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Literatur machen

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Juliane Reichert<br />

Und „Mittelpunkt des Kreises“ heißt dieser Punkt<br />

Der Punkt, von dem ich nun erzählen will, sein Name ist, wie bereits erwähnt,<br />

„Mittelpunkt des Kreises“, treibt sich den lieben langen Tag an aller Herren Orte<br />

herum, ihn zu suchen ist vergebens, man findet ihn nicht. Doch manchmal taucht er<br />

einfach auf. Ganz plötzlich, wie aus dem Nichts. Ja, man spürt ihn in einem regelrechten<br />

Aufflackern, kommt aber nicht dazu, seine Erscheinung in Worte zu fassen,<br />

ehe er sich aus dem Staub macht und seine verblassenden Konturen mit sich auf<br />

die Weiterreise nimmt.<br />

Obwohl wir ja alle wissen, dass Punkte gar keine Konturen haben, versuchen wir doch<br />

stets, ihn immer wieder in eine hineinzupressen. Aus der Chemie wissen wir aber<br />

auch, dass ein Gleichgewicht seine Lage auf äußeren Zwang hin so ändert, dass es<br />

dem Zwang ausweicht. Und ich gehe doch zutiefst davon aus, dass unser „Mittelpunkt<br />

des Kreises“ sich in einem solchen Gleichgewicht befindet. Soll das also etwa heißen,<br />

dass – wenn wir dem Punkt keine Kontur, keinen Umriss geben dürfen, wir ihn nun<br />

nicht einmal orten können? So in etwa, denn hierfür müssten wir den exakten<br />

Umfang des Kreises wissen, und wer tut das schon? Oder zumindest einmal den<br />

Durchmesser, was ja im Prinzip genauso unmöglich ist. Und doch vermochten diese<br />

Überlegungen uns noch nie davon abzuhalten, unseren ständigen Begleiter näher<br />

definieren zu wollen.<br />

Warum aber bereitet es uns ein solches Vergnügen, diesen „Mittelpunkt des Kreises“<br />

zu suchen? Wo wir doch schon abermals erkannt haben, dass er stets auf der Hut vor<br />

neuen Spekulationen seines Aufenthaltsortes ist? Wahrlich, für manche mag es<br />

wohl nicht einmal mehr ein Vergnügen bedeuten, und dennoch begeben sie sich<br />

auf diese waghalsige Wanderschaft.<br />

Vielleicht aus Neugier, ihn zum ersten Mal anzutreffen. Andere, die seinem Angesicht<br />

bereits zuvor begegnet sind, wurden vermutlich derart besessen von dem Wunsch,<br />

ihn wiederzutreffen, dass sie an nichts anderes mehr denken konnten. Und doch:<br />

Immer war es vergebens und wird es wohl auch bleiben. Denn was wissen wir schon<br />

von einem Punkt? Die Koordinaten? Nein, die hat er uns nicht angegeben. Genau<br />

sowenig wie die Konstruktionsmethode, wie er sich vielleicht schneiden ließe. Und<br />

am Radius des Kreises werden wir wohl noch ewig messen können, ohne uns dessen<br />

Wert anzunähern. Und die wahren Kenner des Punktes, die Wächter seines Versteckes<br />

und Hüter seiner Definition nun, die werden bis zu unserem Beitritt in ihre Runde<br />

wohl dichthalten.<br />

Also bleibt alles, was wir wissen, dass dieser Punkt „Mittelpunkt des Kreises“ ist.<br />

06<br />

10<br />

Larissa Bellina<br />

Frau von Lastwagen erfasst (Zeitungsartikel vom 20.04.2004)<br />

Eine 78 Jahre alte Frau ist gestern morgen gegen 9 Uhr in Feuerbach beim Überqueren<br />

der Kreuzung Wiener und Linzer Straße von einem Lastwagen erfasst worden. Sie stürzte<br />

auf die Fahrbahn, wurde dabei aber nur leicht verletzt. Der 37 Jahre alte Fahrer hatte<br />

die Fußgängerin offenbar übersehen.<br />

Interpretation 1<br />

Theorie und Praxis<br />

Sobald ein Mensch einen Raum ausfüllt,<br />

läuft er Gefahr, in eben diesem durch<br />

spontane Intervention eines Weiteren<br />

eine unbeabsichtigte Veränderung seines<br />

vorhandenen Zustandes zu erfahren.<br />

Es ist offensichtlich, dass dieser Zustände<br />

nicht mehr als drei existieren und alle<br />

übrigen als deren spielerische Variationen<br />

zu entlarven sind. Konkretisiert<br />

fuhren eben jene spontan induzierten<br />

Interventionen folglich zu emotionaler,<br />

spiritueller oder körperlicher Verformung.<br />

Hierbei ist es in aller Regel nur das Wesen<br />

mittleren Alters, das sich vor diesen<br />

Verformungen gänzlich oder im Ansatz<br />

zu schützen oder schließlich kurieren<br />

vermag. Es handelt sich aus eben diesem<br />

Grunde um einen Grenzfall der Wahrnehmung<br />

des gesunden Menschenverstandes,<br />

wenn einem Wesen fortgeschrittenen<br />

Alters keine schwerwiegenden<br />

Verformungen zuteil werden. Da beide<br />

Wesen unabhängig voneinander in gleichem<br />

Maße unabhängige Räume ausfüllen,<br />

ist oft das eine vom anderen<br />

in Unkenntnis und bleibt dies darüber<br />

hinaus selbst dann, wenn es bereits<br />

Verformungen am anderen Wesen vorgenommen<br />

hat.<br />

06<br />

11<br />

Interpretation 2<br />

Pilze<br />

Klar war ich mir sicher, dass die rosafarbenen<br />

Bälle, die von den Wolken fielen,<br />

nicht auf der Straße platzten und zu<br />

Fröschen wurden. Und doch war es, wie<br />

immer, so (vermeintlich) realistisch!<br />

Kaum zu fassen auch der Mann, der sich<br />

die Unterseite seines überdimensionalen<br />

Ohrläppchens auf dem Asphalt blutig<br />

rieb! Aber der Abschuss, das war nicht<br />

etwa das rote Stoppmännchen, wie es<br />

sich aus der runden Schwärze zu seinem<br />

grünen Partner schwingt, um mit ihm<br />

Tango zu tanzen. Nein, der absolute<br />

Knaller, das war doch echt die Alte! Wie<br />

die so plötzlich die Kreuzung quert und<br />

wie dann der Riesentruck kommt und<br />

ZACK is’se weg! Und das Geräusch! Das<br />

Reifenquietschen! – und wie se dann so<br />

locker aufsteht, sich den Staub abklopft<br />

vom Mantel… – Mann, das war krass!

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