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Literatur machen

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Marcel Junghanß<br />

Eine Nacht in London<br />

Der 26. November des Jahres 1859 ist ein düsterer Tag. Charles Darwin sitzt in<br />

seiner Londoner Wohnung und pafft an einer Pfeife. Draußen ist es schon dunkel<br />

geworden. Es regnet und stürmt. Aus der Dunkelheit schleicht sich jemand an den<br />

Ahnungslosen heran. Langsam nähert sich die Person Charles und schreit ihm ins Ohr:<br />

„Wie kannst du es wagen, du Ketzer!?“ Charles fährt erschrocken herum. Es ist seine<br />

Schwiegermutter.<br />

Charles „Mutter, was fällt dir ein, dich so spät noch in meine Wohnung zu schleichen!“<br />

Schwiegermutter „Wie kannst du es wagen, zu behaupten, dass die Menschheit vom Affen abstammt?“<br />

Charles „So habe ich das nie gesagt.“<br />

Schwiegermutter „WAS?“<br />

Charles „Ja, ich habe nur gesagt, dass die Menschheit von einem affenähnlichen Vorfahren<br />

abstammt.“<br />

Schwiegermutter „Und wo soll da bitte der Unterschied sein?“<br />

Charles „Da gibt es sogar einen sehr großen Unterschied. Dieser affenähnliche Vorfahr ist<br />

der Vorfahre der heutigen Affen und der Menschheit. Das heißt, dass wir nicht vom<br />

heutigen Affen abstammen, jedoch mit ihm über unseren gemeinsamen Vorfahren<br />

verwandt sind.“<br />

Schwiegermutter „Aber das kann gar nicht sein! Gott hat die Menschen, Tiere und Pflanzen geschaffen.“<br />

Charles „Während meiner Forschungsreisen habe ich festgestellt, dass sich die Lebewesen an<br />

die wechselnde Umgebung anpassen. Dadurch sind immer wieder neue Arten durch<br />

natürliche Auslese entstanden.“<br />

Schwiegermutter „Und was soll die natürliche Auslese sein?“<br />

Charles „Die natürliche Auslese ist, dass die Tiere und Tierarten aussterben, die nicht an ihre<br />

Umgebung angepasst sind.“<br />

Schwiegermutter „Dann müsstest du ja eigentlich schon längst ausgestorben sein!“<br />

Charles „Ich glaube, du hast das noch nicht ganz verstanden. Ich erkläre es dir aber auch gerne<br />

an noch einem Beispiel.“<br />

Schwiegermutter „Ich höre.“<br />

Charles „Wie du vielleicht weißt, haben Finken eine sehr kräftigen, großen Schnabel. Diesen<br />

benötigen sie, um ihre typische Nahrung aufzunehmen. Was passiert wohl mit Finken,<br />

die einen nicht so stark ausgeprägten Schnabel haben?“<br />

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Schwiegermutter „Sie können sich nicht so gut wie die anderen ernähren?“<br />

Charles „Genau. Sie können sich nicht richtig von ihrer typischen Nahrung ernähren, sind<br />

schwächer und können somit auch nicht so viel Nachwuchs zeugen. Das heißt, dass<br />

die Finken mit einem stärker ausgeprägten Schnabel mehr Nachwuchs bekommen<br />

und aufziehen können, als die mit einem schwächeren Schnabel. Dies wiederum<br />

bedeutet, dass die mit dem schwächeren Schnabel irgendwann aussterben werden.<br />

Und genau das meine ich mit natürlicher Auslese."<br />

Schwiegermutter „Du bist also der Meinung, dass immer die Stärkeren gewinnen?“<br />

Charles „Nicht ganz. Es gibt einen Unterschied zwischen der stärkeren Kraft des Gegners und<br />

dem stärker an seine Umgebung angepassten Gegner.“<br />

Schwiegermutter „Was meinst du damit?“<br />

Charles „Dass nicht unbedingt der Kräftigere überleben muss. Ein muskelbepackter Riese wird<br />

nicht überleben, wenn er nur Wasser aus einer kleinen, schmalen und niedrigen Höhle<br />

holen kann, weil er da nicht hineinpasst. In dieser Situation werden nur kleine und<br />

dünne Menschen überleben.“<br />

Schwiegermutter „Und was ist, wenn er sich ein Gefäß bastelt, mit dem er dann doch an sein Wasser<br />

kommt?“<br />

Charles „Dann haben nicht seine Kraft und seine Muskeln ihm dabei geholfen, sondern sein<br />

Verstand. Deshalb haben sich die Menschen so entwickelt, wie sie heute sind.“<br />

Schwiegermutter „Aber wieso gibt es dann neben uns auch noch die Affen?“<br />

Charles „Wie gesagt, stammen wir nicht vom Affen ab, sondern haben einen gemeinsamen<br />

Vorfahren. So haben sich aus diesem Vorfahren beispielsweise an den Urwald angepasste<br />

Affen entwickelt – und eben auch Menschen, die ganz andere Fähigkeiten<br />

haben.“<br />

Schwiegermutter „Das kann aber gar nicht sein! Gott hat die Arten so erschaffen, wie sie sind und sie<br />

sind unveränderlich. So steht es in der Bibel. Also zweifelst du an Gott und an der heiligen<br />

Schrift.“<br />

Charles „Wenn du es so siehst, dann hast du recht. Aber ich habe ja versucht, dir meine<br />

Erkenntnisse der letzten 20 Jahren zu erklären. Egal, wie du es siehst: die Zukunft wird<br />

zeigen, dass ich Recht habe.“<br />

Schwiegermutter „Du elender Heide! Du wirst in der Hölle schmoren!“<br />

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Ein Knall. Ein Blitz erleuchtet die Bibliothek. Charles erschrickt. Er sitzt schweißgebadet<br />

in seinem Lehnstuhl. Er schaut sich im Raum um, aber seine Schwiegermutter ist fort.<br />

Es war nur ein Traum.

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