Literatur machen
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Schreiben im Dialog: Das Projekt Perspektiven<br />
Texte von Jugendlichen aus Czernowitz<br />
Die eigene Perspektive entdecken.<br />
Die Welt ist so wie du sie siehst – das behaupten nicht nur Philosophen und Psychologen, das sagen auch<br />
die Kinder und Jugendlichen aus Moldawien und der Ukraine, die am internationalen Fotoprojekt<br />
Perspektiven teilgenommen haben.<br />
Dieses Projekt ist eine Initiative des IFA und soll zur kulturellen Kommunikation beitragen. Die Präsentation<br />
der Ausstellung fand am 7. Februar im Palast „Jugend der Bukowina“ statt. Die Jugendlichen aus der Ukraine<br />
und Moldawien stellten Gleichaltrigen und anderen Interessierten ihre Sicht der heutigen Welt vor, indem<br />
sie eigene Fotos zeigten. Die offizielle Eröffnung machte Katrin Hartmann, die Vertreterin der Robert Bosch<br />
Stiftung am Bukowina Institut. Sie bemerkte unter anderem, dass durch dieses Projekt die Kreativität und<br />
Vorstellungskraft der Jugend gefördert werden solle.<br />
Danach haben die jungen Fotografen ihre Eindrücke dazu geäußert. Kristina Balaban (18) aus Kishinev<br />
meinte: „Wir sind keine professionellen Fotografen, wir haben das alles in drei Wochen gelernt, aber die<br />
Erfahrungen, die wir gesammelt haben, lehren uns auf die Welt anders zu schauen und auf Kleinigkeiten<br />
zu achten, die Freude bringen können.“<br />
Ira Iwanina<br />
Ein Blick<br />
Foto: Mihail Tulus<br />
06<br />
76<br />
Halyna Hickowa<br />
Er ist so schön! Ich mag seine dunklen Haare, seine klugen,<br />
empfindlichen Augen, seine Stimme, wenn er zum Laufen ruft.<br />
Aber er guckt mich nie an. Warum?<br />
Schwarz und weiß – wir würden so gut zusammen passen. Rrrr.<br />
Ich erinnere mich an den grauen Tag, im Frühling, wo wir hergekommen<br />
sind. Es regnete, und die anderen waren irgendwo<br />
in ihren Buden. Niemand störte uns. Eine Weile saßen wir hier,<br />
dann hat er vorgeschlagen, durch die Stadt zu laufen.<br />
Unterwegs haben wir gegessen, und sind dann zum Fluss gerannt.<br />
Aber wirklich gerannt, durch die Pfützen auf den Straßen, unter<br />
den Regentropfen. Am Fluss schwiegen wir, wir beobachteten den<br />
Regen, der, wie immer im Frühling, neues Leben um uns herum<br />
schuf. Die Bäume standen noch kahl und es schien, als würden<br />
die Blätter sprießen. Und bei dieser Geburt der Natur waren wir<br />
zusammen und nur zu zweit. Aber seit der Zeit guckte er mich<br />
nie mehr an. Warum? Rrrr.<br />
Na, heute scheint die Sonne. Heute ist alles anders. Er steht hier.<br />
Seine dunklen Haare, seine Stimme. Seine Augen? Sie sind nicht<br />
mehr so empfindlich, nicht mehr so klug. Etwas ist anders in ihnen.<br />
Jetzt wirkt er ganz anders auf mich. Warum?<br />
Ira Sadoroshna<br />
Fotokunst gegen Depression<br />
06<br />
77<br />
Foto: Ana Capsâzu<br />
In der Kunst mag ich die Werke, wo es nichts Übriges gibt und wo<br />
das Dargestellte symbolisch die Grundidee des Autors vermittelt.<br />
Das zeugt mindestens von dem Professionalismus des Künstlers<br />
und von seinem tiefen Verstehen des Lebens.<br />
Viele Fotos von den jungen Fotokünstlern aus Moldova können<br />
dementsprechend zu den richtigen Kunstwerken gezählt werden<br />
(z.B. „Freunde“ von Michail Tulush, „Nur zu zweit“ von Andrij Sheru,<br />
„Ich liebe dich“ von Emila Huzuljak u.a.). Fast alle Fotos strahlen<br />
Freude, Optimismus, Frische, manchmal auch Humor aus<br />
(z.B. „Mein erstes Foto“ von Wadim Mynsatu) und bringen die<br />
Zuschauer in Hochstimmung.<br />
Unter einigen ganz anderen, die den Problemen der Jugendlichen<br />
gewidmet sind, scheint das Foto von Anna Kapsysu „Depression“<br />
meisterhaft gestaltet und treffend benannt zu sein.<br />
Ein einsamer junger Mensch, dunkel gekleidet, an die schwarzweiße<br />
Wand gelehnt, hockt zusammengeschrumpft mit<br />
zusammengefalteten Händen und gesenktem Kopf nieder.<br />
Eine schmutzige, graue Straße, graue Schatten an der Wand.<br />
Nichts mehr.<br />
Wie in jedem künstlerischen Werk gibt es viel unbewußt Dargestelltes hier. Ich bezweifle,<br />
daß die junge Autorin alles speziell für ihr Foto vorbereitet hat. (Das Bild sieht ganz realistisch<br />
aus.) Solche Episode scheint aus dem gewöhnlichen Alltagsleben herausgerissen<br />
zu sein und taucht ab und zu vor unseren Augen auf, wenn wir z.B. durch unsere Stadt<br />
bummeln.<br />
Depression ist ein Kennzeichen unserer Welt und für Jugendliche, die sich selbst und<br />
die nicht immer so freundliche Wirklichkeit zu verstehen versuchen, und wird oft zum<br />
richtigen Problem.<br />
Ich finde dieses Bild vollkommend und psychologisch richtig gestaltet. Ein junger Mensch<br />
in einer Schutzpose, von der ganzen Welt abgeschirmt, sieht von allen verlassen und<br />
niedergeschlagen aus. (Es ist unklar und prinzipiell unwichtig, ob ein Mädchen oder ein<br />
Junge dargestellt ist.) Die weiße Wand hinter dem Kind gilt unter Künstlern und Psychologen<br />
als Symbol des Todes. An der Wand sind graue Schatten (Abbildungen unserer Welt)<br />
zu bemerken. Vor dieser Welt hat das Kind seinen Kopf gesenkt. Der graue Asphalt mit<br />
einem großen hässlichen Fleck darauf unter den Füßen der schwarzen Gestalt verstärkt<br />
den Wirkungseffekt des Fotos. Das Gesehene ruft bei dem Passanten den unbewussten<br />
Wunsch hervor, den einsamen jungen Menschen zu beschützen. Sieht unsere Welt in den<br />
dunkelsten Momenten unseres Lebens nicht so aus?<br />
Ich meine, eine bessere visuelle Darstellung der Depression ist kaum zu finden.