Jahrbuch Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin ...

Das Sticken der Frauen und Mädchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 27
Abb. 5 Tischdecke mit Germania-Darstellung, Titel: Auszug
und Heimkehr unserer Truppen darstellend, Leinen auf
Baumwolle, gestickt in einer großbürgerlichen Familie, Berlin,
1871, SMBPK Museum Europäischer Kulturen, MDV 17 E 109
Einzelnen Schülerinnen gelang es, ihren Arbeiten eine individuelle Note zu geben.
Indem sie, sicher entgegen den grundsätzlichen schulischen Aufgaben, z. B. kleine Bilder
in ihre Tücher stickten, die Ränder mit Akribie gestalteten und sich selbst hohe Qualitätskriterien
setzten. Mit Geschmack und Einfühlungsvermögen, und sicher mit dem individuellen
Spaß an Handarbeit kamen vorzeigbare kleine Kunstwerke zustande.
Betrachtet man nun die textilen Arbeiten im Kontext ihrer Entstehung und des sozialen
Zusammenhangs, so wird deutlich, dass die Kategorien Disziplinierung und Kreativität
eindeutig eine soziale Dimension haben.
Den grundsätzlichen Disziplinierungsstrategien unterlagen in dieser Zeit wohl alle Frauen
und Mädchen. Angehörige wohlhabender Schichten wurden jedoch zu Handarbeiten
angehalten, um standesgemäß die ihnen zugeschriebene Rolle der Weiblichkeit auszufüllen.
Feine Handarbeiten galten als angemessene weibliche Beschäftigung und waren in
erster Linie eben nicht an praktischen Notwendigkeiten ausgerichtet. Sie galten vielmehr
als Tugend und in gehobenen Kreisen verwiesen die Frauen und Mädchen gern auf gute
Handarbeitsergebnisse. Profane Handarbeiten, wie die Monogrammstickerei für die Aussteuer
oder gar Ausbesserungsarbeiten wurden in diesen Familien als Dienstleistung in kleine
Gewerbebetriebe oder später in die Kurzwarenabteilungen der Kaufhäuser gegeben.
Andere Näharbeiten wurden von den Hausschneiderinnen erledigt. Individuelle Handar-