Literatur machen
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LITERATUR MACHEN
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
Noch ein Wort vor das Wort: Lesen: Da bin ich schon im Wort.<br />
Schreiben: Da bin ich noch vor dem Wort,<br />
da bin ich noch allein mit dem Wort.<br />
Kräfteverhältnisse: Ergreife ich das Wort oder ergreift das Wort mich?<br />
Besitze ich Sprache oder bin ich von ihr besessen?<br />
Es gibt Details zwischen uns,<br />
Umgrenzungen der Körper, Werkzeuge.<br />
Etwa: Zimmer/ICE/Mischwald,<br />
Stift/Tastatur/Messer,<br />
Briefpapier/Bildschirm/Borke.<br />
Woher kommt sie mir zu? Aus den Rückzeiten der Historie,<br />
den Parallelreichen der exakten Wissenschaften,<br />
der Poesie („Sprache, die sich verschließt – oder blüht“)?<br />
Oder ist all dies falsch und Sprache kommt<br />
aus einer inneren Unteilbarkeit des Sprechenwollens?<br />
Gegeben die Metapher: Sprache sei Geld.<br />
Kann ich Sprache prägen, bevor sie in Umlauf gerät?<br />
Oder sehe ich ein: Ich bleibe ihr Benutzer.<br />
Doch: letzter, schöner Eigensinn:<br />
Ich möchte gut mit ihr umgehen.<br />
Wie auch immer: Das Wort führt zum Du. Und wieder zurück.<br />
Das Wort stellt Dinge in den Kopf.<br />
Das Wort trägt Gedanken, tonnenschwer.<br />
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01<br />
Boris Kerenski<br />
Redaktion <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong>
Impressum <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> ist ein zweimal jährlich erscheinender<br />
Werkstattbericht der Schreibwerkstätten für Jugendliche<br />
des <strong>Literatur</strong>hauses Stuttgart, Auflage 7.000<br />
Copyright Die Rechte für die einzelnen Beiträge<br />
liegen bei den Autorinnen und Autoren,<br />
für die Gesamtausgabe beim <strong>Literatur</strong>haus Stuttgart<br />
Kontakt <strong>Literatur</strong>haus Stuttgart<br />
Erwin Krottenthaler<br />
Boschareal, Breitscheidstraße 4<br />
70174 Stuttgart<br />
Tel.: 0711 / 220 21 741<br />
Fax: 0711 / 220 21 748<br />
E-Mail: info@literaturhaus-stuttgart.de<br />
www.literaturhaus-stuttgart.de<br />
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02<br />
Besuchen Sie <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> im Internet unter:<br />
www.literatur<strong>machen</strong>.de<br />
<strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> erscheint mit<br />
freundlicher Unterstützung der<br />
Robert Bosch Stiftung GmbH Stuttgart<br />
Die Schreibwerkstätten des <strong>Literatur</strong>hauses<br />
ab Oktober 2004<br />
(Anmeldungen sind direkt beim jeweiligen Werkstattleiter<br />
oder über das <strong>Literatur</strong>haus möglich)<br />
Reportage Tilman Rau [rau@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />
Drama Thomas Richhardt [thomas.richhardt@jes-stuttgart.de]<br />
Wort und Spiele Timo Brunke [brunke@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />
Rap Tobias Borke [borke@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />
Prosa Tilman Rau [rau@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />
Ulrike Wörner [woerner@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />
Poesie José F.A. Oliver [oliver@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />
Sergiu Stefanescu [stefanescu@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />
Schreiben im Dialog Erwin Krottenthaler [krottenthaler@literaturhaus-stuttgart.de]<br />
Ansprechpartner für<br />
die Veranstaltungsreihe Zetteldämmerung Timo Brunke<br />
[brunke@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />
die Zeitschrift <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> Boris Kerenski<br />
[kerenski@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />
die Website <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> Sergiu Stefanescu<br />
[stefanescu@literatur<strong>machen</strong>.de]<br />
Layout <strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> Jochen Starz · starz engineering<br />
[zapp@schaltwerk.net]<br />
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05<br />
Beobachten, mehr erst mal nicht.<br />
Der Mann, auf dem Sitzplatz gegenüber, in der U-Bahn.<br />
Wie sieht er aus? Was hat er an? Sein Anzug, der Koffer,<br />
die gegelten Haare. Wo kommt er her? Worüber denkt er nach?<br />
Was ist seine Geschichte? Interessiert sie mich?<br />
Oder: Das Mädchen gestern auf dem Schlossplatz.<br />
Als ihr, vermeintlicher, Freund bei ihr war wirkte sie gelöst.<br />
Sie wirkte nachdenklich, als er kurz zum Imbiss ging,<br />
um zwei Stück Pizza zu kaufen. Als er zurück kehrte,<br />
lachte sie und scherzte mit ihm und aß zufrieden ihre Pizza.<br />
Was war los mit ihr in seiner kurzen Abwesenheit?<br />
Hat sie vielleicht darüber nachgedacht,<br />
wie sie ihrem Freund das Ende ihrer Beziehung beibringt?<br />
Vielleicht, wie sie ihn um die Ecke bringt?!<br />
Der Autor entscheidet das!<br />
Und diese Entscheidungsfreiheit haben wir<br />
in der Werkstatt versucht zu entdecken.<br />
Im besten Fall haben wir uns selbst überrascht!<br />
Intakte Sinnesorgane und dann noch Interesse,<br />
nein, besser: Neugier!<br />
Mehr brauchten wir zum Schreiben, erst mal, nicht.<br />
Und das noch!<br />
Der Zweifel. Das ist Schreiben!, hat Marguerite Duras mal gesagt.<br />
Klingt richtig, was?<br />
Niko Eleftheriadis, Werkstattleiter
Samuel Teixeira<br />
Frivole Ängstlichkeiten (Ausschnitt)<br />
[…] Nichts entgeht mir, ich beobachte<br />
alles mit Adlersaugen, um jene abstoßenden<br />
Deserteure für, dich, Mami, im<br />
Hinterkopf zu behalten, damit, wenn es<br />
früher oder später gelingt, dich von den<br />
erdrückenden Teufelstatzen eigenhändig<br />
zu befreien, wir beide, stolz auf den<br />
Triumph, uns über die Jammerlappen<br />
lustig <strong>machen</strong>, welche tugendlos vor der<br />
Tortur fliehen, dem Terror nicht ins<br />
Auge blicken wollen! Und derer gibt es<br />
hier viele! In der Tat kommt es mir in<br />
zunehmendem Maße so vor, als sei es für<br />
den Vermieter eine ungeheure Genugtuung,<br />
die ihn beruhigt, zu wissen, dass<br />
in diesem seinem Haus voller kahler<br />
Appartements, denen jegliche Farbe<br />
fehlt, nur Irre wohnen und ihren Unfug<br />
treiben!<br />
Ja, mir scheint, es sei für ihn von essentieller<br />
Bedeutung, diesen gehetzten<br />
Seelen in seinem Park, der im Gegensatz<br />
zu dem öden oder gänzlich fehlenden<br />
Mobiliar in den Korridoren seines Geisterschlosses<br />
(so kalkweiß ist es, den Gesichtern<br />
der Bewohner glänzend angepasst)<br />
wunderschön anzusehen ist, wie ich<br />
zugeben muss, Zuflucht zu gewähren…<br />
(Ein Zufluchtsort, der sich für Herrn Zauberberg<br />
jedoch als Ort des Schreckens<br />
und des Grauens erweist.)<br />
Ja, so scheint es mir… Und… Genau<br />
deswegen… Ja, genau aufgrund dieser<br />
grotesken Tatsache, die ich leid bin,<br />
habe ich heute kurzerhand beschlossen,<br />
mir eine andere Bleibe zu suchen! Weg<br />
von dem ganzen Gesindel, weg von<br />
Herrn Zauberberg, weg von den kahlen<br />
Wänden, hinaus Mami aufzusuchen,<br />
deren zarte Lippen ich so misse, deren<br />
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grazilen Duft ich wieder einzuatmen<br />
brauche, deren anmutige Stimme ich<br />
erneut vernehmen muss! Ich werde ihr<br />
bei der Vertreibung der Dämonen, die<br />
Engel Gabriel, der Himmelsbote, ihr<br />
hoffnungsvoll, in Erwartung einer tapferen<br />
Konfrontation, zukommen ließ<br />
(der arme Gottesverkünder, für den die<br />
teuflischen Schemen Überhand nahmen…),<br />
tatkräftig zur Seite stehen, denn<br />
auch mir flüstert er, nun anstelle des<br />
Windes, heilige Mysterien zu, denen zu<br />
folgen ist… Und mache dir keine Sorgen,<br />
Mami: Die Deserteure kriegen wir noch!<br />
Nun denn… „Bloß keine Angst“, „bloß<br />
keine Angst“… Die Koffer sind gepackt,<br />
alle Reisevorbereitungen bereits zu<br />
früher Morgenstund’ mit pedantischer<br />
Sorgfalt und großer Mühe getroffen…<br />
Man muss bereit sein, neu zu beginnen,<br />
sich Neuem ohne Wenn und Aber zu<br />
stellen… So will es die unendlich gerechte<br />
Königin, der man Gehorsam zollen<br />
muss… So will es der Himmelsbote,<br />
dessen endlose Weisheit nie dem<br />
menschlichen Verstand je zugänglich<br />
sein wird… Auch wenn es oftmals<br />
Komplikationen mit den Stimmen und<br />
den weißen Männern (alles Hirngespinste,<br />
alles unecht…) gab, dieses Mal muss<br />
es klappen, dieses selige Mal! Langsam…<br />
Behutsamen Schrittes… Nur noch wenige<br />
Meter bis zur Wohnungstür… Was?…<br />
Nein, es ist nichts… Nein, nicht beirren<br />
lassen… Weiter, nur weiter!… Du Narr,<br />
lasse sie dich nicht für blöd verkaufen! Sie<br />
werden dich nicht kriegen, dieses eine<br />
Mal nichtl Doch… wenn sie es dennoch<br />
schaffen? Wenn sie stärker sind?…<br />
Stärker?! Wertlose Gedanken, wirres<br />
Zeug, angesammelt in den schlaflosen<br />
Nächten!! Ja, gewiss bloß mangelnder<br />
Schlaf, der sie herbeiruft… Gewiss bloß<br />
die Macht der Suggestion… …Dass ich<br />
nicht lache! IHR, mir Angst <strong>machen</strong>!<br />
Macht der Suggestion, sag’ ich!! Hört ihr?!<br />
Macht der Suggestion, nichts weiter!!!<br />
LA-LA-LA!<br />
Ich höre nichts,<br />
du bist so fern!<br />
Und fängst du mich,<br />
entflieh’ ich gern!<br />
Ich höre nichts,<br />
du bist so fern!<br />
Und fängst du mich,<br />
entflieh’ ich gern!<br />
Ich höre nichts,<br />
du bist so…<br />
fern…<br />
und fängst…<br />
Nein, nicht fangen! Nein, nicht! Nicht<br />
jetzt! Befreien, entfliehen, wie tapfere<br />
Mutter in Todesstunde!… Ja, schwächer<br />
werden lassen… Entweichen lassen…<br />
„Bloß keine Furcht“… „Bloß keine<br />
Furcht“… Die Engel mit den schützenden<br />
Kampfesschilden, sie sind überall,<br />
nur schauen, nur hinblicken… Und<br />
„bloß keine Angst“… Hmm… Sind sie<br />
weg? … …<br />
Lächerlich! Ich hätte Schauspieler<br />
werden sollen, hab’s echt drauf! Gut zu<br />
wissen, dass man nie wie die endet!<br />
Also dann, die Freiheit ruft! Tü-ür… AUF!!!<br />
… Nein, nicht ihr! Nicht die weißen<br />
Männer! Teuflische Tatzen, hinfort mit<br />
euch! Voller Sünde seid ihr, da ihr<br />
die Königin entführt habt! Spucken<br />
sollte man auf euch, euch niederhauen!<br />
Schweine, verdammte Arschlöcher,<br />
Hurenböcke… ihr… Schwei-… -ne…<br />
seid… Engel… Monster… Ja, auch der<br />
Boden… wieder normal… Vögel weg…<br />
Tut gut… Jaa… Spitz, aber hilfreich, das<br />
Beruhigungsutensilium… Die Blumen<br />
wieder schön, der Boden fest… Ja, macht<br />
die Angst entweichen!… Weg… weil…<br />
ihr… Gehorsam gezollt… werden<br />
muss… Mami… …<br />
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07<br />
Juliane Reichert<br />
Stille. Dunkel.<br />
Stille. Dunkel. Wie ein Liebespaar, dass<br />
nicht ohneeinander existieren kann.<br />
Warum hast Du Angst im Dunkeln?<br />
Vielleicht ist es auch nur die Stille, die das<br />
Dunkel begleitet und die Angst mit sich<br />
bringt. Hast du Angst vor Stille? Sie ist<br />
eigentlich mindestens genauso beängstigend,<br />
und doch merkt es keiner.<br />
Und nur, weil die Augen auch bei Stille<br />
sehen können, heißt das noch lange nicht,<br />
dass sie auch wirklich etwas erfassen<br />
können. Vielleicht hast Du ja deswegen so<br />
viel Angst. Augen zu. Dunkel. Du schaust<br />
jetzt woanders hin. Denn blind bist du<br />
bei Dunkelheit bestimmt nicht, Du siehst<br />
nur Dinge, die das grelle Tageslicht nicht<br />
erreicht. Stille. Als sähest Du mit den Ohren.<br />
Siehst Du die Stille? Sommerstille. Die<br />
Sonne scheint und die Pflanzen bewegen<br />
sich im Wind. Kein Laut. Du aber kannst<br />
sie nicht genießen. Obgleich sie sehr schön<br />
sein kann, gereinigt vom Überfluss des<br />
Gesagten. Ruhe. Ohren auf. Hör in Dich<br />
hinein, bestimmt ist es da nicht so still wie<br />
draußen. Gibst Du also zu, dass Du Dich<br />
nur deswegen so sehr vor ihr fürchtest,<br />
weil es dann einmal wirklich anfängt,<br />
laut zu werden. Fürchtest Du Dich deshalb<br />
im Dunkeln, weil Du dann woanders<br />
hinsehen musst?<br />
Glaub’ nicht, dass Du auf diese Weise<br />
davonkommst, sie begegnen Dir überall<br />
und immer wieder. Sind mächtiger als Du.<br />
Herrschen wie ein Königspaar über uns<br />
Spielfiguren. Und keine Ablenkung wird<br />
Dir je helfen, Deine Augen und Ohren<br />
so sehr zu beschäftigen, dass es keine Stille<br />
gibt, bei der sie nicht hören und keine<br />
Dunkelheit, bei der sie nicht sehen<br />
könnten. Also stell’ dich!
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08<br />
Samuel Teixeira<br />
Glashaus in Scherben<br />
Ich stamme aus der Generation von<br />
Kindern und Jugendlichen, die in<br />
Gewächshäusern aufwuchs.<br />
Wir alle liebten die stickige Schwüle, die<br />
verdunstende Schweißperlen in unsere<br />
rosigen Bäckchen trieb. – Das Hygrometer<br />
sagte: 70% – Wir waren eingewickelt<br />
in wärmende Dampfwolken; der<br />
Mangel an Schnullern war uns bald egal.<br />
– Das Thermometer flüsterte: 28°C –<br />
Meine fürsorglichen Eltern wollten verhindern,<br />
dass ich eingehe. Papa glaubte<br />
nicht an die Wirkung von Gewächshäusern.<br />
Mama aber war fest davon<br />
überzeugt. Sie war auch diejenige, die<br />
einen Führerschein ihr Eigen nannte.<br />
– Nächster Halt: Da, wo die Samen<br />
sprießen, Lavendel blüht –<br />
Es war mir ein Leichtes, mich anzupassen.<br />
Warum? Na, meinem juckenden Zahnfleisch<br />
war es von je her verwehrt worden,<br />
die Bekanntschaft mit Schnullern<br />
zu schließen. Ich wusste nicht einmal,<br />
wie man Schnuller buchstabiert. OK…<br />
Letzteres ist verständlich, immerhin musste<br />
ich erst 4 Finger von der verkrampften<br />
Faust lösen, wenn Tante Emma mich<br />
nach dem Alter fragte.<br />
Es schien unentwegt die Sonne. Jedoch<br />
konnten wir getrost auf Sonnenbrillen<br />
verzichten, denn unsere Netzhaut hatte<br />
grelle, stechende Blitze nicht zu fürchten.<br />
Kurze Revidierung: Ich hatte sie nicht zu<br />
fürchten. Jeder hatte sein eigenes,<br />
beschlagenes Glashaus, wohlgemerkt…<br />
Jeder war im Besitz seiner eigenen, artifiziellen<br />
Festung…<br />
Wasser, Nährstoffe, Licht, Vitamine,<br />
Spurenelemente, Dünger, Sauerstoff und<br />
vieles mehr… alles im Überfluss vorhanden.<br />
Und so bildete ich grüne<br />
Farbpigmente. Ja, auf meinem nackten<br />
Körper war kein einziger Fleck mehr<br />
ausfindig zu <strong>machen</strong>, der nicht grün war.<br />
Und ich wurzelte mich fest. Dicke, robuste,<br />
widerstandsfähige, unerschütterliche<br />
Wurzeln gruben sich tief im humiden<br />
Humus, in den durchlockerten Erdklumpen<br />
ein. So war es mir möglich,<br />
an noch mehr Grundwasser zu reichen.<br />
…Allein: Der Schnuller fehlte mir mehr<br />
und mehr.<br />
………. Vielleicht war ich einfach schon<br />
ausgewachsen oder die zähen Wurzelsprosse<br />
zerschlugen martialisch anderer<br />
Leute Hausböden oder aber hatten<br />
meine Eltern vergessen, Lichtintensität,<br />
Temperatur und Luftfeuchtigkeit zu<br />
regulieren. Ich erinnere mich nämlich,<br />
dass ihre Gesichter faltiger geworden<br />
waren, die dunklen Augenringe in zunehmendem<br />
Maße eine Mischung aus<br />
blauen Flecken und lang gezogenen<br />
Furchen darstellten. Und so mussten<br />
nach und nach auch deren Gedächtnisse<br />
verschrumpelt sein. Was aber zählt, ist,<br />
dass, urplötzlich, mit einer zerstörerischen<br />
Gewalt und unter lautem Gebrüll<br />
(möglich auch, dass es mir nur so<br />
vorkam) die durchsichtigen Scheiben<br />
eingeschlagen wurden!<br />
Die Wurzeln barsten wie tausende<br />
Glassplitter auf einmal, die Erde verwandelte<br />
sich in staubtrockenen Wüstensand,<br />
die Epidermis verblich, glich nun<br />
vielmehr der schützenden Oberfläche<br />
eines Albinos, sogar Lavendel verkümmerte…<br />
– Das Thermometer schrie: -5°C!<br />
– Höhnischen, vor Lachen verzerrten<br />
Mündern der Feindseligkeit begegnete<br />
ich, als die schützende Burg unter den<br />
aufspießenden Klippen im aufbrodelnden<br />
Meere versunken war und kaum<br />
erwähnenswerte Ruinen des Vergessens<br />
hinterließ. Ich stürzte hilflos zu Boden,<br />
denn die untrainierten Knochen konnten<br />
sich nicht mehr daran entsinnen, wie<br />
man die lasche Körperhülle stützt,<br />
sodass man zu stehen vermag; die aufschlagenden,<br />
schwachen Gliedmaßen<br />
verursachten aufgeschürfte, blutige<br />
Fleischwunden in der entblößten Haut.<br />
…Beißende Kälte, erstickender Sturmwind…<br />
eilende Menschenmassen, im<br />
Rhythmus einer unbekannten, düsteren<br />
Stadt, die unaufhörlich mit lautem<br />
Trommelschlag in meinen Ohren widerhallte<br />
und das Trommelfell zerplatzen<br />
ließ…<br />
…Ich stamme aus einer Generation von<br />
erwachsenen Männern und Frauen,<br />
deren Glashäuser unangekündigterweise<br />
zerbrachen, denen Schnuller gänzlich<br />
fehlten, kompensierende, künstlich<br />
erzeugte Dampfwolken, in die man uns<br />
einbettete, um unser dröhnendes<br />
Geheule, das uns bisweilen überkam,<br />
zu überhören, indes ihren Dienst getan<br />
hatten.<br />
Ich will nicht sagen, dass diejenigen mit<br />
dem schelmischen Grinsen, diejenigen<br />
mit dem eklatanten Lachflash es unbedingt<br />
leichter hatten. Allerdings, und das<br />
weiß ich mit vollkommener Sicherheit:<br />
Ich stamme aus einer Generation von<br />
ungewollten Misanthropen, die lange<br />
brauchten, um erneut aufzustehen.<br />
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09<br />
Larissa Bellina<br />
Spring- Spring- Springseil<br />
Energisch und mit zitternder Hand hatte Mutter sie vor die<br />
Türe geschoben. Das Springseil in der Hand stand sie da,<br />
die geschlossene Türe verschwamm vor ihren Augen.<br />
Dahinter Geschrei, irgendetwas fiel krachend zu Boden.<br />
Der Druck, der ihr von irgendwo aus dem Innersten Tränen<br />
empor gepresst hatte, ließ nach, als sie den Aufzug rief.<br />
Nahezu geräuschlos glitten die Türen auseinander und<br />
sie verschwand. Suchte Schutz hinter ihnen, flüchtete<br />
vor dem eskalierenden Streit, der gedämpft noch im Gang<br />
zwischen den Wänden hallte.<br />
Im zweiten Stock stieg die Alte mit dem Hund ein.<br />
„Na Kleine, gehst du spielen?“<br />
Sie wusste, dass die Frau lächelte. Das tat sie immer, wenn<br />
sie sich trafen. Doch sie wollte jetzt kein Lächeln! Ihre Finger<br />
schlossen sich um die hölzernen Griffe des Springseils.<br />
Hölzerner Trost für ihr Herz, das in müdem Takt fort pochte.<br />
Mit einem Ruck waren sie im Erdgeschoss. Sie bemerkte<br />
es erst, als die Alte sich umsah nach ihr. Kurz bevor die<br />
Türen sich schlossen, verließ sie den Lift. Einer der Holzgriffe<br />
fiel klackend zu Boden. Mit schabendem Geräusch schleifte<br />
sie ihn hinter sich her. Über den leeren Platz in der Mitte der<br />
Plattenbausiedlung nach hinten, wo die Mülltonnen standen.<br />
Sie wirbelte eine Menge Staub auf, als sie neben dem<br />
Betonweg um die Ecke bog. Und plötzlich war das<br />
wunderbare Rot ihrer Schuhe einem dreckigen Rostbraun<br />
gewichen. Es war still um sie herum und je fester sie ihre<br />
kleinen Lippen zusammenpresste, desto unerträglicher<br />
wurde die Stille in ihr selbst. Und da sie weder singen<br />
wollte, noch reden, sondern schreien und da sie wusste,<br />
dass sie, einmal angefangen zu schreien, kein Ende finden<br />
würde, bis der Schrei die ganze Welt überrollt hatte,<br />
schwieg sie fort. Hüpfte sich im Takt des auf den Beton<br />
klatschenden Sprungseils einem neuen Tag, einem neuen<br />
Leben entgegen, in der Hoffnung, dass man sie vergaß,<br />
wenn sie nur lange genug sprang, dort unten hinter<br />
der Ecke, bei den Mülltonnen.
Juliane Reichert<br />
Und „Mittelpunkt des Kreises“ heißt dieser Punkt<br />
Der Punkt, von dem ich nun erzählen will, sein Name ist, wie bereits erwähnt,<br />
„Mittelpunkt des Kreises“, treibt sich den lieben langen Tag an aller Herren Orte<br />
herum, ihn zu suchen ist vergebens, man findet ihn nicht. Doch manchmal taucht er<br />
einfach auf. Ganz plötzlich, wie aus dem Nichts. Ja, man spürt ihn in einem regelrechten<br />
Aufflackern, kommt aber nicht dazu, seine Erscheinung in Worte zu fassen,<br />
ehe er sich aus dem Staub macht und seine verblassenden Konturen mit sich auf<br />
die Weiterreise nimmt.<br />
Obwohl wir ja alle wissen, dass Punkte gar keine Konturen haben, versuchen wir doch<br />
stets, ihn immer wieder in eine hineinzupressen. Aus der Chemie wissen wir aber<br />
auch, dass ein Gleichgewicht seine Lage auf äußeren Zwang hin so ändert, dass es<br />
dem Zwang ausweicht. Und ich gehe doch zutiefst davon aus, dass unser „Mittelpunkt<br />
des Kreises“ sich in einem solchen Gleichgewicht befindet. Soll das also etwa heißen,<br />
dass – wenn wir dem Punkt keine Kontur, keinen Umriss geben dürfen, wir ihn nun<br />
nicht einmal orten können? So in etwa, denn hierfür müssten wir den exakten<br />
Umfang des Kreises wissen, und wer tut das schon? Oder zumindest einmal den<br />
Durchmesser, was ja im Prinzip genauso unmöglich ist. Und doch vermochten diese<br />
Überlegungen uns noch nie davon abzuhalten, unseren ständigen Begleiter näher<br />
definieren zu wollen.<br />
Warum aber bereitet es uns ein solches Vergnügen, diesen „Mittelpunkt des Kreises“<br />
zu suchen? Wo wir doch schon abermals erkannt haben, dass er stets auf der Hut vor<br />
neuen Spekulationen seines Aufenthaltsortes ist? Wahrlich, für manche mag es<br />
wohl nicht einmal mehr ein Vergnügen bedeuten, und dennoch begeben sie sich<br />
auf diese waghalsige Wanderschaft.<br />
Vielleicht aus Neugier, ihn zum ersten Mal anzutreffen. Andere, die seinem Angesicht<br />
bereits zuvor begegnet sind, wurden vermutlich derart besessen von dem Wunsch,<br />
ihn wiederzutreffen, dass sie an nichts anderes mehr denken konnten. Und doch:<br />
Immer war es vergebens und wird es wohl auch bleiben. Denn was wissen wir schon<br />
von einem Punkt? Die Koordinaten? Nein, die hat er uns nicht angegeben. Genau<br />
sowenig wie die Konstruktionsmethode, wie er sich vielleicht schneiden ließe. Und<br />
am Radius des Kreises werden wir wohl noch ewig messen können, ohne uns dessen<br />
Wert anzunähern. Und die wahren Kenner des Punktes, die Wächter seines Versteckes<br />
und Hüter seiner Definition nun, die werden bis zu unserem Beitritt in ihre Runde<br />
wohl dichthalten.<br />
Also bleibt alles, was wir wissen, dass dieser Punkt „Mittelpunkt des Kreises“ ist.<br />
06<br />
10<br />
Larissa Bellina<br />
Frau von Lastwagen erfasst (Zeitungsartikel vom 20.04.2004)<br />
Eine 78 Jahre alte Frau ist gestern morgen gegen 9 Uhr in Feuerbach beim Überqueren<br />
der Kreuzung Wiener und Linzer Straße von einem Lastwagen erfasst worden. Sie stürzte<br />
auf die Fahrbahn, wurde dabei aber nur leicht verletzt. Der 37 Jahre alte Fahrer hatte<br />
die Fußgängerin offenbar übersehen.<br />
Interpretation 1<br />
Theorie und Praxis<br />
Sobald ein Mensch einen Raum ausfüllt,<br />
läuft er Gefahr, in eben diesem durch<br />
spontane Intervention eines Weiteren<br />
eine unbeabsichtigte Veränderung seines<br />
vorhandenen Zustandes zu erfahren.<br />
Es ist offensichtlich, dass dieser Zustände<br />
nicht mehr als drei existieren und alle<br />
übrigen als deren spielerische Variationen<br />
zu entlarven sind. Konkretisiert<br />
fuhren eben jene spontan induzierten<br />
Interventionen folglich zu emotionaler,<br />
spiritueller oder körperlicher Verformung.<br />
Hierbei ist es in aller Regel nur das Wesen<br />
mittleren Alters, das sich vor diesen<br />
Verformungen gänzlich oder im Ansatz<br />
zu schützen oder schließlich kurieren<br />
vermag. Es handelt sich aus eben diesem<br />
Grunde um einen Grenzfall der Wahrnehmung<br />
des gesunden Menschenverstandes,<br />
wenn einem Wesen fortgeschrittenen<br />
Alters keine schwerwiegenden<br />
Verformungen zuteil werden. Da beide<br />
Wesen unabhängig voneinander in gleichem<br />
Maße unabhängige Räume ausfüllen,<br />
ist oft das eine vom anderen<br />
in Unkenntnis und bleibt dies darüber<br />
hinaus selbst dann, wenn es bereits<br />
Verformungen am anderen Wesen vorgenommen<br />
hat.<br />
06<br />
11<br />
Interpretation 2<br />
Pilze<br />
Klar war ich mir sicher, dass die rosafarbenen<br />
Bälle, die von den Wolken fielen,<br />
nicht auf der Straße platzten und zu<br />
Fröschen wurden. Und doch war es, wie<br />
immer, so (vermeintlich) realistisch!<br />
Kaum zu fassen auch der Mann, der sich<br />
die Unterseite seines überdimensionalen<br />
Ohrläppchens auf dem Asphalt blutig<br />
rieb! Aber der Abschuss, das war nicht<br />
etwa das rote Stoppmännchen, wie es<br />
sich aus der runden Schwärze zu seinem<br />
grünen Partner schwingt, um mit ihm<br />
Tango zu tanzen. Nein, der absolute<br />
Knaller, das war doch echt die Alte! Wie<br />
die so plötzlich die Kreuzung quert und<br />
wie dann der Riesentruck kommt und<br />
ZACK is’se weg! Und das Geräusch! Das<br />
Reifenquietschen! – und wie se dann so<br />
locker aufsteht, sich den Staub abklopft<br />
vom Mantel… – Mann, das war krass!
06<br />
12<br />
Olga Gleyzer<br />
Stille<br />
HÖRT AUF zu sprechen, das macht keinen Sinn. Ich habe das Interesse an euch<br />
verloren, aber ihr, ihr versucht immer noch mich mit diesem stumpfen Gerede zurükkzuholen.<br />
WOZU, frag ich euch, wollt ihr mich aus diesem warmen Nebel des Vergessens<br />
herausreißen, um mich dann in der Kälte rauer Wirklichkeit alleine zu lassen!<br />
HÖRT BITTE AUF, aus mir etwas zu <strong>machen</strong>, was ich nicht mehr bin<br />
und nie mehr sein werde!<br />
VERSTEHT es doch!<br />
Ich bin ein verletzter Vogel, der sich nie mehr in die Lüfte emporschwingen wird.<br />
Ich bin es müde zu reden, deswegen habe ich schon vor langer Zeit aufgehört<br />
euch anzuklagen.<br />
Ich habe keine Kraft mehr zu weinen, denn ich hatte sie schon vor langer Zeit<br />
verbraucht, als ihr damit beschäftigt ward, es nicht zu bemerken.<br />
Meine Augen sind trocken und ich kann nichts mehr fühlen, ich bin<br />
ganz stumpf geworden und lebe nur noch in meiner Vergangenheit,<br />
ohne mich um die Zukunft zu scheren.<br />
Ich KANN gehen, aber ich mache keine Schritte vorwärts.<br />
Ich KÖNNTE schlafen, doch die Schreie meines Herzens halten mich nachts wach.<br />
Ich BIN gut, aber ich habe noch nie jemanden etwas Gutes getan.<br />
ICH BIN WEG.<br />
Im Grunde bin ich schon lange nicht mehr da.<br />
In mir wohnt seit langem nichts mehr Lebendiges.<br />
Die Gleichgültigkeit hat sich bei mir wie ein Geschwür ausgebreitet<br />
und ich sehne mich nach nichts anderem mehr, als STILLE.<br />
SCHRITTE<br />
Ich höre meine Schritte, die sich leise von mir davonstehlen<br />
in eine weite, fremde, unbekannte Richtung.<br />
Und nun? Jetzt ist nichts mehr zu hören. Gar nichts mehr!<br />
STILLE<br />
Larissa Bellina<br />
Takane<br />
Mein Name ist Takane. Das ist ein japanischer Mädchenname. Außer diesem<br />
Namen aber und einem Haufen vergilbter Erinnerungen ist nichts geblieben<br />
von Japan. Meine Großmutter hinterließ sie mir, gelbstichig, geborgen zwischen<br />
dem Ächzen des Schaukelstuhls im Wind, wenn ich die Verandatüre öffne,<br />
und der blauen Seide zweier platt gesessener Kissen. Ihren Platz, am Fenster<br />
habe ich nicht angerührt seit ihrem Tod vor nunmehr drei Jahren. Wie auch,<br />
scheint es doch ganz so, als kehre sie jede Sekunde mit jener schwerfälligen<br />
Langsamkeit alter Menschen an ihren Platz zurück, gerade rechtzeitig, bevor<br />
die Abdrücke verschwinden, die Seide sich glättet. So zerbrechlich ihr kleiner<br />
Körper, so durchscheinend ihre faltige Haut, so undurchschaubar sie.<br />
Wenn der Wind ihren Platz beseelt, überkommt mich manchmal ein Frösteln,<br />
denn nicht selten glaube ich ihre Stimme in mir zu spüren, die von den Hängen<br />
meines Herzens zurückgeworfen wird, wie ein Echo und weil es niemanden<br />
gibt, zu dem es zurück kehren kann, verweilt es in mir. Das geheimnisvolle<br />
Vibrieren einer Stimmgabel im Flüsterton ihrer Stimme. Dann blitzen sie auf,<br />
die Bilder ihrer Erinnerungen vor meinem inneren Auge, das Antlitz ihrer<br />
Wirklichkeit nichts weiter mehr als Bilder meiner Fantasie.<br />
Ein Kind, das durch schmale Gassen tobt mit Straßenkötern, lachend glänzende<br />
Pfützenwasserspiegel in spritzenden Splitterregen verwandelt, mit dem<br />
Nachbarsjungen um die Wette spuckt hinter der Strohhütte am Bach. Wie an<br />
der Hand ihrer Mama sie den Markt beschreitet, stolze Schönheiten im Lärm des<br />
Gedränges, der fette Verkäufer mit dem Goldzahn, der ihr eine Orange schenkt.<br />
Die großen dunklen Augen nach oben gerichtet zum Vater, atemlos vor<br />
Spannung: ein Geschenk, was denn, was? Das verräterische Winseln des neuen<br />
Spielkameraden in seiner Hand hinterm Rücken. Der Geruch, als die Mutter den<br />
Deckel hebt vom Reistopf und sie hereinruft, schon da, sie sind ja schon da.<br />
Nein, sie sind nicht da, nicht an meinem Tisch. Draußen ein paar wilde Vögel,<br />
Ostwind, die Fingerspitzen der Abendsonne im krausen Haar der bewaldeten<br />
Hänge. Drinnen die funkelnde Sehnsucht in den Augen einer Frau, Sehnsucht<br />
nach einer unbekannten Heimat hinter Lippen, die sich nach der Vergangenheit<br />
staunend verschlossen, um deren Reinheit zu bewahren.<br />
„Die Wahrheit bedarf keiner Worte mehr“, sagte sie einmal,<br />
„weshalb die wahren Gefühle die stillsten sind.“<br />
06<br />
13
Larissa Bellina<br />
Zwischen uns das Leben<br />
Die langen Beine unter die Tischplatte<br />
aus Plastik gequetscht, thronten wir über<br />
dem Hinterhof – zwei Eiserne Jungfrauen<br />
– und nippten an billigem Roten. Ihr<br />
noch feuchtes Haar durchsetzte die Luft<br />
mit Eukalyptusaroma. Erschöpft klebten<br />
müde gewaschene Strähnen an ihrer hellen<br />
Kopfhaut, ruhten sich schwarze Haarspitzen<br />
auf dem baumwollenen Stück<br />
Stoff aus, das ihre knochigen Schultern<br />
verdeckte. Verstohlen beobachtete ich,<br />
wie ihre stecknadelkopfgroßen Pupillen<br />
sich Fluchtwege bahnten, über den rissigen<br />
Rost des Balkongeländers hin zu den<br />
vereinzelten Wolkentupfern am Himmel.<br />
Zwei Etagen tiefer wurden gemästete<br />
Mülltonnen über Kopfsteinpflaster zum<br />
Müllwagen gerüttelt. Kotzten dort, eine<br />
nach der anderen, ihre Innereien heraus<br />
und ließen sich mit ekelhaft leeren Mägen<br />
zurückschleifen, begleitet vom von<br />
den Hofwänden emporgeschleudertem,<br />
dumpfen Poltern. Plötzlich das Telefon!<br />
Schrilles Aufbegehren. Bis auf ein nervöses<br />
Zucken des linken Mundwinkels<br />
ignorierte sie es regungslos. Mit dem<br />
vierten Klingeln stand ich auf, sah im Vorbeigehen<br />
wie ihre Hand sich erhob, innehielt<br />
und mit erschlafften Fingern zurückkehrte<br />
an den Bauch ihres lippenstiftgeküssten<br />
Glases. In der Mitte des sechsten<br />
Klingeins hob ich den Hörer und<br />
drückte sanft die Telefongabel nieder.<br />
Als ich ihr die mit Leitungswasser gefüllte<br />
Mehrwegflasche reichte, stellte ich zu<br />
meiner Erleichterung fest, dass die metallenen<br />
Kiefer des Müllwagens bereits in<br />
einiger Entfernung malmten. Als<br />
Schulkind war ich den grellorange belatz-<br />
06<br />
14<br />
hosten Männern gerne ein Stück weit<br />
gefolgt. Eines Tages lief ein Junge aus<br />
meiner Klasse mir dabei hinterher. Ich<br />
hatte ihn nicht bemerkt, bis er mit mir auf<br />
gleicher Höhe war. Höhnisch grinste er<br />
mich an und sagte gerade laut genug,<br />
dass es gegen den Lärm ankam: „Das<br />
nächste Mal stecken wir dich da rein!“<br />
Grässlich lachend rannte er fort, ließ mich<br />
stehen, während die Welt vor meinen<br />
ängstlichen Augen verschwomm und ich<br />
mich um Hilfe schreiend an den<br />
Innenwänden einer stinkenden Tonne<br />
kratzen sah, übertönt vom Getöse der<br />
Maschinerie.<br />
Fassungslos stierte ich auf die rotbraune<br />
Flüssigkeit, die in kleinen Rinnsalen zu<br />
beiden Seiten des Müllautos hinunterlief<br />
und rannte los. Die zu Boden getropfte<br />
Blutspur des Wagens entlang, in dieselbe<br />
Richtung, aus der ich gekommen war.<br />
Der Schatten eines Vogels huschte über<br />
das von Hausdächern umrahmte Stück<br />
Himmel, aktivierte irgendwo über unseren<br />
Köpfen wildes Durcheinanderkreischen<br />
winziger Vogelkelchen. Ihre<br />
schmalen Lippen, so oft nur jener harte<br />
blutleere Strich über einem spitzen Kinn,<br />
entspannten sich ein wenig und erlaubten<br />
ihren Mundwinkeln den scheuen<br />
Blick nach oben. Manchmal hatte ich<br />
mich abends vor dem Schlafengehen im<br />
Badezimmerspiegel betrachtet und nach<br />
den Spuren meines Vaters hinter dem<br />
Abbild meiner Mutter gesucht. Im<br />
Nachthemd, auf den Zehenspitzen stehend,<br />
hatte ich ihre Mimiken kopiert,<br />
mich auf der Zahnbürste kauend gefragt,<br />
ob auch er aus arktisblauen Augen zu mir<br />
herabgeblickt hätte, bevor ich zusammen<br />
mit Zahnpastaschaum und Essensresten<br />
jedes Wort seiner Existenz aus<br />
meinem Mund den Abfluss hinabspülte.<br />
Sie verschwand nach drinnen, während<br />
mein Blick den Himmelsquader nach<br />
Wolken abtastete. Zu der Zeit, als ich mit<br />
ihr in dieser Wohnung gelebt hatte, stand<br />
auf dem<br />
Balkon ein Hocker. Kein Tisch, keine<br />
Stühle. Ein Hocker. Auf dem ich saß und<br />
Wolken zählte und sie über unser<br />
Zuhause wachsam sein ließ: mächtige<br />
Drachen, die ihren Feueratem über die<br />
Stadt spien, sich unaufhörlich wandelnde<br />
Hexenmeister, deren fremdländische<br />
Zaubersprüche mich in einer magischen<br />
Glashülle bargen.<br />
Die Wolken waren verschwunden. Ich<br />
fischte nach den Gläsern und trug sie<br />
zur Spüle. Als mein Finger behutsam<br />
ihre Lippenstiftreste ins Wasser schob,<br />
spuckte der Wasserhahn noch immer<br />
einen Strahl kochend heißer Worte aus,<br />
deren Dampf aus dem Becken emporstieg.<br />
Die rötlich schimmernden Glasbauchschiffe<br />
wankten zwischen den<br />
Seifenschlieren dahin, bis meine Hände<br />
sie vorsichtig in die Tiefe drückten. Mir<br />
war, als hörte ich die Toilettenspülung<br />
und drehte dem Wasserhahn den Atem<br />
ab. Draußen schrieen die Vogelkinder<br />
gierig nach ihrer Mutter, während gelbgerauchte<br />
Filterkörper, vom Schoße des<br />
Aschenbechers gestoßen, ihre Aschewolke<br />
durchfielen und verstimmt ins<br />
Plastik des Müllbeutels flatschten. Ich<br />
behielt den Aschenbecher gleich in der<br />
Hand und drehte nachdenklich die<br />
Aschefetzen meiner Mentholzigarette<br />
hinein. Früher hatte mir meine Mutter ab<br />
und zu Schokoladenzigaretten aus dem<br />
kleinen Laden an der Ecke mitgebracht.<br />
Wahrscheinlich, damit ich nicht auf die<br />
dumme Idee kam, mir heimlich welche<br />
aus ihrer Schachtel zu nehmen. Auf<br />
dem Hocker sitzend, hatte ich sie damit<br />
nachgeahmt, unsichtbare Schokoladen-<br />
rauchwolken durch wie zu einem<br />
Kussmund gespitzte Lippen in die Welt<br />
hinausgeschickt. Später dann hatte ich<br />
es doch gewagt und ihrer Schachtel<br />
ein ums andere Mal die Einwohner entzogen.<br />
Ich trieb die grauen Nebelschwaden über<br />
den Geländerrost. Hörte gedämpft das<br />
Toilettenwasser rauschen und wunderte<br />
mich, wo sie blieb. Unersättlich fraß sich<br />
die Glut mittlerweile in die winzigen<br />
Schriftzeichen am Kopfende des Filters,<br />
bis ich den ausgedienten Stummel in die<br />
offenen Arme des Aschenbechers presste.<br />
Es schien merkwürdig ruhig. Das<br />
Kreischen der Vogelkinder begleitete<br />
mich nach drinnen und entnervt stellte<br />
ich ihren Stimmen das unüberwindbare<br />
Glas der Balkontüre in den Weg. Hinter<br />
dem blau gestrichenen Holz der Badezimmertüre<br />
füllte der Wassertank polternd<br />
nach. Ich klopfte leise. Einmal.<br />
Zweimal. Drückte die Klinke und erwartete<br />
Widerstand. Im nächsten Moment<br />
schon stand ich hinter ihr, umgeben vom<br />
Wellenmuster der Wandfliesen. Sie saß<br />
mit dem Rücken zu mir vor der Toilette,<br />
das Kinn auf die Knie gestützt. Um sie<br />
herum zahllose Schnipsel, nein, Zeitungsartikel.<br />
Ich tat einen wackeligen Schritt<br />
neben sie.<br />
„Ma-“, glaubte ich zu sagen. Doch ich<br />
hörte es nicht. Nur das Knacken meiner<br />
Gelenke, als ich neben sie kniete. Ohne<br />
hinzusehen, langte sie nach einem der<br />
Zeitungsartikel, ließ ihn unter teilnahmslosem<br />
Blick durch die Klobrille ins Wasser<br />
flattern und zog die Spülstrippe. Die<br />
Ahnung eines traurigen Lächelns lag auf<br />
ihren Zügen, als wir gemeinsam zusahen,<br />
wie eine Nachricht um die andere im<br />
Strudel verschwand…<br />
06<br />
15
Wort und Spiele II – ein Bademeister sagt Danke<br />
Klasse 12 c des Max-Eyth-Gymnasiums<br />
Dein Bademeister möchte sich bei Dir bedanken:<br />
Du kamst zu ihm über den Berliner Platz<br />
Und wusstest nicht, was Dich erwartet.<br />
Du kamst, weil Du Dich verpflichtet hattest<br />
(Schließlich hattest Du Unterricht.)<br />
Du hast das auf Dich genommen:<br />
Hast Dir die Schuhe ausgezogen<br />
Bist ins kalte Wasser gestiegen.<br />
Hast Dich dem kalten Becken,<br />
Randvoll, sprudelnd, kalt, gestellt.<br />
Wer da zuerst hineinstieg, der bekam kühle Füße<br />
Watete da durch, von den andern umringt und<br />
Musste einfallsreich sein.<br />
Dabei wusstest Du noch nicht mal,<br />
Ob Du das überhaupt sein wolltest:<br />
Eine einfallsreiche Klasse.<br />
Du bist vor die Tür gegangen<br />
Bist den Pfiffen des Bademeisters gefolgt:<br />
Einmal um den Block gehen<br />
Um alles wahrzunehmen,<br />
Was das Bosch-Areal hergibt,<br />
An nüchternen Tagen unter chromgrauem Himmel.<br />
06<br />
16<br />
Er durfte Dich ins Wasser schmeißen<br />
Dich nass <strong>machen</strong> mit Deiner eigenen Phantasie<br />
Durfte Dir auf den glatten Spiegeln des Kneippwatebeckens<br />
Deine eigene Frechheit zeigen,<br />
Das, wozu Du fähig bist:<br />
Texte zu schreiben, die Dich betreffen<br />
Texte, die zu Dir selber stehen<br />
Auf die Du aufbauen kannst.<br />
Mit einem nassforschen „Wasser, marsch!“<br />
Hat der Bademeister Dich<br />
In Gruppen eingeteilt<br />
Da solltest Du mit Dir zusammen<br />
Gegen Dich selbst durchs Wasser gehen<br />
Dich mit Dir gegenseitig erfrischen<br />
Mit dem, was Dich erfrischte<br />
Was Du zu fischen anfingst<br />
Im sich aufklärenden Bassin.<br />
Dann kam der Tag, an dem der Bademeister<br />
Deine ersten Versuche<br />
Oberfies ans Licht zerrte:<br />
Texte kamen vor Gericht<br />
Bis sie von Dir freigesprochen wurden.<br />
Da hat es im Kneippbad geschäumt und geblubbert<br />
Und eigentlich jede und jeder von Dir<br />
Hat einen Spritzer abbekommen.<br />
Der Bademeister denkt:„Das war gut so.“<br />
Und er bedankt sich bei Dir, 12c<br />
Für Deinen lebendigen Klassengeist<br />
Und wünscht Dir für alles, was folgen mag<br />
Noch viel Freude<br />
An solchen Worten<br />
Die Dir wie klares Wasser fließen.<br />
Timo Brunke, Werkstattleiter<br />
06<br />
17
Timo Weltner<br />
Der inhaltslose Text<br />
Was soll ich schreiben<br />
Wenn ich nichts habe?<br />
Wie soll ich kreativ sein<br />
Wenn es nicht geht?<br />
Warum soll ich denken<br />
Wenn ich nicht will?<br />
Das ist ein Schüler.<br />
Hast du geschrieben<br />
Auch wenn du nichts hattest?<br />
Warst du kreativ<br />
Obwohl du nicht konntest?<br />
Und hast du gedacht<br />
Trotzgleich du nicht wolltest?<br />
Das ist ein guter Schüler<br />
Wir alle haben geschrieben<br />
Und hatten doch nichts!<br />
Wir waren kreativ<br />
Doch eigentlich ging nichts!<br />
Und wir haben gedacht<br />
Auch wenn es nicht ging!<br />
Das ist Unterricht.<br />
06<br />
18<br />
Axel Lenz<br />
Das wahre „Ich“<br />
Zeigt sich im Licht der flimmernden Flamme<br />
das Unbekannte, Große, Bange<br />
nicht denkbar, nicht fassbar, wenn es ergreift,<br />
was Führung, was Leben heißt.<br />
Doch es ist da, nicht nur ich weiß,<br />
wie es sich anfühlt: der kalte Schweiß,<br />
das Blut gerinnt; wage nicht zu denken,<br />
was wäre, wenn, wie soll ich’s lenken,<br />
das wahre, das einzige, das wirkliche Ich!<br />
Angst steigt auf, doch ich erinnere mich,<br />
was ich tat vor langer Zeit:<br />
ich vermachte der Einigkeit<br />
mein Leben, gab es in ihre Hand,<br />
mit diesem Pakt hab ich anerkannt,<br />
dass ich liebe und hoffe: wir werden leben,<br />
Liebe und Hoffnung weitergeben.<br />
Stefan Zinser<br />
Forengespräche<br />
Wenn Bedürfnisse einer Gemeinschaft entstehen<br />
Kommunikation über praktischere Wege zu gehen<br />
Wissen noch nicht erschlossen ist oder reifgegoren<br />
Finden sich Plätze wie Internetbenutzerforen.<br />
So pflegt auch der gemeine Softwareingenieur<br />
Egal ob Kind, ob Rentner, Profi oder Amateur<br />
Seinen Beitrag auf Massenspeicher zu hetzen<br />
In hierarchisch angelegten Datennetzen.<br />
Überzeugt durch Rhetorik und Quantität<br />
Mutiert mancher Entwickler aus seiner Anonymität<br />
Zur Sammelstelle unfehlbarer Informationen<br />
Ein Pseudonym, bewundert von Millionen.<br />
Beflügelt durch stetiges Respektgezolle<br />
Verabscheut er andernorts seine Nebenrolle<br />
Will in verwandten Bereichen genauso dominieren<br />
Und die Beachtung aller auf sich konzentrieren<br />
Informiert sich über EXTx, FAT, ReiserFS,<br />
PM, Disk, IO, Interconnection und Memory Access<br />
Findet keine Zeit, seine Quellen zu verifizieren<br />
Macht Fehler beim Datenblätter Interpretieren<br />
Auch wenn das ein oder andere nicht stimmen mag –<br />
Hauptsache, man hat mal wieder was gesagt!<br />
Denn niemand wird seinem unfehlbaren Wesen<br />
Auch nur ansatzweise wagen, die Leviten zu lesen.<br />
Legitimiert das die Verbreitung seiner Illusionen?<br />
Behauptet sogar, VB arbeite mit Pseudoinstruktionen<br />
Besitzt nicht einmal das passende Betriebssystem<br />
Verwendet Formulierungen – keiner kann sie verstehn.<br />
Wie war das? Daten werden interpretiert? –<br />
Mit leichtem Grinsen wird der Debugger konsultiert<br />
RunTrace öffnen, Anwendung laden, Adressraum setzen:<br />
Ich werd ihn von einer Ausrede zur nächsten hetzen<br />
Damit seine ganze Welt zusammenbricht<br />
Heiß steig’ ihm die Schamesröte ins Gesicht<br />
So sag ich ihm ganz ungeniert:<br />
Mein Lieber, der Großteil wird ausgeführt!<br />
Man glaubt es kaum: er versucht, es zu widerlegen<br />
Behauptet felsenfest dagegen<br />
Dass das, was ich ihm als Beleg vorgeb<br />
Während der Laufzeit des Programms entsteht.<br />
Als ich ihn nach Beweisen frag<br />
Antwortet er erst nach einem Tag<br />
Die Diskussion würde sich im Kreis bewegen<br />
Und er wolle nicht sinnlose Gespräche pflegen.<br />
Bei Hinweisen auf sein eigenes Versagen<br />
Kann er keine Kritik vertragen<br />
Spielt sich auf. Keine vernünftige Konversation<br />
Gibt Inhalte wieder in arrogantem Ton.<br />
Zwecklos ihn von Besserem zu überzeugen<br />
Er will sich nicht der Wahrheit beugen<br />
Lässt sie zur Lüge, in den Schein entgleisen:<br />
„Non Sequitur in sämtlichen Beweisen.“<br />
06<br />
19
06<br />
20<br />
Lars-Henning Kühlborn<br />
Am Abgrund<br />
Schon lange habe ich es versucht, vor<br />
mir her zu schieben oder es einfach zu<br />
vergessen.<br />
Ich habe es mir nicht mal in den Kalender<br />
eingetragen, in der Hoffnung, nicht daran<br />
erinnert zu werden.<br />
Aber wie es kommen musste, wurde ich<br />
von einer angeblich nur das Beste für<br />
mich wollenden Person, meiner Mutter,<br />
darauf hingewiesen, dass ich ihn wieder<br />
einmal wahrzunehmen hätte: ihn, den<br />
Termin, heute um 17.30 Uhr.<br />
Da stand ich nun und kochte erneut die<br />
ganzen Emotionen in mir hoch. Mutter<br />
legte mir ans Herz, nur ja rechtzeitig aus<br />
der Schule zu kommen und ja nicht zu trödeln.<br />
Meine Mum ist da immer sehr eigen:<br />
„Damit du dich noch richten kannst!“<br />
Welche Ironie des Schicksals, mich dafür<br />
auch noch schön herauszuputzen!<br />
Das Blöde war nur, ich konnte es auch<br />
während des ganzen Schultags nicht<br />
wirklich verdrängen. Es schwebte immerzu<br />
als ein sadistischer, eigenständiger<br />
Gedanke in meinem Hinterkopf, der mich<br />
immer dann im Genick packte, wenn ich<br />
daran ging, ihn zu vergessen.<br />
Die letzte Schulstunde ging für meinen<br />
Geschmack einiges zu schnell herum.<br />
Nicht, dass ich nicht wie jeder Schüler den<br />
Wunsch hätte, jede Schulstunde wie im<br />
Flug vorbeigehen zu sehen. Aber heute<br />
wäre es mir ausnahmsweise recht gewesen,<br />
wenn sie gar nicht geendet hätte.<br />
Widerwillig trat ich den Heimweg an.<br />
Ich träumte von einer Schule, in der man<br />
den ganzen Tag nach Unterrichtende einfach<br />
nur herumsitzen konnte; am besten<br />
noch die ganze Nacht bis zum nächsten<br />
Morgen. Da riss mich mein Kumpel aus<br />
meinen Gedanken:<br />
„Was machst du denn heute noch…?“<br />
Wie auf Abruf piesackte mich der Gedanke<br />
wie mit einer Grillgabel im Inneren.<br />
Muss ich auf diese Fragen antworten?<br />
„Ich habe heute noch einen Termin.“<br />
Zuhause angekommen, versuchte ich<br />
meine Technik, wie man nass geschwitzte<br />
Hände vor dem entscheidenden<br />
Begrüßungshandschlag möglichst<br />
effektiv wieder trocken bekommt, zu<br />
perfektionieren. Sollte ich mir ein<br />
Taschentuch in die Hosentasche legen,<br />
um den Schweiß abzuwischen oder<br />
lieber die alte Wedeltechnik anwenden?<br />
Meine Mutter probte wie immer vor dem<br />
Termin den Aufstand! Als ob es nicht schon<br />
schlimm genug war: „Junge, hast du dich<br />
geduscht, kämm dich ordentlich, und<br />
putz dir die Zähne!“ Ich bekam solchen<br />
Schiss, dass ich sie mir aus Versehen<br />
gleich zwei Mal hintereinander putzte.<br />
Das Telefon klingelte. Meine Mutter hob<br />
den Hörer ab. Am anderen Ende der<br />
Leitung redete meine Tante. Die beiden<br />
tuschelten irgendetwas mit einander,<br />
und dann übergab mir meine Mutter<br />
den Hörer. Meine Tante teilte mir ihr<br />
herzliches Bedauern mit. Jetzt begannen<br />
sie wieder: die allseitigen familiären<br />
Mitleidsbekundungen...<br />
Nun wurde es ernst: Mein Vater kam<br />
extra früher von der Arbeit, um auch ja<br />
pünktlich um 17.30 Uhr vor Ort zu sein.<br />
Ein letztes Zurechtzupfenlassen der<br />
Klamotten – und dann begann die Fahrt.<br />
Eine unendlich dauernde, einem<br />
Todesmarsch gleichende Fahrt, deren<br />
einziger Sinn darin bestand, entweder<br />
zu schweigen oder über alles, wirklich<br />
alles Unwichtige zu reden. Egal, dachte<br />
ich mir, Hauptsache abgelenkt!<br />
Vor Ort gab es keinen Parkplatz. Gnadenfrist!<br />
Erleichtert atmete ich auf. Doch es<br />
nützte nichts: Schon 100 Meter weiter<br />
fand Vater leider Gottes eine Parklücke.<br />
Der Fußweg wurde fast unerträglich<br />
für mich. Mit jedem Schritt, den ich näher<br />
an das Gebäude herantrat, verdoppelte<br />
sich der Adrenalingehalt meines Blutes,<br />
die Hände von unzähligen Schweißporen<br />
durchsiebt, die Knie wachsweich.<br />
Ich trat die Treppenstufen empor.<br />
Im 2. Stock angekommen erblickte ich<br />
ein in schlichtem Gold gehaltenes, riesiges<br />
Türschild: die Hölle hieß mich willkommen!<br />
Die Tür schwenkt auf, der Puls rast. Die<br />
Empfangsdame hinter ihrer Rezeption<br />
begrüßt uns – etwas zu nett für meinen<br />
Geschmack. Auch das hölleneigene<br />
Empfangszimmer ist trügerisch freundlich<br />
eingerichtet. Wer hier zu sitzen kommt,<br />
fragt sich nur eine einzige Frage: Wer muss<br />
als erstes raus, wie lange dauert es noch<br />
und: wird es wirklich solche zermarternden<br />
Schmerzen zu erleiden geben, wie man<br />
immer behauptet?<br />
Weiterhin versuche ich verzweifelt, meine<br />
Hände trocken zu halten.<br />
Ein Zertifikat an der Wand weist mich<br />
darauf hin, dass Vertrauen alles sei.<br />
„Ein billiger Trick des Teufels mich<br />
reinzulegen. Ha, so leicht bekommt ihr<br />
mich nicht!“ denke ich mir im Stillen.<br />
Die Gehilfsteufelin kommt und ruft den<br />
nächsten Patienten auf…<br />
Puh! – mein Name ist es nicht!<br />
Die Gehilfsteufelin sieht sehr menschlich<br />
aus. Verkleidung und Tarnung sind einfach<br />
überragend. Obwohl ich es schon gerne<br />
hinter mich gebracht hätte, bin ich<br />
erleichtert, noch ein wenig zermürbende<br />
Vorbereitungszeit zu bekommen.<br />
Wie die Teufelsgehilfin das nächste Mal,<br />
eintritt, ertönt mein Name! Und da ist<br />
06<br />
21<br />
er wieder: der widerspenstige Gedanke<br />
zieht alle Register, um mich nervlich<br />
unschädlich zu <strong>machen</strong>!<br />
Die Assistenzteufelin geleitet mich in den<br />
Vorbereitungsraum zur Hölleneinweisung.<br />
Von nun an heißt es:<br />
Mund auf und durch! Mit ihren irreal<br />
geformten Werkzeugen will sie mich dem<br />
ersten Bewerbungsschmerz aussetzen. Sie<br />
fordert mich mit einer bebenden Stimme<br />
auf, meinen Mund zu öffnen, während sie<br />
ihre peinigenden Instrumente auf einer<br />
Ablage arrangiert. Aber wie sie mit ihren<br />
Späheraugen eine Stelle in meinem Mund<br />
exakt anpeilt – reißt sie plötzlich den ihren<br />
erstaunt auf:<br />
Ist das, was sie da in meinem Mund erblickt,<br />
selbst zu schrecklich für die Hölle?<br />
Sie funkelt mich an und meint:<br />
„Sie haben wirklich Glück:<br />
Ihre Weisheitszähne kommen nach.“<br />
„Ja“, antworte ich.<br />
„Ja, das finde ich auch wirklich<br />
wunderbar.“
06<br />
22<br />
Oliver Helppi<br />
Der Grabstein des Akademikers<br />
Weil der Mensch das Wissen liebt, trachtet er danach, es über den Tod hinaus zu behalten.<br />
Am besten kann er sich in die eigenen Gedanken vertiefen, wenn er tot ist, wenn er den<br />
eigenen Geist nicht mehr preisgeben muss.<br />
Der Grabstein besitzt seinen eigenen Sinn. Er, der sich manchmal fragt, ob er nicht zu<br />
einem anderen gehören könnte, übt sich in Gelassenheit, wenn die Leute vorüber ziehen:<br />
„Sie sehen alle gleich aus: Maurer, Beamte und Architekten, sie alle sind nicht interessiert<br />
an mir oder haben wichtige Probleme, die sie beschäftigen.“<br />
Der Grabstein ist eine vollkommene Schönheit. Als solche bezeichnet er sich selbst.<br />
Er weiß es zu schätzen, wenn sich die Leute die Initialen auf seiner Brust durchlesen:<br />
„Warum hat er so einen schönen Steinkranz“ fragen sich die anderen Grabsteine.<br />
„Er ist doch genauso groß wie ich. Er hat mehr Verzierungen, gut, aber er ist auf<br />
jeden Fall so groß wie ich“, sagt einer der anderen Grabsteine.<br />
„Auf jeden Fall zieht er die Blicke der anderen auf sich“ sagt der Grabstein eines<br />
Familiengrabes.<br />
Der Grabstein fügt sich in die Landschaft ein wie die Vögel, die um ihn herum tanzen.<br />
Aber irgendwie ist es nicht nur die Gestalt an sich, die ihn als das darstellt, was er ist.<br />
Es ist der Akademiker, der ihm, dem Grabstein, seine Fülle und geistige Reichweite gibt.<br />
Er ist es, der ihm den Ruf eines Giganten in der weitläufigen Masse der Gräber verleiht.<br />
Aber ist er von seinem ewigen Herumschwelgen in den 167 Jahren einsamer Stille nicht<br />
träge geworden von der Welt, die ihn umgibt?<br />
Er hat sich so an die Welt gewöhnt, dass ihn nichts mehr erschreckt. Selbst die Kotflecken<br />
der Tauben auf seinem Haupt stören ihn nicht mehr, und der Hund, der sich an seinem<br />
Grab zu schaffen macht, ist auch kein Ärgernis mehr.<br />
Manchmal möchte er aus seiner Unmündigkeit ausbrechen und ein neues Leben beginnen.<br />
Er möchte in Beton verrührt als Museumsgebäude dienen oder in Kiesform im<br />
Winter auf der Strasse liegen. Auf der anderen Seite hat er sich so wohl zu fühlen, da<br />
er ja von dem Friedhofsgärtner mit zuvorkommend und großer Sorgfalt gepflegt wird.<br />
Dieser putzt ihm manchmal sogar die Stellen unter dem steinernen Blumenkranz<br />
an seiner Stirnseite. Das würden die Familienangehörigen niemals tun, wenn sie noch<br />
leben würden. So steht er nun mal da. Und er wird auch noch lange dort bleiben und<br />
weiter vor sich hin altern.<br />
Wenn ihm nicht das Unfassbare widerfährt und er vom Friedhofsamt der Stadt<br />
frei gegeben wird.<br />
Sebastian Gollmer<br />
Das Gefühl<br />
Den Kopf voller Gedanken,<br />
Sie reißen mich hin und her,<br />
Ruhe brauch’ ich, eine Phase aus Konzentration.<br />
Ruhe im Kopf, eine stille Phase, gedankenfrei<br />
Doch, dann ein letztes Mal:<br />
„Zweifel, verschwindet!<br />
Ich schaffe es!“<br />
Es ist soweit:<br />
Den Kopf frei,<br />
Den Körper unter Spannung.<br />
Ich pushe das Board vor mir her,<br />
Kurze Zeit rollt es vor meinen Füßen. –<br />
In letzter Sekunde springe ich auf<br />
Wie die unbekannte Person, die den Bus fast verpasst.<br />
Ein Rausch aus Geschwindigkeit verwirrt meine Sinne<br />
Die Spannung steigt. Mich zerreißt es gleich,<br />
Versuche, meinen Kopf klar zu halten.<br />
Schaffe ich es oder kommt der Absturz?<br />
Es geht schräg hinauf, nun ist es soweit:<br />
Ich Springe!<br />
Raphaela Fellin<br />
Merlin<br />
06<br />
23<br />
Ich schwebe, fliege durch die Luft,<br />
Das Board, ein Stück Holz,<br />
Unter mir!<br />
Ich sehe es, ich greife es.<br />
Ich spüre es!<br />
Es ist ein Teil von mir,<br />
Es gehört zu mir<br />
Es ist eine Verlängerung meines Armes. –<br />
Der Absturz<br />
Ein angenehmer, gewollter<br />
Kontrollierter Absturz:<br />
Langsam verliere ich das Gefühl aus meiner Hand,<br />
Ich spüre es nicht mehr,<br />
Ich fühle es nicht mehr,<br />
Es ist fort.<br />
Meine Beine, sie werden zusammengestaucht:<br />
Die Landung.<br />
Befreiungsstoß.<br />
Die Spannung verfliegt,<br />
Absolutes Wohlbefinden.<br />
Ich fühl´ mich gut, ich fühl´ mich stark,<br />
Ich bin ich!<br />
Wie leicht und unbeschwerlich er sich hinfort bewegt<br />
Sanft und anmutig jede Bewegung<br />
Diese Sicherheit<br />
Jeden Winkel seiner Umgebung zu kennen<br />
Diese mühelos reizstarke Wahrnehmungskraft<br />
Schweigsame Weisheit<br />
Die er perfekt zu beherrschen scheint<br />
Diese Fähigkeit<br />
Das Maß an Intelligenz völlig auszuschöpfen<br />
Ideal – diese Kontrolle über Unscheinbarkeit und absolute Präsenz<br />
Das alles blieb dem Kater<br />
Und was ist mit dir?
Neulich abends sitz ich mit einigen Freunden auf einer Hollywoodschaukel vor<br />
unserer meistgemochten Kneipe. Wir unterhalten uns über dies und jenes, den<br />
verlebten Tag und dazwischen auch über Musik, die uns wichtig ist.<br />
Musik ist ein sehr weitgefächerter Begriff, sehr komplex und mitunter auch ausschlaggebend,<br />
was Freundschaften angeht.<br />
Eine gute Platte kann einen mitreißen, wie ein gutes Buch oder ein spannender Film.<br />
Und man kann sich damit identifizieren, wie mit dem Protagonisten in diesem guten<br />
Buch oder diesem guten Film.<br />
Im Hiphop ist das Ganze noch einmal intensiver, da sich diese Subkultur auch aus dem<br />
Wunsch heraus endlich mal etwas zum Identifizieren zu haben entwickelt hat.<br />
Damals, in den sechziger Jahren, als die Stadtväter New Yorks auf die Idee kamen<br />
eine Autobahn durch das bis dahin noch sozial intakte Viertel mit dem heute so<br />
weltbekannten Namen „Bronx“ zu ziehen.<br />
Nachdem diese gebaut war, zog, wer konnte, weg. Der Rest, besonders die Jungen<br />
dort hatten nicht wirklich Lust sich mit dieser Autobahn zu identifizieren.<br />
So entwickelten sie Eigensinn, trugen Ihre Trainingsanzüge mit dem Stolz und der<br />
Genugtuung, den man sonst von den Gesichtern derer kennt, die mit Ihrer Kleidung<br />
auch ihren hohen Status zum Ausdruck bringen und waren sich damals bestimmt<br />
nicht bewusst, dass diese Mode heute wieder für viele unbezahlbar geworden ist.<br />
Allerdings nicht für den Typen, der links von uns, auch auf einer der Hollywoodschaukeln<br />
vor unserer meistgemochten Kneipe sitzt, und das Gespräch sucht, nachdem<br />
er mitbekommt, dass wir was mit Rap zu tun haben.<br />
Er ist von oben bis unten Hiphop, zumindest von den Kleiderlabels.<br />
06<br />
24<br />
Bevor ich noch Gelegenheit habe, mich zu gruseln, beginnt er<br />
eine Debatte über Hiphop, seine Ansichten, die Entstehung,<br />
den Style und all so Schwachsinn.<br />
Dummerweise weiß er nicht wirklich, was er da erzählt und<br />
gerät recht schnell ins Schleudern, das ist aber nicht ungewöhnlich,<br />
den in Deutschland wird in Sachen Rap zwar viel<br />
von den Wurzeln geredet, aber die wenigsten haben sich je die<br />
Zeit genommen, sich schlau oder gar Gedanken zu <strong>machen</strong>.<br />
Denn als diese Hiphop-Geschichte zu uns rüber schwappte,<br />
so etwa vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, da ist man<br />
noch aufgefallen mit den Hosen unterm Allerwertesten, mit<br />
Sneakern, die damals noch Sportschuhe hießen.<br />
Die Jugendlichen, die mit Hiphop zu tun hatten, lebten nach<br />
dem Grundsatz, dass man aus dem, was man hat, das Beste<br />
macht, es rekombiniert und sich darüber reflektiert und<br />
repräsentiert. Man wollte Auffallen und das hatte damals noch<br />
nicht so viel mit Kaufkraft zu tun wie heute, sondern mit<br />
Kreativität und selbst erschaffenen Traditionen.<br />
Wenn man versucht, die damaligen Impulse bis zum heutigen<br />
Konsum- und Merchandisepaket zu verfolgen, so bemerkt man,<br />
dass die Situation, wie sie heute ist der Idee der Jugendlichen<br />
aus der Bronx von damals massiv wiederspricht. Denn heute<br />
sind die Trainingsanzüge teuer genug, um als echtes Statussymbol<br />
durch zu gehen und damals trug man sie mit diesem<br />
Stolz, der sagen sollte „Alter ich bin so cool und brauche nicht<br />
mal Geld dazu.“ So ändern sich die Zeiten und die alten Ideale<br />
<strong>machen</strong> Platz für ihr verklärtes Bild in Hochglanzmagazinen.<br />
Aber das alles nun diesem Kerl eine Hollywoodschaukel<br />
weiter zu erläutern, ist ebenso schwierig und ermüdend wie<br />
weiter guten Mutes gegen dieses Windmühlenheer von<br />
verkaufskräftigen Vermarktungshüllen mit dem Etikett „Rap“<br />
an zu kämpfen.<br />
Abgesehen davon kann er recht wenig für seine Sicht der<br />
Dinge, da es ihm so Tag für Tag medial vorgelebt wird.<br />
06<br />
25<br />
In der <strong>Literatur</strong> ist es ja ähnlich. Bohlens intime Obszönitäten<br />
verkauften sich auch häufiger als die Gedichtbände von Erich<br />
Fried beispielsweise.<br />
Und dann eine Rap-Werkstatt zu leiten, in der man sich selbst<br />
gar nicht so sicher ist, ob einem das Ganze nicht zu nahe geht,<br />
ob man die Teilnehmer nicht etwas zu sehr zu beeinflussen<br />
versucht, ob Rap nicht doch zum größten Teil Dummgeschwätz<br />
ist, das ist mitunter gar nicht so einfach und führt einen oft<br />
an seine ideologischen Grenzen.<br />
Gerade, wenn man davon zu leben versucht, seinen Weg<br />
sucht wie Don Quichotte zwischen den Windmühlen, aber<br />
doch weiß, das dieser Weg kein Vorbild sein kann für den<br />
Großteil der Teilnehmer der Rapschmiede.<br />
Aber gerade um die geht es, und sie gewähren einem<br />
tiefen Einblick in das eigene Chaos, sind zwischen den<br />
Zeilen immer ehrlich und führen mich mit ihren Fragen oft<br />
genug aufs Glatteis.<br />
Zu Rap und Hiphop gehört auch darüber zu streiten, argumentieren<br />
zu lernen und die Ernsthaftigkeit zu begreifen, die<br />
mitschwingt, auch wenn man sie nicht immer auf den ersten<br />
Blick erkennen kann. Sich mit sich selbst und der Umwelt,<br />
dem was man hat, auseinander zu setzen, um es neu zu<br />
kombinieren. Eigentlich eine urnatürliche Sache.<br />
Tobias Borke, Werkstattleiter
Moritz Zimmermann<br />
06<br />
26<br />
schon vor langer Zeit hast du mich verzaubert<br />
und ich war wohl blöd dass ich geglaubt habt<br />
ich könnte dich nie für mich begeistern<br />
aber dann auf deiner Party, Herzchen, du weißt ja<br />
ich hab einfach mir und der ganzen Welt vertraut<br />
dir mein Herz geschenkt, dir dein Herz geklaut<br />
und jetzt bin ich vierundzwanzig Stunden lang glücklich<br />
denn mich hat’s voll erwischt, pass auf denn ich drück dich<br />
und ich küss dich, verdammt man ich vermiss dich<br />
sobald du weg bist, denn da wird dass Leben wieder müßig<br />
denn ich steck bis zum Hals tief in der Scheiße<br />
doch denk ich an dich kann ich mich davon befreien<br />
und auch wenn ich manchmal denk dass du Angst hast<br />
vor mir oder irgendetwas ganz anderm<br />
weiß ich doch genau du kannst mit mir was Anfang<br />
so wie die Amis mit ihren neuen Panzern<br />
du bist wie ne Droge, du machst mich glücklich<br />
ich bin dein Junkie, und verdammt süchtig<br />
in jeder Minute die ich dich nicht habe<br />
fühl ich mich gequält wie Caesars Sklave<br />
doch mit dir zusammen ist die Welt so schön<br />
wie die rote Sonne beim untergehn<br />
und ich bin froh dass ich da war an deinem Geburtstag<br />
denn ich hab den Schatz gefunden den ich ewig gesucht hab!<br />
du bist meine große Liebe auf den zweiten Blick<br />
und manchmal hab ich Angst dass ich dich erdrück<br />
denn ich hab so viel Liebe zu geben wie fast keiner<br />
weil mein Leben ist glücklich und dass will ich teilen<br />
nur mit dir, denn mit dir fühl ich mich verbunden<br />
ungefähr so wie mit meinen drei Hunden<br />
dass hört sich verdammt blöd an ich weiß<br />
Aber bist du bei mir, bekommst du den Beweis<br />
dass es echt fast kein größeres Kompliment gibt<br />
so als ob ich’s übern ganzen Kontinent schrieb<br />
denn das mir der Hund viel lieber ist sei eine Sünde?<br />
der Hund bleibt mir im Sturme treu der Mensch nicht mal im Winde<br />
doch du bist ganz besonders, einfach einmalig<br />
und dich nicht zu fühlen tut mir weh wie’n Arschtritt<br />
doch wie alles im Leben geht der Schmerz vorbei<br />
wenn ich dich wiederseh, denn ich hab dein Herz dabei<br />
du bist wie ne Droge, du machst mich glücklich<br />
ich bin dein Junkie, und verdammt süchtig<br />
in jeder Minute die ich dich nicht habe<br />
fühl ich mich gequält wie Caesars Sklave<br />
doch mit dir zusammen ist die Welt so schön<br />
wie die rote Sonne beim untergehn<br />
und ich bin froh dass ich da war an deinem Geburtstag<br />
denn ich hab den Schatz gefunden den ich ewig gesucht hab!<br />
ich weiß manchmal nicht wie ich es sagen soll<br />
doch mein Schatz ich finde dich nicht toll<br />
vielleicht spürst oder weißt du es schon<br />
was ich für dich empfinde geht in eine andere Dimension<br />
und es kann sein dass es sonst keinem auffällt<br />
aber fühl ich dich bin ich in ner Traumwelt<br />
und wenn’s mich dann da wieder rauskickt<br />
bin ich kurz gefrustet, doch ich hab ja den Ausblick<br />
dich sehr bald wieder in meine Arme zu schließen<br />
dich zu sehen, tasten, fühlen und riechen<br />
und weil du mich zum glücklichsten Mensch machst<br />
geb ich’s dir zurück und nehm ein Blatt<br />
ich hoffe nur dieser Text kann dir geben was du mir gibst<br />
und ich hoffe du nimmst ihn auf wie einen Brief<br />
stell dir vor er wär von meinem Herz geschrieben<br />
und es will dir sagen dass ich dich liebe!<br />
du bist wie ne Droge, du machst mich glücklich<br />
ich bin dein Junkie, und verdammt süchtig<br />
in jeder Minute die ich dich nicht habe<br />
fühl ich mich gequält wie Caesars Sklave<br />
doch mit dir zusammen ist die Welt so schön<br />
wie die rote Sonne beim untergehn<br />
und ich bin froh dass ich da war an deinem Geburtstag<br />
denn ich hab den Schatz gefunden den ich ewig gesucht hab!<br />
06<br />
27
Moritz Zimmermann<br />
Der kleine Flip Mo<br />
06<br />
28<br />
der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />
is nich immer weida, aber meistens thigta<br />
denn ich hab unglaubliche Reime unerforschbare Gedankengänge<br />
deshalb behaupte ich, dass ich den Leuten helfe beim Schranken sprengen<br />
außerdem setz ich nich auf körperliche sondern geistige Stärke<br />
denn diese hilft mir beim vollenden meiner verweisenden Werke<br />
der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />
is nich immer weida, aber meistens thigta<br />
alles hat den Anschein ich müsste krank sein, kann sein<br />
doch meine Punchline kommt wie’n Salto vom Randstein<br />
und dass nicht irgendwie; vom Sprungbein aufs Standbein<br />
mit ner Distanz von Pforzheim rauf nach Mannheim<br />
aber ich sag nicht dass ich der Beste bin oder der Beste bleib<br />
trotzdem weiß ich es is soweit dass ich ganz gute Texte schreib<br />
dass werde ich solang sagen bis es auch der Allerletzte weiß<br />
du willst mich Poppen? Denkste ich sag ja? Das fändste nice<br />
aber oh oh; leider nicht mit mir denn wenn ich hier philosophier<br />
brennt die Bühne dass Mic jetzt brennt der Stift und dass Papier<br />
denn der kleine Flip Mo is immer für ne Überraschung zu haben<br />
entweder ich schieß dich übern Haufen oder spielen Turmbau zu Babel<br />
die Entscheidung liegt ganz in deiner Hand, kannst’s dir aussuchen<br />
mir ist es vollkommen egal, nur eins solltest du lassen mich ausbuhen<br />
denn sonst dreh ich durch wie Godzilla, Hulk oder Kaptain Kirk<br />
nehm meine Photonenkanone und mach aus dir nen netten Zwerg!<br />
der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />
is nich immer weida, aber meistens thigta<br />
denn ich hab unglaubliche Reime unerforschbare Gedankengänge<br />
deshalb behaupte ich, dass ich den Leuten helfe beim Schranken sprengen<br />
außerdem setz ich nich auf körperliche sondern geistige Stärke<br />
denn diese hilft mir beim vollenden meiner verweisenden Werke<br />
der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />
is nich immer weida, aber meistens thigta<br />
was euch grad so burnt is ne andre Form vom Reimen<br />
mit krassem zeug vom meister Flip Mo aber vom Kleinen<br />
ich saß tagelang zuhause nur um an diesem Text zu feilen<br />
jetzt is er fertig und ich kann nicht mehr warten, muss ihn verbreiten<br />
im Norden Süden Osten und Westen um ihn der Welt zu zeigen<br />
ja ich kann nicht mehr schweigen muss mich selbst mitteilen<br />
hab schon viel zu lang gewartet um noch länger zu verweilen<br />
denn sonst fühl ich mich nicht wohl, fange an zu verzweifeln<br />
falle in Selbstmitleid ich weiß was passiert wen mich jemand hört<br />
er ist sofort und auf der stelle ziemlich krass geburnt<br />
und dann fragt er sich wer schmeißt da mit so krassem Zeug rum?<br />
merk dir einfach den kleinen Flip Mo, der is von Bedeutung!<br />
denn dieser kleine nicht zu verachtende Mc steht im Zentrum<br />
aber nich vom großen Einkaufsladen, nein vom Universum<br />
wahrscheinlich denkst du jetzt der Typ is total verkehrtrum,<br />
aber der Scheiß is so thight den spielen sie sogar im Verkehrsfunk<br />
der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />
is nich immer weida, aber meistens thigta<br />
denn ich hab unglaubliche Reime unerforschbare Gedankengänge<br />
deshalb behaupte ich, dass ich den Leuten helfe beim Schranken sprengen<br />
außerdem setz ich nich auf körperliche sondern geistige Stärke<br />
denn diese hilft mir beim vollenden meiner verweisenden Werke<br />
der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />
is nich immer weida, aber meistens thigta<br />
ich bin der kleine Mann der schon so ziemlich überall war<br />
manche übertreiben nennen mich den Übermann; klar<br />
ich war schon hier und da in unserm schönen Weltall<br />
aber fragt euch mal warum war ich immer wieder so schnell da<br />
weil ich es liebe hier zu leben auf der Erde meinem Planeten<br />
so viel steht fest ich könnte noch tausend andere betreten<br />
doch die Erde hat mich zu viel gelehrt um sie zu verlassen<br />
außerdem hasse ich es, dass wo anders die Erinnerungen verblassen<br />
auch wenn’s hier und da ganz toll war und ich wieder hingehn würde<br />
bin ich der Meinung es ist schön hier und ich stell mir eine Hürde<br />
mit großen roten gelben und grünen Blinklichtern in mein Gehirn,<br />
dass ich verdammt noch mal nicht vergesse wo ich eigentlich hin gehör<br />
in meine Stadt, in mein Haus zu meiner lieben Familie<br />
in mein Garten, meinen Pool zu meinen Freunden und Haustieren<br />
da hin wo man sich misstraut verhaut und steht im Stau<br />
wo man sich bekriegt nich fair spielt sondern fault!<br />
der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />
is nich immer weida, aber meistens thigta<br />
denn ich hab unglaubliche Reime unerforschbare Gedankengänge<br />
deshalb behaupte ich, dass ich den Leuten helfe beim Schranken sprengen<br />
außerdem setz ich nich auf körperliche sondern geistige Stärke<br />
denn diese hilft mir beim vollenden meiner verweisenden Werke<br />
der kleine Flip Mo mit Connections bis nach Jamaika<br />
is nich immer weida, aber meistens thigta<br />
06<br />
29
Lars Lehmann<br />
Besserwisser<br />
06<br />
30<br />
Was hast du gesagt, dass kann ich nicht fuer gut heissen,<br />
denn bei allem was du sagst muss ich einfach klugscheissen.<br />
Ich weiss alles, zum Beispiel das du es dir durch Stress verscheisst,<br />
da die Antwort eh klar ist, da ich es ja besser weiss.<br />
So ziehe ich mein Wissen aus vorhandenen Dokumenten<br />
Desshalb habe ich nur verstanden so zu denken.<br />
Hast du eine Frage und brauchst sie ein bisschen beschrieben?<br />
Dann komme zu deinem Lehrmeister auf allen Wissensgebieten.<br />
Ich zeige dir mein Koennen auch wenn ich es ohne Grund berichte,<br />
von Deutsch, Latein, Mathe oder Kunstgeschichte.<br />
Im Gegensatz zu Hesse kann ich richtig killer dichten.<br />
Ich habe eine bessere Grammatik als vorhanden in Schillers Schriften.<br />
Ich mal in 10 Minuten ein Werk wie Mona Lisa.<br />
Nicht nur das, ich gebe auch noch ihre Tonart wieder.<br />
Auch die Staatsoper baue ich dir mit Lego nach<br />
Was behauptest du, das ich ein zu grossen Ego hab?<br />
Ich hoff das es dir Leid tut, aber winsel nicht<br />
Mich hast du nur durch Glueck getroffen, wie Picassos Pinselstrich!<br />
Was soll das heissen, du weisst es besser, Pisser<br />
Kann ja gar nicht sein, ich bin hier der Besserwisser<br />
Ref.:<br />
Hier kommen die Neinsager, die Kritiker, die zu Stolzen<br />
Die Wissenden, die Allmaechtigen, die wahren IQ-Bolzen<br />
Die Jungs die niemanden mit ihrer Geilheit verschon’<br />
Schaut ruhig her, wir sind die Weissheit in Person<br />
Weg mit dem Blitzlicht, ich beantworte danach Fragen,<br />
denn ich würde auf jede Frage eine Antwort parat haben.<br />
Denn ich bin der Angeber, Klugscheisser, Besserwisser,<br />
der als einziger geborener Messias Rapperdisser.<br />
Neue Rolex, klasse, damit hast du gerade noch geprahlt,<br />
dann pass auf, dass mein Daddy deinen Vater noch bezahlt.<br />
Als Architekt bist für dein Diplom ziemlich dankbar,<br />
doch ich brauch nur ne Schaufel, bau die Pyramiden in Sand nach.<br />
Ich jag Freddy nen Schrecken ein und zeig dir wer hier super rapt,<br />
und zwar so fresh das ich dich zerteil wie die Donau Budapest.<br />
Jetz wirst noch frech fragen was die Inkas damals bauten,<br />
Mann, das bastel ich dir aus nem Papier nach und verziers mit Schlaufen.<br />
Und was Battlen angeht schreibt mein Mundwerk Geschichte,<br />
weil ich dich wie sonst wie Van Gogs Kunstwerk vernichte.<br />
Ich weiss nicht nur alles, ich bin auch noch scheisse bankrott,<br />
schrei deshalb bei Günter Jauchs letzten Frage dreist die Antwort.<br />
Bei meinem Part verzieht sich Zeit und Raum wie Dali,<br />
denn bei mir deine Meister so wie bei Mister Miagi.<br />
Was Taktgefühl angeht ist auch Mozart nur ein Scheissefresser.<br />
Er erzählt mir was von Rhythmus, ich sag psst, ich weiss es besser.<br />
Ref.:<br />
Hier kommen die Neinsager, die Kritiker, die zu Stolzen<br />
Die Wissenden, die Allmaechtigen, die wahren IQ- Bolzen<br />
Die Jungs die niemanden mit ihrer Geilheit verschon’<br />
Schaut ruhig her, wir sind die Weissheit in Person<br />
06<br />
31<br />
Timo Heiler<br />
Besserwisser
Timo Heiler<br />
Niemandsland<br />
06<br />
32<br />
Die Augen gehen auf, doch ich hab gar nichts erkannt<br />
Hör nur Kinderschreie und hab noch panische Angst,<br />
denk an Ying und Yang und welches ist dann meine Spalte?<br />
Ich fall in dieses Dunkel, dennoch muss ich weiter schalten.<br />
die zweite Seite zieht und reißt mich da rein,<br />
Migräneattacken, bin im Geiste allein.<br />
Allein daheim, wo ich mich als Krüppel wiederfand.<br />
Komme kaum vorwärts und taufe dies hier Niemandsland.<br />
Ich kämpfe, doch ich kann nicht gewinnen,<br />
frag die Leute was ist, keiner kann sich entsinnen.<br />
Ich hab Angst voll zu spinnen, durch zu drehen in der Gedankenwelt.<br />
Alle <strong>machen</strong> nur den selben Scheiß der bald zusammen fällt.<br />
Langsam check ich, das ich das hier bastel,<br />
dein Hass, Neid und Gier sind in dieser Welt verschachtelt.<br />
Hier findet man die Gierigen, die sich keinem offenbaren,<br />
empfangen dich mit offnen Armen, bis sie deine Hoffnung haben.<br />
Die schmierigen Bürokraten saugen dich wie Vampire aus.<br />
Das Gleichnis von den Welten zeigt den Menschen- und Maschinentausch.<br />
Doch keiner redet draußen mehr drüber über diese Zwischenszenen,<br />
doch jeder schaut mal rein und muss davon einen Bissen nehmen.<br />
Ref.:<br />
Dies ist das Land, das es niemals geben sollte<br />
Das an dir vorbeizieht, fast wie eine Regenwolke<br />
Wenn man über die Grenze von diesem Land mal marschiert<br />
Bleibt dein Blick für immer wie ein Brandmal markiert<br />
Ich habe es versucht an diese Schattenwelt nicht dranzudenken<br />
In der ich gefangen bin, nur mit Schweiß-und Angstzustaenden<br />
Da ich selbst nicht eins bin, ich mich in dieser Welt nicht einfind<br />
Und ich versorgt werden muss, fast wie ein Kleinkind<br />
Da ich jeden Morgen aufstehe, um in ein Abenteuer aufzubrechen<br />
Mir durch meine Stummheit nich erlaubt ist Klagen auszusprechen<br />
Doch jetzt ist nicht nur meine Seele fast erfroren<br />
Nein, ich habe auch noch meine Lebenskraft verloren<br />
Fuer Heilung muesste ich die Anlagen schon von Klein auf haben<br />
So bin ich chancenlos, schaffe es nur noch zum Einkaufsladen<br />
Und da ich mir meine Zukunft in diesem Leben eh verscherzt hab<br />
Finde ich meine Liebe nicht wie andere beim Herzblatt<br />
Das dies mein Paradies ist, bleibt wohl eine wahre Luege<br />
Ich freue mich nur auf Schwester Isabel mit ihrer klaren Bruehe<br />
Und so wie taeglich Stunden mit mir am Fenster verstreichen<br />
Und mich Passanten oft schon mit Gespenstern vergleichen<br />
Hier gesund Leben geht nicht, da werde ich vielmals Krank<br />
Warte ich nur auf die Todeszeit mit großem Leid im Niemalsland<br />
Ref.:<br />
Dies ist das Land, das es niemals geben sollte<br />
Das an dir vorbeizieht, fast wie eine Regenwolke<br />
Wenn man über die Grenze von diesem Land mal marschiert<br />
Bleibt dein Blick für immer wie ein Brandmal markiert<br />
06<br />
33<br />
Lars Lehmann<br />
Niemandsland
06<br />
34<br />
Moritz Zimmermann<br />
DEADLINE!<br />
Obscure Styles<br />
3 Typen am Mic (Demo)<br />
Ich kam von der Schule heim und du warst weg,<br />
hab dich überall gesucht, doch ich fand dich net<br />
da kam von meiner Mutter die Nachricht,<br />
dass du ab jetzt nicht mehr da bist<br />
Auf dem Röntgenbild konnte man es sehn<br />
du konntest kaum noch stehn und gehen<br />
wir wollten doch nur zum Arzt fahrn,<br />
um zu sehn ob da was da war<br />
doch ganz plötzlich war klar,<br />
dass das diene letzte Fahrt war<br />
FUCK VERDAMMT das kam hart<br />
du lagst am Grab und du warst starr<br />
ich hab's erst gar nicht gepeilt,<br />
erst jetzt wo ich über dich schreib<br />
wird klar, dass du weg bleibst,<br />
wenn ich nächstes mal pfeif<br />
Chorus drei Typen am Mic gegen den Rest der Welt<br />
[Wortgewandt] drei Typen die kämpfen bis der letzte fällt<br />
(aka Daniel bäcker) die drei Typen bleiben dran und werden nicht weichen<br />
sind erst KO nach dem verbrennen unserer Leichen<br />
Vers 1 Wir sind wie Chip und Chap die Retter des Rap<br />
[Wortgewandt] du willst tight rappen doch wir sind am Mic geh weg<br />
der Platz reicht nicht um weiter Spassten aufzunehmen<br />
<strong>machen</strong> Hip Hop mit dem Risiko draufzugehen<br />
es ist kein Hobby sondern eine Lebenseinstellung<br />
aber es dreht sich nur noch um Publicity und Geld und<br />
wie sehe ich mein Bild und meinen Namen am schnellsten in der Zeitung<br />
es ging lange so, doch jetzt ist eure Zeit um<br />
Obscure Styles zerlegt eure Schubladen<br />
guten Abend ihr könnt jetzt in Schutt baden<br />
noch aggressiver als Säuren und verletzlicher als Frauen<br />
du willst tight rappen doch ich nehm dich so ernst wie n Clown<br />
es gibt einige Experten die der Meinung sind<br />
das Obscure Styles schlecht ist für ihr Kind<br />
wo sie Recht haben kann ich nicht widersprechen<br />
denn wir wollen uns an euch durch unsere Lieder rächen<br />
Chorus drei Typen am Mic gegen den Rest der Welt<br />
[Wortgewandt] drei Typen die kämpfen bis der letzte fällt<br />
die drei Typen bleiben dran und werden nicht weichen<br />
sind erst Ko nach dem verbrennen unserer Leichen<br />
dein ganzes Leben hast du mit mir geteilt,<br />
ein ganzes Leben und nur so wenig Zeit<br />
dein ganzes Leben, es ging so schnell vorbei,<br />
ein ganzes Leben und ich war dabei<br />
jeden Tag warst du um mich herum,<br />
warst leise und trotzdem nie stumm<br />
es ging so schnell und deine Zeit war um<br />
und das was bleibt is die Erinnerung<br />
jetzt bist du weg, wird dich nie wieder sehn,<br />
außer auf Bildern die hier rumstehn<br />
munter und gesund, ein junger Spund,<br />
du hattest ein strahlen in den Augen und,<br />
ein kräftiges Bellen in deinem Mund<br />
doch dann kam der Knochenschwund,<br />
es begann mit einem linken Bein,<br />
und dass sollte dein Ende sein<br />
06<br />
35<br />
erst nach einiger Zeit hab ich dass verdaut<br />
jeden Tag Bilder von dir angeschaut,<br />
und trotzdem will ich’s nicht begreifen,<br />
dass du tot bist – so ne Scheiße<br />
ich weiß auch, dass ist ein Kreislauf,<br />
doch ich scheiß drauf, wie auf Weihrauch<br />
denn du bist weg, und dass wird so bleiben,<br />
und alles was mir bleibt ist das Schreiben<br />
doch ich will mich nicht nur beklagen,<br />
denn eigentlich muss ich sagen<br />
hatten wir ne Hammerzeit zu Zweit,<br />
fast sogar ne Ewigkeit geteilt<br />
und dich werde ich niemals vergessen,<br />
du hast nen Platz in meinem Herzen<br />
hoffentlich geht’s dir gut wo du bist!<br />
Vers 2 lange geschwiegen um Gedanken zu suchen<br />
[Wortgewandt] doch zurückgekommen um euch zu verfluchen<br />
Hip Hop ist gestorben wir sind die Wiedergeburt<br />
Ihr seid an allem Schuld, denn ihr habt ihn verhurt<br />
Vergiss es, wir drei sind ewig am Mic<br />
Unsere Texte sind immer eure nur gelegentlich tight<br />
Viele lachten als wir sagten wir <strong>machen</strong> Rap<br />
Einige Crews lösten sich auf und ich frage jetzt<br />
Warum haben die einst realen und tighten aufgegeben<br />
Spätestens beim nächsten Treffen hören sie auch auf zu leben<br />
Wollen uns sagen was wir noch schlecht <strong>machen</strong><br />
Wollte nur sagen dass wir euch echt hassen<br />
Vers 3 Du findest Rapper sind gut? Findest du den Sinn gut?<br />
[Weng] Scheiß auf den Sinn! – Hauptsache es klingt gut<br />
(aka Max Suffel) Nach uns die Sintflut, auf Jams auf denen wir waren gerinnt Blut<br />
Nennst dich Dog, deine Raps sind heiße Luft Windhund<br />
Ich bin kein Spinner, Kind! Mann finde den Sinn!<br />
Verwirre Backspin & Juice, weiß, dass die mich jetzt wack finden, doch ich tu<br />
Was kein Schwein bringt und mir fünf Mics einbringt<br />
da jeder Typ gleich klingt, weil er Pimp sein will<br />
Entzünd dein Spliff weil du verrückt sein willst doch ich knüpf dein Strick<br />
Ich verkünd mein Shit und dein Label kündigt dir<br />
Labels deklarieren mich als besten Fang im Sprechgesang<br />
Denn es ist das erste Mal dass ein Rapper echt was kann<br />
Wir sind härter als dein Image, stärker als Fäden von Spinnen<br />
Bringen dein Mädel von Sinnen und deinen Schädel zum springen<br />
Vergiss die Vergebung der Sünden, das gibts selten wie Regen im Süden<br />
Überleg nicht mehr Kind, du suchst vergeblich Sinn!
06<br />
36<br />
Fast alles taugt zum Thema<br />
Die Karriere eines fast jeden Journalisten<br />
beginnt mit einem herben Rückschlag.<br />
Mit der Erkenntnis nämlich, dass sich<br />
das Vorhaben, der Menschheit nun<br />
endlich die Wahrheit zu bringen, so gut<br />
wie nicht umsetzen lässt. Selbst wenn es<br />
DIE Wahrheit gäbe, hätte der angehende<br />
Journalist seine liebe Not damit, sie in<br />
einen griffigen Artikel zu packen.<br />
Alles fängt also eine Nummer kleiner an.<br />
Mit der Aneignung des grundlegenden<br />
Handwerkszeugs etwa. Wie funktioniert<br />
Recherche? Mit welchen Techniken und<br />
Tricks erziele ich beim Interview die<br />
besten Ergebnisse? Was zeichnet eine<br />
gute Reportage aus? Welchen formalen<br />
Ansprüchen muss ein journalistischer<br />
Text genügen?<br />
Nebenbei macht man sich schon mal<br />
Gedanken über die Themen, die man<br />
zum Gegenstand der Berichterstattung<br />
<strong>machen</strong> könnte. Spätestens hier folgt die<br />
zweite, vielleicht viel überraschendere<br />
Erkenntnis: Fast alles taugt zum Thema.<br />
Man muss es nur unter der entsprechenden<br />
Fragestellung betrachten und in<br />
der entsprechenden Weise verpacken.<br />
Die eigene Welt, der eigene Alltag<br />
steckt voller Geschichten und Themen:<br />
Freunde, die etwas Besonderes <strong>machen</strong>,<br />
außergewöhnliche Reisen, die typischen<br />
Verhaltensweisen und Vorlieben der<br />
Altersgenossen... Wer einmal entdeckt<br />
hat, wie unerschöpflich der Fundus<br />
schon im eigenen Umkreis ist, kommt<br />
aus dem Schreiben nicht mehr heraus.<br />
Die ganz großen Fragen muss man<br />
dabei ja nicht unbedingt aus den Augen<br />
verlieren.<br />
06<br />
37<br />
Journalistisches Schreiben bewegt sich<br />
immer im Spannungsfeld zwischen<br />
Möglichkeit und Begrenzung. Der Rahmen,<br />
in dem der Autor (oder Reporter)<br />
arbeitet, besteht aus der wie auch immer<br />
gearteten Realität, über die er berichtet,<br />
sowie dem Medium, für das er schreibt.<br />
So weit, so begrenzt. Innerhalb dieses<br />
Raumes herrscht jedoch meist noch<br />
genügend Freiheit, um ein eigenes<br />
Profil, einen individuellen Stil entwickeln<br />
zu können.<br />
Die Reportage-Werkstatt versucht, die<br />
Teilnehmer auf der Suche nach ihrem<br />
Profil zu unterstützen. Dazu gehört<br />
natürlich eine Portion Theorie, die eigentliche<br />
Arbeit findet jedoch an den entstandenen<br />
Texten statt. Nur in der Praxis<br />
kann man schließlich erkennen, wo die<br />
eigenen Interessen und Stärken liegen.<br />
Besonders erfreulich ist, dass der Workshop<br />
im zurückliegenden Semester nicht<br />
mehr nur ein Ort für Trockenübungen<br />
war, sondern den Charakter einer wirklichen<br />
Redaktion angenommen hat. Zu<br />
verdanken ist das der Zusammenarbeit<br />
mit der Baden-Württemberg-Ausgabe<br />
der Russischsprachigen Monatszeitung<br />
Izvestia. Von Mai an gestalteten die<br />
Schüler der Reportage-Werkstatt jeweils<br />
eine oder zwei Seiten der Zeitung mit<br />
ihren Artikeln und ihren Themen, auf<br />
Deutsch und teilweise auch auf Russisch.<br />
Eine einmalige und gute Chance für<br />
junge Journalisten, sich zu bewähren.<br />
Es gibt eben nicht nur herbe Rückschläge,<br />
sondern manchmal auch große<br />
Sprünge nach vorn.<br />
Tilman Rau, Werkstattleiter
Sebastian Stelzer<br />
Fremd im eigenen Land<br />
Ein junger Stuttgarter absolviert seinen Zivildienst in Sarajevo –<br />
und begibt sich damit auf die Suche nach der eigenen Identität.<br />
Ein Jahr ist vergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Ein<br />
Jahr, das Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hat. Der Bart ist<br />
länger und der Gesichtsausdruck ernster geworden. An einem<br />
Fensterplatz im Café, zwischen Familien mit quengelnden<br />
Kindern und Latte Macchiato trinkenden Szenemenschen,<br />
sprechen wir über dieses zurückliegende Jahr.<br />
Nenad Subat hat sich nach dem Abitur dafür entschieden, seinen<br />
Zivildienst in Sarajevo, der Heimat seiner Eltern zu leisten.<br />
„Ein Stück Heimat kennen lernen“, wollte er, „den Bosnier im<br />
Deutschen entdecken.“<br />
Durch Zufall ist Nenad im Internet auf die Organisation „Schüler<br />
helfen Leben“ gestoßen. Seit 1992 fördert diese Organisation<br />
gemeinnützige Projekte auf dem Balkan, hilft beim Aufbau von<br />
Strukturen und unterstützt zahlreiche kleinere Jugendprojekte<br />
in Sarajevo. Sie verteilt Spendengelder an junge Menschen,<br />
die etwas Positives auf die Beine stellen wollen: Musikfestivals,<br />
Basketballturniere oder Filmvorführungen.<br />
Ob diese Arbeit vor Ort erfolgreich ist, will ich wissen.<br />
„Teilweise“, sagt Nenad nach langem Zögern. Vorankommen<br />
könne man in Bosnien, das immer noch unter den Folgen des<br />
Balkankrieges zu leiden hat, nur schwer. Grund dafür seien<br />
die unterschiedlichen nationalistischen Interessen, die überbordende<br />
Bürokratie und die weit verbreitete Korruption.<br />
„TÜV kostet ’nen Zehner“, so Nenad. „Ein zugedrücktes Auge<br />
bei einer polizeilichen Alkoholkontrolle einen doppelten<br />
Kaffee, also ungefähr 50 Cent.“<br />
Diese Missstände ziehen sich durch alle Schichten der Gesellschaft.<br />
„Nationale Interessen sind oft nur der Deckmantel, um<br />
sich persönlich zu bereichern“, sagt Nenad. Und merkt an,<br />
wie reich die Gegend im Stuttgarter Westen, in der er aufgewachsen<br />
ist, nun wirkt. Sie ist ihm vertraut, aber nach einem<br />
Jahr Abwesenheit auch sehr fremd. Wie sauber die Straßen<br />
hier doch sind, wie neu die Autos. In Sarajevo seien die Spuren<br />
des Krieges noch deutlich sichtbar. Nenad beschreibt ein<br />
leerstehendes, baufälliges Haus ohne Dach, aber mit Einschusslöchern.<br />
Und direkt daneben die neu eröffnete Filiale der<br />
Deutschen Bank.<br />
06<br />
38<br />
„Die Amerikanische Botschaft ist ein riesiges<br />
blütenweißes Gebäude auf einem<br />
großen, parkähnlichen Gelände. Drum<br />
herum eine drei Meter hohe Mauer und<br />
Stacheldraht. Sie wird 24 Stunden von<br />
bewaffneten Soldaten bewacht“, erzählt<br />
Nenad.<br />
In dem Plattenbau, in dem er wohnt,<br />
wiederum ein ganz anderes Bild. Hier<br />
funktioniert der Aufzug nur, wenn man<br />
sich gegen die Tür lehnt, die Heizung<br />
wird zentral für den ganzen Häuserblock<br />
gesteuert. In Sarajevo heizt man im Kollektiv.<br />
Allgegenwärtig sind die verschiedenen<br />
Militärs. Soldaten aus aller Welt<br />
sind in Bosnien stationiert und kontrollieren<br />
den brüchigen Frieden.<br />
„Die UNO-Leute nennt man im Volksmund<br />
die Schlümpfe, wegen ihrer blauen<br />
Helme und wahrscheinlich auch deshalb,<br />
weil man sie nicht richtig ernst nimmt“,<br />
sagt Nenad mit einem Lächeln. Deutsche<br />
werden „Schwabs“ genannt, da die meisten<br />
Flüchtlinge während des Krieges in<br />
Baden-Württemberg lebten. So auch<br />
Nenads Eltern.<br />
Ob er den Bosnier im Deutschen gefunden<br />
hat, frage ich. „Ja, aber ich weiß jetzt<br />
auch, dass ich dort nicht leben will ... und<br />
wie gut es mir hier ging“, antwortet er.<br />
„Was für ein Privileg es ist, in Deutschland<br />
aufzuwachsen.“<br />
Am nächsten Tag fährt Nenad zurück<br />
nach Sarajevo, für die letzten drei Monate<br />
seiner Dienstzeit. Zum Abschied schenkt<br />
er mir einen Aufkleber. „Dosta.ba“ steht<br />
da. Das kann man in etwa mit „Genug<br />
jetzt“ übersetzen.<br />
Das ist Nenad aus Stuttgart.<br />
Er leistet derzeit in Bosnien<br />
seinen Zivildienst.<br />
Schicke Markenklamotten und der neueste Klatsch<br />
Die Serie Gute Zeiten, schlechte Zeiten feiert Jubiläum<br />
Seit nun schon 3000 Folgen hassen und lieben sie sich. Sie<br />
streiten hemmungslos, um sich dann wieder miteinander zu<br />
vertragen, die Helden der beliebtesten Jugendserie im<br />
Deutschen Fernsehen: Gute Zeiten, schlechte Zeiten, die bei<br />
ihren Fans nur GZSZ heißt. Die Vielfältigkeit der Handlungen<br />
erstreckt sich von Intrigen, Freundschaft, Betrug und Tod über<br />
schulische, finanzielle und soziale Probleme.<br />
Selbstverständlich kommt bei solch einem Angebot auch die<br />
Liebe nicht zu kurz. Im Wochentakt werden die Partner gewechselt,<br />
die daraus entstehende Verwirrung füllt die Serie danach<br />
nämlich mindestens die ganze nächste Woche. Die besonders<br />
festen Beziehungen gehen erst nach heftigen Streitereien in die<br />
Brüche, andere werden mit einem Liebesgeständnis oder, wie in<br />
der Jubiläumsfolge, mit dem Ehegelübde besiegelt.<br />
Die Charaktereigenschaften der Darsteller sind leicht zu<br />
beschreiben, bei GZSZ sind nämlich alle entweder gut oder<br />
böse. Die Guten sind die Verkörperung reiner Perfektion;<br />
extrem attraktiv, nett, beliebt und dauergrinsend (warum muss<br />
ich hierbei nur an Garfield denken?), die Bösen dagegen kaltblütig,<br />
profitgierig, selbstsüchtig und zu jedem Verbrechen<br />
bereit. Viele der Bösen kommen meist nur einige Folgen lang<br />
vor, in denen sie ihre gesamte Freizeit darin investieren, die<br />
Guten vom rechten Weg abzubringen.<br />
Aber ansonsten haben sich in dieser Serie von der mordlustigen<br />
Schwester bis zur Liebeskummer geplagten besten Freundin<br />
alle ganz doll lieb! Die pubertierenden Teenager der Serie<br />
schmeißen mit Wörtern wie „voll krass“ und „fett geil“ um sich<br />
und <strong>machen</strong> damit selbst den letzten Neidern klar, wie „total<br />
cool“ sie doch alle sind. Erkan und Stefan lassen grüßen!<br />
Die an Geldmangel leidenden, aber immer noch in den schikksten<br />
Markenklamotten gekleideten Erwachsenen dagegen,<br />
treffen sich jeden Morgen in der Kaffeeecke der Werbeagentur,<br />
um sich gegenseitig ihre identitätszerfressenden Probleme vorzutragen<br />
und ganz nebenbei auch noch den neusten Klatsch<br />
auszutauschen, wobei die Männer den Frauen in dieser Hinsicht<br />
keinesfalls nachstehen.<br />
Ach ja, und dann gibt es da noch jene, die die ganze Serie lang<br />
Alexandra Rojkov damit beschäftigt sind, anderen aus ihren<br />
Depressionen zu helfen, sie aus ihrem<br />
schwarzen Loch der Verzweiflung zu ziehen.<br />
Dies geschieht dann mit einer gro-<br />
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39<br />
ßen Portion Zuneigung, angereichert mit<br />
unverzichtbaren Lebensweisheiten wie<br />
zum Beispiel „Am Ende des Tunnels<br />
kommt immer wieder Licht“ oder „Gib<br />
nicht auf, kämpfe, überwinde deine Ängste“<br />
oder „Lass dir Zeit, eines Tages wirst<br />
d u<br />
darüber hinwegkommen.“ Sie haben sich<br />
ja, wie gesagt, alle so unglaublich gern.<br />
Mich persönlich rühren solche Verse<br />
immer zu Tränen. Darum sollten wir<br />
dankbar sein! Dankbar für das Anfangslied,<br />
in dem uns die Schwierigkeit<br />
deutscher Grammatik demonstriert wird,<br />
dankbar für die ach so aus dem Leben<br />
geschnittenen Geschichten, deren Inhalt<br />
zu 80% so realistisch ist wie die Existenz<br />
des Osterhasen. Und dankbar für die<br />
sinnvollen Dialoge, welche uns jede<br />
Folge aufs Neue zum Nachdenken anregen,<br />
wobei die Frage immer die selbe ist:<br />
„Wie viel Alkohol muss ein Mensch im<br />
wahren Leben wohl trinken, um solch<br />
einen Müll von sich zu geben?“<br />
Deswegen möchte ich an dieser Stelle<br />
Danke sagen. Danke an die Macher<br />
dieser Serie, die ein Wunder vollbracht<br />
haben. Sie haben etwas geschaffen, das<br />
schnulziger als Lovestories, dramatischer<br />
als Das Jugendgericht, anspruchsvoller als<br />
Dawson’s Creek und schwachsinniger als<br />
Die Simpsons ist.<br />
Somit hoffen wir also, dass es ihnen niemals<br />
an Ideen für neue gute und schlechte<br />
Zeiten mangeln wird und beten dafür,<br />
dass uns GZSZ noch mindestens bis ans<br />
Ende der Menschheit erhalten bleibt.<br />
Bis in alle Ewigkeit.<br />
Amen.
Taizé ist nur ein kleines französisches<br />
Dörfchen in Burgund. Und doch haben<br />
die meisten schon einmal davon gehört.<br />
Denn das ganze Jahr über pilgern unzählige<br />
Jugendgruppen aus aller Welt<br />
nach Taizé. Sie alle eint der Wunsch, sich<br />
mit anderen Christen auszutauschen und<br />
Gott nah zu sein.<br />
Wer das erste Mal nach Taizé kommt,<br />
wird überrascht sein. Das Camp ist riesig.<br />
Vor allem an Ostern und im Sommer<br />
kommen Tausende Jugendliche hierher.<br />
Um Ruhe und Stille zu finden und einfach<br />
mal abzuschalten vom Alltagsstress. Zum<br />
Camp gehören der Zeltplatz, die Kirche,<br />
mehrere überdachte Plätze, wo man<br />
essen und sich treffen kann, sowie eine<br />
große Küche, ein Souvenirladen und ein<br />
Kiosk. Alles in allem also eine relativ einfache<br />
Anlage. Einfachheit und Verzicht<br />
auf Luxus <strong>machen</strong> Taizé aus.<br />
Das beginnt bereits beim Essen. Mit<br />
Essensmärkchen stellt man sich in die<br />
Schlange und hat das Gefühl, in einer<br />
Mensa zu sein. Jeder bekommt ein<br />
Tablett in die Hand gedrückt, darauf<br />
Teller, Löffel und Becher. Dann ein<br />
Schöpflöffel vom Essen, zwei Scheiben<br />
Baguette, eine Orange und zwei Kekse<br />
oder einen Joghurt. Die Plastikschale fürs<br />
Trinken kann man an einem der vielen<br />
Wasserhähne füllen.<br />
Viele tausend Jugendliche zu versorgen,<br />
das bedeutet einen immensen organisatorischen<br />
Aufwand. Damit das alles gut<br />
funktioniert und damit zum Beispiel auch<br />
die sanitären Anlagen wirklich sauber<br />
sind, helfen alle mit. Jedem Besucher<br />
wird eine Arbeit zugeteilt, die er zusammen<br />
mit einer kleinen Gruppe erledigt,<br />
Kathrin Katzmaier Gemeinschaft erleben und Gott ganz nah sein<br />
06<br />
40<br />
Taizé – Pilgerstätte der katholischen Jugend.<br />
Ein Erfahrungsbericht.<br />
Toiletten putzen etwa oder in der Küche helfen. Am witzigsten<br />
ist das Abwaschen, bei dem es regelmäßig zu Wasserschlachten<br />
kommt. Außerdem ist die tägliche Arbeit eine gute Möglichkeit,<br />
erste Kontakt zu knüpfen.<br />
Den Geist von Taizé erlebt man, wenn man mit Hunderten<br />
anderer Menschen in der Kirche sitzt. Am Eingang deckt sich<br />
jeder mit Gesangbuch und Liedblatt sowie dem jeweiligen<br />
Predigttext ein. Anstelle eines Altars stehen vorne in der Kirche<br />
zahlreiche Kerzen. Orangefarbene Tücher sind von der Decke<br />
bis zum Boden gespannt und werden von hinten beleuchtet.<br />
Auf der rechten Seite steht ein großes Holzkreuz, auf das Jesus<br />
gemalt ist. Links sieht man einen Tisch mit Schüsseln und<br />
Kelchen für das allmorgendliche Abendmahl. Einmal in der<br />
Woche kann man die besondere Gelegenheit wahrnehmen<br />
und am Kreuz beten. Das bedeutet, dass das große Holzkreuz<br />
in die Mitte der Kirche gelegt wird. Wer möchte, kann davor<br />
niederknien und beten. Kann seinen Gedanken nachgehen und<br />
einfach den Augenblick genießen und die Stimmung auf sich<br />
wirken lassen. Die Gemeinschaft sitzt ringsherum und singt<br />
dazu. Dabei fällt gleich auf, wie einfach die Lieder sind.<br />
Einzelne Strophen werden minutenlang wiederholt.<br />
Zum Gottesdienst kommen die Brüder, die zur Communauté<br />
Taizé gehören und setzen sich auf ihre Schemel. Anschließend<br />
singt die ganze Gemeinde. Anstelle einer Predigt, liest jeden Tag<br />
ein Bruder einen kurzen Bibeltext vor, der in mehrere Sprachen<br />
übersetzt wird.<br />
© Foto: Sabine Leutenegger<br />
Wenn man sich in der Kirche umschaut, bemerkt man,<br />
dass jeder das tut, wonach ihm gerade zumute ist. Die einen<br />
knien auf dem Boden und singen, andere beten mit geschlossenen<br />
Augen, und wiederum andere sitzen im Schneidersitz,<br />
singen und scheinen gleichzeitig in Gedanken versunken.<br />
Während der viertelstündigen Stille im Gottesdienst ist kein<br />
Mucks zu hören.<br />
Besonders beeindruckend ist der Samstagabend. Alle bekommen<br />
eine Kerze und das Feuer dafür wird so lange vom einen<br />
zum andern weitergegeben, bis alle Kerzen brennen. Ein faszinierender<br />
Anblick, wenn die Kirche davon hell erleuchtet ist.<br />
Frère Roger, der Gründer von Taizé, legt an solchen Abenden<br />
manchmal die Hand zum Segen auf.<br />
Der See ist ein beliebter Treffpunkt in Taizé, besonders bei<br />
gutem Wetter. Eine kleine Brücke führt zur anderen Uferseite<br />
und ringsherum sind Wiesen und Bäume. An einer Stelle springt<br />
ein kleiner Wasserfall aus dem Gestein hervor, ein kleiner<br />
Quellbach durchzieht die Wiesen. Dieser Ort ist ideal, um<br />
Energie zu tanken und abzuschalten.<br />
Der Mittag gehört den Bibeleinführungen und Gesprächsrunden.<br />
Jeden Tag wird ein Abschnitt einer Geschichte gelesen<br />
und später in Kleingruppen besprochen und interpretiert.<br />
Wer noch genug Lust und Interesse hat, kann nach dem Tee<br />
auch noch einen Workshop besuchen. Es stehen immer verschiedene<br />
Themen zur Auswahl. Die Workshops laufen nach<br />
dem gleichen Muster ab wie die Bibeleinführungen. Mit dem<br />
© Foto: Sabine Leutenegger<br />
06<br />
41<br />
kleinen Unterschied, dass es nicht immer<br />
um eine Bibelgeschichte, sondern oft um<br />
bestimmt Einstellungen zu einem Thema<br />
und um Selbsterkenntnis geht.<br />
Abends um halb neun treffen sich alle<br />
noch einmal zum Gottesdienst in der<br />
Kirche.<br />
Anschließend kann jeder <strong>machen</strong>, was er<br />
möchte. Wer beispielsweise Lust auf<br />
französische Lieder hat, kann an einem<br />
der überdachten Plätze mit anderen singen<br />
oder Gitarre spielen. Am Platz<br />
gegenüber sitzen oft mehrere kleinere<br />
Gruppen zusammen und musizieren<br />
ebenfalls. Meistens altbekannte Songs<br />
wie „Wind of Change“ oder „Über den<br />
Wolken“. Neue Bekanntschaften schließt<br />
man dabei fast automatisch.<br />
Auffällig ist, mit welch aufmerksamen<br />
Augen die Jugendlichen in Taizé ihre<br />
Umwelt beobachten. Niemand, der dies<br />
nicht möchte, sitzt lange alleine herum.<br />
Ständig bilden sich Gruppen, Menschen<br />
aus den verschiedensten Ländern kommen<br />
miteinander ins Gespräch. Es ist<br />
interessant zu erfahren, wie Jugendliche<br />
oder auch Erwachsene anderswo leben.<br />
Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede<br />
es gibt. Trotzdem glauben doch<br />
alle hier an den gleichen Gott. Und das ist<br />
schließlich das verbindende Element.<br />
Wer einmal in Taizé war, möchte meist<br />
wiederkommen.
Rainer Engelken POLITIK MACHT SPASS<br />
06<br />
42<br />
180 Schüler simulieren in Bonn eine UN-Sitzungswoche<br />
„Allah hu akbar!“, ruft ein Turbanträger<br />
seinen Verbündeten zu:„Ehrenwerter Vorsitz,<br />
der Delegierte von Palästina stellt<br />
einen Antrag auf Streichung Israels!“<br />
Die Stimmung im Saal tobt, hastig mit<br />
seiner Flagge wedelnd fleht der<br />
Delegierte Israels beim US-Diplomaten<br />
um Schutz. Doch dieser lehnt sich stoisch<br />
gähnend in seinen Sessel zurück und<br />
scheint den Vorfall gleichmütig zu ignorieren.<br />
Fanden mittlerweile in den USA<br />
Neuwahlen statt? Hat das Pentagon<br />
seine Globalstrategie alterniert?<br />
Beides falsch. Diese Szene entstammt<br />
einem Planspiel für Schüler, das Ende<br />
Juni / Anfang Juli in Bonn stattfand.<br />
„Schüler Planspiel United Nations“ – kurz<br />
SPUN –, so der Titel der Veranstaltung.<br />
Unter dem Motto „Kulturelle Vielfalt –<br />
Verständigung statt Konflikt“" trafen<br />
180 Jugendliche aus vielen Ländern, um<br />
unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident<br />
Wolfgang Thierse eine<br />
Generalversammlung der UNO zu simulieren.<br />
Alles war wie in New York: Die<br />
elegante Kleidung, die Resolutionen,<br />
die strenge Tagesordnung und die harten<br />
Verhandlungen. Die meisten Länder<br />
der Erde waren vertreten, außerdem<br />
mehrere Nichtregierungsorganisationen<br />
als Beobachter. Das Projekt entpuppte<br />
sich als eine hervorragende Gelegenheit<br />
für Schüler, hautnah die exquisite<br />
Luft des außenpolitischen Parketts zu<br />
schnuppern.<br />
Mit Fakten argumentieren, Verbündete<br />
finden, Kompromisse schließen und konstruktiv<br />
zur Entstehung einer Resolution<br />
beitragen – das alles erlebte man.<br />
„SPUN vermittelt den Delegierten ein<br />
Gefühl davon, wie internationale Politik<br />
funktioniert“, so Heiko Hilken, der diesjährige<br />
Generalsekretär, der gerade sein<br />
Abitur gemacht hat.<br />
In sieben Ausschüssen wurde vier Tage<br />
lang im Arbeitnehmerzentrum Königswinter<br />
mit Blick auf den Petersberg, in<br />
Anzug und Krawatte bzw. im Kostüm,<br />
über aktuelle Themen der internationalen<br />
Politik debattiert und an<br />
Resolutionen gefeilt. Dabei ging es beispielsweise<br />
um Emissionshandel,<br />
Terrorgefahr durch Waffenproliferation,<br />
internationalen Drogenhandel und<br />
Kombattantenstatus.<br />
Auch der informelle Teil kam nicht zu<br />
kurz: Abends wurden die Anzüge abgelegt<br />
und es ging zur Erforschung des<br />
Bonner Nachtlebens und zum Lobbying<br />
in diverse Kneipen und Cafés, wo die<br />
erfolgreichen Bündnisse und Pakte besiegelt<br />
und begossen wurden. Je nach<br />
Geschmack trank man eine Flasche<br />
Rotwein mit den Franzosen, spielte etwas<br />
Basketball mit den Südafrikanern, ging<br />
mit den Ägyptern ins SPUN-Café oder<br />
zappelte sich mit ein paar Brasilianern<br />
in der SPUN-Disco ab. Viele Teilnehmer<br />
kamen von deutschen Schulen im Ausland.<br />
Freundschaften wurden geschlossen,<br />
Adressen ausgetauscht und Pläne<br />
geschmiedet.<br />
Die Teilnehmer wurden mit unterschiedlichen<br />
Meinungen konfrontiert und lernten,<br />
grundverschiedene Ansichten zu<br />
akzeptieren. Sie lernten die Möglichkeiten<br />
der internationalen Politik kennen,<br />
die Wirkungsweisen von demokratischen<br />
Gremien und die Bedeutung des<br />
menschlichen Faktors in der Diplomatie.<br />
Aber auch die Grenzen wurden ihnen<br />
aufgezeigt: Wenn sich eine Debatte im<br />
Kreis dreht, lässt sich nicht immer ein<br />
06<br />
43<br />
Kompromiss finden. Die Delegierten<br />
versuchten nicht, ein heiles Bild der Welt<br />
zu zeichnen, sondern ihr jeweiliges Land<br />
mit seinen einzigartigen Interessen und<br />
Absichten so gut wie möglich zu vertreten.<br />
SPUN und der große Bruder haben eine<br />
leidige Gemeinsamkeit: Geldnot. Jedes<br />
Jahr steht die Finanzierung auf wackeligen<br />
Beinen. Da die Miete im ehemaligen<br />
Bundestag zu hoch war, konnte<br />
der Sicherheitsrat nicht wie vormals im<br />
abhörsicheren Bunker tagen. Da halfen<br />
keine diplomatischen Kniffe. Als Kompromisslösung<br />
aus den Vorschlägen „ehemaliger<br />
Bundestag“ und „Petersberg“<br />
wählte man die Mitte: Das Arbeitnehmerzentrum<br />
Königswinter. Das Organisationsteam,<br />
bestehend aus Ehemaligen<br />
und dem Projektleiter, hofft für die nächsten<br />
Jahre auf finanzkräftige Projektpartner.<br />
Schließlich biete SPUN doch<br />
genau das, was so oft gefordert wird:<br />
Eine innovative Idee, um das Politikinteresse<br />
von Jugendlichen zu fördern.<br />
www.spun.de
Vom Atem zum Rhythmus, vom Klang zur Sprache.<br />
In die Texte der Drama-Werkstatt wird hineingehorcht.<br />
Rollen entstehen nicht primär aus ihrer psychologischen Charakterisierung,<br />
sondern aus ihrer Sprechweise heraus.<br />
Sprache findet Figuren, der Rhythmus treibt die Geschichte voran.<br />
Der Konflikt zwischen den Figuren ist das Verdichtungsmittel des Theaters.<br />
Verdichtete Dialoge, die versuchen, Lebenszeit zu komprimieren, szenische Partituren,<br />
die ihre Themen umkreisen: Das sind die Ergebnisse der Drama-Werkstatt.<br />
Aber damit ist erst ein Schritt getan.<br />
Denn diese Schreibwerkstatt bringt ihre Autoren dazu,<br />
gleichzeitig auch Spieler und Inszenatoren ihrer Texte zu werden,<br />
um die Ergebnisse zu überprüfen und voranzutreiben.<br />
Die Drama-Werkstatt wurde 2004 gegründet.<br />
Sie ist eine Kooperation mit dem Jungen Ensemble Stuttgart.<br />
In der nächsten Staffel widmet sich die Drama-Werkstatt dem Thema<br />
„Junge Paare gegen den Rest der Welt“.<br />
Unter diesem Titel soll in den nächsten Monaten ein Stück entstehen.<br />
Thomas Richhardt, Werkstattleiter<br />
06<br />
44<br />
06<br />
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ER Weißt du was?<br />
SIE Wer ist es?<br />
ER Sie heißt Jessica<br />
und liebt Hibiskusblüten.<br />
SIE Hibiskusblüten?<br />
ER Ja! Hibiskusblüten.<br />
SIE Machst mich schon neugierig<br />
ER Ja, das willst du jetzt wissen.<br />
SIE Ja, das will ich jetzt wissen.<br />
ER Diesmal ist es für immer.<br />
SIE Was ist für immer?<br />
ER Unser junges Glück.<br />
SIE Jess-iii-ka, trägt sie auch<br />
so ein gelbes 1986 Top<br />
wie alle Jessikas?<br />
ER Sie hat im Juni Geburtstag.<br />
SIE Toll.<br />
ER Sie wird 21.<br />
SIE Toll.<br />
ER Wie ich.<br />
SIE Mmmhh, dann könnt ihr<br />
euch ein Auto schnappen,<br />
durchbrennen wie<br />
Bonnie & Clyde und<br />
ein Casino überfallen.<br />
ER Beschissen drauf heut, was?<br />
SIE Lass mich doch.<br />
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Uncool – oder seit fünfeinhalb Wochen liebe ich Jessica Schäfer<br />
von David Recordon<br />
ER Aber eigentlich wollt ich<br />
sie zum Essen einladen.<br />
SIE Bist uncool geworden.<br />
ER Es ist Zeit, sich von Lagerfeuer<br />
und Becks zu verabschieden.<br />
Ich dachte an Kerzen und<br />
Pinot Grigio, weiße Tischdecken<br />
und an eine Trattoria mit Blick.<br />
SIE Schön…<br />
ein Tête-à-tête im Kerzenschein!<br />
ER Lass mich doch. Du triffst<br />
auch bald jemanden im Netz<br />
und dann lach ich dich aus.<br />
SIE Hört ihr wenigstens die<br />
gleiche Mucke?<br />
ER Narcotica.<br />
SIE Narcotica?<br />
ER Blue rabbits.<br />
SIE Blue rabbits?<br />
ER Und Paul van Dyke natürlich.<br />
SIE Paul van Dyke? Mit der Lady<br />
würde ich gern im Chat ablästern,<br />
die bei diesem Freaksound<br />
in deinen Armen dahin schmilzt.<br />
ER Eigentlich fährt sie nicht so<br />
auf mein Best of PC Trance ab.<br />
Aber wir brauchen das Gedudel<br />
gar nicht, zum Einschlafen reicht<br />
auch einfach nur Sound of Silence<br />
und ein Duftstövchen.<br />
SIE Was für’n Duft?<br />
ER Stövchenduft.<br />
So mit Blüten.<br />
SIE Mit Hibiskusblüten.<br />
ER Ja mit Hibiskusblüten.<br />
Probier es und du wirst<br />
den Duft lieben.<br />
SIE Es wird immer<br />
unheimlicher mit dir.<br />
ER Cybercasanova.<br />
SIE Was?<br />
ER Cybercasanova.<br />
So nennt sie mich, mein Nick.<br />
SIE Ich hab Angst. Freaky!<br />
Bist du in einer Sekte oder<br />
hör nur ich die Stimmen<br />
jenseits der 72dpi nicht?<br />
ER Also, ich schlaf ausgezeichnet,<br />
seit ich nachts nicht mehr<br />
soviel auf diesen polnischen<br />
Sites herumzigeunere.<br />
SIE Hast ja jetzt einen fleischgewordenen<br />
Lustautomaten.<br />
ER Der mir stets zu Diensten steht.<br />
SIE Ich mach mir wirklich Sorgen!<br />
ER Sorgen, worum?<br />
Um deine langweiligen<br />
Mittwochabende ohne mich?<br />
Bei Sushi und Jasmintee?<br />
SIE Besser als Hibiskusblüten!<br />
Lieber vergnüge ich mich<br />
mit portugiesischen<br />
Häkelzeitschriften.<br />
ER Ah, du bist eifersüchtig…?<br />
SIE Nein, du bist eifersüchtig…!<br />
ER Ja, klar. Wenn es nicht läuft,<br />
sind wir eifersüchtig.<br />
SIE Und du hast Angst mit treuem<br />
Blick festgekettet zu werden.<br />
ER Wusste gar nicht,<br />
dass du so an mir hängst?<br />
SIE Ja, die Sprache der Liebe<br />
läuft bei uns anders.<br />
ER Wie denn?<br />
SIE Mach ihn zur Sau und nutz ihn aus.<br />
ER Mach ihn zur Sau und nutz ihn aus!?<br />
Was heißt das?<br />
SIE Das heißt eben:<br />
Nimm mich auf weiblich.<br />
06<br />
47
06<br />
48<br />
Kühlschrank – oder Paris<br />
von Friederike Hammer<br />
A Hast du noch ne Minute.<br />
B Wofür.<br />
A Deine Sachen.<br />
B Alles gepackt.<br />
A Du gehst also.<br />
B Ich denke, ja, sieht so aus.<br />
A Ich wollte dir sagen.<br />
B Ja.<br />
A Hast du die Sachen<br />
aus dem Keller.<br />
B Ja.<br />
A Wenn du den roten<br />
Koffer nimmst.<br />
B Ja.<br />
A Die linke Schnalle ist locker.<br />
Pass auf.<br />
B Ich pass auf.<br />
A Ja.<br />
B Ja.<br />
A Wo gehst du hin.<br />
B Weiß nicht.<br />
A Aber du gehst doch,<br />
du musst doch irgendwo hin.<br />
B Erst mal zu Susanne.<br />
A Susanne.<br />
B Oder Karin.<br />
A Wer ist Karin.<br />
Hat die auch genug Platz.<br />
B Ja.<br />
A Auch wenn du den ganzen<br />
Krempel hier mitnimmst.<br />
B Ja, sie hat ein Haus.<br />
A Ja aber hat sie auch einen Garten.<br />
B Für die Geranientöpfe reicht es.<br />
A Ja dann.<br />
B Ja dann.<br />
A Ja dann alles Gute.<br />
B Danke.<br />
A Bitte.<br />
B Alles Gute.<br />
A Danke.<br />
B Bitte.<br />
A Weiß sie auch, dass du<br />
keine Milch verträgst.<br />
B Wieso Milch.<br />
A Ich dachte bloß.<br />
B Wo ist bloß.<br />
A Sie hat doch hoffentlich keine Katze.<br />
B Ich habe es doch hier rein.<br />
A Das gelbe Täschchen<br />
mit der chinesischen Stickerei.<br />
B Ich finde es nicht.<br />
A Das wir in Paris gekauft haben,<br />
bei den Straßenhändlern.<br />
B Weißt du, wo es ist.<br />
A Weißt du noch, der eine<br />
wollte dir unbedingt dieses.<br />
B Verdammt noch mal.<br />
A Hässliche Armband andrehen.<br />
B Ich fand’s schön.<br />
A Für 30 Francs.<br />
B Ich fand’s schön.<br />
Du wolltest nicht.<br />
A Das ist nicht wahr.<br />
B Du bist so geizig.<br />
A Ich hätte es gekauft.<br />
B Ach.<br />
A Ja.<br />
B Ach ja.<br />
A Ja, klar.<br />
B Der Schlüssel.<br />
A Wieso.<br />
B Na ich denk du willst<br />
ihn vielleicht zurück.<br />
A Behalt ihn.<br />
B Nein.<br />
A Wenn du was vergessen hast,<br />
und ich bin nicht da.<br />
B Du bist immer da.<br />
A Aber wenn ich jetzt mal nicht da<br />
bin, ich könnte ja Einkaufen sein.<br />
Beim Bäcker, oder so, ich muss ja<br />
was essen, weil, wenn du nicht<br />
mehr da bist, dann bin ich ganz<br />
allein und ich muss ja was essen,<br />
zwischendurch. Und wenn dann<br />
eines Tages der Kühlschrank leer<br />
ist und auch die Gefriertruhe und<br />
es kommt niemand und füllt sie auf,<br />
dann hab ich Hunger und dann muss<br />
ich raus, auf die Straße und ich weiß<br />
gar nicht wohin, weil ich weiß nicht,<br />
wo der Bäcker ist oder ein Supermarkt,<br />
die wechseln doch dauernd und<br />
<strong>machen</strong> dicht, pleite, und dann ist<br />
wieder was Neues da, aber dann gibt’s<br />
nur noch Schuhe.<br />
B Ich lass ihn trotzdem da, den Schlüssel.<br />
A Gut.<br />
B Sollte ich was vergessen haben,<br />
du kannst mir’s schicken.<br />
A Gut.<br />
B Dann geh ich jetzt.<br />
A Gut.<br />
B Gut.<br />
A Nicht gut.<br />
B Was denn.<br />
A Gib mir deine Nummer.<br />
B Warum.<br />
A Gib mir deine Nummer,<br />
dann ruf ich dich an und<br />
wir treffen uns aufn Kaffee.<br />
B Wo.<br />
A Wo.<br />
B Ja wo.<br />
A Ja irgendwo.<br />
B Mais ou.<br />
A Paris.<br />
B A Paris.<br />
06<br />
49
EINS Du warst gestern Abend lange weg.<br />
ZWEI Hab die Zeit vergessen.<br />
EINS Ich hab auf dich gewartet.<br />
ZWEI Du hättest gehen können.<br />
EINS Ohne dich?<br />
ZWEI Solltest dir Freunde suchen.<br />
EINS Ja.<br />
ZWEI Wir hatten viel Spaß.<br />
EINS Schön.<br />
ZWEI Waren echt viele da.<br />
EINS Und?<br />
ZWEI Auch Felix war da.<br />
Wir haben getanzt.<br />
Wir haben uns verabredet.<br />
Gleich heute Abend.<br />
EINS Du benimmst dich lächerlich.<br />
ZWEI Klar.<br />
EINS Und bist auch noch stolz darauf.<br />
ZWEI Klar.<br />
EINS Auf dein Scheiß-Date.<br />
ZWEI Oh ja.<br />
06<br />
50<br />
DATE<br />
von Stephanie Maas<br />
06<br />
51<br />
Plötzlicher Herztod<br />
von Martin Menzel<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Diesmal bräuchte ich 10 Paletten weiße Lilien,<br />
8 Paletten weiße Rosen<br />
BLUMENVERKÄUFERIN 10 Lilie, 8 Rose…, alles?<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Von diesen Kränzen<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Laub? Nadel?<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Laub natürlich<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Natürlich<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Verzichten sie aber bitte auf diese hässlichen Schleifchen<br />
in zartrosa<br />
KUNDIN Wird das heute noch was?<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Sie sehen doch, dass ich Kundschaft habe<br />
KUNDIN Mich wundert wirklich nicht, dass immer mehr von diesen<br />
Läden Pleite gehen.<br />
BESTATTUNGSUNTERNEMER Ist das ihr Problem?<br />
KUNDIN Bei dem Service.<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Wenn es ihnen nicht passt gehen sie doch woanders hin.<br />
Hier am Friedhof sind genug Blumenläden.<br />
KUNDE Ihre Streitereien sind mir wirklich egal, aber...<br />
KUNDIN Aber was?<br />
KUNDE Sie tragen garantiert nicht dazu bei,<br />
dass sie schneller vorne an der Kasse stehen.<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Was haben sie eigentlich gegen die zartrosa Schleifchen?<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Zu einer Beerdigung ist ein blasses Violette angebrachter.<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Violette führen wir leider nicht. Hier, Sternchenform in gold.<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Hübsch. 20 davon<br />
BLUMENVERKÄUFERIN 20 davon, alles?<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Alles.
BLUMENVERKÄUFERIN Schönen Tag noch<br />
KUNDIN Endlich<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Gleichfalls<br />
KUNDIN Es geht weiter.<br />
Machen sie mal ein bisschen schneller, junger Mann.<br />
KUNDE Guten Tag auch.<br />
KUNDIN Meine Güte so werden wir nie fertig.<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Was darf es sein?<br />
KUNDE Rosen.<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Blau, weiß, rot, gelb, rosa, lila, wir haben auch Mischzüchtungen<br />
KUNDE Rot und gelb, bitte!<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Etwas Grün für Drumherum? 13,60 Euro bitte.<br />
KUNDE Moment…Oh Gott<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Was ist?<br />
KUNDE Mein Herz<br />
KUNDIN Ich hab es gewusst, noch mehr Verzögerung.<br />
KUNDE Einen… Notarzt<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Sie haben noch nicht gezahlt<br />
KUNDE Notarzt.<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Aber der Blumenstrauß, sie müssen zahlen.<br />
KUNDE Sie, rufen sie einen Notarzt!<br />
KUNDIN Das könnte ihnen so passen, dann hängt der hier auch eine<br />
halbe Stunde herum und dann dauert das ganze noch länger,<br />
niemals!<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Wo ist denn ihr Portemonnaie, sie könnten es mir sagen und<br />
ich könnte mich selber bedienen.<br />
KUNDE Ich…<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Ich hatte da noch etwas vergessen: die Gestecke von<br />
vorletztem Mal, die bräuchte ich auch noch mal,<br />
allerdings nicht mit blauen…<br />
06<br />
52<br />
KUNDIN Der schon wieder, nicht noch mehr Verzögerung<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Was ist denn hier passiert?<br />
KUNDE Notarzt, rufen sie mir einen...<br />
BESATTUNGSUNTERNEHMER Notarzt?<br />
Ich bin was viel besseres.<br />
KUNDE Notarzt... Mein Herz…<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Ich werde ihnen gleich einen Vertrag zurecht<strong>machen</strong>.<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Sie müssen zahlen, wo ist ihr Geld?<br />
KUNDE Mein Herz.<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Wie hätten sie ihre Beerdigung denn gerne,<br />
Eichensarg, Fichte, oder lieber Buche?<br />
KUNDE Nicht…<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Fichte? Vortreffliche Wahl, ist zwar etwas enger<br />
als der Buchensarg, riecht aber nicht so streng.<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Nein, geben sie mir zuerst das Geld, wo ist es.<br />
KUNDE Ich… Hilfe… es ist alles so verschwommen.<br />
KUNDIN Die Unterschrift werden sie wohl noch hinkriegen<br />
und dann zahlen sie bitte und dann können sie<br />
meinetwegen abtreten, wenn ich dann bald drankomme.<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Geben sie mir das Geld, es wird doch nicht so schwer sein.<br />
KUNDE Ich sehe … nichts… mehr<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Dann unterschreiben sie schnell, solange es noch geht<br />
KUNDIN Nun <strong>machen</strong> sie schon<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Das Geld, das Geld, wo ist das Geld<br />
KUNDE Es... schwindelig… oh... ich … tut mir leid…<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Nein er stirbt, nicht doch, sie müssen unterschreiben.<br />
BLUMENVERKÄUFERIN Er hat nicht gezahlt.<br />
BESTATTUNGSUNTERNEHMER Tot.<br />
KUNDIN Noch mehr Verzögerung<br />
06<br />
53
Dem zu Sagenden auf Wortfühlung…<br />
…vielleicht gar dem zu Sagenden<br />
immer noch näher kommen und aus der<br />
Unerreichbarkeit 1 Schreiben gestalten,<br />
das dann zum eigenen Entwurf wird.<br />
Borges, der nicht zu bändigende Jorge<br />
Luís, hatte formuliert, was 1 sich stellendes,<br />
1 sich dem Wort stellendes Weiß<br />
sein könnte: „Tatsächlich habe ich jedes<br />
Mal, wenn ich mich einer leeren Seite<br />
gegenübersehe, das Gefühl, die <strong>Literatur</strong><br />
für mich neu entdecken zu müssen.“<br />
Diese Schreibwerkstatt für Poesie konnte<br />
einen der unumstößlichen Sätze des<br />
Argentiniers um das „Rätsel der Dichtung“<br />
bei jedem ihrer Montags-Treffen<br />
von Neuem bestätigen.<br />
Nicht indem Borges explizit zitiert<br />
worden wäre oder gar bewusst als Lehrer<br />
den herschöpfenden Raum im <strong>Literatur</strong>haus<br />
Stuttgart getragen hätte, vielmehr<br />
geschah dies im filigranen Werden der<br />
Texte aus den Spuren, die jedes persönliche<br />
Alphabet zu legen vermag.<br />
06<br />
54<br />
06<br />
55<br />
Erstaunliche Notate und Gedichte sind<br />
dabei zustande gekommen und werden<br />
wohl für die Teilnehmenden das künftig<br />
ebenso leere Blatt füllen, noch bevor ein<br />
einziges, nächstes Wort geschrieben sein<br />
wird. Das dabei Vollkommenes entstehen<br />
kann, liegt in der Natur des Poetischen<br />
oder wie el maestro Borges schrieb:<br />
„Denn in der Dichtung wirkt<br />
Vollkommenes nicht seltsam;<br />
es scheint unvermeidlich.“<br />
Auf dem Weg ins Unvermeidliche sind<br />
Einige. Vielleicht auch unter uns.<br />
José F.A. Oliver & Sergiu Stefanescu<br />
Werkstattleiter
Leonie Achtnich<br />
***<br />
der himmel errötet<br />
über unser nichtgespräch<br />
ungesagtes versickert in den fugen<br />
schlittert über parkett<br />
ertrinkt im orangensaft<br />
unsere schuhe parallel wie unsere gesten<br />
zwischen uns nur gebügeltes schweigen<br />
aus den ecken knistert<br />
ein stück weißt-du-noch<br />
Selma Alihodˇzić<br />
meine sonne<br />
brennt noch<br />
kenne nun den wert der wertlosen<br />
löse ihnen die schicksalstories von<br />
gesichtern<br />
dann erde<br />
umschließlich und warm<br />
aus euren augen sprechen seelen<br />
rufen euch<br />
zur schwelle, am anfang der unendlichkeit<br />
ich seh’ euch<br />
erleuchtet mir den blick<br />
Dominique Baur<br />
Oberflächlichkeit<br />
06<br />
56<br />
ich liebe deine Oberfläche<br />
so glatt<br />
so schimmernd<br />
viskos<br />
unantastbar<br />
weil zart<br />
und brüchig unterhöhlt<br />
aber anziehend<br />
quälend und hypnotisch<br />
macht mich träumend<br />
bebend<br />
und fast sabbern<br />
will sie streicheln<br />
drücken<br />
daran kratzen<br />
Christina Döneke<br />
Schneeflocke im Juni II<br />
Es ist einige Zeit her. Mein Gesicht,<br />
hundert Jahre mehr. Schroff und durchgezehrte<br />
Wand – bin ich – steht es noch<br />
immer. Ein bisschen schräg sind wir<br />
im Wind und blasser, aber unter<br />
Schmutzschichtlagen schimmernd.<br />
Die Worte, die ich dir, das Blut, mit dem<br />
ich, meine Seele, die darin. Was aber<br />
bleibt (b)ist Du, im Augenblick des<br />
Schicksals, wo bist du geblieben? Das<br />
Gestern überall und stetig. Wohltuend<br />
wärmende Dunkelheit, von augenschmerzendem<br />
Licht durchbrochen, bis<br />
nur noch der Wunsch nach Leere. Und<br />
dann der Zwang und die Augen mit der<br />
Zange und du ganz nackt, platscht auf<br />
einmal leise die Trauer gegen dich und<br />
deine und gegen die Wände in und um<br />
und überall. Verwaschen tropft dein Bild,<br />
die Farben fortgeschwemmt, und so mal’<br />
ich dich erneut in schwarz und weiß.<br />
Aber die Schrift und die Worte und du an<br />
deiner Wand, das bleibt. Als Denk Mal.<br />
Und da wir Helden sind, hat nichts funktioniert.<br />
06<br />
57<br />
Die Augenringe hat man dir angemalt<br />
Mit der brüchigen Bleistiftspitze<br />
Und nur ein kleiner Blitz<br />
Beim Vorbeigehen.<br />
Ja, deine Lippen funkeln<br />
Rubinrot auf weißer Haut<br />
Und kein Glanz<br />
In den Augen.<br />
Es scheint als seien<br />
Zwei dunkle Löcher im Gesicht<br />
Und wenn man durchschaut<br />
Bleibt nur ein Regenmeer.<br />
Der alte Traumfänger über der Kommode<br />
Kämpft schon lange nicht mehr<br />
Denkt sich jeder<br />
Bei diesem Niemandsgesicht.<br />
Der rote Mohn geht ein<br />
Wenn du vorbeigehst<br />
Aber das siehst du nicht.<br />
Auf dem Lippenstift<br />
Steht Pearl & Shine<br />
Und hält was es verspricht.<br />
Ein kleiner Schutzengel<br />
An deiner kleinen Seite.<br />
Natalie Hörl<br />
Pearl & Shine
Martin Mutschler<br />
***<br />
ANIFESTE<br />
Marianne Thie<br />
du bist die Sängerin erzähl mir<br />
wie die Stachelbeeren ich trockne die Blüten<br />
in meinem Schreibheft<br />
sie färben das Papier Kaffeeflecken<br />
auf den Tasten meines Klaviers und du<br />
trinkst keinen Kaffee<br />
im Badezimmer möchte ich einfach lossingen<br />
doch es ist zu spät für dein Lied<br />
und viel zu früh für ein neues<br />
Gebläse verdrängt deine Sätze<br />
meine Blicke im Spiegel finden sich nicht mehr<br />
sie werfen sich knarrend die Stiege hinauf<br />
in meine Kammer dort liege ich<br />
vielleicht näher am Himmel als du<br />
und eines Morgens finde ich einen Milchzahn<br />
auf dem Kissen taste mit der Zunge<br />
viele Male meinen Mund ab<br />
vielleicht ists dein Zahn<br />
der ausfiel weil du mich nicht fandst<br />
und die Stickereien auf dem Kissen<br />
sind die Narben wo dein Kuss mich verfehlte.<br />
Richard Duraj<br />
Sisyphos<br />
Weil ihn nicht ändert,<br />
was vergeht,<br />
ihn nicht hindert,<br />
ist er selbst Gefälle,<br />
Fels, an jeder Stelle<br />
stets zu spät,<br />
um alles abzuschreiten,<br />
taub und blind und stumm<br />
von sich zu geleiten.<br />
06<br />
58<br />
Silke Göltenboth<br />
Zu nah<br />
Asche ist der Himmel<br />
Asche ist der Himmel<br />
Asche was vom Abend blieb<br />
Von den weißen Nachmittagen<br />
Weißen Tüchern leicht im Wind<br />
Asche ist was blieb<br />
Fernverschlossen alles<br />
Segelschiff in einer Flasche<br />
Aufgestürzte Bäume stehen<br />
Hart am Rand ganz Kohle blind<br />
In die nahe Nacht<br />
Die im Panthersprung<br />
Einen neuen Stern entfacht<br />
Über all den grauen Dächern<br />
Aus der Asche – noch ein Kind<br />
Des verletzten Tags<br />
Dein Lächeln brennt sich ein<br />
Mal in meine Haut<br />
mit jedem mir vertrauten Wort.<br />
Schritt für Schritt näher –<br />
zu mir, in mich hinein,<br />
bis du so nah bist, dass ich<br />
dein Gesicht<br />
kaum noch erkennen kann,<br />
so nah, dass dein Lidschlag<br />
das Brandmahl streift –<br />
so nah, dass ich<br />
nur noch verschwommen sehe,<br />
was mich einmal<br />
berührte.<br />
06<br />
59
ANIFESTE<br />
06<br />
60<br />
06<br />
61
ANIFESTE<br />
06<br />
62<br />
06<br />
63
Gekicher am Paternoster und Hausaufgaben<strong>machen</strong><br />
im Flur: Eine ganze Schulklasse<br />
nahm an der dritten Staffel der<br />
Schreibwerkstatt Naturwissenschaften<br />
teil und sorgte für Pausenhof-Atmosphäre<br />
im <strong>Literatur</strong>haus. Die 23 Schülerinnen<br />
und Schüler besuchten die 9. Klasse der<br />
Waldschule Degerloch und entschieden<br />
sich für zwei Stunden „Science & Fiction“<br />
statt Biologie-Unterricht. Organisiert<br />
wurde der Kurs gemeinsam mit Karin<br />
Schneider, der Biologie-Lehrerin der<br />
Klasse. Inhaltlich waren wir festgelegt,<br />
denn das Thema „Evolution“ stand auf<br />
dem Lehrplan. Außerdem war wichtig,<br />
dass die Schüler für ihre Kursbeteiligung<br />
am Ende benotet werden konnten.<br />
Während des Kurses wurden daher<br />
Fakten über das Thema Evolution (z.B.<br />
„Wie entstanden die Wirbeltiergruppen?“)<br />
einerseits und Ratschläge zum<br />
Thema Schreiben (z.B. „Was sind sprachliche<br />
Klischees?“) andererseits vermittelt.<br />
Im Anschluss gab es eine konkrete<br />
Schreibaufgabe. Verschiedene Exkursionen<br />
– beispielsweise zum Fossiliensammeln<br />
auf die Schwäbische Alb und<br />
zum Löwentormuseum – und Vorträge<br />
von Wissenschaftlern ergänzten das<br />
Programm. Die neuen Texte oder eine<br />
Auswahl davon wurden beim folgenden<br />
Werkstatttreffen gelesen und diskutiert.<br />
06<br />
64<br />
Als Ersatz für eine Klassenarbeit haben<br />
die Teilnehmenden einen in der Schreibwerkstatt<br />
geschriebenen Text zur<br />
Benotung ausgewählt.<br />
Angefangen hat unser Projekt mit<br />
Charles Darwin: Nach einer kurzen Vorstellung<br />
Darwins und seiner Theorie zur<br />
Entstehung der Arten schrieben die<br />
Schüler einen fiktiven Dialog zwischen<br />
Darwin und seiner (ebenfalls fiktiven!)<br />
religiösen Schwiegermutter. Ein Ergebnis<br />
ist der Text „Eine Nacht in London“ von<br />
Marcel Junghanß. Wichtige Schlüsselbegriffe<br />
zum Thema Evolution wie<br />
Selektion und Mutation inspirierten die<br />
Schüler zu Texten über die Selektion von<br />
Turnschuhen und die Mutation von<br />
Hirschen aus den Wäldern des Stuttgarter<br />
Umlandes. Die „Zwitterfische“ von<br />
Kevin MacPherson sind jedoch das Opfer<br />
einer Modifikation – eines nicht vererbbaren<br />
Umwelteinflusses.<br />
Der Entwicklungsbiologe Ralf Dahm vom<br />
Max-Planck-Institut in Tübingen war zu<br />
Gast in der Schreibwerkstatt und berichtete,<br />
wie die Forscher den komplizierten<br />
Weg von einer befruchteten Eizelle zum<br />
lebensfähigen Organismus erforschen.<br />
Wichtige Modellorganismen für die<br />
Forschung der Tübinger Entwicklungsbiologen<br />
sind Zebrafische, über die<br />
Jasmin Kienle schreibt.<br />
Ein weiterer Gast war der Zoologe und<br />
Lehrbuchautor Volker Storch von der<br />
Universität Heidelberg. Er machte den<br />
Schülern eindrucksvoll klar, dass die<br />
Grenze zwischen Mensch und Tier viel<br />
unschärfer ist, als wir annehmen. Anne<br />
Löchner schreibt darüber.<br />
Wir wünschen viel Vergnügen bei dieser<br />
Auswahl – bei Texten, die Fakten und Fiktion<br />
zusammenbringen. Für die Schüler<br />
war das Projekt nicht unanstrengend,<br />
denn „schlimmer als in der Schule“ waren<br />
Genauigkeit und kreative Ideen gleichzeitig<br />
gefragt. Gelohnt hat sich der<br />
Aufwand in jedem Fall – denn die Schüler<br />
haben nicht nur gute Texte geschrieben,<br />
sondern auch viel über Evolution gelernt:<br />
Beschreiben kann man nur, was man<br />
auch begriffen hat.<br />
Claudia von See, Werkstattleiterin<br />
06<br />
65
Marcel Junghanß<br />
Eine Nacht in London<br />
Der 26. November des Jahres 1859 ist ein düsterer Tag. Charles Darwin sitzt in<br />
seiner Londoner Wohnung und pafft an einer Pfeife. Draußen ist es schon dunkel<br />
geworden. Es regnet und stürmt. Aus der Dunkelheit schleicht sich jemand an den<br />
Ahnungslosen heran. Langsam nähert sich die Person Charles und schreit ihm ins Ohr:<br />
„Wie kannst du es wagen, du Ketzer!?“ Charles fährt erschrocken herum. Es ist seine<br />
Schwiegermutter.<br />
Charles „Mutter, was fällt dir ein, dich so spät noch in meine Wohnung zu schleichen!“<br />
Schwiegermutter „Wie kannst du es wagen, zu behaupten, dass die Menschheit vom Affen abstammt?“<br />
Charles „So habe ich das nie gesagt.“<br />
Schwiegermutter „WAS?“<br />
Charles „Ja, ich habe nur gesagt, dass die Menschheit von einem affenähnlichen Vorfahren<br />
abstammt.“<br />
Schwiegermutter „Und wo soll da bitte der Unterschied sein?“<br />
Charles „Da gibt es sogar einen sehr großen Unterschied. Dieser affenähnliche Vorfahr ist<br />
der Vorfahre der heutigen Affen und der Menschheit. Das heißt, dass wir nicht vom<br />
heutigen Affen abstammen, jedoch mit ihm über unseren gemeinsamen Vorfahren<br />
verwandt sind.“<br />
Schwiegermutter „Aber das kann gar nicht sein! Gott hat die Menschen, Tiere und Pflanzen geschaffen.“<br />
Charles „Während meiner Forschungsreisen habe ich festgestellt, dass sich die Lebewesen an<br />
die wechselnde Umgebung anpassen. Dadurch sind immer wieder neue Arten durch<br />
natürliche Auslese entstanden.“<br />
Schwiegermutter „Und was soll die natürliche Auslese sein?“<br />
Charles „Die natürliche Auslese ist, dass die Tiere und Tierarten aussterben, die nicht an ihre<br />
Umgebung angepasst sind.“<br />
Schwiegermutter „Dann müsstest du ja eigentlich schon längst ausgestorben sein!“<br />
Charles „Ich glaube, du hast das noch nicht ganz verstanden. Ich erkläre es dir aber auch gerne<br />
an noch einem Beispiel.“<br />
Schwiegermutter „Ich höre.“<br />
Charles „Wie du vielleicht weißt, haben Finken eine sehr kräftigen, großen Schnabel. Diesen<br />
benötigen sie, um ihre typische Nahrung aufzunehmen. Was passiert wohl mit Finken,<br />
die einen nicht so stark ausgeprägten Schnabel haben?“<br />
06<br />
66<br />
Schwiegermutter „Sie können sich nicht so gut wie die anderen ernähren?“<br />
Charles „Genau. Sie können sich nicht richtig von ihrer typischen Nahrung ernähren, sind<br />
schwächer und können somit auch nicht so viel Nachwuchs zeugen. Das heißt, dass<br />
die Finken mit einem stärker ausgeprägten Schnabel mehr Nachwuchs bekommen<br />
und aufziehen können, als die mit einem schwächeren Schnabel. Dies wiederum<br />
bedeutet, dass die mit dem schwächeren Schnabel irgendwann aussterben werden.<br />
Und genau das meine ich mit natürlicher Auslese."<br />
Schwiegermutter „Du bist also der Meinung, dass immer die Stärkeren gewinnen?“<br />
Charles „Nicht ganz. Es gibt einen Unterschied zwischen der stärkeren Kraft des Gegners und<br />
dem stärker an seine Umgebung angepassten Gegner.“<br />
Schwiegermutter „Was meinst du damit?“<br />
Charles „Dass nicht unbedingt der Kräftigere überleben muss. Ein muskelbepackter Riese wird<br />
nicht überleben, wenn er nur Wasser aus einer kleinen, schmalen und niedrigen Höhle<br />
holen kann, weil er da nicht hineinpasst. In dieser Situation werden nur kleine und<br />
dünne Menschen überleben.“<br />
Schwiegermutter „Und was ist, wenn er sich ein Gefäß bastelt, mit dem er dann doch an sein Wasser<br />
kommt?“<br />
Charles „Dann haben nicht seine Kraft und seine Muskeln ihm dabei geholfen, sondern sein<br />
Verstand. Deshalb haben sich die Menschen so entwickelt, wie sie heute sind.“<br />
Schwiegermutter „Aber wieso gibt es dann neben uns auch noch die Affen?“<br />
Charles „Wie gesagt, stammen wir nicht vom Affen ab, sondern haben einen gemeinsamen<br />
Vorfahren. So haben sich aus diesem Vorfahren beispielsweise an den Urwald angepasste<br />
Affen entwickelt – und eben auch Menschen, die ganz andere Fähigkeiten<br />
haben.“<br />
Schwiegermutter „Das kann aber gar nicht sein! Gott hat die Arten so erschaffen, wie sie sind und sie<br />
sind unveränderlich. So steht es in der Bibel. Also zweifelst du an Gott und an der heiligen<br />
Schrift.“<br />
Charles „Wenn du es so siehst, dann hast du recht. Aber ich habe ja versucht, dir meine<br />
Erkenntnisse der letzten 20 Jahren zu erklären. Egal, wie du es siehst: die Zukunft wird<br />
zeigen, dass ich Recht habe.“<br />
Schwiegermutter „Du elender Heide! Du wirst in der Hölle schmoren!“<br />
06<br />
67<br />
Ein Knall. Ein Blitz erleuchtet die Bibliothek. Charles erschrickt. Er sitzt schweißgebadet<br />
in seinem Lehnstuhl. Er schaut sich im Raum um, aber seine Schwiegermutter ist fort.<br />
Es war nur ein Traum.
06<br />
68<br />
Forscher, die unsere heimischen Seen und Flüsse untersuchen, haben eine erschreckende<br />
Entdeckung gemacht: Es gibt immer weniger Fische in unseren<br />
Gewässern. Der Grund dafür ist die Verweiblichung der männlichen Fische. Diese<br />
Modifikation entsteht durch die Verschmutzung der Seen und Flüsse mit weiblichen<br />
Hormonen. Die Sexualhormone und deren Derivate werden zu einem Großteil<br />
von chemischen Fabriken in unsere Flüsse eingeleitet. Die Anti-Baby-Pille trägt über<br />
die Abwasser auch zur Belastung unserer Gewässer bei. Selbst Bier enthält Stoffe,<br />
die dem weiblichen Sexualhormon ähnlich sind.<br />
Die weiblichen Hormone reichern sich im Wasser an und gelangen so auch in den<br />
Körper der männlichen Fische. Ist die Konzentration der weiblichen Hormone zu hoch,<br />
können keine Spermien mehr gebildet werden. Die Hoden bilden sich zurück.<br />
Die vielen unfruchtbaren Männchen können keine Nachkommen mehr zeugen;<br />
so kommt es, dass ihre Gene der Nachwelt verloren gehen. Dieser DNA-Verlust hat<br />
schwerwiegende Folgen für die gesamte Tierart: Treten neuartige Krankheitserreger<br />
auf, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Tier resistent gegenüber dieser bedrohlichen<br />
Umweltveränderung ist, viel geringer als bei einem großen Genpool. Die fortschreitende<br />
Verweiblichung der Fische könnte somit zum Aussterben vieler Arten<br />
führen. Dies erschreckt um so mehr, wenn wir auch daran denken, dass viele unserer<br />
Fischarten als Nahrungsgrundlage für größere Raubtiere dienen. Weitere Tierarten<br />
könnten aussterben.<br />
Es ist Zeit, die Einleitung von Sexualhormonen und hormonähnlichen Stoffen durch<br />
die Industrie zu verbieten und auf die Problematik aufmerksam zu <strong>machen</strong>. Deshalb<br />
spenden Sie bitte für den Schutz der Fische. Die mühsame Auswilderung einiger<br />
Fischarten in freie Gewässer soll nicht umsonst gewesen sein. Denken Sie immer<br />
daran: die Natur ist unser höchstes Gut.<br />
Ihre NABU Aktionistin Inge Grünschweig<br />
e-mail: ingegruenschweig@nabu.de<br />
Kevin MacPherson<br />
Zwitterfische<br />
06<br />
69<br />
Hi Leute, wie geht´s? Also, mir geht es prima.<br />
– Was!?! Ihr kennt mich nicht???<br />
Jasmin Kienle<br />
Blubbi der Zebrafisch<br />
Ich bin Blubbi, die Zebrafischdame. Sagt nur, ihr wisst nicht, was<br />
ein Zebrafisch ist! Nein?! Wirklich nicht? Also: Das ist ein<br />
Fisch, der im Wasser lebt und ähm… ähm..? Ach ich weiß es<br />
nicht, das ist eben so ein Fisch, der aussieht wie ich.<br />
Aber warum ich eigentlich hier bin: Ich möchte euch erklären,<br />
warum man an Zebrafischen forscht und nicht an irgendwelchen<br />
anderen Tieren.<br />
Zuerst einmal sind wir Wirbeltiere, das ist schon einmal sehr gut,<br />
denn so haben wir sehr viel mehr Ähnlichkeit mit den<br />
Menschen als zum Beispiel eine öde Fliege. Unsere Gene sind<br />
denen von den Menschen ziemlich ähnlich. An Menschen darf<br />
man nämlich nicht forschen, deshalb nimmt man Fische.<br />
Wir sind viel leichter zu halten als zum Beispiel Elefanten.<br />
Die sind viiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiel größer als wir, sie nehmen mehr Platz<br />
weg und <strong>machen</strong> mehr Dreck. Außerdem stinken sie.<br />
Wir können pro Woche bis zu 200 Eier legen, ganz schön viel,<br />
gell? Und wir sind nach drei bis vier Monaten vollständig ausgebildet,<br />
nicht so wie die Menschen, die brauchen ewig. Das<br />
Beste für die Forscher: Wir sind zu Beginn unserer Entwicklung<br />
durchsichtig, dadurch kann die Entwicklung von Organen und<br />
Geweben direkt am lebenden Embryo beobachtet werden.<br />
Das war jetzt ganz schön viel, was ihr euch gerade merken musstet.<br />
Deshalb unsere besten Eigenschaften hier noch einmal:<br />
- Wir sind Wirbeltiere, also dem Menschen ähnlich<br />
- Wir sind leicht zu halten<br />
- Wir legen bis zu 200 Eier pro Woche<br />
- Wir sind nach drei bis vier Monaten vollständig entwickelt<br />
- Unsere Embryonen sind durchsichtig!<br />
So, jetzt wisst ihr Bescheid und ich hoffe, dass ihr euch ein<br />
Biotop kauft und wir uns bald wiedersehen.
06<br />
70<br />
Anne Löchner<br />
Sensationen überall<br />
Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich begrüße Sie<br />
herzlich zu unserer Fernsehsendung „Sensationen überall“!<br />
Heute gibt es aus dem Tierleben im afrikanischen Regenwald<br />
große Neuigkeiten. Zwei deutsche Biologen, Frau Dr. Frisch<br />
und Herr Dr. Helt, waren in den letzten Monaten im Kongo,<br />
um die Bestände der dort lebenden Gorillas zu untersuchen.<br />
Ursprünglich wurde den beiden aufgetragen, zu prüfen,<br />
ob die Gorillas weiterhin vom Aussterben bedroht sind.<br />
Bei ihren Forschungen machten die Wissenschaftler eine<br />
außergewöhnliche Entdeckung. Sie sahen einen völlig<br />
aufrecht gehenden Gorilla! Normalerweise haben Affen ihren<br />
Körperschwerpunkt vor dem Körper und laufen daher meist<br />
leicht gebückt, doch dieser, wie Sie im Bild sehen können,<br />
läuft stets sehr aufrecht! Inzwischen ist es Frau Dr. Frisch und<br />
Herrn Dr. Helt gelungen, dieses seltene Tier zu fangen. Nun<br />
führen sie verschiedene Versuche mit dem Affen, den sie<br />
Newcomer genannt haben, durch und suchen nach den<br />
Ursachen für seinen aufrechten Gang.<br />
Dieses Phänomen könnte ungeahnte Folgen haben. Der<br />
Mensch und der Affe haben gemeinsame Vorfahren. Aus<br />
diesen entwickelten sich verschiedene Gruppen. Die frühen<br />
Menschen begannen aufrecht zu laufen, die frühen Affen<br />
gingen weiterhin gebückt. Dies geschah vor Millionen von<br />
Jahren und das aufrecht gehende Geschöpf begann ein<br />
Bewusstsein zu entwickeln!<br />
So hat sich über diese vielen Jahre der Mensch entwickelt.<br />
Menschen können im Gegensatz zu Affen vorausschauend<br />
planen, abstrakt denken, relativ genaue Abbildungen von<br />
Gesehenem zeichnen, mit Feuer umgehen und hochtechnische<br />
Geräte entwickeln.<br />
Sollte sich dies jetzt etwa ändern? Gibt es eine Affenevolution,<br />
wie sie der Mensch durchgemacht hat? Haben wir etwas zu<br />
befürchten? Wird die Welt in der Zukunft von den Affen regiert?<br />
Frau Dr. Frisch und Herr Dr. Helt haben inzwischen den<br />
Großauftrag, dies zu untersuchen. Viel haben sie noch nicht<br />
herausgefunden. Jedoch scheint Newcomer auch über eine<br />
sehr hohe Intelligenz zu verfügen. Wahrscheinlich hat er bis<br />
jetzt noch nie einen Menschen oder einen Gegenstand<br />
des Menschen gesehen, aber er lernt schnell, alle Gegenstände<br />
zu benutzen. Inzwischen spielt er zusammen mit Dr. Frisch,<br />
Dr. Helt und einigen Kindern des nächsten Dorfes Fußball<br />
und Tennis. Auch hat er schon einige Male am Unterricht<br />
der Dorfschule teilgenommen, wobei Newcomer versucht hat,<br />
sich mit wilden Gesten am Unterricht zu beteiligen. Auch<br />
haben Newcomer die vielen Ausflüge mit dem Auto in die<br />
nähere Umgebung sehr gut gefallen!<br />
Nun soll erforscht werden, wie man sich mit Newcomer<br />
verständigen kann. Dr. Frisch und Dr. Helt sind schon dabei,<br />
eine einfache Sprache zu entwickeln. Außerdem sind die<br />
beiden Biologen schon auf der Suche nach einem passenden<br />
Weibchen für Newcomer, um zu testen, ob sich dieses<br />
Phänomen auch in der nächsten Generation fortsetzt.<br />
Entwickelt sich der Affe zu einem intelligenten Wesen wie<br />
der Mensch? Entsteht ein zweiter Mensch? Immerhin sind<br />
305 Körpermerkmale von Mensch und Menschenaffe gleich.<br />
Der Aufbau der Knochen, Muskeln und Nieren ist gleich,<br />
ebenso die Zusammensetzung des Blutes und die Ausbildung<br />
der Blutgruppen. Es könnte also sein, dass sich ein weiteres<br />
Wesen entwickeln könnte, das mit der Zeit so intelligent wird<br />
wie der Mensch! Dies sind die Grundinformationen. Wir<br />
werden Ihnen sofort Bescheid geben, wenn es neue Ergebnisse<br />
gibt. Weitere Bilder und Informationen finden Sie im Internet<br />
unter www.sensationen-ueberall/newcomer.de.<br />
Unser nächstes Thema kommt aus...<br />
06<br />
71
1 Dialog: Nomen est Omen. Schreiben ist<br />
im Grunde immer ein Dialog. Schreiben,<br />
um mit sich und dieser Welt in ihren<br />
offenrätsligen Facetten im Zwiegespräch<br />
zu bleiben. Auch wenn dies in aller<br />
Klausur geschieht. Der Einsamkeit des<br />
Schreibens geht immer auch die<br />
Gemeinsamkeit des Erfahrens und Sich-<br />
Verhaltens voran.<br />
06<br />
72<br />
Eine ganz eigenwillige Auseinandersetzung und ein Dialog,<br />
der die deutsche Sprache aufbricht – sie quasi kreativ brüchig<br />
werden lässt – ist die Begegnung mit Schülerinnen, Schülern<br />
und Studierenden, die sich im Osten Europas unserer Sprache<br />
wortnah fühlen und diese als Schreibsprache ausgewählt<br />
haben. Ränder der deutschen Sprache, die vor allem aus der<br />
Distanz zu einem sich immer wieder von Neuem nachschöpfenden<br />
Zentrum ergeben. Ränder, die eine Spannung<br />
erzeugen, aus der das Altüberlieferte in die Grenzerfahrung<br />
mit den jeweiligen Sprachen münden, die in den betreffenden<br />
Ländern hauptsächlich gesprochen werden und die dortige<br />
<strong>Literatur</strong>sprache gestalten.<br />
Die Schreibwerkstätten – Schreiben im Dialog – in Rumänien,<br />
Litauen und Lettland sind deshalb ein originäres Beispiel dafür,<br />
dass „überall dort Neues entsteht, wo die Sprache an ihren<br />
Rändern ausfranst“, um Josef Brodsky zu Wort kommen zu lassen.<br />
Es ist bemerkenswert, was wir in den Tagen während der<br />
<strong>Literatur</strong>-Reisen dort erfahren und in den entstandenen Texten<br />
nachlesen durften.<br />
José F.A. Oliver & Sergiu Stefanescu<br />
06<br />
73
Aleksander Golubow (Lettland)<br />
Traum (Fragmente)<br />
40. 7.30 Uhr. Der große Traum vom Schlafen.<br />
Ich verstehe nichts. Aber das ist so interessant. Ich sehe den Schlaf. Es ist der beste<br />
Film der Welt. In der Welt, in der ich zu viel sehe. In meinem Schlaf sehe ich verschiedene<br />
Menschen, verschiedene Orte. In meinem Schlaf kann ich Superman sein.<br />
Nein. Wenn wir schlafen, sehen wir nichts von dem, was in der Welt ist.<br />
41. 8.00 Uhr: Der Traum vom Essen<br />
42. Der Traum vom Gehirn.<br />
Wo ist mein Hirn? Ich verstehe mich nicht. Ich sehe mich im Spiegel und denke:<br />
Das bin nicht ich. Ich bin anders, wo sind meine Gedanken? Ich kann nicht denken.<br />
Wo sind meine Träume, ich kann nicht träumen. Oh nein, alles ist gut. Das war schon<br />
früher so. Aber warum ist das nicht Ich? Ich war anders. Ich sehe und denke nur.<br />
Verstehe, es ist gut. Ich kann denken. Das ist das Beste, das ich tun kann.<br />
Wahrscheinlich sehe ich eine Fotografie.<br />
43. Der Traum von einem großen Baum in der Welt.<br />
Ich bin Schöpfer dieses Baumes. Ja, das gefällt mir sehr. Ich sehe diesen Baum<br />
jeden Tag. Ich verstehe, dass ich ein Schöpfer bin. Vor allem dann, wenn ich fühle,<br />
dass das mein Traum ist. Wer in der Welt träumt von einem noch größeren Baum?<br />
Aber das ist nur ein Traum.<br />
44. Der Traum von Menschen, die meine Gedanken verstehen.<br />
45. Der Traum davon, dass mich jemand anruft.<br />
46. Der große Traum vom Tode.<br />
Viele Menschen sind tot. Einige meiner Freunde sind tot. Wir verstehen alle<br />
dieses Wort:„Tod“. Das ist etwas, das Menschen nicht sehen. Wir können an der<br />
Bedeutung dieses Wortes nichts ändern. Aber für mich steckt hinter dem Wort „Tod“<br />
ein moralischer Tod. Daran kann man etwas ändern. Mir scheint, ich bin tot. Warum?<br />
Heute verstehe ich das noch nicht. Aber das ist nicht das Ende meines Lebens.<br />
47. Der Traum vom besten Freund.<br />
Auf einen Blick verstehe ich, was mir mein Freund bedeutet. Wer ist mein Freund?<br />
Ist es ein Mensch? Ich kann sagen: Nein! Nur mein Auto ist mein Freund. Ein Freund,<br />
mit dem ich reden kann. Es ist mein Freund und kennt alle meine Geheimnisse.<br />
Es ist hilfsbereit und arbeitsam. Warum kann es mein bester Freund sein, obwohl<br />
es nicht reden kann? Aber ich verstehe, was mein Freund denkt. Es erzählt alles<br />
ohne Wörter.<br />
48. Der Traum vom Feuer.<br />
Wie groß das Feuer, so groß auch der Traum.<br />
06<br />
74<br />
Kitija Balcare (Lettland)<br />
***<br />
in einem Illusionskäfig<br />
wohne ich jetzt<br />
sie necken mich<br />
„du bist in Unfreiheit!“<br />
ich beneide sie nicht<br />
die Seele ist doch frei<br />
Andrei P. Jecza (Rumänien)<br />
***<br />
Schatten und Licht,<br />
Ich und damals.<br />
Der kalte Fisch,<br />
Auf dem frisch lackiertem Tresen.<br />
Blau.<br />
Die Dame schaut empor,<br />
Zündet eine Zigarette an<br />
Und hört der Stille zu.<br />
(Schweigen)<br />
Ein Tuch bedeckt ihre Schultern.<br />
Rot.<br />
Ich fotografiere.<br />
Schreibe mit Licht und Schatten.<br />
Schwarz,<br />
Weiß.<br />
Er in sich.<br />
Sie empor.<br />
Er sie,<br />
Sie ihm.<br />
Eine zerfetzte Hose<br />
Die alte Sonnenbrille<br />
Und sie,<br />
Im vierten Stock.<br />
06<br />
75<br />
Inga I. (Litauen)<br />
Die Brücke<br />
Die grüne Brücke<br />
Was brückt sie?<br />
Zwei Welten<br />
Viel:<br />
Leicht<br />
Zwei Teile<br />
Das Zentrum – die Altstadt<br />
Die Stadt<br />
Die Brücke<br />
Günther Mild (Rumänien)<br />
***<br />
Krebs kriecht durch die Augen<br />
Wie eine Schildkröte, die niemals schläft,<br />
Gekochte Eier liebt er nicht, nur<br />
den Leichnam meines Vaters.<br />
Vater schwimmt im Ganges<br />
Deutschlands, wie eine Heilige.<br />
Kein Heiler kann ihm helfen.<br />
Ist er tot gewesen?<br />
Oder nur weggeflogen?<br />
Darf ich jemand heilen?<br />
István Takács (Rumänien)<br />
***<br />
Die Stille erstarrt,<br />
klagende Klänge erkennen<br />
bis zur Unkenntlichkeit.<br />
Die Reinheit des Lärms der Stille,<br />
das Wort, das nicht befreit.<br />
In der Ferne,<br />
das Stumme, das Taube,<br />
es erschrickt und flieht,<br />
fleht und zieht<br />
weiter zum Wort.
Schreiben im Dialog: Das Projekt Perspektiven<br />
Texte von Jugendlichen aus Czernowitz<br />
Die eigene Perspektive entdecken.<br />
Die Welt ist so wie du sie siehst – das behaupten nicht nur Philosophen und Psychologen, das sagen auch<br />
die Kinder und Jugendlichen aus Moldawien und der Ukraine, die am internationalen Fotoprojekt<br />
Perspektiven teilgenommen haben.<br />
Dieses Projekt ist eine Initiative des IFA und soll zur kulturellen Kommunikation beitragen. Die Präsentation<br />
der Ausstellung fand am 7. Februar im Palast „Jugend der Bukowina“ statt. Die Jugendlichen aus der Ukraine<br />
und Moldawien stellten Gleichaltrigen und anderen Interessierten ihre Sicht der heutigen Welt vor, indem<br />
sie eigene Fotos zeigten. Die offizielle Eröffnung machte Katrin Hartmann, die Vertreterin der Robert Bosch<br />
Stiftung am Bukowina Institut. Sie bemerkte unter anderem, dass durch dieses Projekt die Kreativität und<br />
Vorstellungskraft der Jugend gefördert werden solle.<br />
Danach haben die jungen Fotografen ihre Eindrücke dazu geäußert. Kristina Balaban (18) aus Kishinev<br />
meinte: „Wir sind keine professionellen Fotografen, wir haben das alles in drei Wochen gelernt, aber die<br />
Erfahrungen, die wir gesammelt haben, lehren uns auf die Welt anders zu schauen und auf Kleinigkeiten<br />
zu achten, die Freude bringen können.“<br />
Ira Iwanina<br />
Ein Blick<br />
Foto: Mihail Tulus<br />
06<br />
76<br />
Halyna Hickowa<br />
Er ist so schön! Ich mag seine dunklen Haare, seine klugen,<br />
empfindlichen Augen, seine Stimme, wenn er zum Laufen ruft.<br />
Aber er guckt mich nie an. Warum?<br />
Schwarz und weiß – wir würden so gut zusammen passen. Rrrr.<br />
Ich erinnere mich an den grauen Tag, im Frühling, wo wir hergekommen<br />
sind. Es regnete, und die anderen waren irgendwo<br />
in ihren Buden. Niemand störte uns. Eine Weile saßen wir hier,<br />
dann hat er vorgeschlagen, durch die Stadt zu laufen.<br />
Unterwegs haben wir gegessen, und sind dann zum Fluss gerannt.<br />
Aber wirklich gerannt, durch die Pfützen auf den Straßen, unter<br />
den Regentropfen. Am Fluss schwiegen wir, wir beobachteten den<br />
Regen, der, wie immer im Frühling, neues Leben um uns herum<br />
schuf. Die Bäume standen noch kahl und es schien, als würden<br />
die Blätter sprießen. Und bei dieser Geburt der Natur waren wir<br />
zusammen und nur zu zweit. Aber seit der Zeit guckte er mich<br />
nie mehr an. Warum? Rrrr.<br />
Na, heute scheint die Sonne. Heute ist alles anders. Er steht hier.<br />
Seine dunklen Haare, seine Stimme. Seine Augen? Sie sind nicht<br />
mehr so empfindlich, nicht mehr so klug. Etwas ist anders in ihnen.<br />
Jetzt wirkt er ganz anders auf mich. Warum?<br />
Ira Sadoroshna<br />
Fotokunst gegen Depression<br />
06<br />
77<br />
Foto: Ana Capsâzu<br />
In der Kunst mag ich die Werke, wo es nichts Übriges gibt und wo<br />
das Dargestellte symbolisch die Grundidee des Autors vermittelt.<br />
Das zeugt mindestens von dem Professionalismus des Künstlers<br />
und von seinem tiefen Verstehen des Lebens.<br />
Viele Fotos von den jungen Fotokünstlern aus Moldova können<br />
dementsprechend zu den richtigen Kunstwerken gezählt werden<br />
(z.B. „Freunde“ von Michail Tulush, „Nur zu zweit“ von Andrij Sheru,<br />
„Ich liebe dich“ von Emila Huzuljak u.a.). Fast alle Fotos strahlen<br />
Freude, Optimismus, Frische, manchmal auch Humor aus<br />
(z.B. „Mein erstes Foto“ von Wadim Mynsatu) und bringen die<br />
Zuschauer in Hochstimmung.<br />
Unter einigen ganz anderen, die den Problemen der Jugendlichen<br />
gewidmet sind, scheint das Foto von Anna Kapsysu „Depression“<br />
meisterhaft gestaltet und treffend benannt zu sein.<br />
Ein einsamer junger Mensch, dunkel gekleidet, an die schwarzweiße<br />
Wand gelehnt, hockt zusammengeschrumpft mit<br />
zusammengefalteten Händen und gesenktem Kopf nieder.<br />
Eine schmutzige, graue Straße, graue Schatten an der Wand.<br />
Nichts mehr.<br />
Wie in jedem künstlerischen Werk gibt es viel unbewußt Dargestelltes hier. Ich bezweifle,<br />
daß die junge Autorin alles speziell für ihr Foto vorbereitet hat. (Das Bild sieht ganz realistisch<br />
aus.) Solche Episode scheint aus dem gewöhnlichen Alltagsleben herausgerissen<br />
zu sein und taucht ab und zu vor unseren Augen auf, wenn wir z.B. durch unsere Stadt<br />
bummeln.<br />
Depression ist ein Kennzeichen unserer Welt und für Jugendliche, die sich selbst und<br />
die nicht immer so freundliche Wirklichkeit zu verstehen versuchen, und wird oft zum<br />
richtigen Problem.<br />
Ich finde dieses Bild vollkommend und psychologisch richtig gestaltet. Ein junger Mensch<br />
in einer Schutzpose, von der ganzen Welt abgeschirmt, sieht von allen verlassen und<br />
niedergeschlagen aus. (Es ist unklar und prinzipiell unwichtig, ob ein Mädchen oder ein<br />
Junge dargestellt ist.) Die weiße Wand hinter dem Kind gilt unter Künstlern und Psychologen<br />
als Symbol des Todes. An der Wand sind graue Schatten (Abbildungen unserer Welt)<br />
zu bemerken. Vor dieser Welt hat das Kind seinen Kopf gesenkt. Der graue Asphalt mit<br />
einem großen hässlichen Fleck darauf unter den Füßen der schwarzen Gestalt verstärkt<br />
den Wirkungseffekt des Fotos. Das Gesehene ruft bei dem Passanten den unbewussten<br />
Wunsch hervor, den einsamen jungen Menschen zu beschützen. Sieht unsere Welt in den<br />
dunkelsten Momenten unseres Lebens nicht so aus?<br />
Ich meine, eine bessere visuelle Darstellung der Depression ist kaum zu finden.
Galyna Iwasjuk<br />
Was heißt Freundschaft?<br />
Foto: Ana Capsâzu<br />
Meine Freunde! Gibt's aber Freunde?<br />
(Aristoteles)<br />
Wenn man sich dieses Bild ansieht, so lächeln einander drei<br />
richtige Freundinnen zu. Diese Mädchen denken vielleicht, dass<br />
sie wirklich Freunde sind. Ich möchte daran gerne glauben.<br />
Trotzdem lässt sich an diesem Lächeln keine Treue, keine richtige<br />
Hingabe, sondern etwas Egoismus sehen. Sie beziehen alles auf<br />
ihr eigenes „Ich“. Jede ist die Beste, die Klügste, die Schönste in<br />
ihrer Familie. Und kann das alles in einer engen Freundschaft<br />
zusammenfallen? Was mich betrifft, habe ich noch niemals<br />
Freundschaft gesehen. In unserem Alter ist das einfach eine<br />
interessante Freizeitverbringung oder Protest gegen die Eltern,<br />
und wenn die Menschen älter sind, ist es meistens Heuchelei.<br />
Was ist dann Freundschaft? Vielleicht gibt es einfach keine<br />
Freundschaft? Vielleicht haben sie sich Schriftsteller und Dichter<br />
ausgedacht, damit das Leben nicht so grau aussieht?<br />
Lachen sie einander so ehrlich, um später zu verraten?<br />
Oder wenn es keine Freundschaft gibt, gibt es auch keinen Verrat?<br />
Wie dem auch sei, ich habe Freunde. Und was später wird, werden<br />
wir mal sehen, was Freundschaft heißt.<br />
Oksana Nakonentschna Jeder kommende Tag gleicht dem gestrigen. Ich warte mit<br />
Ungeduld auf etwas Neues, doch mit jedem Sonnenuntergang<br />
mache ich immer wieder die Entdeckung, dass alle meine<br />
Erwartungen sinnlos und vergeblich sind. Jeden Tag galoppiere<br />
ich durch die ganze Umgebung, esse frisches Gras und lasse mich<br />
bald von den Sonnenstrahlen, bald von Regentropfen berühren.<br />
Ich mag keinen Winter, weil das Gras seinen Geschmack verliert<br />
und mir die Sonne viel seltener ihre Wärme schenkt.<br />
Die Sonnenstrahlen sind viel kürzer und reichen nicht bis zur Erde.<br />
Alles ist mit einem weißen Teppich bedeckt und sogar der Abdruck<br />
jedes Lebe- und Nichtlebewesens ist weg. Man muss nur abwarten,<br />
bis die dicken Wolken der Sonne ihre Freiheit wiedergeben.<br />
Foto: Gregorii Cebanov<br />
Und dann fange ich wieder an, mich nicht so einsam und von der<br />
ganzen Welt verlassen zu fühlen, da mir ständig jemand auf dem<br />
Fuße folgt und wie kein anderer so nahe an mich herankommen<br />
kann. Das ist das Treuste was ich jemals besaß und was immer<br />
vertraut war. Ich kann zu beliebiger Zeit mit ihm reden, doch leider<br />
keine Antwort bekommen. Er ist genau so wie ich bin. Bald froh,<br />
bald traurig. Bald schnell, bald langsam. Bald satt, bald hungrig.<br />
Nicht immer, aber immer öfter.<br />
06<br />
78<br />
Mischa Kiliar<br />
Foto: Emilia Gutuleac<br />
06<br />
79<br />
Es war ein hübsches Wetter. Er war im Kindergarten. Die Kinder<br />
summten wie Bienen. Kleine, komische Gesichter... Hier. Dort. Und<br />
er fühlte sich natürlich wohl in so einer sogenannten Kinderclique.<br />
Morgen hatte er Geburtstag. „Oh“, dachte er, „ich bin schon groß<br />
genug geworden und die Mutti hat mir versprochen, ein Fahrrad<br />
zu kaufen. Also morgen! Ich freue mich wie ein Schneekönig!“<br />
So dachte er und stand am Fenster.<br />
„Zum Tisch, zum Tisch!“, schrie die Erzieherin und riss ihn damit<br />
aus seinen tollen Gedanken. Es war schon dunkel, aber niemand<br />
kam, um ihn vom Kindergarten abzuholen. „Merkwürdig“, dachte<br />
er und das Kinderherz war voller Angst...<br />
Tageszeitung<br />
... Heute früh in der Brückenstraße 11 wurde eine<br />
tote Frau gefunden, getötet von ihrem Mann<br />
mit zehn Messerstichen in der Brust.<br />
Es war ein hübsches Wetter. Er stand am Fenster in der Küche,<br />
wo ihm sein Mütterchen jeden Morgen Frühstück zubereitete.<br />
Das Glas in der Tür war weg. Auf dem Boden – Blut. Im Haus<br />
waren so viele Leute. Er fühlte sich aber allein. Auf der Straße<br />
fuhren die Kinder mit den Fahrrädern. Er dachte ans Fahrrad<br />
nicht mehr. Er war schon sechs Jahre alt. Er war groß genug<br />
geworden...groß genug, um in der Welt allein zu bleiben...<br />
Es war ein hübsches Wetter. Er stand am Fenster. Die Kinder<br />
summten wie Bienen. Morgen hat er Geburtstag. Er ist schon<br />
sieben Jahre alt. Im Kinderherzen glimmt die Hoffnung, ein<br />
beliebiges Geschenk zum Geburtstag zu bekommen. Es waren<br />
so viele Kinder draußen im Garten. Aber er wollte lieber allein am<br />
Fenster bleiben, obwohl es ein hübsches Wetter war. Ein hübsches<br />
Wetter hinter dem Fenster des Kindergartens für die Waisen...
Larissa Olektschyn Wer einmal einen sonnigen Morgen mit seiner bunten Mischung<br />
nächtlicher Träume, weicher Sonnenstrahlen und angenehmer<br />
Kühle erlebt hat, der kann mich gut verstehen. Denn Morgenstunde<br />
ist nicht nur Genesung von kopfzerbrechenden Problemen<br />
und Befürchtungen. „Morgen“ klingt für mich gleich wie „Frische“,<br />
„Heiterkeit“, „Munterkeit“ und „Anfang“.<br />
Der Anfang vom Leben ist unmittelbar mit der Geburt des Tageslichtes<br />
verbunden. Junge und kreative Energie erobert sogar den<br />
alten Körper und verleiht ihm Grazie, Zärtlichkeit und gleichzeitig<br />
einen sicheren Auftritt. In den frühen Stunden werden die Leute<br />
im hohen Alter ideenreich und aufgeschlossen wie zu ihrer<br />
Jugendzeit. Die Jugendlichen entlehnen für eine Weile Weisheit<br />
Foto: Emilia Gutuleac<br />
und Erfahrung von ihren älteren Mitmenschen.<br />
Man erwartet nur die schönsten und sinnvollsten Ereignisse,<br />
die das Leben zu einer abenteuerlichen Geschichte <strong>machen</strong>.<br />
Man summt ein Liedchen und freut sich, wenn es den Einklang<br />
im Vogelgezwitscher findet. Also, man genießt jede Minute dieser<br />
wunderschönen Zeit, die leider sehr schnell vorbei ist und für viele<br />
immer noch unbekannt bleibt.<br />
Julia Wennytschuk<br />
Liuda Meschtscherjakowa<br />
Der Pfad<br />
Foto: Galina Kioroglo<br />
06<br />
80<br />
Netter Pfad. Er strahlt Ruhe aus. Oder?<br />
Sag nicht, dass es dir egal ist, denn ich glaube dir nicht.<br />
Ich weiß genau, was du fühlst. Deine Schuld. Ich fühle sie auch.<br />
Ich erinnere mich immer an jene Nacht in diesem Wald.<br />
Es war unsere Nacht. Nur deine und meine. Sag nicht, dass du<br />
alles vergessen hast. Ich wärmte meine kalten Hände am Feuer<br />
und meine fröstelnde Seele an Dir. Du aber hast alles verdorben.<br />
Du bist einfach gegangen, ohne ein Wort zu sagen, und hast mich<br />
hier alleine sitzen lassen. Du hast alles zunichte gemacht, einfach<br />
in Schutt und Asche gelegt! Ich bin sicher, du hast damals nicht<br />
gewollt, wegzugehen. Du hast es aber nicht gekonnt, bei mir zu<br />
bleiben. Es lag an deinem Stolz. Du bist diesem Pfad entlang in<br />
die Zukunft gegangen, Ich – in die Ewigkeit...<br />
Ich stand am Rande des Abgrundes und sah keinen Boden,<br />
genauso wie du jetzt hier stehst. Ich hatte auch Angst.<br />
Aber du musst mutig sein.<br />
Mein Süßer. Hab’ keine Angst. In dieser neuen Welt wirst du<br />
keine Schmerzen fühlen, nur ewige Seeligkeit. Ich vermisse dich.<br />
Ich bin müde vom Warten... Komm schneller... Komm...
<strong>Literatur</strong> <strong>machen</strong> 06 Jahrgang 2004