Dokument 1.pdf - OPUS - Universität Würzburg
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Russisch sprechen und schreiben will, kommt<br />
ebenfalls nicht darum herum, bei den besten<br />
Stilisten der jeweiligen Sprache in die Schule zu<br />
gehen. Diese Schulung besteht freilich nicht in<br />
der stilistischen Nachahmung einzelner Autoren,<br />
sondern im Studium der Ausdrucksmöglichkeiten<br />
der jeweiligen Sprache. Fortgesetzte Lektüre<br />
bedeutender Autoren erweitert den Wortschatz,<br />
gibt Hinweise, wie man bestimmte Sachverhalte<br />
am zweckmäßigsten formuliert, zeigt einem, was<br />
alles man überhaupt ausdrücken kann und der<br />
gleichen mehr - und das alles auf gewissermaßen<br />
unmerkliche Weise.<br />
3. Die schöne Literatur gibt Anleitung zur<br />
Bewältigung komplexer Strukturen<br />
Essays<br />
Naturbeschreibungen an den Kapitelanfängen<br />
zu überblättern. Daß Literatur auch dann Freude<br />
machen kann, wenn sie anstrengend ist, weiß der<br />
geübte Leser - Thomas Manns Josephsromane<br />
etwa sind ein wunderbares Werk, aber man muß<br />
doch erst einmal den ersten Teil bewältigt haben.<br />
Was ich soeben dargelegt habe, ist freilich nur<br />
die eine Seite. Anspruchsvolle Literatur ist in<br />
der Regel auch komplex angelegt. Geschichten<br />
werden oft nicht einfach von Anfang bis Ende<br />
entfaltet, vielmehr erzählen die Autoren häufig<br />
auf eher vertrackte Weise, etwa indem sie nicht<br />
mit dem Anfang beginnen, sondern mit dem Ende<br />
oder der Mitte, indem sie die Erzählperspektive<br />
- nicht selten mehrfach - wechseln, indem sie<br />
ihren Text aus unterschiedlichen Kleinformen<br />
Über den propädeutischen Nutzen des Musik- wie zusammensetzen - Anekdoten, Briefe, Lieder,<br />
des Lateinunterrichts für Kinder und Jugendliche Berichte, Beschreibungen, Essays und was der-<br />
ist man sich heute weitgehend einig. Anspruchs- gleichen Erschwernisse sonst noch sind. Manches<br />
voller Musikunterricht ebenso wie Lateinunterricht versteht man hinreichend nur, wenn man weiß,<br />
leiten zu methodischem und analytischem Denken auf welche weiteren Texte, eigene oder fremde,<br />
an, sie verlangen Ausdauer, Beharrungsvermögen die Autoren sich beziehen - die Literaturwissen-<br />
und einige Geduld. Sie lassen jedoch erfahren, schaftier verwenden dafür heute Begriffe wie<br />
daß es schließlich doch Freude macht, komplexe Prätext oder sie sprechen von Intertextualität. All<br />
Strukturen bewältigen zu können. Weniger ge- das fordert nicht nur unser Beharrungsvermögen<br />
läufig ist, daß zu solchen Erfahrungen auch die heraus, sondern auch unsere Intelligenz. Auf<br />
Lektüre anspruchsvoller Literatur befähigt. Wer diese Weise üben wir uns darin, in komplexen<br />
etwa als Zehnjähriger gemerkt hat, daß man das Strukturen zu denken, sie aufzubrechen und zu<br />
Durchlesen eines Romans von 500 Seiten nicht verstehen und zwar oftmals in einer Reihe von<br />
auf einen Sitz schaffen kann, sondern daß dazu Schritten. In der außerliterarischen Welt, im Be-<br />
Ausdauer und einigermaßen zähes Beharrungs- rufs- und Alltagsleben, kann uns die auf diesem<br />
vermögen nötig sind, der nimmt den schließ- Weg erworbene Deutungskompetenz von großem<br />
lichen Erfolg dann mit einiger Freude wahr. Man Nutzen sein. Schöne Literatur erweist sich als<br />
war eingetaucht in eine spannende fremde Welt Schule des Verstehens überhaupt.<br />
- mit Elan und Zuversicht stürzte man sich so<br />
schnell wie möglich erneut in ein solches Aben <br />
teuer. Die Knaben meiner Generation, in absolut<br />
fernsehfreien Zeiten, erlernten derartiges Behar<br />
rungsvermögen in erster Linie an Karl May - wer<br />
einen Band gelesen hatte, wollte - manchmal im<br />
Wettstreit mit anderen - umgehend weitere kon<br />
sumieren. Der Weg zu vergleichbaren Autoren war<br />
dann kurz. Als sich ein paar Jahre später die Lust<br />
zur Lektüre anspruchsvollerer Werke einstellte,<br />
wußte man schon, worauf man zu achten, wie<br />
man zu Werke gehen mußte, auch wenn vielleicht<br />
Passagen kamen, die einen langweilten - man<br />
war nicht alt genug, um an allem Freude haben<br />
zu können . Bei Karl May hatte man beispielswei<br />
se gelernt, daß es nichts schadete, ausgiebige<br />
4. Die schöne literatur entwickelt unsere<br />
Phantasie<br />
Ob ein Mensch ein langweiliger Pedant ist, der<br />
nur ausführt, was man ihm vorgibt, oder ob er<br />
- auf welchem Gebiet auch immer - sich zur<br />
schöpferischen Persönlichkeit entwickelt, ist in<br />
erster Linie eine Frage seiner Phantasie. Daß für<br />
deren Ausbildung das jugendliche, aber auch das<br />
erwachsene Lesen von größter Bedeutung ist,<br />
dürfte unbestritten sein. Lektüre vor allem auch<br />
der schönen Literatur verhilft uns dazu, Möglich<br />
keitsmenschen zu werden, das heißt Menschen,<br />
die bereit und in der Lage sind, hinaus zu den<br />
ken über das, was gegeben, was im Augenblick<br />
real ist, die sich Veränderungen, Neuerungen,<br />
19 BUCK<br />
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VERWANDLUNG b'<br />
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