Literatur machen
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06<br />
22<br />
Oliver Helppi<br />
Der Grabstein des Akademikers<br />
Weil der Mensch das Wissen liebt, trachtet er danach, es über den Tod hinaus zu behalten.<br />
Am besten kann er sich in die eigenen Gedanken vertiefen, wenn er tot ist, wenn er den<br />
eigenen Geist nicht mehr preisgeben muss.<br />
Der Grabstein besitzt seinen eigenen Sinn. Er, der sich manchmal fragt, ob er nicht zu<br />
einem anderen gehören könnte, übt sich in Gelassenheit, wenn die Leute vorüber ziehen:<br />
„Sie sehen alle gleich aus: Maurer, Beamte und Architekten, sie alle sind nicht interessiert<br />
an mir oder haben wichtige Probleme, die sie beschäftigen.“<br />
Der Grabstein ist eine vollkommene Schönheit. Als solche bezeichnet er sich selbst.<br />
Er weiß es zu schätzen, wenn sich die Leute die Initialen auf seiner Brust durchlesen:<br />
„Warum hat er so einen schönen Steinkranz“ fragen sich die anderen Grabsteine.<br />
„Er ist doch genauso groß wie ich. Er hat mehr Verzierungen, gut, aber er ist auf<br />
jeden Fall so groß wie ich“, sagt einer der anderen Grabsteine.<br />
„Auf jeden Fall zieht er die Blicke der anderen auf sich“ sagt der Grabstein eines<br />
Familiengrabes.<br />
Der Grabstein fügt sich in die Landschaft ein wie die Vögel, die um ihn herum tanzen.<br />
Aber irgendwie ist es nicht nur die Gestalt an sich, die ihn als das darstellt, was er ist.<br />
Es ist der Akademiker, der ihm, dem Grabstein, seine Fülle und geistige Reichweite gibt.<br />
Er ist es, der ihm den Ruf eines Giganten in der weitläufigen Masse der Gräber verleiht.<br />
Aber ist er von seinem ewigen Herumschwelgen in den 167 Jahren einsamer Stille nicht<br />
träge geworden von der Welt, die ihn umgibt?<br />
Er hat sich so an die Welt gewöhnt, dass ihn nichts mehr erschreckt. Selbst die Kotflecken<br />
der Tauben auf seinem Haupt stören ihn nicht mehr, und der Hund, der sich an seinem<br />
Grab zu schaffen macht, ist auch kein Ärgernis mehr.<br />
Manchmal möchte er aus seiner Unmündigkeit ausbrechen und ein neues Leben beginnen.<br />
Er möchte in Beton verrührt als Museumsgebäude dienen oder in Kiesform im<br />
Winter auf der Strasse liegen. Auf der anderen Seite hat er sich so wohl zu fühlen, da<br />
er ja von dem Friedhofsgärtner mit zuvorkommend und großer Sorgfalt gepflegt wird.<br />
Dieser putzt ihm manchmal sogar die Stellen unter dem steinernen Blumenkranz<br />
an seiner Stirnseite. Das würden die Familienangehörigen niemals tun, wenn sie noch<br />
leben würden. So steht er nun mal da. Und er wird auch noch lange dort bleiben und<br />
weiter vor sich hin altern.<br />
Wenn ihm nicht das Unfassbare widerfährt und er vom Friedhofsamt der Stadt<br />
frei gegeben wird.<br />
Sebastian Gollmer<br />
Das Gefühl<br />
Den Kopf voller Gedanken,<br />
Sie reißen mich hin und her,<br />
Ruhe brauch’ ich, eine Phase aus Konzentration.<br />
Ruhe im Kopf, eine stille Phase, gedankenfrei<br />
Doch, dann ein letztes Mal:<br />
„Zweifel, verschwindet!<br />
Ich schaffe es!“<br />
Es ist soweit:<br />
Den Kopf frei,<br />
Den Körper unter Spannung.<br />
Ich pushe das Board vor mir her,<br />
Kurze Zeit rollt es vor meinen Füßen. –<br />
In letzter Sekunde springe ich auf<br />
Wie die unbekannte Person, die den Bus fast verpasst.<br />
Ein Rausch aus Geschwindigkeit verwirrt meine Sinne<br />
Die Spannung steigt. Mich zerreißt es gleich,<br />
Versuche, meinen Kopf klar zu halten.<br />
Schaffe ich es oder kommt der Absturz?<br />
Es geht schräg hinauf, nun ist es soweit:<br />
Ich Springe!<br />
Raphaela Fellin<br />
Merlin<br />
06<br />
23<br />
Ich schwebe, fliege durch die Luft,<br />
Das Board, ein Stück Holz,<br />
Unter mir!<br />
Ich sehe es, ich greife es.<br />
Ich spüre es!<br />
Es ist ein Teil von mir,<br />
Es gehört zu mir<br />
Es ist eine Verlängerung meines Armes. –<br />
Der Absturz<br />
Ein angenehmer, gewollter<br />
Kontrollierter Absturz:<br />
Langsam verliere ich das Gefühl aus meiner Hand,<br />
Ich spüre es nicht mehr,<br />
Ich fühle es nicht mehr,<br />
Es ist fort.<br />
Meine Beine, sie werden zusammengestaucht:<br />
Die Landung.<br />
Befreiungsstoß.<br />
Die Spannung verfliegt,<br />
Absolutes Wohlbefinden.<br />
Ich fühl´ mich gut, ich fühl´ mich stark,<br />
Ich bin ich!<br />
Wie leicht und unbeschwerlich er sich hinfort bewegt<br />
Sanft und anmutig jede Bewegung<br />
Diese Sicherheit<br />
Jeden Winkel seiner Umgebung zu kennen<br />
Diese mühelos reizstarke Wahrnehmungskraft<br />
Schweigsame Weisheit<br />
Die er perfekt zu beherrschen scheint<br />
Diese Fähigkeit<br />
Das Maß an Intelligenz völlig auszuschöpfen<br />
Ideal – diese Kontrolle über Unscheinbarkeit und absolute Präsenz<br />
Das alles blieb dem Kater<br />
Und was ist mit dir?