Rotary Magazin 01/2024
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THÈME DU MOIS – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – JANVIER <strong>2024</strong><br />
29<br />
DIE SCHIZOPHRENIE<br />
DER GESELLSCHAFT<br />
Singer weiss nur zu gut, dass Argumente<br />
lediglich begrenzte Wirkungen entfalten.<br />
Zum Teil haben sich die Menschen in ge -<br />
radezu schizophrenen Verhaltensweisen<br />
eingerichtet. In diesem Zusammenhang<br />
verweist er auf unseren Umgang mit Tieren.<br />
Wir halten Haustiere, es gibt zahllose<br />
Tierschutzvereine, aber kaum jemand<br />
interessiert sich für die viel grössere Anzahl<br />
von Tieren, die unter jämmerlichsten<br />
Bedingungen zur Schlachtreife gebracht<br />
werden. Singer beharrt darauf, dass<br />
zumindest höher entwickelte Tiere<br />
Schmerz empfinden und auch andere<br />
Regungen wie Angst haben. Ihnen wird in<br />
der industriellen Praxis Leid zugefügt.<br />
Was in diesem Buch weniger eine Rolle<br />
spielt, aber seit Jahrzehnten für heftige<br />
Kontroversen sorgt, ist Singers Ansicht,<br />
dass eine scharfe Trennung zwischen<br />
Mensch und Tier zumindest bei den Primaten<br />
nicht möglich ist. Psychische Funktionen<br />
von Tieren sind mit dem Menschen<br />
vergleichbar, sonst gäbe es nicht so viele<br />
Haustiere. Aber nicht jeder Mensch verfügt<br />
immer über sein ganzes Arsenal psychischer<br />
Fähigkeiten. Entsprechend kann es<br />
sein, dass er entweder nur leidet oder gar<br />
nicht leidet. Es müsse daher möglich sein,<br />
nach gewissenhaften und rationalen<br />
Abwägungen zu entscheiden, ob ein Leben<br />
weitergeführt werden soll oder nicht.<br />
Mit dieser Grenzüberschreitung hat<br />
sich Singer in weiten Kreisen verhasst<br />
gemacht, aber bei nüchterner Betrachtung<br />
kann sich erweisen, dass er nur den<br />
Finger in eine schwärende Wunde gelegt<br />
hat. Denn mit ihrer Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik<br />
ist die Medizin<br />
schon längst bei utilitaristischen Bewertungen<br />
angekommen. Und bei älteren<br />
Menschen werden gewisse medizinische<br />
Leistungen begrenzt, um die damit frei<br />
werdenden Ressourcen jüngeren Patienten<br />
zur Verfügung zu stellen. Man ist<br />
daher gut beraten, die utilitaristische<br />
Denkweise nicht einfach zu verteufeln,<br />
sondern ihre Herausforderungen ernst zu<br />
nehmen und damit für mehr Ehrlichkeit zu<br />
sorgen.<br />
Peter Singer, Effektiver Altruismus.<br />
Eine Anleitung zum ethischen Leben.<br />
Aus dem Englischen von Jan-Erik Strasser,<br />
237 Seiten, Suhrkamp Verlag Berlin.<br />
K Stephan Wehowsky | A iStock<br />
Mit freundlicher Genehmigung<br />
von Journal21.ch<br />
Stephan Wehowsky arbeitete nach seinem<br />
Studium zunächst in Buchverlagen und<br />
wechselte danach zur Süddeutschen<br />
Zeitung. Zudem erschienen zahlreiche<br />
Beiträge in Zeitschriften, der FAZ, der NZZ<br />
und im Hörfunk. Auch als Buchautor und<br />
Herausgeber beschäftigte er sich mit<br />
ethischen, philosophischen und<br />
gesellschaftlichen Fragen