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Literatur machen

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6<br />

LITERATUR MACHEN


Liebe Leserinnen und Leser,<br />

Noch ein Wort vor das Wort: Lesen: Da bin ich schon im Wort.<br />

Schreiben: Da bin ich noch vor dem Wort,<br />

da bin ich noch allein mit dem Wort.<br />

Kräfteverhältnisse: Ergreife ich das Wort oder ergreift das Wort mich?<br />

Besitze ich Sprache oder bin ich von ihr besessen?<br />

Es gibt Details zwischen uns,<br />

Umgrenzungen der Körper, Werkzeuge.<br />

Etwa: Zimmer/ICE/Mischwald,<br />

Stift/Tastatur/Messer,<br />

Briefpapier/Bildschirm/Borke.<br />

Woher kommt sie mir zu? Aus den Rückzeiten der Historie,<br />

den Parallelreichen der exakten Wissenschaften,<br />

der Poesie („Sprache, die sich verschließt – oder blüht“)?<br />

Oder ist all dies falsch und Sprache kommt<br />

aus einer inneren Unteilbarkeit des Sprechenwollens?<br />

Gegeben die Metapher: Sprache sei Geld.<br />

Kann ich Sprache prägen, bevor sie in Umlauf gerät?<br />

Oder sehe ich ein: Ich bleibe ihr Benutzer.<br />

Doch: letzter, schöner Eigensinn:<br />

Ich möchte gut mit ihr umgehen.<br />

Wie auch immer: Das Wort führt zum Du. Und wieder zurück.<br />

Das Wort stellt Dinge in den Kopf.<br />

Das Wort trägt Gedanken, tonnenschwer.<br />

06<br />

01<br />

Boris Kerenski<br />

Redaktion <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong>


Impressum <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> ist ein zweimal jährlich erscheinender<br />

Werkstattbericht der Schreibwerkstätten für Jugendliche<br />

des <strong>Literatur</strong>hauses Stuttgart, Auflage 7.000<br />

Copyright Die Rechte für die einzelnen Beiträge<br />

liegen bei den Autorinnen und Autoren,<br />

für die Gesamtausgabe beim <strong>Literatur</strong>haus Stuttgart<br />

Kontakt <strong>Literatur</strong>haus Stuttgart<br />

Erwin Krottenthaler<br />

Boschareal, Breitscheidstraße 4<br />

70174 Stuttgart<br />

Tel.: 0711 / 220 21 741<br />

Fax: 0711 / 220 21 748<br />

E-Mail: info@literaturhaus-stuttgart.de<br />

www.literaturhaus-stuttgart.de<br />

06<br />

02<br />

Besuchen Sie <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> im Internet unter:<br />

www.literatur<strong>machen</strong>.de<br />

<strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> erscheint mit<br />

freundlicher Unterstützung der<br />

Robert Bosch Stiftung GmbH Stuttgart<br />

Die Schreibwerkstätten des <strong>Literatur</strong>hauses<br />

ab Oktober 2004<br />

(Anmeldungen sind direkt beim jeweiligen Werkstattleiter<br />

oder über das <strong>Literatur</strong>haus möglich)<br />

Reportage Tilman Rau [rau@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />

Drama Thomas Richhardt [thomas.richhardt@jes-stuttgart.de]<br />

Wort und Spiele Timo Brunke [brunke@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />

Rap Tobias Borke [borke@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />

Prosa Tilman Rau [rau@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />

Ulrike Wörner [woerner@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />

Poesie José F.A. Oliver [oliver@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />

Sergiu Stefanescu [stefanescu@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />

Schreiben im Dialog Erwin Krottenthaler [krottenthaler@literaturhaus-stuttgart.de]<br />

Ansprechpartner für<br />

die Veranstaltungsreihe Zetteldämmerung Timo Brunke<br />

[brunke@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />

die Zeitschrift <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> Boris Kerenski<br />

[kerenski@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />

die Website <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> Sergiu Stefanescu<br />

[stefanescu@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />

Layout <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> Jochen Starz · starz engineering<br />

[zapp@schaltwerk.net]<br />

06<br />

03


06<br />

04<br />

06<br />

05<br />

Beobachten, mehr erst mal nicht.<br />

Der Mann, auf dem Sitzplatz gegenüber, in der U-Bahn.<br />

Wie sieht er aus? Was hat er an? Sein Anzug, der Koffer,<br />

die gegelten Haare. Wo kommt er her? Worüber denkt er nach?<br />

Was ist seine Geschichte? Interessiert sie mich?<br />

Oder: Das Mädchen gestern auf dem Schlossplatz.<br />

Als ihr, vermeintlicher, Freund bei ihr war wirkte sie gelöst.<br />

Sie wirkte nachdenklich, als er kurz zum Imbiss ging,<br />

um zwei Stück Pizza zu kaufen. Als er zurück kehrte,<br />

lachte sie und scherzte mit ihm und aß zufrieden ihre Pizza.<br />

Was war los mit ihr in seiner kurzen Abwesenheit?<br />

Hat sie vielleicht darüber nachgedacht,<br />

wie sie ihrem Freund das Ende ihrer Beziehung beibringt?<br />

Vielleicht, wie sie ihn um die Ecke bringt?!<br />

Der Autor entscheidet das!<br />

Und diese Entscheidungsfreiheit haben wir<br />

in der Werkstatt versucht zu entdecken.<br />

Im besten Fall haben wir uns selbst überrascht!<br />

Intakte Sinnesorgane und dann noch Interesse,<br />

nein, besser: Neugier!<br />

Mehr brauchten wir zum Schreiben, erst mal, nicht.<br />

Und das noch!<br />

Der Zweifel. Das ist Schreiben!, hat Marguerite Duras mal gesagt.<br />

Klingt richtig, was?<br />

Niko Eleftheriadis, Werkstattleiter


Samuel Teixeira<br />

Frivole Ängstlichkeiten (Ausschnitt)<br />

[…] Nichts entgeht mir, ich beobachte<br />

alles mit Adlersaugen, um jene abstoßenden<br />

Deserteure für, dich, Mami, im<br />

Hinterkopf zu behalten, damit, wenn es<br />

früher oder später gelingt, dich von den<br />

erdrückenden Teufelstatzen eigenhändig<br />

zu befreien, wir beide, stolz auf den<br />

Triumph, uns über die Jammerlappen<br />

lustig <strong>machen</strong>, welche tugendlos vor der<br />

Tortur fliehen, dem Terror nicht ins<br />

Auge blicken wollen! Und derer gibt es<br />

hier viele! In der Tat kommt es mir in<br />

zunehmendem Maße so vor, als sei es für<br />

den Vermieter eine ungeheure Genugtuung,<br />

die ihn beruhigt, zu wissen, dass<br />

in diesem seinem Haus voller kahler<br />

Appartements, denen jegliche Farbe<br />

fehlt, nur Irre wohnen und ihren Unfug<br />

treiben!<br />

Ja, mir scheint, es sei für ihn von essentieller<br />

Bedeutung, diesen gehetzten<br />

Seelen in seinem Park, der im Gegensatz<br />

zu dem öden oder gänzlich fehlenden<br />

Mobiliar in den Korridoren seines Geisterschlosses<br />

(so kalkweiß ist es, den Gesichtern<br />

der Bewohner glänzend angepasst)<br />

wunderschön anzusehen ist, wie ich<br />

zugeben muss, Zuflucht zu gewähren…<br />

(Ein Zufluchtsort, der sich für Herrn Zauberberg<br />

jedoch als Ort des Schreckens<br />

und des Grauens erweist.)<br />

Ja, so scheint es mir… Und… Genau<br />

deswegen… Ja, genau aufgrund dieser<br />

grotesken Tatsache, die ich leid bin,<br />

habe ich heute kurzerhand beschlossen,<br />

mir eine andere Bleibe zu suchen! Weg<br />

von dem ganzen Gesindel, weg von<br />

Herrn Zauberberg, weg von den kahlen<br />

Wänden, hinaus Mami aufzusuchen,<br />

deren zarte Lippen ich so misse, deren<br />

06<br />

06<br />

grazilen Duft ich wieder einzuatmen<br />

brauche, deren anmutige Stimme ich<br />

erneut vernehmen muss! Ich werde ihr<br />

bei der Vertreibung der Dämonen, die<br />

Engel Gabriel, der Himmelsbote, ihr<br />

hoffnungsvoll, in Erwartung einer tapferen<br />

Konfrontation, zukommen ließ<br />

(der arme Gottesverkünder, für den die<br />

teuflischen Schemen Überhand nahmen…),<br />

tatkräftig zur Seite stehen, denn<br />

auch mir flüstert er, nun anstelle des<br />

Windes, heilige Mysterien zu, denen zu<br />

folgen ist… Und mache dir keine Sorgen,<br />

Mami: Die Deserteure kriegen wir noch!<br />

Nun denn… „Bloß keine Angst“, „bloß<br />

keine Angst“… Die Koffer sind gepackt,<br />

alle Reisevorbereitungen bereits zu<br />

früher Morgenstund’ mit pedantischer<br />

Sorgfalt und großer Mühe getroffen…<br />

Man muss bereit sein, neu zu beginnen,<br />

sich Neuem ohne Wenn und Aber zu<br />

stellen… So will es die unendlich gerechte<br />

Königin, der man Gehorsam zollen<br />

muss… So will es der Himmelsbote,<br />

dessen endlose Weisheit nie dem<br />

menschlichen Verstand je zugänglich<br />

sein wird… Auch wenn es oftmals<br />

Komplikationen mit den Stimmen und<br />

den weißen Männern (alles Hirngespinste,<br />

alles unecht…) gab, dieses Mal muss<br />

es klappen, dieses selige Mal! Langsam…<br />

Behutsamen Schrittes… Nur noch wenige<br />

Meter bis zur Wohnungstür… Was?…<br />

Nein, es ist nichts… Nein, nicht beirren<br />

lassen… Weiter, nur weiter!… Du Narr,<br />

lasse sie dich nicht für blöd verkaufen! Sie<br />

werden dich nicht kriegen, dieses eine<br />

Mal nichtl Doch… wenn sie es dennoch<br />

schaffen? Wenn sie stärker sind?…<br />

Stärker?! Wertlose Gedanken, wirres<br />

Zeug, angesammelt in den schlaflosen<br />

Nächten!! Ja, gewiss bloß mangelnder<br />

Schlaf, der sie herbeiruft… Gewiss bloß<br />

die Macht der Suggestion… …Dass ich<br />

nicht lache! IHR, mir Angst <strong>machen</strong>!<br />

Macht der Suggestion, sag’ ich!! Hört ihr?!<br />

Macht der Suggestion, nichts weiter!!!<br />

LA-LA-LA!<br />

Ich höre nichts,<br />

du bist so fern!<br />

Und fängst du mich,<br />

entflieh’ ich gern!<br />

Ich höre nichts,<br />

du bist so fern!<br />

Und fängst du mich,<br />

entflieh’ ich gern!<br />

Ich höre nichts,<br />

du bist so…<br />

fern…<br />

und fängst…<br />

Nein, nicht fangen! Nein, nicht! Nicht<br />

jetzt! Befreien, entfliehen, wie tapfere<br />

Mutter in Todesstunde!… Ja, schwächer<br />

werden lassen… Entweichen lassen…<br />

„Bloß keine Furcht“… „Bloß keine<br />

Furcht“… Die Engel mit den schützenden<br />

Kampfesschilden, sie sind überall,<br />

nur schauen, nur hinblicken… Und<br />

„bloß keine Angst“… Hmm… Sind sie<br />

weg? … …<br />

Lächerlich! Ich hätte Schauspieler<br />

werden sollen, hab’s echt drauf! Gut zu<br />

wissen, dass man nie wie die endet!<br />

Also dann, die Freiheit ruft! Tü-ür… AUF!!!<br />

… Nein, nicht ihr! Nicht die weißen<br />

Männer! Teuflische Tatzen, hinfort mit<br />

euch! Voller Sünde seid ihr, da ihr<br />

die Königin entführt habt! Spucken<br />

sollte man auf euch, euch niederhauen!<br />

Schweine, verdammte Arschlöcher,<br />

Hurenböcke… ihr… Schwei-… -ne…<br />

seid… Engel… Monster… Ja, auch der<br />

Boden… wieder normal… Vögel weg…<br />

Tut gut… Jaa… Spitz, aber hilfreich, das<br />

Beruhigungsutensilium… Die Blumen<br />

wieder schön, der Boden fest… Ja, macht<br />

die Angst entweichen!… Weg… weil…<br />

ihr… Gehorsam gezollt… werden<br />

muss… Mami… …<br />

06<br />

07<br />

Juliane Reichert<br />

Stille. Dunkel.<br />

Stille. Dunkel. Wie ein Liebespaar, dass<br />

nicht ohneeinander existieren kann.<br />

Warum hast Du Angst im Dunkeln?<br />

Vielleicht ist es auch nur die Stille, die das<br />

Dunkel begleitet und die Angst mit sich<br />

bringt. Hast du Angst vor Stille? Sie ist<br />

eigentlich mindestens genauso beängstigend,<br />

und doch merkt es keiner.<br />

Und nur, weil die Augen auch bei Stille<br />

sehen können, heißt das noch lange nicht,<br />

dass sie auch wirklich etwas erfassen<br />

können. Vielleicht hast Du ja deswegen so<br />

viel Angst. Augen zu. Dunkel. Du schaust<br />

jetzt woanders hin. Denn blind bist du<br />

bei Dunkelheit bestimmt nicht, Du siehst<br />

nur Dinge, die das grelle Tageslicht nicht<br />

erreicht. Stille. Als sähest Du mit den Ohren.<br />

Siehst Du die Stille? Sommerstille. Die<br />

Sonne scheint und die Pflanzen bewegen<br />

sich im Wind. Kein Laut. Du aber kannst<br />

sie nicht genießen. Obgleich sie sehr schön<br />

sein kann, gereinigt vom Überfluss des<br />

Gesagten. Ruhe. Ohren auf. Hör in Dich<br />

hinein, bestimmt ist es da nicht so still wie<br />

draußen. Gibst Du also zu, dass Du Dich<br />

nur deswegen so sehr vor ihr fürchtest,<br />

weil es dann einmal wirklich anfängt,<br />

laut zu werden. Fürchtest Du Dich deshalb<br />

im Dunkeln, weil Du dann woanders<br />

hinsehen musst?<br />

Glaub’ nicht, dass Du auf diese Weise<br />

davonkommst, sie begegnen Dir überall<br />

und immer wieder. Sind mächtiger als Du.<br />

Herrschen wie ein Königspaar über uns<br />

Spielfiguren. Und keine Ablenkung wird<br />

Dir je helfen, Deine Augen und Ohren<br />

so sehr zu beschäftigen, dass es keine Stille<br />

gibt, bei der sie nicht hören und keine<br />

Dunkelheit, bei der sie nicht sehen<br />

könnten. Also stell’ dich!


06<br />

08<br />

Samuel Teixeira<br />

Glashaus in Scherben<br />

Ich stamme aus der Generation von<br />

Kindern und Jugendlichen, die in<br />

Gewächshäusern aufwuchs.<br />

Wir alle liebten die stickige Schwüle, die<br />

verdunstende Schweißperlen in unsere<br />

rosigen Bäckchen trieb. – Das Hygrometer<br />

sagte: 70% – Wir waren eingewickelt<br />

in wärmende Dampfwolken; der<br />

Mangel an Schnullern war uns bald egal.<br />

– Das Thermometer flüsterte: 28°C –<br />

Meine fürsorglichen Eltern wollten verhindern,<br />

dass ich eingehe. Papa glaubte<br />

nicht an die Wirkung von Gewächshäusern.<br />

Mama aber war fest davon<br />

überzeugt. Sie war auch diejenige, die<br />

einen Führerschein ihr Eigen nannte.<br />

– Nächster Halt: Da, wo die Samen<br />

sprießen, Lavendel blüht –<br />

Es war mir ein Leichtes, mich anzupassen.<br />

Warum? Na, meinem juckenden Zahnfleisch<br />

war es von je her verwehrt worden,<br />

die Bekanntschaft mit Schnullern<br />

zu schließen. Ich wusste nicht einmal,<br />

wie man Schnuller buchstabiert. OK…<br />

Letzteres ist verständlich, immerhin musste<br />

ich erst 4 Finger von der verkrampften<br />

Faust lösen, wenn Tante Emma mich<br />

nach dem Alter fragte.<br />

Es schien unentwegt die Sonne. Jedoch<br />

konnten wir getrost auf Sonnenbrillen<br />

verzichten, denn unsere Netzhaut hatte<br />

grelle, stechende Blitze nicht zu fürchten.<br />

Kurze Revidierung: Ich hatte sie nicht zu<br />

fürchten. Jeder hatte sein eigenes,<br />

beschlagenes Glashaus, wohlgemerkt…<br />

Jeder war im Besitz seiner eigenen, artifiziellen<br />

Festung…<br />

Wasser, Nährstoffe, Licht, Vitamine,<br />

Spurenelemente, Dünger, Sauerstoff und<br />

vieles mehr… alles im Überfluss vorhanden.<br />

Und so bildete ich grüne<br />

Farbpigmente. Ja, auf meinem nackten<br />

Körper war kein einziger Fleck mehr<br />

ausfindig zu <strong>machen</strong>, der nicht grün war.<br />

Und ich wurzelte mich fest. Dicke, robuste,<br />

widerstandsfähige, unerschütterliche<br />

Wurzeln gruben sich tief im humiden<br />

Humus, in den durchlockerten Erdklumpen<br />

ein. So war es mir möglich,<br />

an noch mehr Grundwasser zu reichen.<br />

…Allein: Der Schnuller fehlte mir mehr<br />

und mehr.<br />

………. Vielleicht war ich einfach schon<br />

ausgewachsen oder die zähen Wurzelsprosse<br />

zerschlugen martialisch anderer<br />

Leute Hausböden oder aber hatten<br />

meine Eltern vergessen, Lichtintensität,<br />

Temperatur und Luftfeuchtigkeit zu<br />

regulieren. Ich erinnere mich nämlich,<br />

dass ihre Gesichter faltiger geworden<br />

waren, die dunklen Augenringe in zunehmendem<br />

Maße eine Mischung aus<br />

blauen Flecken und lang gezogenen<br />

Furchen darstellten. Und so mussten<br />

nach und nach auch deren Gedächtnisse<br />

verschrumpelt sein. Was aber zählt, ist,<br />

dass, urplötzlich, mit einer zerstörerischen<br />

Gewalt und unter lautem Gebrüll<br />

(möglich auch, dass es mir nur so<br />

vorkam) die durchsichtigen Scheiben<br />

eingeschlagen wurden!<br />

Die Wurzeln barsten wie tausende<br />

Glassplitter auf einmal, die Erde verwandelte<br />

sich in staubtrockenen Wüstensand,<br />

die Epidermis verblich, glich nun<br />

vielmehr der schützenden Oberfläche<br />

eines Albinos, sogar Lavendel verkümmerte…<br />

– Das Thermometer schrie: -5°C!<br />

– Höhnischen, vor Lachen verzerrten<br />

Mündern der Feindseligkeit begegnete<br />

ich, als die schützende Burg unter den<br />

aufspießenden Klippen im aufbrodelnden<br />

Meere versunken war und kaum<br />

erwähnenswerte Ruinen des Vergessens<br />

hinterließ. Ich stürzte hilflos zu Boden,<br />

denn die untrainierten Knochen konnten<br />

sich nicht mehr daran entsinnen, wie<br />

man die lasche Körperhülle stützt,<br />

sodass man zu stehen vermag; die aufschlagenden,<br />

schwachen Gliedmaßen<br />

verursachten aufgeschürfte, blutige<br />

Fleischwunden in der entblößten Haut.<br />

…Beißende Kälte, erstickender Sturmwind…<br />

eilende Menschenmassen, im<br />

Rhythmus einer unbekannten, düsteren<br />

Stadt, die unaufhörlich mit lautem<br />

Trommelschlag in meinen Ohren widerhallte<br />

und das Trommelfell zerplatzen<br />

ließ…<br />

…Ich stamme aus einer Generation von<br />

erwachsenen Männern und Frauen,<br />

deren Glashäuser unangekündigterweise<br />

zerbrachen, denen Schnuller gänzlich<br />

fehlten, kompensierende, künstlich<br />

erzeugte Dampfwolken, in die man uns<br />

einbettete, um unser dröhnendes<br />

Geheule, das uns bisweilen überkam,<br />

zu überhören, indes ihren Dienst getan<br />

hatten.<br />

Ich will nicht sagen, dass diejenigen mit<br />

dem schelmischen Grinsen, diejenigen<br />

mit dem eklatanten Lachflash es unbedingt<br />

leichter hatten. Allerdings, und das<br />

weiß ich mit vollkommener Sicherheit:<br />

Ich stamme aus einer Generation von<br />

ungewollten Misanthropen, die lange<br />

brauchten, um erneut aufzustehen.<br />

06<br />

09<br />

Larissa Bellina<br />

Spring- Spring- Springseil<br />

Energisch und mit zitternder Hand hatte Mutter sie vor die<br />

Türe geschoben. Das Springseil in der Hand stand sie da,<br />

die geschlossene Türe verschwamm vor ihren Augen.<br />

Dahinter Geschrei, irgendetwas fiel krachend zu Boden.<br />

Der Druck, der ihr von irgendwo aus dem Innersten Tränen<br />

empor gepresst hatte, ließ nach, als sie den Aufzug rief.<br />

Nahezu geräuschlos glitten die Türen auseinander und<br />

sie verschwand. Suchte Schutz hinter ihnen, flüchtete<br />

vor dem eskalierenden Streit, der gedämpft noch im Gang<br />

zwischen den Wänden hallte.<br />

Im zweiten Stock stieg die Alte mit dem Hund ein.<br />

„Na Kleine, gehst du spielen?“<br />

Sie wusste, dass die Frau lächelte. Das tat sie immer, wenn<br />

sie sich trafen. Doch sie wollte jetzt kein Lächeln! Ihre Finger<br />

schlossen sich um die hölzernen Griffe des Springseils.<br />

Hölzerner Trost für ihr Herz, das in müdem Takt fort pochte.<br />

Mit einem Ruck waren sie im Erdgeschoss. Sie bemerkte<br />

es erst, als die Alte sich umsah nach ihr. Kurz bevor die<br />

Türen sich schlossen, verließ sie den Lift. Einer der Holzgriffe<br />

fiel klackend zu Boden. Mit schabendem Geräusch schleifte<br />

sie ihn hinter sich her. Über den leeren Platz in der Mitte der<br />

Plattenbausiedlung nach hinten, wo die Mülltonnen standen.<br />

Sie wirbelte eine Menge Staub auf, als sie neben dem<br />

Betonweg um die Ecke bog. Und plötzlich war das<br />

wunderbare Rot ihrer Schuhe einem dreckigen Rostbraun<br />

gewichen. Es war still um sie herum und je fester sie ihre<br />

kleinen Lippen zusammenpresste, desto unerträglicher<br />

wurde die Stille in ihr selbst. Und da sie weder singen<br />

wollte, noch reden, sondern schreien und da sie wusste,<br />

dass sie, einmal angefangen zu schreien, kein Ende finden<br />

würde, bis der Schrei die ganze Welt überrollt hatte,<br />

schwieg sie fort. Hüpfte sich im Takt des auf den Beton<br />

klatschenden Sprungseils einem neuen Tag, einem neuen<br />

Leben entgegen, in der Hoffnung, dass man sie vergaß,<br />

wenn sie nur lange genug sprang, dort unten hinter<br />

der Ecke, bei den Mülltonnen.


Juliane Reichert<br />

Und „Mittelpunkt des Kreises“ heißt dieser Punkt<br />

Der Punkt, von dem ich nun erzählen will, sein Name ist, wie bereits erwähnt,<br />

„Mittelpunkt des Kreises“, treibt sich den lieben langen Tag an aller Herren Orte<br />

herum, ihn zu suchen ist vergebens, man findet ihn nicht. Doch manchmal taucht er<br />

einfach auf. Ganz plötzlich, wie aus dem Nichts. Ja, man spürt ihn in einem regelrechten<br />

Aufflackern, kommt aber nicht dazu, seine Erscheinung in Worte zu fassen,<br />

ehe er sich aus dem Staub macht und seine verblassenden Konturen mit sich auf<br />

die Weiterreise nimmt.<br />

Obwohl wir ja alle wissen, dass Punkte gar keine Konturen haben, versuchen wir doch<br />

stets, ihn immer wieder in eine hineinzupressen. Aus der Chemie wissen wir aber<br />

auch, dass ein Gleichgewicht seine Lage auf äußeren Zwang hin so ändert, dass es<br />

dem Zwang ausweicht. Und ich gehe doch zutiefst davon aus, dass unser „Mittelpunkt<br />

des Kreises“ sich in einem solchen Gleichgewicht befindet. Soll das also etwa heißen,<br />

dass – wenn wir dem Punkt keine Kontur, keinen Umriss geben dürfen, wir ihn nun<br />

nicht einmal orten können? So in etwa, denn hierfür müssten wir den exakten<br />

Umfang des Kreises wissen, und wer tut das schon? Oder zumindest einmal den<br />

Durchmesser, was ja im Prinzip genauso unmöglich ist. Und doch vermochten diese<br />

Überlegungen uns noch nie davon abzuhalten, unseren ständigen Begleiter näher<br />

definieren zu wollen.<br />

Warum aber bereitet es uns ein solches Vergnügen, diesen „Mittelpunkt des Kreises“<br />

zu suchen? Wo wir doch schon abermals erkannt haben, dass er stets auf der Hut vor<br />

neuen Spekulationen seines Aufenthaltsortes ist? Wahrlich, für manche mag es<br />

wohl nicht einmal mehr ein Vergnügen bedeuten, und dennoch begeben sie sich<br />

auf diese waghalsige Wanderschaft.<br />

Vielleicht aus Neugier, ihn zum ersten Mal anzutreffen. Andere, die seinem Angesicht<br />

bereits zuvor begegnet sind, wurden vermutlich derart besessen von dem Wunsch,<br />

ihn wiederzutreffen, dass sie an nichts anderes mehr denken konnten. Und doch:<br />

Immer war es vergebens und wird es wohl auch bleiben. Denn was wissen wir schon<br />

von einem Punkt? Die Koordinaten? Nein, die hat er uns nicht angegeben. Genau<br />

sowenig wie die Konstruktionsmethode, wie er sich vielleicht schneiden ließe. Und<br />

am Radius des Kreises werden wir wohl noch ewig messen können, ohne uns dessen<br />

Wert anzunähern. Und die wahren Kenner des Punktes, die Wächter seines Versteckes<br />

und Hüter seiner Definition nun, die werden bis zu unserem Beitritt in ihre Runde<br />

wohl dichthalten.<br />

Also bleibt alles, was wir wissen, dass dieser Punkt „Mittelpunkt des Kreises“ ist.<br />

06<br />

10<br />

Larissa Bellina<br />

Frau von Lastwagen erfasst (Zeitungsartikel vom 20.04.2004)<br />

Eine 78 Jahre alte Frau ist gestern morgen gegen 9 Uhr in Feuerbach beim Überqueren<br />

der Kreuzung Wiener und Linzer Straße von einem Lastwagen erfasst worden. Sie stürzte<br />

auf die Fahrbahn, wurde dabei aber nur leicht verletzt. Der 37 Jahre alte Fahrer hatte<br />

die Fußgängerin offenbar übersehen.<br />

Interpretation 1<br />

Theorie und Praxis<br />

Sobald ein Mensch einen Raum ausfüllt,<br />

läuft er Gefahr, in eben diesem durch<br />

spontane Intervention eines Weiteren<br />

eine unbeabsichtigte Veränderung seines<br />

vorhandenen Zustandes zu erfahren.<br />

Es ist offensichtlich, dass dieser Zustände<br />

nicht mehr als drei existieren und alle<br />

übrigen als deren spielerische Variationen<br />

zu entlarven sind. Konkretisiert<br />

fuhren eben jene spontan induzierten<br />

Interventionen folglich zu emotionaler,<br />

spiritueller oder körperlicher Verformung.<br />

Hierbei ist es in aller Regel nur das Wesen<br />

mittleren Alters, das sich vor diesen<br />

Verformungen gänzlich oder im Ansatz<br />

zu schützen oder schließlich kurieren<br />

vermag. Es handelt sich aus eben diesem<br />

Grunde um einen Grenzfall der Wahrnehmung<br />

des gesunden Menschenverstandes,<br />

wenn einem Wesen fortgeschrittenen<br />

Alters keine schwerwiegenden<br />

Verformungen zuteil werden. Da beide<br />

Wesen unabhängig voneinander in gleichem<br />

Maße unabhängige Räume ausfüllen,<br />

ist oft das eine vom anderen<br />

in Unkenntnis und bleibt dies darüber<br />

hinaus selbst dann, wenn es bereits<br />

Verformungen am anderen Wesen vorgenommen<br />

hat.<br />

06<br />

11<br />

Interpretation 2<br />

Pilze<br />

Klar war ich mir sicher, dass die rosafarbenen<br />

Bälle, die von den Wolken fielen,<br />

nicht auf der Straße platzten und zu<br />

Fröschen wurden. Und doch war es, wie<br />

immer, so (vermeintlich) realistisch!<br />

Kaum zu fassen auch der Mann, der sich<br />

die Unterseite seines überdimensionalen<br />

Ohrläppchens auf dem Asphalt blutig<br />

rieb! Aber der Abschuss, das war nicht<br />

etwa das rote Stoppmännchen, wie es<br />

sich aus der runden Schwärze zu seinem<br />

grünen Partner schwingt, um mit ihm<br />

Tango zu tanzen. Nein, der absolute<br />

Knaller, das war doch echt die Alte! Wie<br />

die so plötzlich die Kreuzung quert und<br />

wie dann der Riesentruck kommt und<br />

ZACK is’se weg! Und das Geräusch! Das<br />

Reifenquietschen! – und wie se dann so<br />

locker aufsteht, sich den Staub abklopft<br />

vom Mantel… – Mann, das war krass!


06<br />

12<br />

Olga Gleyzer<br />

Stille<br />

HÖRT AUF zu sprechen, das macht keinen Sinn. Ich habe das Interesse an euch<br />

verloren, aber ihr, ihr versucht immer noch mich mit diesem stumpfen Gerede zurükkzuholen.<br />

WOZU, frag ich euch, wollt ihr mich aus diesem warmen Nebel des Vergessens<br />

herausreißen, um mich dann in der Kälte rauer Wirklichkeit alleine zu lassen!<br />

HÖRT BITTE AUF, aus mir etwas zu <strong>machen</strong>, was ich nicht mehr bin<br />

und nie mehr sein werde!<br />

VERSTEHT es doch!<br />

Ich bin ein verletzter Vogel, der sich nie mehr in die Lüfte emporschwingen wird.<br />

Ich bin es müde zu reden, deswegen habe ich schon vor langer Zeit aufgehört<br />

euch anzuklagen.<br />

Ich habe keine Kraft mehr zu weinen, denn ich hatte sie schon vor langer Zeit<br />

verbraucht, als ihr damit beschäftigt ward, es nicht zu bemerken.<br />

Meine Augen sind trocken und ich kann nichts mehr fühlen, ich bin<br />

ganz stumpf geworden und lebe nur noch in meiner Vergangenheit,<br />

ohne mich um die Zukunft zu scheren.<br />

Ich KANN gehen, aber ich mache keine Schritte vorwärts.<br />

Ich KÖNNTE schlafen, doch die Schreie meines Herzens halten mich nachts wach.<br />

Ich BIN gut, aber ich habe noch nie jemanden etwas Gutes getan.<br />

ICH BIN WEG.<br />

Im Grunde bin ich schon lange nicht mehr da.<br />

In mir wohnt seit langem nichts mehr Lebendiges.<br />

Die Gleichgültigkeit hat sich bei mir wie ein Geschwür ausgebreitet<br />

und ich sehne mich nach nichts anderem mehr, als STILLE.<br />

SCHRITTE<br />

Ich höre meine Schritte, die sich leise von mir davonstehlen<br />

in eine weite, fremde, unbekannte Richtung.<br />

Und nun? Jetzt ist nichts mehr zu hören. Gar nichts mehr!<br />

STILLE<br />

Larissa Bellina<br />

Takane<br />

Mein Name ist Takane. Das ist ein japanischer Mädchenname. Außer diesem<br />

Namen aber und einem Haufen vergilbter Erinnerungen ist nichts geblieben<br />

von Japan. Meine Großmutter hinterließ sie mir, gelbstichig, geborgen zwischen<br />

dem Ächzen des Schaukelstuhls im Wind, wenn ich die Verandatüre öffne,<br />

und der blauen Seide zweier platt gesessener Kissen. Ihren Platz, am Fenster<br />

habe ich nicht angerührt seit ihrem Tod vor nunmehr drei Jahren. Wie auch,<br />

scheint es doch ganz so, als kehre sie jede Sekunde mit jener schwerfälligen<br />

Langsamkeit alter Menschen an ihren Platz zurück, gerade rechtzeitig, bevor<br />

die Abdrücke verschwinden, die Seide sich glättet. So zerbrechlich ihr kleiner<br />

Körper, so durchscheinend ihre faltige Haut, so undurchschaubar sie.<br />

Wenn der Wind ihren Platz beseelt, überkommt mich manchmal ein Frösteln,<br />

denn nicht selten glaube ich ihre Stimme in mir zu spüren, die von den Hängen<br />

meines Herzens zurückgeworfen wird, wie ein Echo und weil es niemanden<br />

gibt, zu dem es zurück kehren kann, verweilt es in mir. Das geheimnisvolle<br />

Vibrieren einer Stimmgabel im Flüsterton ihrer Stimme. Dann blitzen sie auf,<br />

die Bilder ihrer Erinnerungen vor meinem inneren Auge, das Antlitz ihrer<br />

Wirklichkeit nichts weiter mehr als Bilder meiner Fantasie.<br />

Ein Kind, das durch schmale Gassen tobt mit Straßenkötern, lachend glänzende<br />

Pfützenwasserspiegel in spritzenden Splitterregen verwandelt, mit dem<br />

Nachbarsjungen um die Wette spuckt hinter der Strohhütte am Bach. Wie an<br />

der Hand ihrer Mama sie den Markt beschreitet, stolze Schönheiten im Lärm des<br />

Gedränges, der fette Verkäufer mit dem Goldzahn, der ihr eine Orange schenkt.<br />

Die großen dunklen Augen nach oben gerichtet zum Vater, atemlos vor<br />

Spannung: ein Geschenk, was denn, was? Das verräterische Winseln des neuen<br />

Spielkameraden in seiner Hand hinterm Rücken. Der Geruch, als die Mutter den<br />

Deckel hebt vom Reistopf und sie hereinruft, schon da, sie sind ja schon da.<br />

Nein, sie sind nicht da, nicht an meinem Tisch. Draußen ein paar wilde Vögel,<br />

Ostwind, die Fingerspitzen der Abendsonne im krausen Haar der bewaldeten<br />

Hänge. Drinnen die funkelnde Sehnsucht in den Augen einer Frau, Sehnsucht<br />

nach einer unbekannten Heimat hinter Lippen, die sich nach der Vergangenheit<br />

staunend verschlossen, um deren Reinheit zu bewahren.<br />

„Die Wahrheit bedarf keiner Worte mehr“, sagte sie einmal,<br />

„weshalb die wahren Gefühle die stillsten sind.“<br />

06<br />

13


Larissa Bellina<br />

Zwischen uns das Leben<br />

Die langen Beine unter die Tischplatte<br />

aus Plastik gequetscht, thronten wir über<br />

dem Hinterhof – zwei Eiserne Jungfrauen<br />

– und nippten an billigem Roten. Ihr<br />

noch feuchtes Haar durchsetzte die Luft<br />

mit Eukalyptusaroma. Erschöpft klebten<br />

müde gewaschene Strähnen an ihrer hellen<br />

Kopfhaut, ruhten sich schwarze Haarspitzen<br />

auf dem baumwollenen Stück<br />

Stoff aus, das ihre knochigen Schultern<br />

verdeckte. Verstohlen beobachtete ich,<br />

wie ihre stecknadelkopfgroßen Pupillen<br />

sich Fluchtwege bahnten, über den rissigen<br />

Rost des Balkongeländers hin zu den<br />

vereinzelten Wolkentupfern am Himmel.<br />

Zwei Etagen tiefer wurden gemästete<br />

Mülltonnen über Kopfsteinpflaster zum<br />

Müllwagen gerüttelt. Kotzten dort, eine<br />

nach der anderen, ihre Innereien heraus<br />

und ließen sich mit ekelhaft leeren Mägen<br />

zurückschleifen, begleitet vom von<br />

den Hofwänden emporgeschleudertem,<br />

dumpfen Poltern. Plötzlich das Telefon!<br />

Schrilles Aufbegehren. Bis auf ein nervöses<br />

Zucken des linken Mundwinkels<br />

ignorierte sie es regungslos. Mit dem<br />

vierten Klingeln stand ich auf, sah im Vorbeigehen<br />

wie ihre Hand sich erhob, innehielt<br />

und mit erschlafften Fingern zurückkehrte<br />

an den Bauch ihres lippenstiftgeküssten<br />

Glases. In der Mitte des sechsten<br />

Klingeins hob ich den Hörer und<br />

drückte sanft die Telefongabel nieder.<br />

Als ich ihr die mit Leitungswasser gefüllte<br />

Mehrwegflasche reichte, stellte ich zu<br />

meiner Erleichterung fest, dass die metallenen<br />

Kiefer des Müllwagens bereits in<br />

einiger Entfernung malmten. Als<br />

Schulkind war ich den grellorange belatz-<br />

06<br />

14<br />

hosten Männern gerne ein Stück weit<br />

gefolgt. Eines Tages lief ein Junge aus<br />

meiner Klasse mir dabei hinterher. Ich<br />

hatte ihn nicht bemerkt, bis er mit mir auf<br />

gleicher Höhe war. Höhnisch grinste er<br />

mich an und sagte gerade laut genug,<br />

dass es gegen den Lärm ankam: „Das<br />

nächste Mal stecken wir dich da rein!“<br />

Grässlich lachend rannte er fort, ließ mich<br />

stehen, während die Welt vor meinen<br />

ängstlichen Augen verschwomm und ich<br />

mich um Hilfe schreiend an den<br />

Innenwänden einer stinkenden Tonne<br />

kratzen sah, übertönt vom Getöse der<br />

Maschinerie.<br />

Fassungslos stierte ich auf die rotbraune<br />

Flüssigkeit, die in kleinen Rinnsalen zu<br />

beiden Seiten des Müllautos hinunterlief<br />

und rannte los. Die zu Boden getropfte<br />

Blutspur des Wagens entlang, in dieselbe<br />

Richtung, aus der ich gekommen war.<br />

Der Schatten eines Vogels huschte über<br />

das von Hausdächern umrahmte Stück<br />

Himmel, aktivierte irgendwo über unseren<br />

Köpfen wildes Durcheinanderkreischen<br />

winziger Vogelkelchen. Ihre<br />

schmalen Lippen, so oft nur jener harte<br />

blutleere Strich über einem spitzen Kinn,<br />

entspannten sich ein wenig und erlaubten<br />

ihren Mundwinkeln den scheuen<br />

Blick nach oben. Manchmal hatte ich<br />

mich abends vor dem Schlafengehen im<br />

Badezimmerspiegel betrachtet und nach<br />

den Spuren meines Vaters hinter dem<br />

Abbild meiner Mutter gesucht. Im<br />

Nachthemd, auf den Zehenspitzen stehend,<br />

hatte ich ihre Mimiken kopiert,<br />

mich auf der Zahnbürste kauend gefragt,<br />

ob auch er aus arktisblauen Augen zu mir<br />

herabgeblickt hätte, bevor ich zusammen<br />

mit Zahnpastaschaum und Essensresten<br />

jedes Wort seiner Existenz aus<br />

meinem Mund den Abfluss hinabspülte.<br />

Sie verschwand nach drinnen, während<br />

mein Blick den Himmelsquader nach<br />

Wolken abtastete. Zu der Zeit, als ich mit<br />

ihr in dieser Wohnung gelebt hatte, stand<br />

auf dem<br />

Balkon ein Hocker. Kein Tisch, keine<br />

Stühle. Ein Hocker. Auf dem ich saß und<br />

Wolken zählte und sie über unser<br />

Zuhause wachsam sein ließ: mächtige<br />

Drachen, die ihren Feueratem über die<br />

Stadt spien, sich unaufhörlich wandelnde<br />

Hexenmeister, deren fremdländische<br />

Zaubersprüche mich in einer magischen<br />

Glashülle bargen.<br />

Die Wolken waren verschwunden. Ich<br />

fischte nach den Gläsern und trug sie<br />

zur Spüle. Als mein Finger behutsam<br />

ihre Lippenstiftreste ins Wasser schob,<br />

spuckte der Wasserhahn noch immer<br />

einen Strahl kochend heißer Worte aus,<br />

deren Dampf aus dem Becken emporstieg.<br />

Die rötlich schimmernden Glasbauchschiffe<br />

wankten zwischen den<br />

Seifenschlieren dahin, bis meine Hände<br />

sie vorsichtig in die Tiefe drückten. Mir<br />

war, als hörte ich die Toilettenspülung<br />

und drehte dem Wasserhahn den Atem<br />

ab. Draußen schrieen die Vogelkinder<br />

gierig nach ihrer Mutter, während gelbgerauchte<br />

Filterkörper, vom Schoße des<br />

Aschenbechers gestoßen, ihre Aschewolke<br />

durchfielen und verstimmt ins<br />

Plastik des Müllbeutels flatschten. Ich<br />

behielt den Aschenbecher gleich in der<br />

Hand und drehte nachdenklich die<br />

Aschefetzen meiner Mentholzigarette<br />

hinein. Früher hatte mir meine Mutter ab<br />

und zu Schokoladenzigaretten aus dem<br />

kleinen Laden an der Ecke mitgebracht.<br />

Wahrscheinlich, damit ich nicht auf die<br />

dumme Idee kam, mir heimlich welche<br />

aus ihrer Schachtel zu nehmen. Auf<br />

dem Hocker sitzend, hatte ich sie damit<br />

nachgeahmt, unsichtbare Schokoladen-<br />

rauchwolken durch wie zu einem<br />

Kussmund gespitzte Lippen in die Welt<br />

hinausgeschickt. Später dann hatte ich<br />

es doch gewagt und ihrer Schachtel<br />

ein ums andere Mal die Einwohner entzogen.<br />

Ich trieb die grauen Nebelschwaden über<br />

den Geländerrost. Hörte gedämpft das<br />

Toilettenwasser rauschen und wunderte<br />

mich, wo sie blieb. Unersättlich fraß sich<br />

die Glut mittlerweile in die winzigen<br />

Schriftzeichen am Kopfende des Filters,<br />

bis ich den ausgedienten Stummel in die<br />

offenen Arme des Aschenbechers presste.<br />

Es schien merkwürdig ruhig. Das<br />

Kreischen der Vogelkinder begleitete<br />

mich nach drinnen und entnervt stellte<br />

ich ihren Stimmen das unüberwindbare<br />

Glas der Balkontüre in den Weg. Hinter<br />

dem blau gestrichenen Holz der Badezimmertüre<br />

füllte der Wassertank polternd<br />

nach. Ich klopfte leise. Einmal.<br />

Zweimal. Drückte die Klinke und erwartete<br />

Widerstand. Im nächsten Moment<br />

schon stand ich hinter ihr, umgeben vom<br />

Wellenmuster der Wandfliesen. Sie saß<br />

mit dem Rücken zu mir vor der Toilette,<br />

das Kinn auf die Knie gestützt. Um sie<br />

herum zahllose Schnipsel, nein, Zeitungsartikel.<br />

Ich tat einen wackeligen Schritt<br />

neben sie.<br />

„Ma-“, glaubte ich zu sagen. Doch ich<br />

hörte es nicht. Nur das Knacken meiner<br />

Gelenke, als ich neben sie kniete. Ohne<br />

hinzusehen, langte sie nach einem der<br />

Zeitungsartikel, ließ ihn unter teilnahmslosem<br />

Blick durch die Klobrille ins Wasser<br />

flattern und zog die Spülstrippe. Die<br />

Ahnung eines traurigen Lächelns lag auf<br />

ihren Zügen, als wir gemeinsam zusahen,<br />

wie eine Nachricht um die andere im<br />

Strudel verschwand…<br />

06<br />

15


Wort und Spiele II – ein Bademeister sagt Danke<br />

Klasse 12 c des Max-Eyth-Gymnasiums<br />

Dein Bademeister möchte sich bei Dir bedanken:<br />

Du kamst zu ihm über den Berliner Platz<br />

Und wusstest nicht, was Dich erwartet.<br />

Du kamst, weil Du Dich verpflichtet hattest<br />

(Schließlich hattest Du Unterricht.)<br />

Du hast das auf Dich genommen:<br />

Hast Dir die Schuhe ausgezogen<br />

Bist ins kalte Wasser gestiegen.<br />

Hast Dich dem kalten Becken,<br />

Randvoll, sprudelnd, kalt, gestellt.<br />

Wer da zuerst hineinstieg, der bekam kühle Füße<br />

Watete da durch, von den andern umringt und<br />

Musste einfallsreich sein.<br />

Dabei wusstest Du noch nicht mal,<br />

Ob Du das überhaupt sein wolltest:<br />

Eine einfallsreiche Klasse.<br />

Du bist vor die Tür gegangen<br />

Bist den Pfiffen des Bademeisters gefolgt:<br />

Einmal um den Block gehen<br />

Um alles wahrzunehmen,<br />

Was das Bosch-Areal hergibt,<br />

An nüchternen Tagen unter chromgrauem Himmel.<br />

06<br />

16<br />

Er durfte Dich ins Wasser schmeißen<br />

Dich nass <strong>machen</strong> mit Deiner eigenen Phantasie<br />

Durfte Dir auf den glatten Spiegeln des Kneippwatebeckens<br />

Deine eigene Frechheit zeigen,<br />

Das, wozu Du fähig bist:<br />

Texte zu schreiben, die Dich betreffen<br />

Texte, die zu Dir selber stehen<br />

Auf die Du aufbauen kannst.<br />

Mit einem nassforschen „Wasser, marsch!“<br />

Hat der Bademeister Dich<br />

In Gruppen eingeteilt<br />

Da solltest Du mit Dir zusammen<br />

Gegen Dich selbst durchs Wasser gehen<br />

Dich mit Dir gegenseitig erfrischen<br />

Mit dem, was Dich erfrischte<br />

Was Du zu fischen anfingst<br />

Im sich aufklärenden Bassin.<br />

Dann kam der Tag, an dem der Bademeister<br />

Deine ersten Versuche<br />

Oberfies ans Licht zerrte:<br />

Texte kamen vor Gericht<br />

Bis sie von Dir freigesprochen wurden.<br />

Da hat es im Kneippbad geschäumt und geblubbert<br />

Und eigentlich jede und jeder von Dir<br />

Hat einen Spritzer abbekommen.<br />

Der Bademeister denkt:„Das war gut so.“<br />

Und er bedankt sich bei Dir, 12c<br />

Für Deinen lebendigen Klassengeist<br />

Und wünscht Dir für alles, was folgen mag<br />

Noch viel Freude<br />

An solchen Worten<br />

Die Dir wie klares Wasser fließen.<br />

Timo Brunke, Werkstattleiter<br />

06<br />

17


Timo Weltner<br />

Der inhaltslose Text<br />

Was soll ich schreiben<br />

Wenn ich nichts habe?<br />

Wie soll ich kreativ sein<br />

Wenn es nicht geht?<br />

Warum soll ich denken<br />

Wenn ich nicht will?<br />

Das ist ein Schüler.<br />

Hast du geschrieben<br />

Auch wenn du nichts hattest?<br />

Warst du kreativ<br />

Obwohl du nicht konntest?<br />

Und hast du gedacht<br />

Trotzgleich du nicht wolltest?<br />

Das ist ein guter Schüler<br />

Wir alle haben geschrieben<br />

Und hatten doch nichts!<br />

Wir waren kreativ<br />

Doch eigentlich ging nichts!<br />

Und wir haben gedacht<br />

Auch wenn es nicht ging!<br />

Das ist Unterricht.<br />

06<br />

18<br />

Axel Lenz<br />

Das wahre „Ich“<br />

Zeigt sich im Licht der flimmernden Flamme<br />

das Unbekannte, Große, Bange<br />

nicht denkbar, nicht fassbar, wenn es ergreift,<br />

was Führung, was Leben heißt.<br />

Doch es ist da, nicht nur ich weiß,<br />

wie es sich anfühlt: der kalte Schweiß,<br />

das Blut gerinnt; wage nicht zu denken,<br />

was wäre, wenn, wie soll ich’s lenken,<br />

das wahre, das einzige, das wirkliche Ich!<br />

Angst steigt auf, doch ich erinnere mich,<br />

was ich tat vor langer Zeit:<br />

ich vermachte der Einigkeit<br />

mein Leben, gab es in ihre Hand,<br />

mit diesem Pakt hab ich anerkannt,<br />

dass ich liebe und hoffe: wir werden leben,<br />

Liebe und Hoffnung weitergeben.<br />

Stefan Zinser<br />

Forengespräche<br />

Wenn Bedürfnisse einer Gemeinschaft entstehen<br />

Kommunikation über praktischere Wege zu gehen<br />

Wissen noch nicht erschlossen ist oder reifgegoren<br />

Finden sich Plätze wie Internetbenutzerforen.<br />

So pflegt auch der gemeine Softwareingenieur<br />

Egal ob Kind, ob Rentner, Profi oder Amateur<br />

Seinen Beitrag auf Massenspeicher zu hetzen<br />

In hierarchisch angelegten Datennetzen.<br />

Überzeugt durch Rhetorik und Quantität<br />

Mutiert mancher Entwickler aus seiner Anonymität<br />

Zur Sammelstelle unfehlbarer Informationen<br />

Ein Pseudonym, bewundert von Millionen.<br />

Beflügelt durch stetiges Respektgezolle<br />

Verabscheut er andernorts seine Nebenrolle<br />

Will in verwandten Bereichen genauso dominieren<br />

Und die Beachtung aller auf sich konzentrieren<br />

Informiert sich über EXTx, FAT, ReiserFS,<br />

PM, Disk, IO, Interconnection und Memory Access<br />

Findet keine Zeit, seine Quellen zu verifizieren<br />

Macht Fehler beim Datenblätter Interpretieren<br />

Auch wenn das ein oder andere nicht stimmen mag –<br />

Hauptsache, man hat mal wieder was gesagt!<br />

Denn niemand wird seinem unfehlbaren Wesen<br />

Auch nur ansatzweise wagen, die Leviten zu lesen.<br />

Legitimiert das die Verbreitung seiner Illusionen?<br />

Behauptet sogar, VB arbeite mit Pseudoinstruktionen<br />

Besitzt nicht einmal das passende Betriebssystem<br />

Verwendet Formulierungen – keiner kann sie verstehn.<br />

Wie war das? Daten werden interpretiert? –<br />

Mit leichtem Grinsen wird der Debugger konsultiert<br />

RunTrace öffnen, Anwendung laden, Adressraum setzen:<br />

Ich werd ihn von einer Ausrede zur nächsten hetzen<br />

Damit seine ganze Welt zusammenbricht<br />

Heiß steig’ ihm die Schamesröte ins Gesicht<br />

So sag ich ihm ganz ungeniert:<br />

Mein Lieber, der Großteil wird ausgeführt!<br />

Man glaubt es kaum: er versucht, es zu widerlegen<br />

Behauptet felsenfest dagegen<br />

Dass das, was ich ihm als Beleg vorgeb<br />

Während der Laufzeit des Programms entsteht.<br />

Als ich ihn nach Beweisen frag<br />

Antwortet er erst nach einem Tag<br />

Die Diskussion würde sich im Kreis bewegen<br />

Und er wolle nicht sinnlose Gespräche pflegen.<br />

Bei Hinweisen auf sein eigenes Versagen<br />

Kann er keine Kritik vertragen<br />

Spielt sich auf. Keine vernünftige Konversation<br />

Gibt Inhalte wieder in arrogantem Ton.<br />

Zwecklos ihn von Besserem zu überzeugen<br />

Er will sich nicht der Wahrheit beugen<br />

Lässt sie zur Lüge, in den Schein entgleisen:<br />

„Non Sequitur in sämtlichen Beweisen.“<br />

06<br />

19


06<br />

20<br />

Lars-Henning Kühlborn<br />

Am Abgrund<br />

Schon lange habe ich es versucht, vor<br />

mir her zu schieben oder es einfach zu<br />

vergessen.<br />

Ich habe es mir nicht mal in den Kalender<br />

eingetragen, in der Hoffnung, nicht daran<br />

erinnert zu werden.<br />

Aber wie es kommen musste, wurde ich<br />

von einer angeblich nur das Beste für<br />

mich wollenden Person, meiner Mutter,<br />

darauf hingewiesen, dass ich ihn wieder<br />

einmal wahrzunehmen hätte: ihn, den<br />

Termin, heute um 17.30 Uhr.<br />

Da stand ich nun und kochte erneut die<br />

ganzen Emotionen in mir hoch. Mutter<br />

legte mir ans Herz, nur ja rechtzeitig aus<br />

der Schule zu kommen und ja nicht zu trödeln.<br />

Meine Mum ist da immer sehr eigen:<br />

„Damit du dich noch richten kannst!“<br />

Welche Ironie des Schicksals, mich dafür<br />

auch noch schön herauszuputzen!<br />

Das Blöde war nur, ich konnte es auch<br />

während des ganzen Schultags nicht<br />

wirklich verdrängen. Es schwebte immerzu<br />

als ein sadistischer, eigenständiger<br />

Gedanke in meinem Hinterkopf, der mich<br />

immer dann im Genick packte, wenn ich<br />

daran ging, ihn zu vergessen.<br />

Die letzte Schulstunde ging für meinen<br />

Geschmack einiges zu schnell herum.<br />

Nicht, dass ich nicht wie jeder Schüler den<br />

Wunsch hätte, jede Schulstunde wie im<br />

Flug vorbeigehen zu sehen. Aber heute<br />

wäre es mir ausnahmsweise recht gewesen,<br />

wenn sie gar nicht geendet hätte.<br />

Widerwillig trat ich den Heimweg an.<br />

Ich träumte von einer Schule, in der man<br />

den ganzen Tag nach Unterrichtende einfach<br />

nur herumsitzen konnte; am besten<br />

noch die ganze Nacht bis zum nächsten<br />

Morgen. Da riss mich mein Kumpel aus<br />

meinen Gedanken:<br />

„Was machst du denn heute noch…?“<br />

Wie auf Abruf piesackte mich der Gedanke<br />

wie mit einer Grillgabel im Inneren.<br />

Muss ich auf diese Fragen antworten?<br />

„Ich habe heute noch einen Termin.“<br />

Zuhause angekommen, versuchte ich<br />

meine Technik, wie man nass geschwitzte<br />

Hände vor dem entscheidenden<br />

Begrüßungshandschlag möglichst<br />

effektiv wieder trocken bekommt, zu<br />

perfektionieren. Sollte ich mir ein<br />

Taschentuch in die Hosentasche legen,<br />

um den Schweiß abzuwischen oder<br />

lieber die alte Wedeltechnik anwenden?<br />

Meine Mutter probte wie immer vor dem<br />

Termin den Aufstand! Als ob es nicht schon<br />

schlimm genug war: „Junge, hast du dich<br />

geduscht, kämm dich ordentlich, und<br />

putz dir die Zähne!“ Ich bekam solchen<br />

Schiss, dass ich sie mir aus Versehen<br />

gleich zwei Mal hintereinander putzte.<br />

Das Telefon klingelte. Meine Mutter hob<br />

den Hörer ab. Am anderen Ende der<br />

Leitung redete meine Tante. Die beiden<br />

tuschelten irgendetwas mit einander,<br />

und dann übergab mir meine Mutter<br />

den Hörer. Meine Tante teilte mir ihr<br />

herzliches Bedauern mit. Jetzt begannen<br />

sie wieder: die allseitigen familiären<br />

Mitleidsbekundungen...<br />

Nun wurde es ernst: Mein Vater kam<br />

extra früher von der Arbeit, um auch ja<br />

pünktlich um 17.30 Uhr vor Ort zu sein.<br />

Ein letztes Zurechtzupfenlassen der<br />

Klamotten – und dann begann die Fahrt.<br />

Eine unendlich dauernde, einem<br />

Todesmarsch gleichende Fahrt, deren<br />

einziger Sinn darin bestand, entweder<br />

zu schweigen oder über alles, wirklich<br />

alles Unwichtige zu reden. Egal, dachte<br />

ich mir, Hauptsache abgelenkt!<br />

Vor Ort gab es keinen Parkplatz. Gnadenfrist!<br />

Erleichtert atmete ich auf. Doch es<br />

nützte nichts: Schon 100 Meter weiter<br />

fand Vater leider Gottes eine Parklücke.<br />

Der Fußweg wurde fast unerträglich<br />

für mich. Mit jedem Schritt, den ich näher<br />

an das Gebäude herantrat, verdoppelte<br />

sich der Adrenalingehalt meines Blutes,<br />

die Hände von unzähligen Schweißporen<br />

durchsiebt, die Knie wachsweich.<br />

Ich trat die Treppenstufen empor.<br />

Im 2. Stock angekommen erblickte ich<br />

ein in schlichtem Gold gehaltenes, riesiges<br />

Türschild: die Hölle hieß mich willkommen!<br />

Die Tür schwenkt auf, der Puls rast. Die<br />

Empfangsdame hinter ihrer Rezeption<br />

begrüßt uns – etwas zu nett für meinen<br />

Geschmack. Auch das hölleneigene<br />

Empfangszimmer ist trügerisch freundlich<br />

eingerichtet. Wer hier zu sitzen kommt,<br />

fragt sich nur eine einzige Frage: Wer muss<br />

als erstes raus, wie lange dauert es noch<br />

und: wird es wirklich solche zermarternden<br />

Schmerzen zu erleiden geben, wie man<br />

immer behauptet?<br />

Weiterhin versuche ich verzweifelt, meine<br />

Hände trocken zu halten.<br />

Ein Zertifikat an der Wand weist mich<br />

darauf hin, dass Vertrauen alles sei.<br />

„Ein billiger Trick des Teufels mich<br />

reinzulegen. Ha, so leicht bekommt ihr<br />

mich nicht!“ denke ich mir im Stillen.<br />

Die Gehilfsteufelin kommt und ruft den<br />

nächsten Patienten auf…<br />

Puh! – mein Name ist es nicht!<br />

Die Gehilfsteufelin sieht sehr menschlich<br />

aus. Verkleidung und Tarnung sind einfach<br />

überragend. Obwohl ich es schon gerne<br />

hinter mich gebracht hätte, bin ich<br />

erleichtert, noch ein wenig zermürbende<br />

Vorbereitungszeit zu bekommen.<br />

Wie die Teufelsgehilfin das nächste Mal,<br />

eintritt, ertönt mein Name! Und da ist<br />

06<br />

21<br />

er wieder: der widerspenstige Gedanke<br />

zieht alle Register, um mich nervlich<br />

unschädlich zu <strong>machen</strong>!<br />

Die Assistenzteufelin geleitet mich in den<br />

Vorbereitungsraum zur Hölleneinweisung.<br />

Von nun an heißt es:<br />

Mund auf und durch! Mit ihren irreal<br />

geformten Werkzeugen will sie mich dem<br />

ersten Bewerbungsschmerz aussetzen. Sie<br />

fordert mich mit einer bebenden Stimme<br />

auf, meinen Mund zu öffnen, während sie<br />

ihre peinigenden Instrumente auf einer<br />

Ablage arrangiert. Aber wie sie mit ihren<br />

Späheraugen eine Stelle in meinem Mund<br />

exakt anpeilt – reißt sie plötzlich den ihren<br />

erstaunt auf:<br />

Ist das, was sie da in meinem Mund erblickt,<br />

selbst zu schrecklich für die Hölle?<br />

Sie funkelt mich an und meint:<br />

„Sie haben wirklich Glück:<br />

Ihre Weisheitszähne kommen nach.“<br />

„Ja“, antworte ich.<br />

„Ja, das finde ich auch wirklich<br />

wunderbar.“


06<br />

22<br />

Oliver Helppi<br />

Der Grabstein des Akademikers<br />

Weil der Mensch das Wissen liebt, trachtet er danach, es über den Tod hinaus zu behalten.<br />

Am besten kann er sich in die eigenen Gedanken vertiefen, wenn er tot ist, wenn er den<br />

eigenen Geist nicht mehr preisgeben muss.<br />

Der Grabstein besitzt seinen eigenen Sinn. Er, der sich manchmal fragt, ob er nicht zu<br />

einem anderen gehören könnte, übt sich in Gelassenheit, wenn die Leute vorüber ziehen:<br />

„Sie sehen alle gleich aus: Maurer, Beamte und Architekten, sie alle sind nicht interessiert<br />

an mir oder haben wichtige Probleme, die sie beschäftigen.“<br />

Der Grabstein ist eine vollkommene Schönheit. Als solche bezeichnet er sich selbst.<br />

Er weiß es zu schätzen, wenn sich die Leute die Initialen auf seiner Brust durchlesen:<br />

„Warum hat er so einen schönen Steinkranz“ fragen sich die anderen Grabsteine.<br />

„Er ist doch genauso groß wie ich. Er hat mehr Verzierungen, gut, aber er ist auf<br />

jeden Fall so groß wie ich“, sagt einer der anderen Grabsteine.<br />

„Auf jeden Fall zieht er die Blicke der anderen auf sich“ sagt der Grabstein eines<br />

Familiengrabes.<br />

Der Grabstein fügt sich in die Landschaft ein wie die Vögel, die um ihn herum tanzen.<br />

Aber irgendwie ist es nicht nur die Gestalt an sich, die ihn als das darstellt, was er ist.<br />

Es ist der Akademiker, der ihm, dem Grabstein, seine Fülle und geistige Reichweite gibt.<br />

Er ist es, der ihm den Ruf eines Giganten in der weitläufigen Masse der Gräber verleiht.<br />

Aber ist er von seinem ewigen Herumschwelgen in den 167 Jahren einsamer Stille nicht<br />

träge geworden von der Welt, die ihn umgibt?<br />

Er hat sich so an die Welt gewöhnt, dass ihn nichts mehr erschreckt. Selbst die Kotflecken<br />

der Tauben auf seinem Haupt stören ihn nicht mehr, und der Hund, der sich an seinem<br />

Grab zu schaffen macht, ist auch kein Ärgernis mehr.<br />

Manchmal möchte er aus seiner Unmündigkeit ausbrechen und ein neues Leben beginnen.<br />

Er möchte in Beton verrührt als Museumsgebäude dienen oder in Kiesform im<br />

Winter auf der Strasse liegen. Auf der anderen Seite hat er sich so wohl zu fühlen, da<br />

er ja von dem Friedhofsgärtner mit zuvorkommend und großer Sorgfalt gepflegt wird.<br />

Dieser putzt ihm manchmal sogar die Stellen unter dem steinernen Blumenkranz<br />

an seiner Stirnseite. Das würden die Familienangehörigen niemals tun, wenn sie noch<br />

leben würden. So steht er nun mal da. Und er wird auch noch lange dort bleiben und<br />

weiter vor sich hin altern.<br />

Wenn ihm nicht das Unfassbare widerfährt und er vom Friedhofsamt der Stadt<br />

frei gegeben wird.<br />

Sebastian Gollmer<br />

Das Gefühl<br />

Den Kopf voller Gedanken,<br />

Sie reißen mich hin und her,<br />

Ruhe brauch’ ich, eine Phase aus Konzentration.<br />

Ruhe im Kopf, eine stille Phase, gedankenfrei<br />

Doch, dann ein letztes Mal:<br />

„Zweifel, verschwindet!<br />

Ich schaffe es!“<br />

Es ist soweit:<br />

Den Kopf frei,<br />

Den Körper unter Spannung.<br />

Ich pushe das Board vor mir her,<br />

Kurze Zeit rollt es vor meinen Füßen. –<br />

In letzter Sekunde springe ich auf<br />

Wie die unbekannte Person, die den Bus fast verpasst.<br />

Ein Rausch aus Geschwindigkeit verwirrt meine Sinne<br />

Die Spannung steigt. Mich zerreißt es gleich,<br />

Versuche, meinen Kopf klar zu halten.<br />

Schaffe ich es oder kommt der Absturz?<br />

Es geht schräg hinauf, nun ist es soweit:<br />

Ich Springe!<br />

Raphaela Fellin<br />

Merlin<br />

06<br />

23<br />

Ich schwebe, fliege durch die Luft,<br />

Das Board, ein Stück Holz,<br />

Unter mir!<br />

Ich sehe es, ich greife es.<br />

Ich spüre es!<br />

Es ist ein Teil von mir,<br />

Es gehört zu mir<br />

Es ist eine Verlängerung meines Armes. –<br />

Der Absturz<br />

Ein angenehmer, gewollter<br />

Kontrollierter Absturz:<br />

Langsam verliere ich das Gefühl aus meiner Hand,<br />

Ich spüre es nicht mehr,<br />

Ich fühle es nicht mehr,<br />

Es ist fort.<br />

Meine Beine, sie werden zusammengestaucht:<br />

Die Landung.<br />

Befreiungsstoß.<br />

Die Spannung verfliegt,<br />

Absolutes Wohlbefinden.<br />

Ich fühl´ mich gut, ich fühl´ mich stark,<br />

Ich bin ich!<br />

Wie leicht und unbeschwerlich er sich hinfort bewegt<br />

Sanft und anmutig jede Bewegung<br />

Diese Sicherheit<br />

Jeden Winkel seiner Umgebung zu kennen<br />

Diese mühelos reizstarke Wahrnehmungskraft<br />

Schweigsame Weisheit<br />

Die er perfekt zu beherrschen scheint<br />

Diese Fähigkeit<br />

Das Maß an Intelligenz völlig auszuschöpfen<br />

Ideal – diese Kontrolle über Unscheinbarkeit und absolute Präsenz<br />

Das alles blieb dem Kater<br />

Und was ist mit dir?


Neulich abends sitz ich mit einigen Freunden auf einer Hollywoodschaukel vor<br />

unserer meistgemochten Kneipe. Wir unterhalten uns über dies und jenes, den<br />

verlebten Tag und dazwischen auch über Musik, die uns wichtig ist.<br />

Musik ist ein sehr weitgefächerter Begriff, sehr komplex und mitunter auch ausschlaggebend,<br />

was Freundschaften angeht.<br />

Eine gute Platte kann einen mitreißen, wie ein gutes Buch oder ein spannender Film.<br />

Und man kann sich damit identifizieren, wie mit dem Protagonisten in diesem guten<br />

Buch oder diesem guten Film.<br />

Im Hiphop ist das Ganze noch einmal intensiver, da sich diese Subkultur auch aus dem<br />

Wunsch heraus endlich mal etwas zum Identifizieren zu haben entwickelt hat.<br />

Damals, in den sechziger Jahren, als die Stadtväter New Yorks auf die Idee kamen<br />

eine Autobahn durch das bis dahin noch sozial intakte Viertel mit dem heute so<br />

weltbekannten Namen „Bronx“ zu ziehen.<br />

Nachdem diese gebaut war, zog, wer konnte, weg. Der Rest, besonders die Jungen<br />

dort hatten nicht wirklich Lust sich mit dieser Autobahn zu identifizieren.<br />

So entwickelten sie Eigensinn, trugen Ihre Trainingsanzüge mit dem Stolz und der<br />

Genugtuung, den man sonst von den Gesichtern derer kennt, die mit Ihrer Kleidung<br />

auch ihren hohen Status zum Ausdruck bringen und waren sich damals bestimmt<br />

nicht bewusst, dass diese Mode heute wieder für viele unbezahlbar geworden ist.<br />

Allerdings nicht für den Typen, der links von uns, auch auf einer der Hollywoodschaukeln<br />

vor unserer meistgemochten Kneipe sitzt, und das Gespräch sucht, nachdem<br />

er mitbekommt, dass wir was mit Rap zu tun haben.<br />

Er ist von oben bis unten Hiphop, zumindest von den Kleiderlabels.<br />

06<br />

24<br />

Bevor ich noch Gelegenheit habe, mich zu gruseln, beginnt er<br />

eine Debatte über Hiphop, seine Ansichten, die Entstehung,<br />

den Style und all so Schwachsinn.<br />

Dummerweise weiß er nicht wirklich, was er da erzählt und<br />

gerät recht schnell ins Schleudern, das ist aber nicht ungewöhnlich,<br />

den in Deutschland wird in Sachen Rap zwar viel<br />

von den Wurzeln geredet, aber die wenigsten haben sich je die<br />

Zeit genommen, sich schlau oder gar Gedanken zu <strong>machen</strong>.<br />

Denn als diese Hiphop-Geschichte zu uns rüber schwappte,<br />

so etwa vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, da ist man<br />

noch aufgefallen mit den Hosen unterm Allerwertesten, mit<br />

Sneakern, die damals noch Sportschuhe hießen.<br />

Die Jugendlichen, die mit Hiphop zu tun hatten, lebten nach<br />

dem Grundsatz, dass man aus dem, was man hat, das Beste<br />

macht, es rekombiniert und sich darüber reflektiert und<br />

repräsentiert. Man wollte Auffallen und das hatte damals noch<br />

nicht so viel mit Kaufkraft zu tun wie heute, sondern mit<br />

Kreativität und selbst erschaffenen Traditionen.<br />

Wenn man versucht, die damaligen Impulse bis zum heutigen<br />

Konsum- und Merchandisepaket zu verfolgen, so bemerkt man,<br />

dass die Situation, wie sie heute ist der Idee der Jugendlichen<br />

aus der Bronx von damals massiv wiederspricht. Denn heute<br />

sind die Trainingsanzüge teuer genug, um als echtes Statussymbol<br />

durch zu gehen und damals trug man sie mit diesem<br />

Stolz, der sagen sollte „Alter ich bin so cool und brauche nicht<br />

mal Geld dazu.“ So ändern sich die Zeiten und die alten Ideale<br />

<strong>machen</strong> Platz für ihr verklärtes Bild in Hochglanzmagazinen.<br />

Aber das alles nun diesem Kerl eine Hollywoodschaukel<br />

weiter zu erläutern, ist ebenso schwierig und ermüdend wie<br />

weiter guten Mutes gegen dieses Windmühlenheer von<br />

verkaufskräftigen Vermarktungshüllen mit dem Etikett „Rap“<br />

an zu kämpfen.<br />

Abgesehen davon kann er recht wenig für seine Sicht der<br />

Dinge, da es ihm so Tag für Tag medial vorgelebt wird.<br />

06<br />

25<br />

In der <strong>Literatur</strong> ist es ja ähnlich. Bohlens intime Obszönitäten<br />

verkauften sich auch häufiger als die Gedichtbände von Erich<br />

Fried beispielsweise.<br />

Und dann eine Rap-Werkstatt zu leiten, in der man sich selbst<br />

gar nicht so sicher ist, ob einem das Ganze nicht zu nahe geht,<br />

ob man die Teilnehmer nicht etwas zu sehr zu beeinflussen<br />

versucht, ob Rap nicht doch zum größten Teil Dummgeschwätz<br />

ist, das ist mitunter gar nicht so einfach und führt einen oft<br />

an seine ideologischen Grenzen.<br />

Gerade, wenn man davon zu leben versucht, seinen Weg<br />

sucht wie Don Quichotte zwischen den Windmühlen, aber<br />

doch weiß, das dieser Weg kein Vorbild sein kann für den<br />

Großteil der Teilnehmer der Rapschmiede.<br />

Aber gerade um die geht es, und sie gewähren einem<br />

tiefen Einblick in das eigene Chaos, sind zwischen den<br />

Zeilen immer ehrlich und führen mich mit ihren Fragen oft<br />

genug aufs Glatteis.<br />

Zu Rap und Hiphop gehört auch darüber zu streiten, argumentieren<br />

zu lernen und die Ernsthaftigkeit zu begreifen, die<br />

mitschwingt, auch wenn man sie nicht immer auf den ersten<br />

Blick erkennen kann. Sich mit sich selbst und der Umwelt,<br />

dem was man hat, auseinander zu setzen, um es neu zu<br />

kombinieren. Eigentlich eine urnatürliche Sache.<br />

Tobias Borke, Werkstattleiter


Moritz Zimmermann<br />

06<br />

26<br />

schon vor langer Zeit hast du mich verzaubert<br />

und ich war wohl blöd dass ich geglaubt habt<br />

ich könnte dich nie für mich begeistern<br />

aber dann auf deiner Party, Herzchen, du weißt ja<br />

ich hab einfach mir und der ganzen Welt vertraut<br />

dir mein Herz geschenkt, dir dein Herz geklaut<br />

und jetzt bin ich vierundzwanzig Stunden lang glücklich<br />

denn mich hat’s voll erwischt, pass auf denn ich drück dich<br />

und ich küss dich, verdammt man ich vermiss dich<br />

sobald du weg bist, denn da wird dass Leben wieder müßig<br />

denn ich steck bis zum Hals tief in der Scheiße<br />

doch denk ich an dich kann ich mich davon befreien<br />

und auch wenn ich manchmal denk dass du Angst hast<br />

vor mir oder irgendetwas ganz anderm<br />

weiß ich doch genau du kannst mit mir was Anfang<br />

so wie die Amis mit ihren neuen Panzern<br />

du bist wie ne Droge, du machst mich glücklich<br />

ich bin dein Junkie, und verdammt süchtig<br />

in jeder Minute die ich dich nicht habe<br />

fühl ich mich gequält wie Caesars Sklave<br />

doch mit dir zusammen ist die Welt so schön<br />

wie die rote Sonne beim untergehn<br />

und ich bin froh dass ich da war an deinem Geburtstag<br />

denn ich hab den Schatz gefunden den ich ewig gesucht hab!<br />

du bist meine große Liebe auf den zweiten Blick<br />

und manchmal hab ich Angst dass ich dich erdrück<br />

denn ich hab so viel Liebe zu geben wie fast keiner<br />

weil mein Leben ist glücklich und dass will ich teilen<br />

nur mit dir, denn mit dir fühl ich mich verbunden<br />

ungefähr so wie mit meinen drei Hunden<br />

dass hört sich verdammt blöd an ich weiß<br />

Aber bist du bei mir, bekommst du den Beweis<br />

dass es echt fast kein größeres Kompliment gibt<br />

so als ob ich’s übern ganzen Kontinent schrieb<br />

denn das mir der Hund viel lieber ist sei eine Sünde?<br />

der Hund bleibt mir im Sturme treu der Mensch nicht mal im Winde<br />

doch du bist ganz besonders, einfach einmalig<br />

und dich nicht zu fühlen tut mir weh wie’n Arschtritt<br />

doch wie alles im Leben geht der Schmerz vorbei<br />

wenn ich dich wiederseh, denn ich hab dein Herz dabei<br />

du bist wie ne Droge, du machst mich glücklich<br />

ich bin dein Junkie, und verdammt süchtig<br />

in jeder Minute die ich dich nicht habe<br />

fühl ich mich gequält wie Caesars Sklave<br />

doch mit dir zusammen ist die Welt so schön<br />

wie die rote Sonne beim untergehn<br />

und ich bin froh dass ich da war an deinem Geburtstag<br />

denn ich hab den Schatz gefunden den ich ewig gesucht hab!<br />

ich weiß manchmal nicht wie ich es sagen soll<br />

doch mein Schatz ich finde dich nicht toll<br />

vielleicht spürst oder weißt du es schon<br />

was ich für dich empfinde geht in eine andere Dimension<br />

und es kann sein dass es sonst keinem auffällt<br />

aber fühl ich dich bin ich in ner Traumwelt<br />

und wenn’s mich dann da wieder rauskickt<br />

bin ich kurz gefrustet, doch ich hab ja den Ausblick<br />

dich sehr bald wieder in meine Arme zu schließen<br />

dich zu sehen, tasten, fühlen und riechen<br />

und weil du mich zum glücklichsten Mensch machst<br />

geb ich’s dir zurück und nehm ein Blatt<br />

ich hoffe nur dieser Text kann dir geben was du mir gibst<br />

und ich hoffe du nimmst ihn auf wie einen Brief<br />

stell dir vor er wär von meinem Herz geschrieben<br />

und es will dir sagen dass ich dich liebe!<br />

du bist wie ne Droge, du machst mich glücklich<br />

ich bin dein Junkie, und verdammt süchtig<br />

in jeder Minute die ich dich nicht habe<br />

fühl ich mich gequält wie Caesars Sklave<br />

doch mit dir zusammen ist die Welt so schön<br />

wie die rote Sonne beim untergehn<br />

und ich bin froh dass ich da war an deinem Geburtstag<br />

denn ich hab den Schatz gefunden den ich ewig gesucht hab!<br />

06<br />

27


Moritz Zimmermann<br />

Der kleine Flip Mo<br />

06<br />

28<br />

der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />

is nich immer weida, aber meistens thigta<br />

denn ich hab unglaubliche Reime unerforschbare Gedankengänge<br />

deshalb behaupte ich, dass ich den Leuten helfe beim Schranken sprengen<br />

außerdem setz ich nich auf körperliche sondern geistige Stärke<br />

denn diese hilft mir beim vollenden meiner verweisenden Werke<br />

der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />

is nich immer weida, aber meistens thigta<br />

alles hat den Anschein ich müsste krank sein, kann sein<br />

doch meine Punchline kommt wie’n Salto vom Randstein<br />

und dass nicht irgendwie; vom Sprungbein aufs Standbein<br />

mit ner Distanz von Pforzheim rauf nach Mannheim<br />

aber ich sag nicht dass ich der Beste bin oder der Beste bleib<br />

trotzdem weiß ich es is soweit dass ich ganz gute Texte schreib<br />

dass werde ich solang sagen bis es auch der Allerletzte weiß<br />

du willst mich Poppen? Denkste ich sag ja? Das fändste nice<br />

aber oh oh; leider nicht mit mir denn wenn ich hier philosophier<br />

brennt die Bühne dass Mic jetzt brennt der Stift und dass Papier<br />

denn der kleine Flip Mo is immer für ne Überraschung zu haben<br />

entweder ich schieß dich übern Haufen oder spielen Turmbau zu Babel<br />

die Entscheidung liegt ganz in deiner Hand, kannst’s dir aussuchen<br />

mir ist es vollkommen egal, nur eins solltest du lassen mich ausbuhen<br />

denn sonst dreh ich durch wie Godzilla, Hulk oder Kaptain Kirk<br />

nehm meine Photonenkanone und mach aus dir nen netten Zwerg!<br />

der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />

is nich immer weida, aber meistens thigta<br />

denn ich hab unglaubliche Reime unerforschbare Gedankengänge<br />

deshalb behaupte ich, dass ich den Leuten helfe beim Schranken sprengen<br />

außerdem setz ich nich auf körperliche sondern geistige Stärke<br />

denn diese hilft mir beim vollenden meiner verweisenden Werke<br />

der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />

is nich immer weida, aber meistens thigta<br />

was euch grad so burnt is ne andre Form vom Reimen<br />

mit krassem zeug vom meister Flip Mo aber vom Kleinen<br />

ich saß tagelang zuhause nur um an diesem Text zu feilen<br />

jetzt is er fertig und ich kann nicht mehr warten, muss ihn verbreiten<br />

im Norden Süden Osten und Westen um ihn der Welt zu zeigen<br />

ja ich kann nicht mehr schweigen muss mich selbst mitteilen<br />

hab schon viel zu lang gewartet um noch länger zu verweilen<br />

denn sonst fühl ich mich nicht wohl, fange an zu verzweifeln<br />

falle in Selbstmitleid ich weiß was passiert wen mich jemand hört<br />

er ist sofort und auf der stelle ziemlich krass geburnt<br />

und dann fragt er sich wer schmeißt da mit so krassem Zeug rum?<br />

merk dir einfach den kleinen Flip Mo, der is von Bedeutung!<br />

denn dieser kleine nicht zu verachtende Mc steht im Zentrum<br />

aber nich vom großen Einkaufsladen, nein vom Universum<br />

wahrscheinlich denkst du jetzt der Typ is total verkehrtrum,<br />

aber der Scheiß is so thight den spielen sie sogar im Verkehrsfunk<br />

der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />

is nich immer weida, aber meistens thigta<br />

denn ich hab unglaubliche Reime unerforschbare Gedankengänge<br />

deshalb behaupte ich, dass ich den Leuten helfe beim Schranken sprengen<br />

außerdem setz ich nich auf körperliche sondern geistige Stärke<br />

denn diese hilft mir beim vollenden meiner verweisenden Werke<br />

der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />

is nich immer weida, aber meistens thigta<br />

ich bin der kleine Mann der schon so ziemlich überall war<br />

manche übertreiben nennen mich den Übermann; klar<br />

ich war schon hier und da in unserm schönen Weltall<br />

aber fragt euch mal warum war ich immer wieder so schnell da<br />

weil ich es liebe hier zu leben auf der Erde meinem Planeten<br />

so viel steht fest ich könnte noch tausend andere betreten<br />

doch die Erde hat mich zu viel gelehrt um sie zu verlassen<br />

außerdem hasse ich es, dass wo anders die Erinnerungen verblassen<br />

auch wenn’s hier und da ganz toll war und ich wieder hingehn würde<br />

bin ich der Meinung es ist schön hier und ich stell mir eine Hürde<br />

mit großen roten gelben und grünen Blinklichtern in mein Gehirn,<br />

dass ich verdammt noch mal nicht vergesse wo ich eigentlich hin gehör<br />

in meine Stadt, in mein Haus zu meiner lieben Familie<br />

in mein Garten, meinen Pool zu meinen Freunden und Haustieren<br />

da hin wo man sich misstraut verhaut und steht im Stau<br />

wo man sich bekriegt nich fair spielt sondern fault!<br />

der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />

is nich immer weida, aber meistens thigta<br />

denn ich hab unglaubliche Reime unerforschbare Gedankengänge<br />

deshalb behaupte ich, dass ich den Leuten helfe beim Schranken sprengen<br />

außerdem setz ich nich auf körperliche sondern geistige Stärke<br />

denn diese hilft mir beim vollenden meiner verweisenden Werke<br />

der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />

is nich immer weida, aber meistens thigta<br />

06<br />

29


Lars Lehmann<br />

Besserwisser<br />

06<br />

30<br />

Was hast du gesagt, dass kann ich nicht fuer gut heissen,<br />

denn bei allem was du sagst muss ich einfach klugscheissen.<br />

Ich weiss alles, zum Beispiel das du es dir durch Stress verscheisst,<br />

da die Antwort eh klar ist, da ich es ja besser weiss.<br />

So ziehe ich mein Wissen aus vorhandenen Dokumenten<br />

Desshalb habe ich nur verstanden so zu denken.<br />

Hast du eine Frage und brauchst sie ein bisschen beschrieben?<br />

Dann komme zu deinem Lehrmeister auf allen Wissensgebieten.<br />

Ich zeige dir mein Koennen auch wenn ich es ohne Grund berichte,<br />

von Deutsch, Latein, Mathe oder Kunstgeschichte.<br />

Im Gegensatz zu Hesse kann ich richtig killer dichten.<br />

Ich habe eine bessere Grammatik als vorhanden in Schillers Schriften.<br />

Ich mal in 10 Minuten ein Werk wie Mona Lisa.<br />

Nicht nur das, ich gebe auch noch ihre Tonart wieder.<br />

Auch die Staatsoper baue ich dir mit Lego nach<br />

Was behauptest du, das ich ein zu grossen Ego hab?<br />

Ich hoff das es dir Leid tut, aber winsel nicht<br />

Mich hast du nur durch Glueck getroffen, wie Picassos Pinselstrich!<br />

Was soll das heissen, du weisst es besser, Pisser<br />

Kann ja gar nicht sein, ich bin hier der Besserwisser<br />

Ref.:<br />

Hier kommen die Neinsager, die Kritiker, die zu Stolzen<br />

Die Wissenden, die Allmaechtigen, die wahren IQ-Bolzen<br />

Die Jungs die niemanden mit ihrer Geilheit verschon’<br />

Schaut ruhig her, wir sind die Weissheit in Person<br />

Weg mit dem Blitzlicht, ich beantworte danach Fragen,<br />

denn ich würde auf jede Frage eine Antwort parat haben.<br />

Denn ich bin der Angeber, Klugscheisser, Besserwisser,<br />

der als einziger geborener Messias Rapperdisser.<br />

Neue Rolex, klasse, damit hast du gerade noch geprahlt,<br />

dann pass auf, dass mein Daddy deinen Vater noch bezahlt.<br />

Als Architekt bist für dein Diplom ziemlich dankbar,<br />

doch ich brauch nur ne Schaufel, bau die Pyramiden in Sand nach.<br />

Ich jag Freddy nen Schrecken ein und zeig dir wer hier super rapt,<br />

und zwar so fresh das ich dich zerteil wie die Donau Budapest.<br />

Jetz wirst noch frech fragen was die Inkas damals bauten,<br />

Mann, das bastel ich dir aus nem Papier nach und verziers mit Schlaufen.<br />

Und was Battlen angeht schreibt mein Mundwerk Geschichte,<br />

weil ich dich wie sonst wie Van Gogs Kunstwerk vernichte.<br />

Ich weiss nicht nur alles, ich bin auch noch scheisse bankrott,<br />

schrei deshalb bei Günter Jauchs letzten Frage dreist die Antwort.<br />

Bei meinem Part verzieht sich Zeit und Raum wie Dali,<br />

denn bei mir deine Meister so wie bei Mister Miagi.<br />

Was Taktgefühl angeht ist auch Mozart nur ein Scheissefresser.<br />

Er erzählt mir was von Rhythmus, ich sag psst, ich weiss es besser.<br />

Ref.:<br />

Hier kommen die Neinsager, die Kritiker, die zu Stolzen<br />

Die Wissenden, die Allmaechtigen, die wahren IQ- Bolzen<br />

Die Jungs die niemanden mit ihrer Geilheit verschon’<br />

Schaut ruhig her, wir sind die Weissheit in Person<br />

06<br />

31<br />

Timo Heiler<br />

Besserwisser


Timo Heiler<br />

Niemandsland<br />

06<br />

32<br />

Die Augen gehen auf, doch ich hab gar nichts erkannt<br />

Hör nur Kinderschreie und hab noch panische Angst,<br />

denk an Ying und Yang und welches ist dann meine Spalte?<br />

Ich fall in dieses Dunkel, dennoch muss ich weiter schalten.<br />

die zweite Seite zieht und reißt mich da rein,<br />

Migräneattacken, bin im Geiste allein.<br />

Allein daheim, wo ich mich als Krüppel wiederfand.<br />

Komme kaum vorwärts und taufe dies hier Niemandsland.<br />

Ich kämpfe, doch ich kann nicht gewinnen,<br />

frag die Leute was ist, keiner kann sich entsinnen.<br />

Ich hab Angst voll zu spinnen, durch zu drehen in der Gedankenwelt.<br />

Alle <strong>machen</strong> nur den selben Scheiß der bald zusammen fällt.<br />

Langsam check ich, das ich das hier bastel,<br />

dein Hass, Neid und Gier sind in dieser Welt verschachtelt.<br />

Hier findet man die Gierigen, die sich keinem offenbaren,<br />

empfangen dich mit offnen Armen, bis sie deine Hoffnung haben.<br />

Die schmierigen Bürokraten saugen dich wie Vampire aus.<br />

Das Gleichnis von den Welten zeigt den Menschen- und Maschinentausch.<br />

Doch keiner redet draußen mehr drüber über diese Zwischenszenen,<br />

doch jeder schaut mal rein und muss davon einen Bissen nehmen.<br />

Ref.:<br />

Dies ist das Land, das es niemals geben sollte<br />

Das an dir vorbeizieht, fast wie eine Regenwolke<br />

Wenn man über die Grenze von diesem Land mal marschiert<br />

Bleibt dein Blick für immer wie ein Brandmal markiert<br />

Ich habe es versucht an diese Schattenwelt nicht dranzudenken<br />

In der ich gefangen bin, nur mit Schweiß-und Angstzustaenden<br />

Da ich selbst nicht eins bin, ich mich in dieser Welt nicht einfind<br />

Und ich versorgt werden muss, fast wie ein Kleinkind<br />

Da ich jeden Morgen aufstehe, um in ein Abenteuer aufzubrechen<br />

Mir durch meine Stummheit nich erlaubt ist Klagen auszusprechen<br />

Doch jetzt ist nicht nur meine Seele fast erfroren<br />

Nein, ich habe auch noch meine Lebenskraft verloren<br />

Fuer Heilung muesste ich die Anlagen schon von Klein auf haben<br />

So bin ich chancenlos, schaffe es nur noch zum Einkaufsladen<br />

Und da ich mir meine Zukunft in diesem Leben eh verscherzt hab<br />

Finde ich meine Liebe nicht wie andere beim Herzblatt<br />

Das dies mein Paradies ist, bleibt wohl eine wahre Luege<br />

Ich freue mich nur auf Schwester Isabel mit ihrer klaren Bruehe<br />

Und so wie taeglich Stunden mit mir am Fenster verstreichen<br />

Und mich Passanten oft schon mit Gespenstern vergleichen<br />

Hier gesund Leben geht nicht, da werde ich vielmals Krank<br />

Warte ich nur auf die Todeszeit mit großem Leid im Niemalsland<br />

Ref.:<br />

Dies ist das Land, das es niemals geben sollte<br />

Das an dir vorbeizieht, fast wie eine Regenwolke<br />

Wenn man über die Grenze von diesem Land mal marschiert<br />

Bleibt dein Blick für immer wie ein Brandmal markiert<br />

06<br />

33<br />

Lars Lehmann<br />

Niemandsland


06<br />

34<br />

Moritz Zimmermann<br />

DEADLINE!<br />

Obscure Styles<br />

3 Typen am Mic (Demo)<br />

Ich kam von der Schule heim und du warst weg,<br />

hab dich überall gesucht, doch ich fand dich net<br />

da kam von meiner Mutter die Nachricht,<br />

dass du ab jetzt nicht mehr da bist<br />

Auf dem Röntgenbild konnte man es sehn<br />

du konntest kaum noch stehn und gehen<br />

wir wollten doch nur zum Arzt fahrn,<br />

um zu sehn ob da was da war<br />

doch ganz plötzlich war klar,<br />

dass das diene letzte Fahrt war<br />

FUCK VERDAMMT das kam hart<br />

du lagst am Grab und du warst starr<br />

ich hab's erst gar nicht gepeilt,<br />

erst jetzt wo ich über dich schreib<br />

wird klar, dass du weg bleibst,<br />

wenn ich nächstes mal pfeif<br />

Chorus drei Typen am Mic gegen den Rest der Welt<br />

[Wortgewandt] drei Typen die kämpfen bis der letzte fällt<br />

(aka Daniel bäcker) die drei Typen bleiben dran und werden nicht weichen<br />

sind erst KO nach dem verbrennen unserer Leichen<br />

Vers 1 Wir sind wie Chip und Chap die Retter des Rap<br />

[Wortgewandt] du willst tight rappen doch wir sind am Mic geh weg<br />

der Platz reicht nicht um weiter Spassten aufzunehmen<br />

<strong>machen</strong> Hip Hop mit dem Risiko draufzugehen<br />

es ist kein Hobby sondern eine Lebenseinstellung<br />

aber es dreht sich nur noch um Publicity und Geld und<br />

wie sehe ich mein Bild und meinen Namen am schnellsten in der Zeitung<br />

es ging lange so, doch jetzt ist eure Zeit um<br />

Obscure Styles zerlegt eure Schubladen<br />

guten Abend ihr könnt jetzt in Schutt baden<br />

noch aggressiver als Säuren und verletzlicher als Frauen<br />

du willst tight rappen doch ich nehm dich so ernst wie n Clown<br />

es gibt einige Experten die der Meinung sind<br />

das Obscure Styles schlecht ist für ihr Kind<br />

wo sie Recht haben kann ich nicht widersprechen<br />

denn wir wollen uns an euch durch unsere Lieder rächen<br />

Chorus drei Typen am Mic gegen den Rest der Welt<br />

[Wortgewandt] drei Typen die kämpfen bis der letzte fällt<br />

die drei Typen bleiben dran und werden nicht weichen<br />

sind erst Ko nach dem verbrennen unserer Leichen<br />

dein ganzes Leben hast du mit mir geteilt,<br />

ein ganzes Leben und nur so wenig Zeit<br />

dein ganzes Leben, es ging so schnell vorbei,<br />

ein ganzes Leben und ich war dabei<br />

jeden Tag warst du um mich herum,<br />

warst leise und trotzdem nie stumm<br />

es ging so schnell und deine Zeit war um<br />

und das was bleibt is die Erinnerung<br />

jetzt bist du weg, wird dich nie wieder sehn,<br />

außer auf Bildern die hier rumstehn<br />

munter und gesund, ein junger Spund,<br />

du hattest ein strahlen in den Augen und,<br />

ein kräftiges Bellen in deinem Mund<br />

doch dann kam der Knochenschwund,<br />

es begann mit einem linken Bein,<br />

und dass sollte dein Ende sein<br />

06<br />

35<br />

erst nach einiger Zeit hab ich dass verdaut<br />

jeden Tag Bilder von dir angeschaut,<br />

und trotzdem will ich’s nicht begreifen,<br />

dass du tot bist – so ne Scheiße<br />

ich weiß auch, dass ist ein Kreislauf,<br />

doch ich scheiß drauf, wie auf Weihrauch<br />

denn du bist weg, und dass wird so bleiben,<br />

und alles was mir bleibt ist das Schreiben<br />

doch ich will mich nicht nur beklagen,<br />

denn eigentlich muss ich sagen<br />

hatten wir ne Hammerzeit zu Zweit,<br />

fast sogar ne Ewigkeit geteilt<br />

und dich werde ich niemals vergessen,<br />

du hast nen Platz in meinem Herzen<br />

hoffentlich geht’s dir gut wo du bist!<br />

Vers 2 lange geschwiegen um Gedanken zu suchen<br />

[Wortgewandt] doch zurückgekommen um euch zu verfluchen<br />

Hip Hop ist gestorben wir sind die Wiedergeburt<br />

Ihr seid an allem Schuld, denn ihr habt ihn verhurt<br />

Vergiss es, wir drei sind ewig am Mic<br />

Unsere Texte sind immer eure nur gelegentlich tight<br />

Viele lachten als wir sagten wir <strong>machen</strong> Rap<br />

Einige Crews lösten sich auf und ich frage jetzt<br />

Warum haben die einst realen und tighten aufgegeben<br />

Spätestens beim nächsten Treffen hören sie auch auf zu leben<br />

Wollen uns sagen was wir noch schlecht <strong>machen</strong><br />

Wollte nur sagen dass wir euch echt hassen<br />

Vers 3 Du findest Rapper sind gut? Findest du den Sinn gut?<br />

[Weng] Scheiß auf den Sinn! – Hauptsache es klingt gut<br />

(aka Max Suffel) Nach uns die Sintflut, auf Jams auf denen wir waren gerinnt Blut<br />

Nennst dich Dog, deine Raps sind heiße Luft Windhund<br />

Ich bin kein Spinner, Kind! Mann finde den Sinn!<br />

Verwirre Backspin & Juice, weiß, dass die mich jetzt wack finden, doch ich tu<br />

Was kein Schwein bringt und mir fünf Mics einbringt<br />

da jeder Typ gleich klingt, weil er Pimp sein will<br />

Entzünd dein Spliff weil du verrückt sein willst doch ich knüpf dein Strick<br />

Ich verkünd mein Shit und dein Label kündigt dir<br />

Labels deklarieren mich als besten Fang im Sprechgesang<br />

Denn es ist das erste Mal dass ein Rapper echt was kann<br />

Wir sind härter als dein Image, stärker als Fäden von Spinnen<br />

Bringen dein Mädel von Sinnen und deinen Schädel zum springen<br />

Vergiss die Vergebung der Sünden, das gibts selten wie Regen im Süden<br />

Überleg nicht mehr Kind, du suchst vergeblich Sinn!


06<br />

36<br />

Fast alles taugt zum Thema<br />

Die Karriere eines fast jeden Journalisten<br />

beginnt mit einem herben Rückschlag.<br />

Mit der Erkenntnis nämlich, dass sich<br />

das Vorhaben, der Menschheit nun<br />

endlich die Wahrheit zu bringen, so gut<br />

wie nicht umsetzen lässt. Selbst wenn es<br />

DIE Wahrheit gäbe, hätte der angehende<br />

Journalist seine liebe Not damit, sie in<br />

einen griffigen Artikel zu packen.<br />

Alles fängt also eine Nummer kleiner an.<br />

Mit der Aneignung des grundlegenden<br />

Handwerkszeugs etwa. Wie funktioniert<br />

Recherche? Mit welchen Techniken und<br />

Tricks erziele ich beim Interview die<br />

besten Ergebnisse? Was zeichnet eine<br />

gute Reportage aus? Welchen formalen<br />

Ansprüchen muss ein journalistischer<br />

Text genügen?<br />

Nebenbei macht man sich schon mal<br />

Gedanken über die Themen, die man<br />

zum Gegenstand der Berichterstattung<br />

<strong>machen</strong> könnte. Spätestens hier folgt die<br />

zweite, vielleicht viel überraschendere<br />

Erkenntnis: Fast alles taugt zum Thema.<br />

Man muss es nur unter der entsprechenden<br />

Fragestellung betrachten und in<br />

der entsprechenden Weise verpacken.<br />

Die eigene Welt, der eigene Alltag<br />

steckt voller Geschichten und Themen:<br />

Freunde, die etwas Besonderes <strong>machen</strong>,<br />

außergewöhnliche Reisen, die typischen<br />

Verhaltensweisen und Vorlieben der<br />

Altersgenossen... Wer einmal entdeckt<br />

hat, wie unerschöpflich der Fundus<br />

schon im eigenen Umkreis ist, kommt<br />

aus dem Schreiben nicht mehr heraus.<br />

Die ganz großen Fragen muss man<br />

dabei ja nicht unbedingt aus den Augen<br />

verlieren.<br />

06<br />

37<br />

Journalistisches Schreiben bewegt sich<br />

immer im Spannungsfeld zwischen<br />

Möglichkeit und Begrenzung. Der Rahmen,<br />

in dem der Autor (oder Reporter)<br />

arbeitet, besteht aus der wie auch immer<br />

gearteten Realität, über die er berichtet,<br />

sowie dem Medium, für das er schreibt.<br />

So weit, so begrenzt. Innerhalb dieses<br />

Raumes herrscht jedoch meist noch<br />

genügend Freiheit, um ein eigenes<br />

Profil, einen individuellen Stil entwickeln<br />

zu können.<br />

Die Reportage-Werkstatt versucht, die<br />

Teilnehmer auf der Suche nach ihrem<br />

Profil zu unterstützen. Dazu gehört<br />

natürlich eine Portion Theorie, die eigentliche<br />

Arbeit findet jedoch an den entstandenen<br />

Texten statt. Nur in der Praxis<br />

kann man schließlich erkennen, wo die<br />

eigenen Interessen und Stärken liegen.<br />

Besonders erfreulich ist, dass der Workshop<br />

im zurückliegenden Semester nicht<br />

mehr nur ein Ort für Trockenübungen<br />

war, sondern den Charakter einer wirklichen<br />

Redaktion angenommen hat. Zu<br />

verdanken ist das der Zusammenarbeit<br />

mit der Baden-Württemberg-Ausgabe<br />

der Russischsprachigen Monatszeitung<br />

Izvestia. Von Mai an gestalteten die<br />

Schüler der Reportage-Werkstatt jeweils<br />

eine oder zwei Seiten der Zeitung mit<br />

ihren Artikeln und ihren Themen, auf<br />

Deutsch und teilweise auch auf Russisch.<br />

Eine einmalige und gute Chance für<br />

junge Journalisten, sich zu bewähren.<br />

Es gibt eben nicht nur herbe Rückschläge,<br />

sondern manchmal auch große<br />

Sprünge nach vorn.<br />

Tilman Rau, Werkstattleiter


Sebastian Stelzer<br />

Fremd im eigenen Land<br />

Ein junger Stuttgarter absolviert seinen Zivildienst in Sarajevo –<br />

und begibt sich damit auf die Suche nach der eigenen Identität.<br />

Ein Jahr ist vergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Ein<br />

Jahr, das Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hat. Der Bart ist<br />

länger und der Gesichtsausdruck ernster geworden. An einem<br />

Fensterplatz im Café, zwischen Familien mit quengelnden<br />

Kindern und Latte Macchiato trinkenden Szenemenschen,<br />

sprechen wir über dieses zurückliegende Jahr.<br />

Nenad Subat hat sich nach dem Abitur dafür entschieden, seinen<br />

Zivildienst in Sarajevo, der Heimat seiner Eltern zu leisten.<br />

„Ein Stück Heimat kennen lernen“, wollte er, „den Bosnier im<br />

Deutschen entdecken.“<br />

Durch Zufall ist Nenad im Internet auf die Organisation „Schüler<br />

helfen Leben“ gestoßen. Seit 1992 fördert diese Organisation<br />

gemeinnützige Projekte auf dem Balkan, hilft beim Aufbau von<br />

Strukturen und unterstützt zahlreiche kleinere Jugendprojekte<br />

in Sarajevo. Sie verteilt Spendengelder an junge Menschen,<br />

die etwas Positives auf die Beine stellen wollen: Musikfestivals,<br />

Basketballturniere oder Filmvorführungen.<br />

Ob diese Arbeit vor Ort erfolgreich ist, will ich wissen.<br />

„Teilweise“, sagt Nenad nach langem Zögern. Vorankommen<br />

könne man in Bosnien, das immer noch unter den Folgen des<br />

Balkankrieges zu leiden hat, nur schwer. Grund dafür seien<br />

die unterschiedlichen nationalistischen Interessen, die überbordende<br />

Bürokratie und die weit verbreitete Korruption.<br />

„TÜV kostet ’nen Zehner“, so Nenad. „Ein zugedrücktes Auge<br />

bei einer polizeilichen Alkoholkontrolle einen doppelten<br />

Kaffee, also ungefähr 50 Cent.“<br />

Diese Missstände ziehen sich durch alle Schichten der Gesellschaft.<br />

„Nationale Interessen sind oft nur der Deckmantel, um<br />

sich persönlich zu bereichern“, sagt Nenad. Und merkt an,<br />

wie reich die Gegend im Stuttgarter Westen, in der er aufgewachsen<br />

ist, nun wirkt. Sie ist ihm vertraut, aber nach einem<br />

Jahr Abwesenheit auch sehr fremd. Wie sauber die Straßen<br />

hier doch sind, wie neu die Autos. In Sarajevo seien die Spuren<br />

des Krieges noch deutlich sichtbar. Nenad beschreibt ein<br />

leerstehendes, baufälliges Haus ohne Dach, aber mit Einschusslöchern.<br />

Und direkt daneben die neu eröffnete Filiale der<br />

Deutschen Bank.<br />

06<br />

38<br />

„Die Amerikanische Botschaft ist ein riesiges<br />

blütenweißes Gebäude auf einem<br />

großen, parkähnlichen Gelände. Drum<br />

herum eine drei Meter hohe Mauer und<br />

Stacheldraht. Sie wird 24 Stunden von<br />

bewaffneten Soldaten bewacht“, erzählt<br />

Nenad.<br />

In dem Plattenbau, in dem er wohnt,<br />

wiederum ein ganz anderes Bild. Hier<br />

funktioniert der Aufzug nur, wenn man<br />

sich gegen die Tür lehnt, die Heizung<br />

wird zentral für den ganzen Häuserblock<br />

gesteuert. In Sarajevo heizt man im Kollektiv.<br />

Allgegenwärtig sind die verschiedenen<br />

Militärs. Soldaten aus aller Welt<br />

sind in Bosnien stationiert und kontrollieren<br />

den brüchigen Frieden.<br />

„Die UNO-Leute nennt man im Volksmund<br />

die Schlümpfe, wegen ihrer blauen<br />

Helme und wahrscheinlich auch deshalb,<br />

weil man sie nicht richtig ernst nimmt“,<br />

sagt Nenad mit einem Lächeln. Deutsche<br />

werden „Schwabs“ genannt, da die meisten<br />

Flüchtlinge während des Krieges in<br />

Baden-Württemberg lebten. So auch<br />

Nenads Eltern.<br />

Ob er den Bosnier im Deutschen gefunden<br />

hat, frage ich. „Ja, aber ich weiß jetzt<br />

auch, dass ich dort nicht leben will ... und<br />

wie gut es mir hier ging“, antwortet er.<br />

„Was für ein Privileg es ist, in Deutschland<br />

aufzuwachsen.“<br />

Am nächsten Tag fährt Nenad zurück<br />

nach Sarajevo, für die letzten drei Monate<br />

seiner Dienstzeit. Zum Abschied schenkt<br />

er mir einen Aufkleber. „Dosta.ba“ steht<br />

da. Das kann man in etwa mit „Genug<br />

jetzt“ übersetzen.<br />

Das ist Nenad aus Stuttgart.<br />

Er leistet derzeit in Bosnien<br />

seinen Zivildienst.<br />

Schicke Markenklamotten und der neueste Klatsch<br />

Die Serie Gute Zeiten, schlechte Zeiten feiert Jubiläum<br />

Seit nun schon 3000 Folgen hassen und lieben sie sich. Sie<br />

streiten hemmungslos, um sich dann wieder miteinander zu<br />

vertragen, die Helden der beliebtesten Jugendserie im<br />

Deutschen Fernsehen: Gute Zeiten, schlechte Zeiten, die bei<br />

ihren Fans nur GZSZ heißt. Die Vielfältigkeit der Handlungen<br />

erstreckt sich von Intrigen, Freundschaft, Betrug und Tod über<br />

schulische, finanzielle und soziale Probleme.<br />

Selbstverständlich kommt bei solch einem Angebot auch die<br />

Liebe nicht zu kurz. Im Wochentakt werden die Partner gewechselt,<br />

die daraus entstehende Verwirrung füllt die Serie danach<br />

nämlich mindestens die ganze nächste Woche. Die besonders<br />

festen Beziehungen gehen erst nach heftigen Streitereien in die<br />

Brüche, andere werden mit einem Liebesgeständnis oder, wie in<br />

der Jubiläumsfolge, mit dem Ehegelübde besiegelt.<br />

Die Charaktereigenschaften der Darsteller sind leicht zu<br />

beschreiben, bei GZSZ sind nämlich alle entweder gut oder<br />

böse. Die Guten sind die Verkörperung reiner Perfektion;<br />

extrem attraktiv, nett, beliebt und dauergrinsend (warum muss<br />

ich hierbei nur an Garfield denken?), die Bösen dagegen kaltblütig,<br />

profitgierig, selbstsüchtig und zu jedem Verbrechen<br />

bereit. Viele der Bösen kommen meist nur einige Folgen lang<br />

vor, in denen sie ihre gesamte Freizeit darin investieren, die<br />

Guten vom rechten Weg abzubringen.<br />

Aber ansonsten haben sich in dieser Serie von der mordlustigen<br />

Schwester bis zur Liebeskummer geplagten besten Freundin<br />

alle ganz doll lieb! Die pubertierenden Teenager der Serie<br />

schmeißen mit Wörtern wie „voll krass“ und „fett geil“ um sich<br />

und <strong>machen</strong> damit selbst den letzten Neidern klar, wie „total<br />

cool“ sie doch alle sind. Erkan und Stefan lassen grüßen!<br />

Die an Geldmangel leidenden, aber immer noch in den schikksten<br />

Markenklamotten gekleideten Erwachsenen dagegen,<br />

treffen sich jeden Morgen in der Kaffeeecke der Werbeagentur,<br />

um sich gegenseitig ihre identitätszerfressenden Probleme vorzutragen<br />

und ganz nebenbei auch noch den neusten Klatsch<br />

auszutauschen, wobei die Männer den Frauen in dieser Hinsicht<br />

keinesfalls nachstehen.<br />

Ach ja, und dann gibt es da noch jene, die die ganze Serie lang<br />

Alexandra Rojkov damit beschäftigt sind, anderen aus ihren<br />

Depressionen zu helfen, sie aus ihrem<br />

schwarzen Loch der Verzweiflung zu ziehen.<br />

Dies geschieht dann mit einer gro-<br />

06<br />

39<br />

ßen Portion Zuneigung, angereichert mit<br />

unverzichtbaren Lebensweisheiten wie<br />

zum Beispiel „Am Ende des Tunnels<br />

kommt immer wieder Licht“ oder „Gib<br />

nicht auf, kämpfe, überwinde deine Ängste“<br />

oder „Lass dir Zeit, eines Tages wirst<br />

d u<br />

darüber hinwegkommen.“ Sie haben sich<br />

ja, wie gesagt, alle so unglaublich gern.<br />

Mich persönlich rühren solche Verse<br />

immer zu Tränen. Darum sollten wir<br />

dankbar sein! Dankbar für das Anfangslied,<br />

in dem uns die Schwierigkeit<br />

deutscher Grammatik demonstriert wird,<br />

dankbar für die ach so aus dem Leben<br />

geschnittenen Geschichten, deren Inhalt<br />

zu 80% so realistisch ist wie die Existenz<br />

des Osterhasen. Und dankbar für die<br />

sinnvollen Dialoge, welche uns jede<br />

Folge aufs Neue zum Nachdenken anregen,<br />

wobei die Frage immer die selbe ist:<br />

„Wie viel Alkohol muss ein Mensch im<br />

wahren Leben wohl trinken, um solch<br />

einen Müll von sich zu geben?“<br />

Deswegen möchte ich an dieser Stelle<br />

Danke sagen. Danke an die Macher<br />

dieser Serie, die ein Wunder vollbracht<br />

haben. Sie haben etwas geschaffen, das<br />

schnulziger als Lovestories, dramatischer<br />

als Das Jugendgericht, anspruchsvoller als<br />

Dawson’s Creek und schwachsinniger als<br />

Die Simpsons ist.<br />

Somit hoffen wir also, dass es ihnen niemals<br />

an Ideen für neue gute und schlechte<br />

Zeiten mangeln wird und beten dafür,<br />

dass uns GZSZ noch mindestens bis ans<br />

Ende der Menschheit erhalten bleibt.<br />

Bis in alle Ewigkeit.<br />

Amen.


Taizé ist nur ein kleines französisches<br />

Dörfchen in Burgund. Und doch haben<br />

die meisten schon einmal davon gehört.<br />

Denn das ganze Jahr über pilgern unzählige<br />

Jugendgruppen aus aller Welt<br />

nach Taizé. Sie alle eint der Wunsch, sich<br />

mit anderen Christen auszutauschen und<br />

Gott nah zu sein.<br />

Wer das erste Mal nach Taizé kommt,<br />

wird überrascht sein. Das Camp ist riesig.<br />

Vor allem an Ostern und im Sommer<br />

kommen Tausende Jugendliche hierher.<br />

Um Ruhe und Stille zu finden und einfach<br />

mal abzuschalten vom Alltagsstress. Zum<br />

Camp gehören der Zeltplatz, die Kirche,<br />

mehrere überdachte Plätze, wo man<br />

essen und sich treffen kann, sowie eine<br />

große Küche, ein Souvenirladen und ein<br />

Kiosk. Alles in allem also eine relativ einfache<br />

Anlage. Einfachheit und Verzicht<br />

auf Luxus <strong>machen</strong> Taizé aus.<br />

Das beginnt bereits beim Essen. Mit<br />

Essensmärkchen stellt man sich in die<br />

Schlange und hat das Gefühl, in einer<br />

Mensa zu sein. Jeder bekommt ein<br />

Tablett in die Hand gedrückt, darauf<br />

Teller, Löffel und Becher. Dann ein<br />

Schöpflöffel vom Essen, zwei Scheiben<br />

Baguette, eine Orange und zwei Kekse<br />

oder einen Joghurt. Die Plastikschale fürs<br />

Trinken kann man an einem der vielen<br />

Wasserhähne füllen.<br />

Viele tausend Jugendliche zu versorgen,<br />

das bedeutet einen immensen organisatorischen<br />

Aufwand. Damit das alles gut<br />

funktioniert und damit zum Beispiel auch<br />

die sanitären Anlagen wirklich sauber<br />

sind, helfen alle mit. Jedem Besucher<br />

wird eine Arbeit zugeteilt, die er zusammen<br />

mit einer kleinen Gruppe erledigt,<br />

Kathrin Katzmaier Gemeinschaft erleben und Gott ganz nah sein<br />

06<br />

40<br />

Taizé – Pilgerstätte der katholischen Jugend.<br />

Ein Erfahrungsbericht.<br />

Toiletten putzen etwa oder in der Küche helfen. Am witzigsten<br />

ist das Abwaschen, bei dem es regelmäßig zu Wasserschlachten<br />

kommt. Außerdem ist die tägliche Arbeit eine gute Möglichkeit,<br />

erste Kontakt zu knüpfen.<br />

Den Geist von Taizé erlebt man, wenn man mit Hunderten<br />

anderer Menschen in der Kirche sitzt. Am Eingang deckt sich<br />

jeder mit Gesangbuch und Liedblatt sowie dem jeweiligen<br />

Predigttext ein. Anstelle eines Altars stehen vorne in der Kirche<br />

zahlreiche Kerzen. Orangefarbene Tücher sind von der Decke<br />

bis zum Boden gespannt und werden von hinten beleuchtet.<br />

Auf der rechten Seite steht ein großes Holzkreuz, auf das Jesus<br />

gemalt ist. Links sieht man einen Tisch mit Schüsseln und<br />

Kelchen für das allmorgendliche Abendmahl. Einmal in der<br />

Woche kann man die besondere Gelegenheit wahrnehmen<br />

und am Kreuz beten. Das bedeutet, dass das große Holzkreuz<br />

in die Mitte der Kirche gelegt wird. Wer möchte, kann davor<br />

niederknien und beten. Kann seinen Gedanken nachgehen und<br />

einfach den Augenblick genießen und die Stimmung auf sich<br />

wirken lassen. Die Gemeinschaft sitzt ringsherum und singt<br />

dazu. Dabei fällt gleich auf, wie einfach die Lieder sind.<br />

Einzelne Strophen werden minutenlang wiederholt.<br />

Zum Gottesdienst kommen die Brüder, die zur Communauté<br />

Taizé gehören und setzen sich auf ihre Schemel. Anschließend<br />

singt die ganze Gemeinde. Anstelle einer Predigt, liest jeden Tag<br />

ein Bruder einen kurzen Bibeltext vor, der in mehrere Sprachen<br />

übersetzt wird.<br />

© Foto: Sabine Leutenegger<br />

Wenn man sich in der Kirche umschaut, bemerkt man,<br />

dass jeder das tut, wonach ihm gerade zumute ist. Die einen<br />

knien auf dem Boden und singen, andere beten mit geschlossenen<br />

Augen, und wiederum andere sitzen im Schneidersitz,<br />

singen und scheinen gleichzeitig in Gedanken versunken.<br />

Während der viertelstündigen Stille im Gottesdienst ist kein<br />

Mucks zu hören.<br />

Besonders beeindruckend ist der Samstagabend. Alle bekommen<br />

eine Kerze und das Feuer dafür wird so lange vom einen<br />

zum andern weitergegeben, bis alle Kerzen brennen. Ein faszinierender<br />

Anblick, wenn die Kirche davon hell erleuchtet ist.<br />

Frère Roger, der Gründer von Taizé, legt an solchen Abenden<br />

manchmal die Hand zum Segen auf.<br />

Der See ist ein beliebter Treffpunkt in Taizé, besonders bei<br />

gutem Wetter. Eine kleine Brücke führt zur anderen Uferseite<br />

und ringsherum sind Wiesen und Bäume. An einer Stelle springt<br />

ein kleiner Wasserfall aus dem Gestein hervor, ein kleiner<br />

Quellbach durchzieht die Wiesen. Dieser Ort ist ideal, um<br />

Energie zu tanken und abzuschalten.<br />

Der Mittag gehört den Bibeleinführungen und Gesprächsrunden.<br />

Jeden Tag wird ein Abschnitt einer Geschichte gelesen<br />

und später in Kleingruppen besprochen und interpretiert.<br />

Wer noch genug Lust und Interesse hat, kann nach dem Tee<br />

auch noch einen Workshop besuchen. Es stehen immer verschiedene<br />

Themen zur Auswahl. Die Workshops laufen nach<br />

dem gleichen Muster ab wie die Bibeleinführungen. Mit dem<br />

© Foto: Sabine Leutenegger<br />

06<br />

41<br />

kleinen Unterschied, dass es nicht immer<br />

um eine Bibelgeschichte, sondern oft um<br />

bestimmt Einstellungen zu einem Thema<br />

und um Selbsterkenntnis geht.<br />

Abends um halb neun treffen sich alle<br />

noch einmal zum Gottesdienst in der<br />

Kirche.<br />

Anschließend kann jeder <strong>machen</strong>, was er<br />

möchte. Wer beispielsweise Lust auf<br />

französische Lieder hat, kann an einem<br />

der überdachten Plätze mit anderen singen<br />

oder Gitarre spielen. Am Platz<br />

gegenüber sitzen oft mehrere kleinere<br />

Gruppen zusammen und musizieren<br />

ebenfalls. Meistens altbekannte Songs<br />

wie „Wind of Change“ oder „Über den<br />

Wolken“. Neue Bekanntschaften schließt<br />

man dabei fast automatisch.<br />

Auffällig ist, mit welch aufmerksamen<br />

Augen die Jugendlichen in Taizé ihre<br />

Umwelt beobachten. Niemand, der dies<br />

nicht möchte, sitzt lange alleine herum.<br />

Ständig bilden sich Gruppen, Menschen<br />

aus den verschiedensten Ländern kommen<br />

miteinander ins Gespräch. Es ist<br />

interessant zu erfahren, wie Jugendliche<br />

oder auch Erwachsene anderswo leben.<br />

Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede<br />

es gibt. Trotzdem glauben doch<br />

alle hier an den gleichen Gott. Und das ist<br />

schließlich das verbindende Element.<br />

Wer einmal in Taizé war, möchte meist<br />

wiederkommen.


Rainer Engelken POLITIK MACHT SPASS<br />

06<br />

42<br />

180 Schüler simulieren in Bonn eine UN-Sitzungswoche<br />

„Allah hu akbar!“, ruft ein Turbanträger<br />

seinen Verbündeten zu:„Ehrenwerter Vorsitz,<br />

der Delegierte von Palästina stellt<br />

einen Antrag auf Streichung Israels!“<br />

Die Stimmung im Saal tobt, hastig mit<br />

seiner Flagge wedelnd fleht der<br />

Delegierte Israels beim US-Diplomaten<br />

um Schutz. Doch dieser lehnt sich stoisch<br />

gähnend in seinen Sessel zurück und<br />

scheint den Vorfall gleichmütig zu ignorieren.<br />

Fanden mittlerweile in den USA<br />

Neuwahlen statt? Hat das Pentagon<br />

seine Globalstrategie alterniert?<br />

Beides falsch. Diese Szene entstammt<br />

einem Planspiel für Schüler, das Ende<br />

Juni / Anfang Juli in Bonn stattfand.<br />

„Schüler Planspiel United Nations“ – kurz<br />

SPUN –, so der Titel der Veranstaltung.<br />

Unter dem Motto „Kulturelle Vielfalt –<br />

Verständigung statt Konflikt“" trafen<br />

180 Jugendliche aus vielen Ländern, um<br />

unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident<br />

Wolfgang Thierse eine<br />

Generalversammlung der UNO zu simulieren.<br />

Alles war wie in New York: Die<br />

elegante Kleidung, die Resolutionen,<br />

die strenge Tagesordnung und die harten<br />

Verhandlungen. Die meisten Länder<br />

der Erde waren vertreten, außerdem<br />

mehrere Nichtregierungsorganisationen<br />

als Beobachter. Das Projekt entpuppte<br />

sich als eine hervorragende Gelegenheit<br />

für Schüler, hautnah die exquisite<br />

Luft des außenpolitischen Parketts zu<br />

schnuppern.<br />

Mit Fakten argumentieren, Verbündete<br />

finden, Kompromisse schließen und konstruktiv<br />

zur Entstehung einer Resolution<br />

beitragen – das alles erlebte man.<br />

„SPUN vermittelt den Delegierten ein<br />

Gefühl davon, wie internationale Politik<br />

funktioniert“, so Heiko Hilken, der diesjährige<br />

Generalsekretär, der gerade sein<br />

Abitur gemacht hat.<br />

In sieben Ausschüssen wurde vier Tage<br />

lang im Arbeitnehmerzentrum Königswinter<br />

mit Blick auf den Petersberg, in<br />

Anzug und Krawatte bzw. im Kostüm,<br />

über aktuelle Themen der internationalen<br />

Politik debattiert und an<br />

Resolutionen gefeilt. Dabei ging es beispielsweise<br />

um Emissionshandel,<br />

Terrorgefahr durch Waffenproliferation,<br />

internationalen Drogenhandel und<br />

Kombattantenstatus.<br />

Auch der informelle Teil kam nicht zu<br />

kurz: Abends wurden die Anzüge abgelegt<br />

und es ging zur Erforschung des<br />

Bonner Nachtlebens und zum Lobbying<br />

in diverse Kneipen und Cafés, wo die<br />

erfolgreichen Bündnisse und Pakte besiegelt<br />

und begossen wurden. Je nach<br />

Geschmack trank man eine Flasche<br />

Rotwein mit den Franzosen, spielte etwas<br />

Basketball mit den Südafrikanern, ging<br />

mit den Ägyptern ins SPUN-Café oder<br />

zappelte sich mit ein paar Brasilianern<br />

in der SPUN-Disco ab. Viele Teilnehmer<br />

kamen von deutschen Schulen im Ausland.<br />

Freundschaften wurden geschlossen,<br />

Adressen ausgetauscht und Pläne<br />

geschmiedet.<br />

Die Teilnehmer wurden mit unterschiedlichen<br />

Meinungen konfrontiert und lernten,<br />

grundverschiedene Ansichten zu<br />

akzeptieren. Sie lernten die Möglichkeiten<br />

der internationalen Politik kennen,<br />

die Wirkungsweisen von demokratischen<br />

Gremien und die Bedeutung des<br />

menschlichen Faktors in der Diplomatie.<br />

Aber auch die Grenzen wurden ihnen<br />

aufgezeigt: Wenn sich eine Debatte im<br />

Kreis dreht, lässt sich nicht immer ein<br />

06<br />

43<br />

Kompromiss finden. Die Delegierten<br />

versuchten nicht, ein heiles Bild der Welt<br />

zu zeichnen, sondern ihr jeweiliges Land<br />

mit seinen einzigartigen Interessen und<br />

Absichten so gut wie möglich zu vertreten.<br />

SPUN und der große Bruder haben eine<br />

leidige Gemeinsamkeit: Geldnot. Jedes<br />

Jahr steht die Finanzierung auf wackeligen<br />

Beinen. Da die Miete im ehemaligen<br />

Bundestag zu hoch war, konnte<br />

der Sicherheitsrat nicht wie vormals im<br />

abhörsicheren Bunker tagen. Da halfen<br />

keine diplomatischen Kniffe. Als Kompromisslösung<br />

aus den Vorschlägen „ehemaliger<br />

Bundestag“ und „Petersberg“<br />

wählte man die Mitte: Das Arbeitnehmerzentrum<br />

Königswinter. Das Organisationsteam,<br />

bestehend aus Ehemaligen<br />

und dem Projektleiter, hofft für die nächsten<br />

Jahre auf finanzkräftige Projektpartner.<br />

Schließlich biete SPUN doch<br />

genau das, was so oft gefordert wird:<br />

Eine innovative Idee, um das Politikinteresse<br />

von Jugendlichen zu fördern.<br />

www.spun.de


Vom Atem zum Rhythmus, vom Klang zur Sprache.<br />

In die Texte der Drama-Werkstatt wird hineingehorcht.<br />

Rollen entstehen nicht primär aus ihrer psychologischen Charakterisierung,<br />

sondern aus ihrer Sprechweise heraus.<br />

Sprache findet Figuren, der Rhythmus treibt die Geschichte voran.<br />

Der Konflikt zwischen den Figuren ist das Verdichtungsmittel des Theaters.<br />

Verdichtete Dialoge, die versuchen, Lebenszeit zu komprimieren, szenische Partituren,<br />

die ihre Themen umkreisen: Das sind die Ergebnisse der Drama-Werkstatt.<br />

Aber damit ist erst ein Schritt getan.<br />

Denn diese Schreibwerkstatt bringt ihre Autoren dazu,<br />

gleichzeitig auch Spieler und Inszenatoren ihrer Texte zu werden,<br />

um die Ergebnisse zu überprüfen und voranzutreiben.<br />

Die Drama-Werkstatt wurde 2004 gegründet.<br />

Sie ist eine Kooperation mit dem Jungen Ensemble Stuttgart.<br />

In der nächsten Staffel widmet sich die Drama-Werkstatt dem Thema<br />

„Junge Paare gegen den Rest der Welt“.<br />

Unter diesem Titel soll in den nächsten Monaten ein Stück entstehen.<br />

Thomas Richhardt, Werkstattleiter<br />

06<br />

44<br />

06<br />

45


ER Weißt du was?<br />

SIE Wer ist es?<br />

ER Sie heißt Jessica<br />

und liebt Hibiskusblüten.<br />

SIE Hibiskusblüten?<br />

ER Ja! Hibiskusblüten.<br />

SIE Machst mich schon neugierig<br />

ER Ja, das willst du jetzt wissen.<br />

SIE Ja, das will ich jetzt wissen.<br />

ER Diesmal ist es für immer.<br />

SIE Was ist für immer?<br />

ER Unser junges Glück.<br />

SIE Jess-iii-ka, trägt sie auch<br />

so ein gelbes 1986 Top<br />

wie alle Jessikas?<br />

ER Sie hat im Juni Geburtstag.<br />

SIE Toll.<br />

ER Sie wird 21.<br />

SIE Toll.<br />

ER Wie ich.<br />

SIE Mmmhh, dann könnt ihr<br />

euch ein Auto schnappen,<br />

durchbrennen wie<br />

Bonnie & Clyde und<br />

ein Casino überfallen.<br />

ER Beschissen drauf heut, was?<br />

SIE Lass mich doch.<br />

06<br />

46<br />

Uncool – oder seit fünfeinhalb Wochen liebe ich Jessica Schäfer<br />

von David Recordon<br />

ER Aber eigentlich wollt ich<br />

sie zum Essen einladen.<br />

SIE Bist uncool geworden.<br />

ER Es ist Zeit, sich von Lagerfeuer<br />

und Becks zu verabschieden.<br />

Ich dachte an Kerzen und<br />

Pinot Grigio, weiße Tischdecken<br />

und an eine Trattoria mit Blick.<br />

SIE Schön…<br />

ein Tête-à-tête im Kerzenschein!<br />

ER Lass mich doch. Du triffst<br />

auch bald jemanden im Netz<br />

und dann lach ich dich aus.<br />

SIE Hört ihr wenigstens die<br />

gleiche Mucke?<br />

ER Narcotica.<br />

SIE Narcotica?<br />

ER Blue rabbits.<br />

SIE Blue rabbits?<br />

ER Und Paul van Dyke natürlich.<br />

SIE Paul van Dyke? Mit der Lady<br />

würde ich gern im Chat ablästern,<br />

die bei diesem Freaksound<br />

in deinen Armen dahin schmilzt.<br />

ER Eigentlich fährt sie nicht so<br />

auf mein Best of PC Trance ab.<br />

Aber wir brauchen das Gedudel<br />

gar nicht, zum Einschlafen reicht<br />

auch einfach nur Sound of Silence<br />

und ein Duftstövchen.<br />

SIE Was für’n Duft?<br />

ER Stövchenduft.<br />

So mit Blüten.<br />

SIE Mit Hibiskusblüten.<br />

ER Ja mit Hibiskusblüten.<br />

Probier es und du wirst<br />

den Duft lieben.<br />

SIE Es wird immer<br />

unheimlicher mit dir.<br />

ER Cybercasanova.<br />

SIE Was?<br />

ER Cybercasanova.<br />

So nennt sie mich, mein Nick.<br />

SIE Ich hab Angst. Freaky!<br />

Bist du in einer Sekte oder<br />

hör nur ich die Stimmen<br />

jenseits der 72dpi nicht?<br />

ER Also, ich schlaf ausgezeichnet,<br />

seit ich nachts nicht mehr<br />

soviel auf diesen polnischen<br />

Sites herumzigeunere.<br />

SIE Hast ja jetzt einen fleischgewordenen<br />

Lustautomaten.<br />

ER Der mir stets zu Diensten steht.<br />

SIE Ich mach mir wirklich Sorgen!<br />

ER Sorgen, worum?<br />

Um deine langweiligen<br />

Mittwochabende ohne mich?<br />

Bei Sushi und Jasmintee?<br />

SIE Besser als Hibiskusblüten!<br />

Lieber vergnüge ich mich<br />

mit portugiesischen<br />

Häkelzeitschriften.<br />

ER Ah, du bist eifersüchtig…?<br />

SIE Nein, du bist eifersüchtig…!<br />

ER Ja, klar. Wenn es nicht läuft,<br />

sind wir eifersüchtig.<br />

SIE Und du hast Angst mit treuem<br />

Blick festgekettet zu werden.<br />

ER Wusste gar nicht,<br />

dass du so an mir hängst?<br />

SIE Ja, die Sprache der Liebe<br />

läuft bei uns anders.<br />

ER Wie denn?<br />

SIE Mach ihn zur Sau und nutz ihn aus.<br />

ER Mach ihn zur Sau und nutz ihn aus!?<br />

Was heißt das?<br />

SIE Das heißt eben:<br />

Nimm mich auf weiblich.<br />

06<br />

47


06<br />

48<br />

Kühlschrank – oder Paris<br />

von Friederike Hammer<br />

A Hast du noch ne Minute.<br />

B Wofür.<br />

A Deine Sachen.<br />

B Alles gepackt.<br />

A Du gehst also.<br />

B Ich denke, ja, sieht so aus.<br />

A Ich wollte dir sagen.<br />

B Ja.<br />

A Hast du die Sachen<br />

aus dem Keller.<br />

B Ja.<br />

A Wenn du den roten<br />

Koffer nimmst.<br />

B Ja.<br />

A Die linke Schnalle ist locker.<br />

Pass auf.<br />

B Ich pass auf.<br />

A Ja.<br />

B Ja.<br />

A Wo gehst du hin.<br />

B Weiß nicht.<br />

A Aber du gehst doch,<br />

du musst doch irgendwo hin.<br />

B Erst mal zu Susanne.<br />

A Susanne.<br />

B Oder Karin.<br />

A Wer ist Karin.<br />

Hat die auch genug Platz.<br />

B Ja.<br />

A Auch wenn du den ganzen<br />

Krempel hier mitnimmst.<br />

B Ja, sie hat ein Haus.<br />

A Ja aber hat sie auch einen Garten.<br />

B Für die Geranientöpfe reicht es.<br />

A Ja dann.<br />

B Ja dann.<br />

A Ja dann alles Gute.<br />

B Danke.<br />

A Bitte.<br />

B Alles Gute.<br />

A Danke.<br />

B Bitte.<br />

A Weiß sie auch, dass du<br />

keine Milch verträgst.<br />

B Wieso Milch.<br />

A Ich dachte bloß.<br />

B Wo ist bloß.<br />

A Sie hat doch hoffentlich keine Katze.<br />

B Ich habe es doch hier rein.<br />

A Das gelbe Täschchen<br />

mit der chinesischen Stickerei.<br />

B Ich finde es nicht.<br />

A Das wir in Paris gekauft haben,<br />

bei den Straßenhändlern.<br />

B Weißt du, wo es ist.<br />

A Weißt du noch, der eine<br />

wollte dir unbedingt dieses.<br />

B Verdammt noch mal.<br />

A Hässliche Armband andrehen.<br />

B Ich fand’s schön.<br />

A Für 30 Francs.<br />

B Ich fand’s schön.<br />

Du wolltest nicht.<br />

A Das ist nicht wahr.<br />

B Du bist so geizig.<br />

A Ich hätte es gekauft.<br />

B Ach.<br />

A Ja.<br />

B Ach ja.<br />

A Ja, klar.<br />

B Der Schlüssel.<br />

A Wieso.<br />

B Na ich denk du willst<br />

ihn vielleicht zurück.<br />

A Behalt ihn.<br />

B Nein.<br />

A Wenn du was vergessen hast,<br />

und ich bin nicht da.<br />

B Du bist immer da.<br />

A Aber wenn ich jetzt mal nicht da<br />

bin, ich könnte ja Einkaufen sein.<br />

Beim Bäcker, oder so, ich muss ja<br />

was essen, weil, wenn du nicht<br />

mehr da bist, dann bin ich ganz<br />

allein und ich muss ja was essen,<br />

zwischendurch. Und wenn dann<br />

eines Tages der Kühlschrank leer<br />

ist und auch die Gefriertruhe und<br />

es kommt niemand und füllt sie auf,<br />

dann hab ich Hunger und dann muss<br />

ich raus, auf die Straße und ich weiß<br />

gar nicht wohin, weil ich weiß nicht,<br />

wo der Bäcker ist oder ein Supermarkt,<br />

die wechseln doch dauernd und<br />

<strong>machen</strong> dicht, pleite, und dann ist<br />

wieder was Neues da, aber dann gibt’s<br />

nur noch Schuhe.<br />

B Ich lass ihn trotzdem da, den Schlüssel.<br />

A Gut.<br />

B Sollte ich was vergessen haben,<br />

du kannst mir’s schicken.<br />

A Gut.<br />

B Dann geh ich jetzt.<br />

A Gut.<br />

B Gut.<br />

A Nicht gut.<br />

B Was denn.<br />

A Gib mir deine Nummer.<br />

B Warum.<br />

A Gib mir deine Nummer,<br />

dann ruf ich dich an und<br />

wir treffen uns aufn Kaffee.<br />

B Wo.<br />

A Wo.<br />

B Ja wo.<br />

A Ja irgendwo.<br />

B Mais ou.<br />

A Paris.<br />

B A Paris.<br />

06<br />

49


EINS Du warst gestern Abend lange weg.<br />

ZWEI Hab die Zeit vergessen.<br />

EINS Ich hab auf dich gewartet.<br />

ZWEI Du hättest gehen können.<br />

EINS Ohne dich?<br />

ZWEI Solltest dir Freunde suchen.<br />

EINS Ja.<br />

ZWEI Wir hatten viel Spaß.<br />

EINS Schön.<br />

ZWEI Waren echt viele da.<br />

EINS Und?<br />

ZWEI Auch Felix war da.<br />

Wir haben getanzt.<br />

Wir haben uns verabredet.<br />

Gleich heute Abend.<br />

EINS Du benimmst dich lächerlich.<br />

ZWEI Klar.<br />

EINS Und bist auch noch stolz darauf.<br />

ZWEI Klar.<br />

EINS Auf dein Scheiß-Date.<br />

ZWEI Oh ja.<br />

06<br />

50<br />

DATE<br />

von Stephanie Maas<br />

06<br />

51<br />

Plötzlicher Herztod<br />

von Martin Menzel<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Diesmal bräuchte ich 10 Paletten weiße Lilien,<br />

8 Paletten weiße Rosen<br />

BLUMENVERKÄUFERIN 10 Lilie, 8 Rose…, alles?<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Von diesen Kränzen<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Laub? Nadel?<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Laub natürlich<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Natürlich<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Verzichten sie aber bitte auf diese hässlichen Schleifchen<br />

in zartrosa<br />

KUNDIN Wird das heute noch was?<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Sie sehen doch, dass ich Kundschaft habe<br />

KUNDIN Mich wundert wirklich nicht, dass immer mehr von diesen<br />

Läden Pleite gehen.<br />

BESTATTUNGSUNTERNEMER Ist das ihr Problem?<br />

KUNDIN Bei dem Service.<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Wenn es ihnen nicht passt gehen sie doch woanders hin.<br />

Hier am Friedhof sind genug Blumenläden.<br />

KUNDE Ihre Streitereien sind mir wirklich egal, aber...<br />

KUNDIN Aber was?<br />

KUNDE Sie tragen garantiert nicht dazu bei,<br />

dass sie schneller vorne an der Kasse stehen.<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Was haben sie eigentlich gegen die zartrosa Schleifchen?<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Zu einer Beerdigung ist ein blasses Violette angebrachter.<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Violette führen wir leider nicht. Hier, Sternchenform in gold.<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Hübsch. 20 davon<br />

BLUMENVERKÄUFERIN 20 davon, alles?<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Alles.


BLUMENVERKÄUFERIN Schönen Tag noch<br />

KUNDIN Endlich<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Gleichfalls<br />

KUNDIN Es geht weiter.<br />

Machen sie mal ein bisschen schneller, junger Mann.<br />

KUNDE Guten Tag auch.<br />

KUNDIN Meine Güte so werden wir nie fertig.<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Was darf es sein?<br />

KUNDE Rosen.<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Blau, weiß, rot, gelb, rosa, lila, wir haben auch Mischzüchtungen<br />

KUNDE Rot und gelb, bitte!<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Etwas Grün für Drumherum? 13,60 Euro bitte.<br />

KUNDE Moment…Oh Gott<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Was ist?<br />

KUNDE Mein Herz<br />

KUNDIN Ich hab es gewusst, noch mehr Verzögerung.<br />

KUNDE Einen… Notarzt<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Sie haben noch nicht gezahlt<br />

KUNDE Notarzt.<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Aber der Blumenstrauß, sie müssen zahlen.<br />

KUNDE Sie, rufen sie einen Notarzt!<br />

KUNDIN Das könnte ihnen so passen, dann hängt der hier auch eine<br />

halbe Stunde herum und dann dauert das ganze noch länger,<br />

niemals!<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Wo ist denn ihr Portemonnaie, sie könnten es mir sagen und<br />

ich könnte mich selber bedienen.<br />

KUNDE Ich…<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Ich hatte da noch etwas vergessen: die Gestecke von<br />

vorletztem Mal, die bräuchte ich auch noch mal,<br />

allerdings nicht mit blauen…<br />

06<br />

52<br />

KUNDIN Der schon wieder, nicht noch mehr Verzögerung<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Was ist denn hier passiert?<br />

KUNDE Notarzt, rufen sie mir einen...<br />

BESATTUNGSUNTERNEHMER Notarzt?<br />

Ich bin was viel besseres.<br />

KUNDE Notarzt... Mein Herz…<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Ich werde ihnen gleich einen Vertrag zurecht<strong>machen</strong>.<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Sie müssen zahlen, wo ist ihr Geld?<br />

KUNDE Mein Herz.<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Wie hätten sie ihre Beerdigung denn gerne,<br />

Eichensarg, Fichte, oder lieber Buche?<br />

KUNDE Nicht…<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Fichte? Vortreffliche Wahl, ist zwar etwas enger<br />

als der Buchensarg, riecht aber nicht so streng.<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Nein, geben sie mir zuerst das Geld, wo ist es.<br />

KUNDE Ich… Hilfe… es ist alles so verschwommen.<br />

KUNDIN Die Unterschrift werden sie wohl noch hinkriegen<br />

und dann zahlen sie bitte und dann können sie<br />

meinetwegen abtreten, wenn ich dann bald drankomme.<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Geben sie mir das Geld, es wird doch nicht so schwer sein.<br />

KUNDE Ich sehe … nichts… mehr<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Dann unterschreiben sie schnell, solange es noch geht<br />

KUNDIN Nun <strong>machen</strong> sie schon<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Das Geld, das Geld, wo ist das Geld<br />

KUNDE Es... schwindelig… oh... ich … tut mir leid…<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Nein er stirbt, nicht doch, sie müssen unterschreiben.<br />

BLUMENVERKÄUFERIN Er hat nicht gezahlt.<br />

BESTATTUNGSUNTERNEHMER Tot.<br />

KUNDIN Noch mehr Verzögerung<br />

06<br />

53


Dem zu Sagenden auf Wortfühlung…<br />

…vielleicht gar dem zu Sagenden<br />

immer noch näher kommen und aus der<br />

Unerreichbarkeit 1 Schreiben gestalten,<br />

das dann zum eigenen Entwurf wird.<br />

Borges, der nicht zu bändigende Jorge<br />

Luís, hatte formuliert, was 1 sich stellendes,<br />

1 sich dem Wort stellendes Weiß<br />

sein könnte: „Tatsächlich habe ich jedes<br />

Mal, wenn ich mich einer leeren Seite<br />

gegenübersehe, das Gefühl, die <strong>Literatur</strong><br />

für mich neu entdecken zu müssen.“<br />

Diese Schreibwerkstatt für Poesie konnte<br />

einen der unumstößlichen Sätze des<br />

Argentiniers um das „Rätsel der Dichtung“<br />

bei jedem ihrer Montags-Treffen<br />

von Neuem bestätigen.<br />

Nicht indem Borges explizit zitiert<br />

worden wäre oder gar bewusst als Lehrer<br />

den herschöpfenden Raum im <strong>Literatur</strong>haus<br />

Stuttgart getragen hätte, vielmehr<br />

geschah dies im filigranen Werden der<br />

Texte aus den Spuren, die jedes persönliche<br />

Alphabet zu legen vermag.<br />

06<br />

54<br />

06<br />

55<br />

Erstaunliche Notate und Gedichte sind<br />

dabei zustande gekommen und werden<br />

wohl für die Teilnehmenden das künftig<br />

ebenso leere Blatt füllen, noch bevor ein<br />

einziges, nächstes Wort geschrieben sein<br />

wird. Das dabei Vollkommenes entstehen<br />

kann, liegt in der Natur des Poetischen<br />

oder wie el maestro Borges schrieb:<br />

„Denn in der Dichtung wirkt<br />

Vollkommenes nicht seltsam;<br />

es scheint unvermeidlich.“<br />

Auf dem Weg ins Unvermeidliche sind<br />

Einige. Vielleicht auch unter uns.<br />

José F.A. Oliver & Sergiu Stefanescu<br />

Werkstattleiter


Leonie Achtnich<br />

***<br />

der himmel errötet<br />

über unser nichtgespräch<br />

ungesagtes versickert in den fugen<br />

schlittert über parkett<br />

ertrinkt im orangensaft<br />

unsere schuhe parallel wie unsere gesten<br />

zwischen uns nur gebügeltes schweigen<br />

aus den ecken knistert<br />

ein stück weißt-du-noch<br />

Selma Alihodˇzić<br />

meine sonne<br />

brennt noch<br />

kenne nun den wert der wertlosen<br />

löse ihnen die schicksalstories von<br />

gesichtern<br />

dann erde<br />

umschließlich und warm<br />

aus euren augen sprechen seelen<br />

rufen euch<br />

zur schwelle, am anfang der unendlichkeit<br />

ich seh’ euch<br />

erleuchtet mir den blick<br />

Dominique Baur<br />

Oberflächlichkeit<br />

06<br />

56<br />

ich liebe deine Oberfläche<br />

so glatt<br />

so schimmernd<br />

viskos<br />

unantastbar<br />

weil zart<br />

und brüchig unterhöhlt<br />

aber anziehend<br />

quälend und hypnotisch<br />

macht mich träumend<br />

bebend<br />

und fast sabbern<br />

will sie streicheln<br />

drücken<br />

daran kratzen<br />

Christina Döneke<br />

Schneeflocke im Juni II<br />

Es ist einige Zeit her. Mein Gesicht,<br />

hundert Jahre mehr. Schroff und durchgezehrte<br />

Wand – bin ich – steht es noch<br />

immer. Ein bisschen schräg sind wir<br />

im Wind und blasser, aber unter<br />

Schmutzschichtlagen schimmernd.<br />

Die Worte, die ich dir, das Blut, mit dem<br />

ich, meine Seele, die darin. Was aber<br />

bleibt (b)ist Du, im Augenblick des<br />

Schicksals, wo bist du geblieben? Das<br />

Gestern überall und stetig. Wohltuend<br />

wärmende Dunkelheit, von augenschmerzendem<br />

Licht durchbrochen, bis<br />

nur noch der Wunsch nach Leere. Und<br />

dann der Zwang und die Augen mit der<br />

Zange und du ganz nackt, platscht auf<br />

einmal leise die Trauer gegen dich und<br />

deine und gegen die Wände in und um<br />

und überall. Verwaschen tropft dein Bild,<br />

die Farben fortgeschwemmt, und so mal’<br />

ich dich erneut in schwarz und weiß.<br />

Aber die Schrift und die Worte und du an<br />

deiner Wand, das bleibt. Als Denk Mal.<br />

Und da wir Helden sind, hat nichts funktioniert.<br />

06<br />

57<br />

Die Augenringe hat man dir angemalt<br />

Mit der brüchigen Bleistiftspitze<br />

Und nur ein kleiner Blitz<br />

Beim Vorbeigehen.<br />

Ja, deine Lippen funkeln<br />

Rubinrot auf weißer Haut<br />

Und kein Glanz<br />

In den Augen.<br />

Es scheint als seien<br />

Zwei dunkle Löcher im Gesicht<br />

Und wenn man durchschaut<br />

Bleibt nur ein Regenmeer.<br />

Der alte Traumfänger über der Kommode<br />

Kämpft schon lange nicht mehr<br />

Denkt sich jeder<br />

Bei diesem Niemandsgesicht.<br />

Der rote Mohn geht ein<br />

Wenn du vorbeigehst<br />

Aber das siehst du nicht.<br />

Auf dem Lippenstift<br />

Steht Pearl & Shine<br />

Und hält was es verspricht.<br />

Ein kleiner Schutzengel<br />

An deiner kleinen Seite.<br />

Natalie Hörl<br />

Pearl & Shine


Martin Mutschler<br />

***<br />

ANIFESTE<br />

Marianne Thie<br />

du bist die Sängerin erzähl mir<br />

wie die Stachelbeeren ich trockne die Blüten<br />

in meinem Schreibheft<br />

sie färben das Papier Kaffeeflecken<br />

auf den Tasten meines Klaviers und du<br />

trinkst keinen Kaffee<br />

im Badezimmer möchte ich einfach lossingen<br />

doch es ist zu spät für dein Lied<br />

und viel zu früh für ein neues<br />

Gebläse verdrängt deine Sätze<br />

meine Blicke im Spiegel finden sich nicht mehr<br />

sie werfen sich knarrend die Stiege hinauf<br />

in meine Kammer dort liege ich<br />

vielleicht näher am Himmel als du<br />

und eines Morgens finde ich einen Milchzahn<br />

auf dem Kissen taste mit der Zunge<br />

viele Male meinen Mund ab<br />

vielleicht ists dein Zahn<br />

der ausfiel weil du mich nicht fandst<br />

und die Stickereien auf dem Kissen<br />

sind die Narben wo dein Kuss mich verfehlte.<br />

Richard Duraj<br />

Sisyphos<br />

Weil ihn nicht ändert,<br />

was vergeht,<br />

ihn nicht hindert,<br />

ist er selbst Gefälle,<br />

Fels, an jeder Stelle<br />

stets zu spät,<br />

um alles abzuschreiten,<br />

taub und blind und stumm<br />

von sich zu geleiten.<br />

06<br />

58<br />

Silke Göltenboth<br />

Zu nah<br />

Asche ist der Himmel<br />

Asche ist der Himmel<br />

Asche was vom Abend blieb<br />

Von den weißen Nachmittagen<br />

Weißen Tüchern leicht im Wind<br />

Asche ist was blieb<br />

Fernverschlossen alles<br />

Segelschiff in einer Flasche<br />

Aufgestürzte Bäume stehen<br />

Hart am Rand ganz Kohle blind<br />

In die nahe Nacht<br />

Die im Panthersprung<br />

Einen neuen Stern entfacht<br />

Über all den grauen Dächern<br />

Aus der Asche – noch ein Kind<br />

Des verletzten Tags<br />

Dein Lächeln brennt sich ein<br />

Mal in meine Haut<br />

mit jedem mir vertrauten Wort.<br />

Schritt für Schritt näher –<br />

zu mir, in mich hinein,<br />

bis du so nah bist, dass ich<br />

dein Gesicht<br />

kaum noch erkennen kann,<br />

so nah, dass dein Lidschlag<br />

das Brandmahl streift –<br />

so nah, dass ich<br />

nur noch verschwommen sehe,<br />

was mich einmal<br />

berührte.<br />

06<br />

59


ANIFESTE<br />

06<br />

60<br />

06<br />

61


ANIFESTE<br />

06<br />

62<br />

06<br />

63


Gekicher am Paternoster und Hausaufgaben<strong>machen</strong><br />

im Flur: Eine ganze Schulklasse<br />

nahm an der dritten Staffel der<br />

Schreibwerkstatt Naturwissenschaften<br />

teil und sorgte für Pausenhof-Atmosphäre<br />

im <strong>Literatur</strong>haus. Die 23 Schülerinnen<br />

und Schüler besuchten die 9. Klasse der<br />

Waldschule Degerloch und entschieden<br />

sich für zwei Stunden „Science & Fiction“<br />

statt Biologie-Unterricht. Organisiert<br />

wurde der Kurs gemeinsam mit Karin<br />

Schneider, der Biologie-Lehrerin der<br />

Klasse. Inhaltlich waren wir festgelegt,<br />

denn das Thema „Evolution“ stand auf<br />

dem Lehrplan. Außerdem war wichtig,<br />

dass die Schüler für ihre Kursbeteiligung<br />

am Ende benotet werden konnten.<br />

Während des Kurses wurden daher<br />

Fakten über das Thema Evolution (z.B.<br />

„Wie entstanden die Wirbeltiergruppen?“)<br />

einerseits und Ratschläge zum<br />

Thema Schreiben (z.B. „Was sind sprachliche<br />

Klischees?“) andererseits vermittelt.<br />

Im Anschluss gab es eine konkrete<br />

Schreibaufgabe. Verschiedene Exkursionen<br />

– beispielsweise zum Fossiliensammeln<br />

auf die Schwäbische Alb und<br />

zum Löwentormuseum – und Vorträge<br />

von Wissenschaftlern ergänzten das<br />

Programm. Die neuen Texte oder eine<br />

Auswahl davon wurden beim folgenden<br />

Werkstatttreffen gelesen und diskutiert.<br />

06<br />

64<br />

Als Ersatz für eine Klassenarbeit haben<br />

die Teilnehmenden einen in der Schreibwerkstatt<br />

geschriebenen Text zur<br />

Benotung ausgewählt.<br />

Angefangen hat unser Projekt mit<br />

Charles Darwin: Nach einer kurzen Vorstellung<br />

Darwins und seiner Theorie zur<br />

Entstehung der Arten schrieben die<br />

Schüler einen fiktiven Dialog zwischen<br />

Darwin und seiner (ebenfalls fiktiven!)<br />

religiösen Schwiegermutter. Ein Ergebnis<br />

ist der Text „Eine Nacht in London“ von<br />

Marcel Junghanß. Wichtige Schlüsselbegriffe<br />

zum Thema Evolution wie<br />

Selektion und Mutation inspirierten die<br />

Schüler zu Texten über die Selektion von<br />

Turnschuhen und die Mutation von<br />

Hirschen aus den Wäldern des Stuttgarter<br />

Umlandes. Die „Zwitterfische“ von<br />

Kevin MacPherson sind jedoch das Opfer<br />

einer Modifikation – eines nicht vererbbaren<br />

Umwelteinflusses.<br />

Der Entwicklungsbiologe Ralf Dahm vom<br />

Max-Planck-Institut in Tübingen war zu<br />

Gast in der Schreibwerkstatt und berichtete,<br />

wie die Forscher den komplizierten<br />

Weg von einer befruchteten Eizelle zum<br />

lebensfähigen Organismus erforschen.<br />

Wichtige Modellorganismen für die<br />

Forschung der Tübinger Entwicklungsbiologen<br />

sind Zebrafische, über die<br />

Jasmin Kienle schreibt.<br />

Ein weiterer Gast war der Zoologe und<br />

Lehrbuchautor Volker Storch von der<br />

Universität Heidelberg. Er machte den<br />

Schülern eindrucksvoll klar, dass die<br />

Grenze zwischen Mensch und Tier viel<br />

unschärfer ist, als wir annehmen. Anne<br />

Löchner schreibt darüber.<br />

Wir wünschen viel Vergnügen bei dieser<br />

Auswahl – bei Texten, die Fakten und Fiktion<br />

zusammenbringen. Für die Schüler<br />

war das Projekt nicht unanstrengend,<br />

denn „schlimmer als in der Schule“ waren<br />

Genauigkeit und kreative Ideen gleichzeitig<br />

gefragt. Gelohnt hat sich der<br />

Aufwand in jedem Fall – denn die Schüler<br />

haben nicht nur gute Texte geschrieben,<br />

sondern auch viel über Evolution gelernt:<br />

Beschreiben kann man nur, was man<br />

auch begriffen hat.<br />

Claudia von See, Werkstattleiterin<br />

06<br />

65


Marcel Junghanß<br />

Eine Nacht in London<br />

Der 26. November des Jahres 1859 ist ein düsterer Tag. Charles Darwin sitzt in<br />

seiner Londoner Wohnung und pafft an einer Pfeife. Draußen ist es schon dunkel<br />

geworden. Es regnet und stürmt. Aus der Dunkelheit schleicht sich jemand an den<br />

Ahnungslosen heran. Langsam nähert sich die Person Charles und schreit ihm ins Ohr:<br />

„Wie kannst du es wagen, du Ketzer!?“ Charles fährt erschrocken herum. Es ist seine<br />

Schwiegermutter.<br />

Charles „Mutter, was fällt dir ein, dich so spät noch in meine Wohnung zu schleichen!“<br />

Schwiegermutter „Wie kannst du es wagen, zu behaupten, dass die Menschheit vom Affen abstammt?“<br />

Charles „So habe ich das nie gesagt.“<br />

Schwiegermutter „WAS?“<br />

Charles „Ja, ich habe nur gesagt, dass die Menschheit von einem affenähnlichen Vorfahren<br />

abstammt.“<br />

Schwiegermutter „Und wo soll da bitte der Unterschied sein?“<br />

Charles „Da gibt es sogar einen sehr großen Unterschied. Dieser affenähnliche Vorfahr ist<br />

der Vorfahre der heutigen Affen und der Menschheit. Das heißt, dass wir nicht vom<br />

heutigen Affen abstammen, jedoch mit ihm über unseren gemeinsamen Vorfahren<br />

verwandt sind.“<br />

Schwiegermutter „Aber das kann gar nicht sein! Gott hat die Menschen, Tiere und Pflanzen geschaffen.“<br />

Charles „Während meiner Forschungsreisen habe ich festgestellt, dass sich die Lebewesen an<br />

die wechselnde Umgebung anpassen. Dadurch sind immer wieder neue Arten durch<br />

natürliche Auslese entstanden.“<br />

Schwiegermutter „Und was soll die natürliche Auslese sein?“<br />

Charles „Die natürliche Auslese ist, dass die Tiere und Tierarten aussterben, die nicht an ihre<br />

Umgebung angepasst sind.“<br />

Schwiegermutter „Dann müsstest du ja eigentlich schon längst ausgestorben sein!“<br />

Charles „Ich glaube, du hast das noch nicht ganz verstanden. Ich erkläre es dir aber auch gerne<br />

an noch einem Beispiel.“<br />

Schwiegermutter „Ich höre.“<br />

Charles „Wie du vielleicht weißt, haben Finken eine sehr kräftigen, großen Schnabel. Diesen<br />

benötigen sie, um ihre typische Nahrung aufzunehmen. Was passiert wohl mit Finken,<br />

die einen nicht so stark ausgeprägten Schnabel haben?“<br />

06<br />

66<br />

Schwiegermutter „Sie können sich nicht so gut wie die anderen ernähren?“<br />

Charles „Genau. Sie können sich nicht richtig von ihrer typischen Nahrung ernähren, sind<br />

schwächer und können somit auch nicht so viel Nachwuchs zeugen. Das heißt, dass<br />

die Finken mit einem stärker ausgeprägten Schnabel mehr Nachwuchs bekommen<br />

und aufziehen können, als die mit einem schwächeren Schnabel. Dies wiederum<br />

bedeutet, dass die mit dem schwächeren Schnabel irgendwann aussterben werden.<br />

Und genau das meine ich mit natürlicher Auslese."<br />

Schwiegermutter „Du bist also der Meinung, dass immer die Stärkeren gewinnen?“<br />

Charles „Nicht ganz. Es gibt einen Unterschied zwischen der stärkeren Kraft des Gegners und<br />

dem stärker an seine Umgebung angepassten Gegner.“<br />

Schwiegermutter „Was meinst du damit?“<br />

Charles „Dass nicht unbedingt der Kräftigere überleben muss. Ein muskelbepackter Riese wird<br />

nicht überleben, wenn er nur Wasser aus einer kleinen, schmalen und niedrigen Höhle<br />

holen kann, weil er da nicht hineinpasst. In dieser Situation werden nur kleine und<br />

dünne Menschen überleben.“<br />

Schwiegermutter „Und was ist, wenn er sich ein Gefäß bastelt, mit dem er dann doch an sein Wasser<br />

kommt?“<br />

Charles „Dann haben nicht seine Kraft und seine Muskeln ihm dabei geholfen, sondern sein<br />

Verstand. Deshalb haben sich die Menschen so entwickelt, wie sie heute sind.“<br />

Schwiegermutter „Aber wieso gibt es dann neben uns auch noch die Affen?“<br />

Charles „Wie gesagt, stammen wir nicht vom Affen ab, sondern haben einen gemeinsamen<br />

Vorfahren. So haben sich aus diesem Vorfahren beispielsweise an den Urwald angepasste<br />

Affen entwickelt – und eben auch Menschen, die ganz andere Fähigkeiten<br />

haben.“<br />

Schwiegermutter „Das kann aber gar nicht sein! Gott hat die Arten so erschaffen, wie sie sind und sie<br />

sind unveränderlich. So steht es in der Bibel. Also zweifelst du an Gott und an der heiligen<br />

Schrift.“<br />

Charles „Wenn du es so siehst, dann hast du recht. Aber ich habe ja versucht, dir meine<br />

Erkenntnisse der letzten 20 Jahren zu erklären. Egal, wie du es siehst: die Zukunft wird<br />

zeigen, dass ich Recht habe.“<br />

Schwiegermutter „Du elender Heide! Du wirst in der Hölle schmoren!“<br />

06<br />

67<br />

Ein Knall. Ein Blitz erleuchtet die Bibliothek. Charles erschrickt. Er sitzt schweißgebadet<br />

in seinem Lehnstuhl. Er schaut sich im Raum um, aber seine Schwiegermutter ist fort.<br />

Es war nur ein Traum.


06<br />

68<br />

Forscher, die unsere heimischen Seen und Flüsse untersuchen, haben eine erschreckende<br />

Entdeckung gemacht: Es gibt immer weniger Fische in unseren<br />

Gewässern. Der Grund dafür ist die Verweiblichung der männlichen Fische. Diese<br />

Modifikation entsteht durch die Verschmutzung der Seen und Flüsse mit weiblichen<br />

Hormonen. Die Sexualhormone und deren Derivate werden zu einem Großteil<br />

von chemischen Fabriken in unsere Flüsse eingeleitet. Die Anti-Baby-Pille trägt über<br />

die Abwasser auch zur Belastung unserer Gewässer bei. Selbst Bier enthält Stoffe,<br />

die dem weiblichen Sexualhormon ähnlich sind.<br />

Die weiblichen Hormone reichern sich im Wasser an und gelangen so auch in den<br />

Körper der männlichen Fische. Ist die Konzentration der weiblichen Hormone zu hoch,<br />

können keine Spermien mehr gebildet werden. Die Hoden bilden sich zurück.<br />

Die vielen unfruchtbaren Männchen können keine Nachkommen mehr zeugen;<br />

so kommt es, dass ihre Gene der Nachwelt verloren gehen. Dieser DNA-Verlust hat<br />

schwerwiegende Folgen für die gesamte Tierart: Treten neuartige Krankheitserreger<br />

auf, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Tier resistent gegenüber dieser bedrohlichen<br />

Umweltveränderung ist, viel geringer als bei einem großen Genpool. Die fortschreitende<br />

Verweiblichung der Fische könnte somit zum Aussterben vieler Arten<br />

führen. Dies erschreckt um so mehr, wenn wir auch daran denken, dass viele unserer<br />

Fischarten als Nahrungsgrundlage für größere Raubtiere dienen. Weitere Tierarten<br />

könnten aussterben.<br />

Es ist Zeit, die Einleitung von Sexualhormonen und hormonähnlichen Stoffen durch<br />

die Industrie zu verbieten und auf die Problematik aufmerksam zu <strong>machen</strong>. Deshalb<br />

spenden Sie bitte für den Schutz der Fische. Die mühsame Auswilderung einiger<br />

Fischarten in freie Gewässer soll nicht umsonst gewesen sein. Denken Sie immer<br />

daran: die Natur ist unser höchstes Gut.<br />

Ihre NABU Aktionistin Inge Grünschweig<br />

e-mail: ingegruenschweig@nabu.de<br />

Kevin MacPherson<br />

Zwitterfische<br />

06<br />

69<br />

Hi Leute, wie geht´s? Also, mir geht es prima.<br />

– Was!?! Ihr kennt mich nicht???<br />

Jasmin Kienle<br />

Blubbi der Zebrafisch<br />

Ich bin Blubbi, die Zebrafischdame. Sagt nur, ihr wisst nicht, was<br />

ein Zebrafisch ist! Nein?! Wirklich nicht? Also: Das ist ein<br />

Fisch, der im Wasser lebt und ähm… ähm..? Ach ich weiß es<br />

nicht, das ist eben so ein Fisch, der aussieht wie ich.<br />

Aber warum ich eigentlich hier bin: Ich möchte euch erklären,<br />

warum man an Zebrafischen forscht und nicht an irgendwelchen<br />

anderen Tieren.<br />

Zuerst einmal sind wir Wirbeltiere, das ist schon einmal sehr gut,<br />

denn so haben wir sehr viel mehr Ähnlichkeit mit den<br />

Menschen als zum Beispiel eine öde Fliege. Unsere Gene sind<br />

denen von den Menschen ziemlich ähnlich. An Menschen darf<br />

man nämlich nicht forschen, deshalb nimmt man Fische.<br />

Wir sind viel leichter zu halten als zum Beispiel Elefanten.<br />

Die sind viiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiel größer als wir, sie nehmen mehr Platz<br />

weg und <strong>machen</strong> mehr Dreck. Außerdem stinken sie.<br />

Wir können pro Woche bis zu 200 Eier legen, ganz schön viel,<br />

gell? Und wir sind nach drei bis vier Monaten vollständig ausgebildet,<br />

nicht so wie die Menschen, die brauchen ewig. Das<br />

Beste für die Forscher: Wir sind zu Beginn unserer Entwicklung<br />

durchsichtig, dadurch kann die Entwicklung von Organen und<br />

Geweben direkt am lebenden Embryo beobachtet werden.<br />

Das war jetzt ganz schön viel, was ihr euch gerade merken musstet.<br />

Deshalb unsere besten Eigenschaften hier noch einmal:<br />

- Wir sind Wirbeltiere, also dem Menschen ähnlich<br />

- Wir sind leicht zu halten<br />

- Wir legen bis zu 200 Eier pro Woche<br />

- Wir sind nach drei bis vier Monaten vollständig entwickelt<br />

- Unsere Embryonen sind durchsichtig!<br />

So, jetzt wisst ihr Bescheid und ich hoffe, dass ihr euch ein<br />

Biotop kauft und wir uns bald wiedersehen.


06<br />

70<br />

Anne Löchner<br />

Sensationen überall<br />

Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich begrüße Sie<br />

herzlich zu unserer Fernsehsendung „Sensationen überall“!<br />

Heute gibt es aus dem Tierleben im afrikanischen Regenwald<br />

große Neuigkeiten. Zwei deutsche Biologen, Frau Dr. Frisch<br />

und Herr Dr. Helt, waren in den letzten Monaten im Kongo,<br />

um die Bestände der dort lebenden Gorillas zu untersuchen.<br />

Ursprünglich wurde den beiden aufgetragen, zu prüfen,<br />

ob die Gorillas weiterhin vom Aussterben bedroht sind.<br />

Bei ihren Forschungen machten die Wissenschaftler eine<br />

außergewöhnliche Entdeckung. Sie sahen einen völlig<br />

aufrecht gehenden Gorilla! Normalerweise haben Affen ihren<br />

Körperschwerpunkt vor dem Körper und laufen daher meist<br />

leicht gebückt, doch dieser, wie Sie im Bild sehen können,<br />

läuft stets sehr aufrecht! Inzwischen ist es Frau Dr. Frisch und<br />

Herrn Dr. Helt gelungen, dieses seltene Tier zu fangen. Nun<br />

führen sie verschiedene Versuche mit dem Affen, den sie<br />

Newcomer genannt haben, durch und suchen nach den<br />

Ursachen für seinen aufrechten Gang.<br />

Dieses Phänomen könnte ungeahnte Folgen haben. Der<br />

Mensch und der Affe haben gemeinsame Vorfahren. Aus<br />

diesen entwickelten sich verschiedene Gruppen. Die frühen<br />

Menschen begannen aufrecht zu laufen, die frühen Affen<br />

gingen weiterhin gebückt. Dies geschah vor Millionen von<br />

Jahren und das aufrecht gehende Geschöpf begann ein<br />

Bewusstsein zu entwickeln!<br />

So hat sich über diese vielen Jahre der Mensch entwickelt.<br />

Menschen können im Gegensatz zu Affen vorausschauend<br />

planen, abstrakt denken, relativ genaue Abbildungen von<br />

Gesehenem zeichnen, mit Feuer umgehen und hochtechnische<br />

Geräte entwickeln.<br />

Sollte sich dies jetzt etwa ändern? Gibt es eine Affenevolution,<br />

wie sie der Mensch durchgemacht hat? Haben wir etwas zu<br />

befürchten? Wird die Welt in der Zukunft von den Affen regiert?<br />

Frau Dr. Frisch und Herr Dr. Helt haben inzwischen den<br />

Großauftrag, dies zu untersuchen. Viel haben sie noch nicht<br />

herausgefunden. Jedoch scheint Newcomer auch über eine<br />

sehr hohe Intelligenz zu verfügen. Wahrscheinlich hat er bis<br />

jetzt noch nie einen Menschen oder einen Gegenstand<br />

des Menschen gesehen, aber er lernt schnell, alle Gegenstände<br />

zu benutzen. Inzwischen spielt er zusammen mit Dr. Frisch,<br />

Dr. Helt und einigen Kindern des nächsten Dorfes Fußball<br />

und Tennis. Auch hat er schon einige Male am Unterricht<br />

der Dorfschule teilgenommen, wobei Newcomer versucht hat,<br />

sich mit wilden Gesten am Unterricht zu beteiligen. Auch<br />

haben Newcomer die vielen Ausflüge mit dem Auto in die<br />

nähere Umgebung sehr gut gefallen!<br />

Nun soll erforscht werden, wie man sich mit Newcomer<br />

verständigen kann. Dr. Frisch und Dr. Helt sind schon dabei,<br />

eine einfache Sprache zu entwickeln. Außerdem sind die<br />

beiden Biologen schon auf der Suche nach einem passenden<br />

Weibchen für Newcomer, um zu testen, ob sich dieses<br />

Phänomen auch in der nächsten Generation fortsetzt.<br />

Entwickelt sich der Affe zu einem intelligenten Wesen wie<br />

der Mensch? Entsteht ein zweiter Mensch? Immerhin sind<br />

305 Körpermerkmale von Mensch und Menschenaffe gleich.<br />

Der Aufbau der Knochen, Muskeln und Nieren ist gleich,<br />

ebenso die Zusammensetzung des Blutes und die Ausbildung<br />

der Blutgruppen. Es könnte also sein, dass sich ein weiteres<br />

Wesen entwickeln könnte, das mit der Zeit so intelligent wird<br />

wie der Mensch! Dies sind die Grundinformationen. Wir<br />

werden Ihnen sofort Bescheid geben, wenn es neue Ergebnisse<br />

gibt. Weitere Bilder und Informationen finden Sie im Internet<br />

unter www.sensationen-ueberall/newcomer.de.<br />

Unser nächstes Thema kommt aus...<br />

06<br />

71


1 Dialog: Nomen est Omen. Schreiben ist<br />

im Grunde immer ein Dialog. Schreiben,<br />

um mit sich und dieser Welt in ihren<br />

offenrätsligen Facetten im Zwiegespräch<br />

zu bleiben. Auch wenn dies in aller<br />

Klausur geschieht. Der Einsamkeit des<br />

Schreibens geht immer auch die<br />

Gemeinsamkeit des Erfahrens und Sich-<br />

Verhaltens voran.<br />

06<br />

72<br />

Eine ganz eigenwillige Auseinandersetzung und ein Dialog,<br />

der die deutsche Sprache aufbricht – sie quasi kreativ brüchig<br />

werden lässt – ist die Begegnung mit Schülerinnen, Schülern<br />

und Studierenden, die sich im Osten Europas unserer Sprache<br />

wortnah fühlen und diese als Schreibsprache ausgewählt<br />

haben. Ränder der deutschen Sprache, die vor allem aus der<br />

Distanz zu einem sich immer wieder von Neuem nachschöpfenden<br />

Zentrum ergeben. Ränder, die eine Spannung<br />

erzeugen, aus der das Altüberlieferte in die Grenzerfahrung<br />

mit den jeweiligen Sprachen münden, die in den betreffenden<br />

Ländern hauptsächlich gesprochen werden und die dortige<br />

<strong>Literatur</strong>sprache gestalten.<br />

Die Schreibwerkstätten – Schreiben im Dialog – in Rumänien,<br />

Litauen und Lettland sind deshalb ein originäres Beispiel dafür,<br />

dass „überall dort Neues entsteht, wo die Sprache an ihren<br />

Rändern ausfranst“, um Josef Brodsky zu Wort kommen zu lassen.<br />

Es ist bemerkenswert, was wir in den Tagen während der<br />

<strong>Literatur</strong>-Reisen dort erfahren und in den entstandenen Texten<br />

nachlesen durften.<br />

José F.A. Oliver & Sergiu Stefanescu<br />

06<br />

73


Aleksander Golubow (Lettland)<br />

Traum (Fragmente)<br />

40. 7.30 Uhr. Der große Traum vom Schlafen.<br />

Ich verstehe nichts. Aber das ist so interessant. Ich sehe den Schlaf. Es ist der beste<br />

Film der Welt. In der Welt, in der ich zu viel sehe. In meinem Schlaf sehe ich verschiedene<br />

Menschen, verschiedene Orte. In meinem Schlaf kann ich Superman sein.<br />

Nein. Wenn wir schlafen, sehen wir nichts von dem, was in der Welt ist.<br />

41. 8.00 Uhr: Der Traum vom Essen<br />

42. Der Traum vom Gehirn.<br />

Wo ist mein Hirn? Ich verstehe mich nicht. Ich sehe mich im Spiegel und denke:<br />

Das bin nicht ich. Ich bin anders, wo sind meine Gedanken? Ich kann nicht denken.<br />

Wo sind meine Träume, ich kann nicht träumen. Oh nein, alles ist gut. Das war schon<br />

früher so. Aber warum ist das nicht Ich? Ich war anders. Ich sehe und denke nur.<br />

Verstehe, es ist gut. Ich kann denken. Das ist das Beste, das ich tun kann.<br />

Wahrscheinlich sehe ich eine Fotografie.<br />

43. Der Traum von einem großen Baum in der Welt.<br />

Ich bin Schöpfer dieses Baumes. Ja, das gefällt mir sehr. Ich sehe diesen Baum<br />

jeden Tag. Ich verstehe, dass ich ein Schöpfer bin. Vor allem dann, wenn ich fühle,<br />

dass das mein Traum ist. Wer in der Welt träumt von einem noch größeren Baum?<br />

Aber das ist nur ein Traum.<br />

44. Der Traum von Menschen, die meine Gedanken verstehen.<br />

45. Der Traum davon, dass mich jemand anruft.<br />

46. Der große Traum vom Tode.<br />

Viele Menschen sind tot. Einige meiner Freunde sind tot. Wir verstehen alle<br />

dieses Wort:„Tod“. Das ist etwas, das Menschen nicht sehen. Wir können an der<br />

Bedeutung dieses Wortes nichts ändern. Aber für mich steckt hinter dem Wort „Tod“<br />

ein moralischer Tod. Daran kann man etwas ändern. Mir scheint, ich bin tot. Warum?<br />

Heute verstehe ich das noch nicht. Aber das ist nicht das Ende meines Lebens.<br />

47. Der Traum vom besten Freund.<br />

Auf einen Blick verstehe ich, was mir mein Freund bedeutet. Wer ist mein Freund?<br />

Ist es ein Mensch? Ich kann sagen: Nein! Nur mein Auto ist mein Freund. Ein Freund,<br />

mit dem ich reden kann. Es ist mein Freund und kennt alle meine Geheimnisse.<br />

Es ist hilfsbereit und arbeitsam. Warum kann es mein bester Freund sein, obwohl<br />

es nicht reden kann? Aber ich verstehe, was mein Freund denkt. Es erzählt alles<br />

ohne Wörter.<br />

48. Der Traum vom Feuer.<br />

Wie groß das Feuer, so groß auch der Traum.<br />

06<br />

74<br />

Kitija Balcare (Lettland)<br />

***<br />

in einem Illusionskäfig<br />

wohne ich jetzt<br />

sie necken mich<br />

„du bist in Unfreiheit!“<br />

ich beneide sie nicht<br />

die Seele ist doch frei<br />

Andrei P. Jecza (Rumänien)<br />

***<br />

Schatten und Licht,<br />

Ich und damals.<br />

Der kalte Fisch,<br />

Auf dem frisch lackiertem Tresen.<br />

Blau.<br />

Die Dame schaut empor,<br />

Zündet eine Zigarette an<br />

Und hört der Stille zu.<br />

(Schweigen)<br />

Ein Tuch bedeckt ihre Schultern.<br />

Rot.<br />

Ich fotografiere.<br />

Schreibe mit Licht und Schatten.<br />

Schwarz,<br />

Weiß.<br />

Er in sich.<br />

Sie empor.<br />

Er sie,<br />

Sie ihm.<br />

Eine zerfetzte Hose<br />

Die alte Sonnenbrille<br />

Und sie,<br />

Im vierten Stock.<br />

06<br />

75<br />

Inga I. (Litauen)<br />

Die Brücke<br />

Die grüne Brücke<br />

Was brückt sie?<br />

Zwei Welten<br />

Viel:<br />

Leicht<br />

Zwei Teile<br />

Das Zentrum – die Altstadt<br />

Die Stadt<br />

Die Brücke<br />

Günther Mild (Rumänien)<br />

***<br />

Krebs kriecht durch die Augen<br />

Wie eine Schildkröte, die niemals schläft,<br />

Gekochte Eier liebt er nicht, nur<br />

den Leichnam meines Vaters.<br />

Vater schwimmt im Ganges<br />

Deutschlands, wie eine Heilige.<br />

Kein Heiler kann ihm helfen.<br />

Ist er tot gewesen?<br />

Oder nur weggeflogen?<br />

Darf ich jemand heilen?<br />

István Takács (Rumänien)<br />

***<br />

Die Stille erstarrt,<br />

klagende Klänge erkennen<br />

bis zur Unkenntlichkeit.<br />

Die Reinheit des Lärms der Stille,<br />

das Wort, das nicht befreit.<br />

In der Ferne,<br />

das Stumme, das Taube,<br />

es erschrickt und flieht,<br />

fleht und zieht<br />

weiter zum Wort.


Schreiben im Dialog: Das Projekt Perspektiven<br />

Texte von Jugendlichen aus Czernowitz<br />

Die eigene Perspektive entdecken.<br />

Die Welt ist so wie du sie siehst – das behaupten nicht nur Philosophen und Psychologen, das sagen auch<br />

die Kinder und Jugendlichen aus Moldawien und der Ukraine, die am internationalen Fotoprojekt<br />

Perspektiven teilgenommen haben.<br />

Dieses Projekt ist eine Initiative des IFA und soll zur kulturellen Kommunikation beitragen. Die Präsentation<br />

der Ausstellung fand am 7. Februar im Palast „Jugend der Bukowina“ statt. Die Jugendlichen aus der Ukraine<br />

und Moldawien stellten Gleichaltrigen und anderen Interessierten ihre Sicht der heutigen Welt vor, indem<br />

sie eigene Fotos zeigten. Die offizielle Eröffnung machte Katrin Hartmann, die Vertreterin der Robert Bosch<br />

Stiftung am Bukowina Institut. Sie bemerkte unter anderem, dass durch dieses Projekt die Kreativität und<br />

Vorstellungskraft der Jugend gefördert werden solle.<br />

Danach haben die jungen Fotografen ihre Eindrücke dazu geäußert. Kristina Balaban (18) aus Kishinev<br />

meinte: „Wir sind keine professionellen Fotografen, wir haben das alles in drei Wochen gelernt, aber die<br />

Erfahrungen, die wir gesammelt haben, lehren uns auf die Welt anders zu schauen und auf Kleinigkeiten<br />

zu achten, die Freude bringen können.“<br />

Ira Iwanina<br />

Ein Blick<br />

Foto: Mihail Tulus<br />

06<br />

76<br />

Halyna Hickowa<br />

Er ist so schön! Ich mag seine dunklen Haare, seine klugen,<br />

empfindlichen Augen, seine Stimme, wenn er zum Laufen ruft.<br />

Aber er guckt mich nie an. Warum?<br />

Schwarz und weiß – wir würden so gut zusammen passen. Rrrr.<br />

Ich erinnere mich an den grauen Tag, im Frühling, wo wir hergekommen<br />

sind. Es regnete, und die anderen waren irgendwo<br />

in ihren Buden. Niemand störte uns. Eine Weile saßen wir hier,<br />

dann hat er vorgeschlagen, durch die Stadt zu laufen.<br />

Unterwegs haben wir gegessen, und sind dann zum Fluss gerannt.<br />

Aber wirklich gerannt, durch die Pfützen auf den Straßen, unter<br />

den Regentropfen. Am Fluss schwiegen wir, wir beobachteten den<br />

Regen, der, wie immer im Frühling, neues Leben um uns herum<br />

schuf. Die Bäume standen noch kahl und es schien, als würden<br />

die Blätter sprießen. Und bei dieser Geburt der Natur waren wir<br />

zusammen und nur zu zweit. Aber seit der Zeit guckte er mich<br />

nie mehr an. Warum? Rrrr.<br />

Na, heute scheint die Sonne. Heute ist alles anders. Er steht hier.<br />

Seine dunklen Haare, seine Stimme. Seine Augen? Sie sind nicht<br />

mehr so empfindlich, nicht mehr so klug. Etwas ist anders in ihnen.<br />

Jetzt wirkt er ganz anders auf mich. Warum?<br />

Ira Sadoroshna<br />

Fotokunst gegen Depression<br />

06<br />

77<br />

Foto: Ana Capsâzu<br />

In der Kunst mag ich die Werke, wo es nichts Übriges gibt und wo<br />

das Dargestellte symbolisch die Grundidee des Autors vermittelt.<br />

Das zeugt mindestens von dem Professionalismus des Künstlers<br />

und von seinem tiefen Verstehen des Lebens.<br />

Viele Fotos von den jungen Fotokünstlern aus Moldova können<br />

dementsprechend zu den richtigen Kunstwerken gezählt werden<br />

(z.B. „Freunde“ von Michail Tulush, „Nur zu zweit“ von Andrij Sheru,<br />

„Ich liebe dich“ von Emila Huzuljak u.a.). Fast alle Fotos strahlen<br />

Freude, Optimismus, Frische, manchmal auch Humor aus<br />

(z.B. „Mein erstes Foto“ von Wadim Mynsatu) und bringen die<br />

Zuschauer in Hochstimmung.<br />

Unter einigen ganz anderen, die den Problemen der Jugendlichen<br />

gewidmet sind, scheint das Foto von Anna Kapsysu „Depression“<br />

meisterhaft gestaltet und treffend benannt zu sein.<br />

Ein einsamer junger Mensch, dunkel gekleidet, an die schwarzweiße<br />

Wand gelehnt, hockt zusammengeschrumpft mit<br />

zusammengefalteten Händen und gesenktem Kopf nieder.<br />

Eine schmutzige, graue Straße, graue Schatten an der Wand.<br />

Nichts mehr.<br />

Wie in jedem künstlerischen Werk gibt es viel unbewußt Dargestelltes hier. Ich bezweifle,<br />

daß die junge Autorin alles speziell für ihr Foto vorbereitet hat. (Das Bild sieht ganz realistisch<br />

aus.) Solche Episode scheint aus dem gewöhnlichen Alltagsleben herausgerissen<br />

zu sein und taucht ab und zu vor unseren Augen auf, wenn wir z.B. durch unsere Stadt<br />

bummeln.<br />

Depression ist ein Kennzeichen unserer Welt und für Jugendliche, die sich selbst und<br />

die nicht immer so freundliche Wirklichkeit zu verstehen versuchen, und wird oft zum<br />

richtigen Problem.<br />

Ich finde dieses Bild vollkommend und psychologisch richtig gestaltet. Ein junger Mensch<br />

in einer Schutzpose, von der ganzen Welt abgeschirmt, sieht von allen verlassen und<br />

niedergeschlagen aus. (Es ist unklar und prinzipiell unwichtig, ob ein Mädchen oder ein<br />

Junge dargestellt ist.) Die weiße Wand hinter dem Kind gilt unter Künstlern und Psychologen<br />

als Symbol des Todes. An der Wand sind graue Schatten (Abbildungen unserer Welt)<br />

zu bemerken. Vor dieser Welt hat das Kind seinen Kopf gesenkt. Der graue Asphalt mit<br />

einem großen hässlichen Fleck darauf unter den Füßen der schwarzen Gestalt verstärkt<br />

den Wirkungseffekt des Fotos. Das Gesehene ruft bei dem Passanten den unbewussten<br />

Wunsch hervor, den einsamen jungen Menschen zu beschützen. Sieht unsere Welt in den<br />

dunkelsten Momenten unseres Lebens nicht so aus?<br />

Ich meine, eine bessere visuelle Darstellung der Depression ist kaum zu finden.


Galyna Iwasjuk<br />

Was heißt Freundschaft?<br />

Foto: Ana Capsâzu<br />

Meine Freunde! Gibt's aber Freunde?<br />

(Aristoteles)<br />

Wenn man sich dieses Bild ansieht, so lächeln einander drei<br />

richtige Freundinnen zu. Diese Mädchen denken vielleicht, dass<br />

sie wirklich Freunde sind. Ich möchte daran gerne glauben.<br />

Trotzdem lässt sich an diesem Lächeln keine Treue, keine richtige<br />

Hingabe, sondern etwas Egoismus sehen. Sie beziehen alles auf<br />

ihr eigenes „Ich“. Jede ist die Beste, die Klügste, die Schönste in<br />

ihrer Familie. Und kann das alles in einer engen Freundschaft<br />

zusammenfallen? Was mich betrifft, habe ich noch niemals<br />

Freundschaft gesehen. In unserem Alter ist das einfach eine<br />

interessante Freizeitverbringung oder Protest gegen die Eltern,<br />

und wenn die Menschen älter sind, ist es meistens Heuchelei.<br />

Was ist dann Freundschaft? Vielleicht gibt es einfach keine<br />

Freundschaft? Vielleicht haben sie sich Schriftsteller und Dichter<br />

ausgedacht, damit das Leben nicht so grau aussieht?<br />

Lachen sie einander so ehrlich, um später zu verraten?<br />

Oder wenn es keine Freundschaft gibt, gibt es auch keinen Verrat?<br />

Wie dem auch sei, ich habe Freunde. Und was später wird, werden<br />

wir mal sehen, was Freundschaft heißt.<br />

Oksana Nakonentschna Jeder kommende Tag gleicht dem gestrigen. Ich warte mit<br />

Ungeduld auf etwas Neues, doch mit jedem Sonnenuntergang<br />

mache ich immer wieder die Entdeckung, dass alle meine<br />

Erwartungen sinnlos und vergeblich sind. Jeden Tag galoppiere<br />

ich durch die ganze Umgebung, esse frisches Gras und lasse mich<br />

bald von den Sonnenstrahlen, bald von Regentropfen berühren.<br />

Ich mag keinen Winter, weil das Gras seinen Geschmack verliert<br />

und mir die Sonne viel seltener ihre Wärme schenkt.<br />

Die Sonnenstrahlen sind viel kürzer und reichen nicht bis zur Erde.<br />

Alles ist mit einem weißen Teppich bedeckt und sogar der Abdruck<br />

jedes Lebe- und Nichtlebewesens ist weg. Man muss nur abwarten,<br />

bis die dicken Wolken der Sonne ihre Freiheit wiedergeben.<br />

Foto: Gregorii Cebanov<br />

Und dann fange ich wieder an, mich nicht so einsam und von der<br />

ganzen Welt verlassen zu fühlen, da mir ständig jemand auf dem<br />

Fuße folgt und wie kein anderer so nahe an mich herankommen<br />

kann. Das ist das Treuste was ich jemals besaß und was immer<br />

vertraut war. Ich kann zu beliebiger Zeit mit ihm reden, doch leider<br />

keine Antwort bekommen. Er ist genau so wie ich bin. Bald froh,<br />

bald traurig. Bald schnell, bald langsam. Bald satt, bald hungrig.<br />

Nicht immer, aber immer öfter.<br />

06<br />

78<br />

Mischa Kiliar<br />

Foto: Emilia Gutuleac<br />

06<br />

79<br />

Es war ein hübsches Wetter. Er war im Kindergarten. Die Kinder<br />

summten wie Bienen. Kleine, komische Gesichter... Hier. Dort. Und<br />

er fühlte sich natürlich wohl in so einer sogenannten Kinderclique.<br />

Morgen hatte er Geburtstag. „Oh“, dachte er, „ich bin schon groß<br />

genug geworden und die Mutti hat mir versprochen, ein Fahrrad<br />

zu kaufen. Also morgen! Ich freue mich wie ein Schneekönig!“<br />

So dachte er und stand am Fenster.<br />

„Zum Tisch, zum Tisch!“, schrie die Erzieherin und riss ihn damit<br />

aus seinen tollen Gedanken. Es war schon dunkel, aber niemand<br />

kam, um ihn vom Kindergarten abzuholen. „Merkwürdig“, dachte<br />

er und das Kinderherz war voller Angst...<br />

Tageszeitung<br />

... Heute früh in der Brückenstraße 11 wurde eine<br />

tote Frau gefunden, getötet von ihrem Mann<br />

mit zehn Messerstichen in der Brust.<br />

Es war ein hübsches Wetter. Er stand am Fenster in der Küche,<br />

wo ihm sein Mütterchen jeden Morgen Frühstück zubereitete.<br />

Das Glas in der Tür war weg. Auf dem Boden – Blut. Im Haus<br />

waren so viele Leute. Er fühlte sich aber allein. Auf der Straße<br />

fuhren die Kinder mit den Fahrrädern. Er dachte ans Fahrrad<br />

nicht mehr. Er war schon sechs Jahre alt. Er war groß genug<br />

geworden...groß genug, um in der Welt allein zu bleiben...<br />

Es war ein hübsches Wetter. Er stand am Fenster. Die Kinder<br />

summten wie Bienen. Morgen hat er Geburtstag. Er ist schon<br />

sieben Jahre alt. Im Kinderherzen glimmt die Hoffnung, ein<br />

beliebiges Geschenk zum Geburtstag zu bekommen. Es waren<br />

so viele Kinder draußen im Garten. Aber er wollte lieber allein am<br />

Fenster bleiben, obwohl es ein hübsches Wetter war. Ein hübsches<br />

Wetter hinter dem Fenster des Kindergartens für die Waisen...


Larissa Olektschyn Wer einmal einen sonnigen Morgen mit seiner bunten Mischung<br />

nächtlicher Träume, weicher Sonnenstrahlen und angenehmer<br />

Kühle erlebt hat, der kann mich gut verstehen. Denn Morgenstunde<br />

ist nicht nur Genesung von kopfzerbrechenden Problemen<br />

und Befürchtungen. „Morgen“ klingt für mich gleich wie „Frische“,<br />

„Heiterkeit“, „Munterkeit“ und „Anfang“.<br />

Der Anfang vom Leben ist unmittelbar mit der Geburt des Tageslichtes<br />

verbunden. Junge und kreative Energie erobert sogar den<br />

alten Körper und verleiht ihm Grazie, Zärtlichkeit und gleichzeitig<br />

einen sicheren Auftritt. In den frühen Stunden werden die Leute<br />

im hohen Alter ideenreich und aufgeschlossen wie zu ihrer<br />

Jugendzeit. Die Jugendlichen entlehnen für eine Weile Weisheit<br />

Foto: Emilia Gutuleac<br />

und Erfahrung von ihren älteren Mitmenschen.<br />

Man erwartet nur die schönsten und sinnvollsten Ereignisse,<br />

die das Leben zu einer abenteuerlichen Geschichte <strong>machen</strong>.<br />

Man summt ein Liedchen und freut sich, wenn es den Einklang<br />

im Vogelgezwitscher findet. Also, man genießt jede Minute dieser<br />

wunderschönen Zeit, die leider sehr schnell vorbei ist und für viele<br />

immer noch unbekannt bleibt.<br />

Julia Wennytschuk<br />

Liuda Meschtscherjakowa<br />

Der Pfad<br />

Foto: Galina Kioroglo<br />

06<br />

80<br />

Netter Pfad. Er strahlt Ruhe aus. Oder?<br />

Sag nicht, dass es dir egal ist, denn ich glaube dir nicht.<br />

Ich weiß genau, was du fühlst. Deine Schuld. Ich fühle sie auch.<br />

Ich erinnere mich immer an jene Nacht in diesem Wald.<br />

Es war unsere Nacht. Nur deine und meine. Sag nicht, dass du<br />

alles vergessen hast. Ich wärmte meine kalten Hände am Feuer<br />

und meine fröstelnde Seele an Dir. Du aber hast alles verdorben.<br />

Du bist einfach gegangen, ohne ein Wort zu sagen, und hast mich<br />

hier alleine sitzen lassen. Du hast alles zunichte gemacht, einfach<br />

in Schutt und Asche gelegt! Ich bin sicher, du hast damals nicht<br />

gewollt, wegzugehen. Du hast es aber nicht gekonnt, bei mir zu<br />

bleiben. Es lag an deinem Stolz. Du bist diesem Pfad entlang in<br />

die Zukunft gegangen, Ich – in die Ewigkeit...<br />

Ich stand am Rande des Abgrundes und sah keinen Boden,<br />

genauso wie du jetzt hier stehst. Ich hatte auch Angst.<br />

Aber du musst mutig sein.<br />

Mein Süßer. Hab’ keine Angst. In dieser neuen Welt wirst du<br />

keine Schmerzen fühlen, nur ewige Seeligkeit. Ich vermisse dich.<br />

Ich bin müde vom Warten... Komm schneller... Komm...


<strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> 06 Jahrgang 2004

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