Dokument 1.pdf - OPUS - Universität Würzburg
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geradezu zu verlieren, für eine Weile die Welt<br />
mit seinen Augen zu sehen, voller Spannung<br />
zu verfolgen, was er mit den Figuren seiner<br />
Romanwelt oder seines Theaterstücks anstellt<br />
und dabei - womöglich beim Wiederlesen - auf<br />
möglichst viele Details zu achten. Taucht man<br />
aus einer solchen Kunstwelt wieder auf, ist man<br />
meist nicht genau der Gleiche, der man vorher<br />
war, zumindest ist man bereichert, man hat et<br />
was hinzugewonnen. Kunstliteratur steht oft im<br />
Ruf, anstrengend zu sein. Aber das ist sie meist<br />
nur für den, der sich mit ihr nicht auskennt, der<br />
es nicht wagt, sich ihr offen, aufnahmebereit zu<br />
nähern. Nur auf den ersten Blick mühsam ist es,<br />
den Weg des Leopold Bloom am 16. Juni 1904<br />
durch Dublin in James Joyces ,Ulysses' mitzu·<br />
gehen - ist man erst einmal entschlossen, sich<br />
von den vordergründigen Schwierigkeiten nicht<br />
abhalten zu lassen, dann wird das Ganze höchst<br />
spannend und unterhaltsam. Keine unterhalt<br />
sameren humoristischen Romane als Jean Pauls<br />
,Flegeljahre' und Gogols ,Die toten Seelen', kein<br />
- trotz des abschreckenden Titels - spannenderer<br />
Kriminalroman als Wilhelm Raabes ,Stopfkuchen'<br />
und kein Roman, der auf ergreifendere, gleich·<br />
wohl unterhaltsame Weise die Schrecklichkeiten<br />
des Krieges, jedes Krieges, zum Thema hat als<br />
Grimmelshausens ,Simplicius Simplicissimus'. Das<br />
Glück eines Theaterabends, in dem ein großes<br />
Werk der Literatur auf angemessene Weise in·<br />
szeniert ist - heute leider ein seltener Fall-, kann<br />
lange in einem nachwirken. Daß Kunstliteratur<br />
besser und nachhaltiger als viele Trivialliteratur<br />
- deren Stellenwert ich durchaus nicht bestreite<br />
- der Unterhaltung zu dienen vermag, scheint<br />
mir keine Frage. Daß nicht jeder Leser zu jedem<br />
Werk Zugang findet, leugne ich nicht. Aber das<br />
ist ja das Schöne am Fundus der Literatur, die<br />
sich in rund 3000 Jahren menschlicher Geschichte<br />
angesammelt hat: Die Auswahlmöglichkeiten sind<br />
faktisch unbegrenzt.<br />
2. Die schöne Literatur dient der Ausbil<br />
dung der Sprach- und Stilfertigkeit<br />
Mit Sprache haben alle Menschen fortwährend zu<br />
tun. Von vielen wird heute eine anspruchsvolle<br />
Sprachkompetenz erwartet, sowohl im Münd<br />
lichen wie im Schriftlichen. Sie führen - privat<br />
oder beruflich - Gespräche, die nicht in jedem<br />
Fall belanglos sein können. Sie müssen über<br />
etwas berichten, etwas referieren, sie halten<br />
Vorträge, sie müssen Briefe, Reden, Abhand·<br />
lungen und vieles andere zu Papier bringen.<br />
Wessen Ausdrucksfähigkeit da nicht ausreicht<br />
oder mithalten kann, der ist rasch auf der Ver·<br />
liererseite. Schon fordern die homines politici<br />
sive oeconomici sogar von den <strong>Universität</strong>en<br />
eine Zusatzausbildung in den sogenannten Soft<br />
Skills. Das Sprachvermögen sollte freilich im<br />
Elternhaus grundgelegt, es muß in erster Linie<br />
in der Schule entwickelt und gefördert werden,<br />
sowohl in der Muttersprache als später auch in<br />
Fremdsprachen. Doch auch auf diesem Gebiet ist<br />
lebenslanges Lernen unersetzlich. Wer sich im Er·<br />
wachsenenleben ganz und gar auf Radio, Fernse·<br />
hen oder vielleicht noch auf die Regionalzeitung<br />
verläßt, der kann anspruchsvolleren Gesprächen<br />
in einigermaßen anspruchsvollen Berufen kaum<br />
gerecht werden; auch die fortwährende Lektüre<br />
von Fachliteratur reicht gewiß nicht aus. Neben<br />
der Lektüre der führenden Zeitungen gibt es keine<br />
bessere Sprach- und Stilschule als die der besten<br />
Autoren der jeweiligen Sprache, in erster Linie der<br />
belletristischen Schriftsteller. Man ist als Leser<br />
beispielsweise immer wieder beeindruckt, welch<br />
glänzendes Deutsch in der Goethezeit durchaus<br />
auch von unberühmten Autoren geschrieben<br />
wurde. Einfach, klar, rhetorisch einfallsreich,<br />
flüssig - das sind Stili deale, die auch heute<br />
noch Gültigkeit besitzen. Was richtiges und gutes<br />
Deutsch ist, das kann man erkennen und lernen,<br />
wenn man etwa in Luthers Bibelübersetzung,<br />
in Lessings Schriften, in Wielands und Goethes<br />
Romanen, in Kleists Novellen, in den Romanen<br />
Raabes und Fontanes, in den Erzählungen Kafkas<br />
oder - heute - in den Romanen Martin Walsers<br />
oder auch in so manchen hervorragenden Über·<br />
setzungen fremdsprachiger Werke liest - denn die<br />
Leistungen vieler ausgezeichneter früherer und<br />
heutiger Übersetzer sollte man nicht vergessen.<br />
Das Deutsche - neben dem Englischen die älteste<br />
europäische Literatursprache der nachantiken<br />
Welt - ist durch mehr als 1200 Jahre hindurch<br />
entwickelt worden und für alle Ausdrucksnuancen<br />
geeignet. Nur Ahnungslose meinen, unsere Spra·<br />
che heute in trivialer Weise anglisieren zu müssen<br />
- sie verraten dadurch ihre Dummheit oder wollen<br />
sich großtun. Was ich hier für das Deutsche sage,<br />
gilt freilich analog für alle Kultursprachen. Wer<br />
ein vernünftiges Englisch oder Französisch oder