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Literatur machen

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06<br />

20<br />

Lars-Henning Kühlborn<br />

Am Abgrund<br />

Schon lange habe ich es versucht, vor<br />

mir her zu schieben oder es einfach zu<br />

vergessen.<br />

Ich habe es mir nicht mal in den Kalender<br />

eingetragen, in der Hoffnung, nicht daran<br />

erinnert zu werden.<br />

Aber wie es kommen musste, wurde ich<br />

von einer angeblich nur das Beste für<br />

mich wollenden Person, meiner Mutter,<br />

darauf hingewiesen, dass ich ihn wieder<br />

einmal wahrzunehmen hätte: ihn, den<br />

Termin, heute um 17.30 Uhr.<br />

Da stand ich nun und kochte erneut die<br />

ganzen Emotionen in mir hoch. Mutter<br />

legte mir ans Herz, nur ja rechtzeitig aus<br />

der Schule zu kommen und ja nicht zu trödeln.<br />

Meine Mum ist da immer sehr eigen:<br />

„Damit du dich noch richten kannst!“<br />

Welche Ironie des Schicksals, mich dafür<br />

auch noch schön herauszuputzen!<br />

Das Blöde war nur, ich konnte es auch<br />

während des ganzen Schultags nicht<br />

wirklich verdrängen. Es schwebte immerzu<br />

als ein sadistischer, eigenständiger<br />

Gedanke in meinem Hinterkopf, der mich<br />

immer dann im Genick packte, wenn ich<br />

daran ging, ihn zu vergessen.<br />

Die letzte Schulstunde ging für meinen<br />

Geschmack einiges zu schnell herum.<br />

Nicht, dass ich nicht wie jeder Schüler den<br />

Wunsch hätte, jede Schulstunde wie im<br />

Flug vorbeigehen zu sehen. Aber heute<br />

wäre es mir ausnahmsweise recht gewesen,<br />

wenn sie gar nicht geendet hätte.<br />

Widerwillig trat ich den Heimweg an.<br />

Ich träumte von einer Schule, in der man<br />

den ganzen Tag nach Unterrichtende einfach<br />

nur herumsitzen konnte; am besten<br />

noch die ganze Nacht bis zum nächsten<br />

Morgen. Da riss mich mein Kumpel aus<br />

meinen Gedanken:<br />

„Was machst du denn heute noch…?“<br />

Wie auf Abruf piesackte mich der Gedanke<br />

wie mit einer Grillgabel im Inneren.<br />

Muss ich auf diese Fragen antworten?<br />

„Ich habe heute noch einen Termin.“<br />

Zuhause angekommen, versuchte ich<br />

meine Technik, wie man nass geschwitzte<br />

Hände vor dem entscheidenden<br />

Begrüßungshandschlag möglichst<br />

effektiv wieder trocken bekommt, zu<br />

perfektionieren. Sollte ich mir ein<br />

Taschentuch in die Hosentasche legen,<br />

um den Schweiß abzuwischen oder<br />

lieber die alte Wedeltechnik anwenden?<br />

Meine Mutter probte wie immer vor dem<br />

Termin den Aufstand! Als ob es nicht schon<br />

schlimm genug war: „Junge, hast du dich<br />

geduscht, kämm dich ordentlich, und<br />

putz dir die Zähne!“ Ich bekam solchen<br />

Schiss, dass ich sie mir aus Versehen<br />

gleich zwei Mal hintereinander putzte.<br />

Das Telefon klingelte. Meine Mutter hob<br />

den Hörer ab. Am anderen Ende der<br />

Leitung redete meine Tante. Die beiden<br />

tuschelten irgendetwas mit einander,<br />

und dann übergab mir meine Mutter<br />

den Hörer. Meine Tante teilte mir ihr<br />

herzliches Bedauern mit. Jetzt begannen<br />

sie wieder: die allseitigen familiären<br />

Mitleidsbekundungen...<br />

Nun wurde es ernst: Mein Vater kam<br />

extra früher von der Arbeit, um auch ja<br />

pünktlich um 17.30 Uhr vor Ort zu sein.<br />

Ein letztes Zurechtzupfenlassen der<br />

Klamotten – und dann begann die Fahrt.<br />

Eine unendlich dauernde, einem<br />

Todesmarsch gleichende Fahrt, deren<br />

einziger Sinn darin bestand, entweder<br />

zu schweigen oder über alles, wirklich<br />

alles Unwichtige zu reden. Egal, dachte<br />

ich mir, Hauptsache abgelenkt!<br />

Vor Ort gab es keinen Parkplatz. Gnadenfrist!<br />

Erleichtert atmete ich auf. Doch es<br />

nützte nichts: Schon 100 Meter weiter<br />

fand Vater leider Gottes eine Parklücke.<br />

Der Fußweg wurde fast unerträglich<br />

für mich. Mit jedem Schritt, den ich näher<br />

an das Gebäude herantrat, verdoppelte<br />

sich der Adrenalingehalt meines Blutes,<br />

die Hände von unzähligen Schweißporen<br />

durchsiebt, die Knie wachsweich.<br />

Ich trat die Treppenstufen empor.<br />

Im 2. Stock angekommen erblickte ich<br />

ein in schlichtem Gold gehaltenes, riesiges<br />

Türschild: die Hölle hieß mich willkommen!<br />

Die Tür schwenkt auf, der Puls rast. Die<br />

Empfangsdame hinter ihrer Rezeption<br />

begrüßt uns – etwas zu nett für meinen<br />

Geschmack. Auch das hölleneigene<br />

Empfangszimmer ist trügerisch freundlich<br />

eingerichtet. Wer hier zu sitzen kommt,<br />

fragt sich nur eine einzige Frage: Wer muss<br />

als erstes raus, wie lange dauert es noch<br />

und: wird es wirklich solche zermarternden<br />

Schmerzen zu erleiden geben, wie man<br />

immer behauptet?<br />

Weiterhin versuche ich verzweifelt, meine<br />

Hände trocken zu halten.<br />

Ein Zertifikat an der Wand weist mich<br />

darauf hin, dass Vertrauen alles sei.<br />

„Ein billiger Trick des Teufels mich<br />

reinzulegen. Ha, so leicht bekommt ihr<br />

mich nicht!“ denke ich mir im Stillen.<br />

Die Gehilfsteufelin kommt und ruft den<br />

nächsten Patienten auf…<br />

Puh! – mein Name ist es nicht!<br />

Die Gehilfsteufelin sieht sehr menschlich<br />

aus. Verkleidung und Tarnung sind einfach<br />

überragend. Obwohl ich es schon gerne<br />

hinter mich gebracht hätte, bin ich<br />

erleichtert, noch ein wenig zermürbende<br />

Vorbereitungszeit zu bekommen.<br />

Wie die Teufelsgehilfin das nächste Mal,<br />

eintritt, ertönt mein Name! Und da ist<br />

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er wieder: der widerspenstige Gedanke<br />

zieht alle Register, um mich nervlich<br />

unschädlich zu <strong>machen</strong>!<br />

Die Assistenzteufelin geleitet mich in den<br />

Vorbereitungsraum zur Hölleneinweisung.<br />

Von nun an heißt es:<br />

Mund auf und durch! Mit ihren irreal<br />

geformten Werkzeugen will sie mich dem<br />

ersten Bewerbungsschmerz aussetzen. Sie<br />

fordert mich mit einer bebenden Stimme<br />

auf, meinen Mund zu öffnen, während sie<br />

ihre peinigenden Instrumente auf einer<br />

Ablage arrangiert. Aber wie sie mit ihren<br />

Späheraugen eine Stelle in meinem Mund<br />

exakt anpeilt – reißt sie plötzlich den ihren<br />

erstaunt auf:<br />

Ist das, was sie da in meinem Mund erblickt,<br />

selbst zu schrecklich für die Hölle?<br />

Sie funkelt mich an und meint:<br />

„Sie haben wirklich Glück:<br />

Ihre Weisheitszähne kommen nach.“<br />

„Ja“, antworte ich.<br />

„Ja, das finde ich auch wirklich<br />

wunderbar.“

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