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Literatur machen

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06<br />

08<br />

Samuel Teixeira<br />

Glashaus in Scherben<br />

Ich stamme aus der Generation von<br />

Kindern und Jugendlichen, die in<br />

Gewächshäusern aufwuchs.<br />

Wir alle liebten die stickige Schwüle, die<br />

verdunstende Schweißperlen in unsere<br />

rosigen Bäckchen trieb. – Das Hygrometer<br />

sagte: 70% – Wir waren eingewickelt<br />

in wärmende Dampfwolken; der<br />

Mangel an Schnullern war uns bald egal.<br />

– Das Thermometer flüsterte: 28°C –<br />

Meine fürsorglichen Eltern wollten verhindern,<br />

dass ich eingehe. Papa glaubte<br />

nicht an die Wirkung von Gewächshäusern.<br />

Mama aber war fest davon<br />

überzeugt. Sie war auch diejenige, die<br />

einen Führerschein ihr Eigen nannte.<br />

– Nächster Halt: Da, wo die Samen<br />

sprießen, Lavendel blüht –<br />

Es war mir ein Leichtes, mich anzupassen.<br />

Warum? Na, meinem juckenden Zahnfleisch<br />

war es von je her verwehrt worden,<br />

die Bekanntschaft mit Schnullern<br />

zu schließen. Ich wusste nicht einmal,<br />

wie man Schnuller buchstabiert. OK…<br />

Letzteres ist verständlich, immerhin musste<br />

ich erst 4 Finger von der verkrampften<br />

Faust lösen, wenn Tante Emma mich<br />

nach dem Alter fragte.<br />

Es schien unentwegt die Sonne. Jedoch<br />

konnten wir getrost auf Sonnenbrillen<br />

verzichten, denn unsere Netzhaut hatte<br />

grelle, stechende Blitze nicht zu fürchten.<br />

Kurze Revidierung: Ich hatte sie nicht zu<br />

fürchten. Jeder hatte sein eigenes,<br />

beschlagenes Glashaus, wohlgemerkt…<br />

Jeder war im Besitz seiner eigenen, artifiziellen<br />

Festung…<br />

Wasser, Nährstoffe, Licht, Vitamine,<br />

Spurenelemente, Dünger, Sauerstoff und<br />

vieles mehr… alles im Überfluss vorhanden.<br />

Und so bildete ich grüne<br />

Farbpigmente. Ja, auf meinem nackten<br />

Körper war kein einziger Fleck mehr<br />

ausfindig zu <strong>machen</strong>, der nicht grün war.<br />

Und ich wurzelte mich fest. Dicke, robuste,<br />

widerstandsfähige, unerschütterliche<br />

Wurzeln gruben sich tief im humiden<br />

Humus, in den durchlockerten Erdklumpen<br />

ein. So war es mir möglich,<br />

an noch mehr Grundwasser zu reichen.<br />

…Allein: Der Schnuller fehlte mir mehr<br />

und mehr.<br />

………. Vielleicht war ich einfach schon<br />

ausgewachsen oder die zähen Wurzelsprosse<br />

zerschlugen martialisch anderer<br />

Leute Hausböden oder aber hatten<br />

meine Eltern vergessen, Lichtintensität,<br />

Temperatur und Luftfeuchtigkeit zu<br />

regulieren. Ich erinnere mich nämlich,<br />

dass ihre Gesichter faltiger geworden<br />

waren, die dunklen Augenringe in zunehmendem<br />

Maße eine Mischung aus<br />

blauen Flecken und lang gezogenen<br />

Furchen darstellten. Und so mussten<br />

nach und nach auch deren Gedächtnisse<br />

verschrumpelt sein. Was aber zählt, ist,<br />

dass, urplötzlich, mit einer zerstörerischen<br />

Gewalt und unter lautem Gebrüll<br />

(möglich auch, dass es mir nur so<br />

vorkam) die durchsichtigen Scheiben<br />

eingeschlagen wurden!<br />

Die Wurzeln barsten wie tausende<br />

Glassplitter auf einmal, die Erde verwandelte<br />

sich in staubtrockenen Wüstensand,<br />

die Epidermis verblich, glich nun<br />

vielmehr der schützenden Oberfläche<br />

eines Albinos, sogar Lavendel verkümmerte…<br />

– Das Thermometer schrie: -5°C!<br />

– Höhnischen, vor Lachen verzerrten<br />

Mündern der Feindseligkeit begegnete<br />

ich, als die schützende Burg unter den<br />

aufspießenden Klippen im aufbrodelnden<br />

Meere versunken war und kaum<br />

erwähnenswerte Ruinen des Vergessens<br />

hinterließ. Ich stürzte hilflos zu Boden,<br />

denn die untrainierten Knochen konnten<br />

sich nicht mehr daran entsinnen, wie<br />

man die lasche Körperhülle stützt,<br />

sodass man zu stehen vermag; die aufschlagenden,<br />

schwachen Gliedmaßen<br />

verursachten aufgeschürfte, blutige<br />

Fleischwunden in der entblößten Haut.<br />

…Beißende Kälte, erstickender Sturmwind…<br />

eilende Menschenmassen, im<br />

Rhythmus einer unbekannten, düsteren<br />

Stadt, die unaufhörlich mit lautem<br />

Trommelschlag in meinen Ohren widerhallte<br />

und das Trommelfell zerplatzen<br />

ließ…<br />

…Ich stamme aus einer Generation von<br />

erwachsenen Männern und Frauen,<br />

deren Glashäuser unangekündigterweise<br />

zerbrachen, denen Schnuller gänzlich<br />

fehlten, kompensierende, künstlich<br />

erzeugte Dampfwolken, in die man uns<br />

einbettete, um unser dröhnendes<br />

Geheule, das uns bisweilen überkam,<br />

zu überhören, indes ihren Dienst getan<br />

hatten.<br />

Ich will nicht sagen, dass diejenigen mit<br />

dem schelmischen Grinsen, diejenigen<br />

mit dem eklatanten Lachflash es unbedingt<br />

leichter hatten. Allerdings, und das<br />

weiß ich mit vollkommener Sicherheit:<br />

Ich stamme aus einer Generation von<br />

ungewollten Misanthropen, die lange<br />

brauchten, um erneut aufzustehen.<br />

06<br />

09<br />

Larissa Bellina<br />

Spring- Spring- Springseil<br />

Energisch und mit zitternder Hand hatte Mutter sie vor die<br />

Türe geschoben. Das Springseil in der Hand stand sie da,<br />

die geschlossene Türe verschwamm vor ihren Augen.<br />

Dahinter Geschrei, irgendetwas fiel krachend zu Boden.<br />

Der Druck, der ihr von irgendwo aus dem Innersten Tränen<br />

empor gepresst hatte, ließ nach, als sie den Aufzug rief.<br />

Nahezu geräuschlos glitten die Türen auseinander und<br />

sie verschwand. Suchte Schutz hinter ihnen, flüchtete<br />

vor dem eskalierenden Streit, der gedämpft noch im Gang<br />

zwischen den Wänden hallte.<br />

Im zweiten Stock stieg die Alte mit dem Hund ein.<br />

„Na Kleine, gehst du spielen?“<br />

Sie wusste, dass die Frau lächelte. Das tat sie immer, wenn<br />

sie sich trafen. Doch sie wollte jetzt kein Lächeln! Ihre Finger<br />

schlossen sich um die hölzernen Griffe des Springseils.<br />

Hölzerner Trost für ihr Herz, das in müdem Takt fort pochte.<br />

Mit einem Ruck waren sie im Erdgeschoss. Sie bemerkte<br />

es erst, als die Alte sich umsah nach ihr. Kurz bevor die<br />

Türen sich schlossen, verließ sie den Lift. Einer der Holzgriffe<br />

fiel klackend zu Boden. Mit schabendem Geräusch schleifte<br />

sie ihn hinter sich her. Über den leeren Platz in der Mitte der<br />

Plattenbausiedlung nach hinten, wo die Mülltonnen standen.<br />

Sie wirbelte eine Menge Staub auf, als sie neben dem<br />

Betonweg um die Ecke bog. Und plötzlich war das<br />

wunderbare Rot ihrer Schuhe einem dreckigen Rostbraun<br />

gewichen. Es war still um sie herum und je fester sie ihre<br />

kleinen Lippen zusammenpresste, desto unerträglicher<br />

wurde die Stille in ihr selbst. Und da sie weder singen<br />

wollte, noch reden, sondern schreien und da sie wusste,<br />

dass sie, einmal angefangen zu schreien, kein Ende finden<br />

würde, bis der Schrei die ganze Welt überrollt hatte,<br />

schwieg sie fort. Hüpfte sich im Takt des auf den Beton<br />

klatschenden Sprungseils einem neuen Tag, einem neuen<br />

Leben entgegen, in der Hoffnung, dass man sie vergaß,<br />

wenn sie nur lange genug sprang, dort unten hinter<br />

der Ecke, bei den Mülltonnen.

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