sich im Freimaurerwesen aus oder man tut es<br />
nicht, es macht, ehrlich gesagt, keinen<br />
Unterschied. Der einzige relevante Aspekt ist,<br />
daß im achtzehnten Jahrhundert eine