Jahrbuch Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin ...

Das Sticken der Frauen und Mädchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 31
schiedenen Sozialschichten genutzt. Ihre Anwendung orientierte sich vielfach am Vorbild
des gutbürgerlichen Haushalts.
4. Die Orientierung auf das Erlernen und Anwenden von Handarbeitstechniken an praktischen
Objekten des Hausgebrauchs barg beide Aspekte: Disziplinierung und Kreativität.
Kreative Momente scheinen dort deutlicher zu werden, wo u. a. durch Textilvorlagen
Reflexionen auf aktuelle Moden erscheinen, d. h. neue Gestaltungsideen für Handarbeiten
übertragen werden. Diese finden beispielsweise bei der Gestaltung von Kleidungsteilen
Anwendung.
Es bleibt zu vermuten, dass Mädchen mit höherer Schulausbildung bzw. aus wohlhabenden
Haushalten eine höhere Qualität als Zeichen kreativen Potentials bei den Handarbeiten
verwirklichen konnten, da sie mehr Zeit und Muße hatten, sich mit Handarbeiten
zu beschäftigen. Viele Frauen und Mädchen aus unteren Sozialschichten nutzten das Erlernte
aus dem Handarbeitsunterricht als Vorbildung für die weibliche Berufsarbeit sowie für
individuelle Gestaltungsinteressen.
Insofern sind auch die »profanen« Handarbeitsprodukte, wie wir sie aus den Haushalten
in der Sammlung bewahren und neben den anspruchsvollen und kunstvoll ausgeführten
Handarbeiten präsentieren können, Zeichen der Kulturgeschichte von Frauenleben zwischen
Disziplinierung und Kreativität.
Anmerkungen
1 In den Sachkatalogen des Museums Europäischer Kulturen wird allein durch die Vielzahl der systematischen
Sammlungsgruppen die Bestandsvielfalt deutlich.
2 Friedrich Grossmann: Zur Geschichte der Stickmustertücher, in: Volkswerk. Jahrbuch des Staatlichen
Museums für Deutsche Volkskunde, Jena 1942(a), S. 269–282. – Friedrich Grossmann: Das
Stickmustertuch im 19. Jahrhundert, in: Die Neue Deutsche Schule, 16, 1942(b), S. 244–257,
S. 292–313. – Irmgard Gierl: Gestickte Bilderbogen, Augsburg 1991. – Nina Gockerell: Stickmustertücher,
München 1980. – Heidi Müller: Rosen, Tulpen, Nelken. Stickvorlagen des 19. Jahrhunderts
aus Deutschland und Österreich, Berlin 1977. – Claudia Schirmer: Allgemein etwas zur
Kulturgeschichte der Mustertücher, in: Textilkultur und Kreativität. Stickmustertücher, Falten und
Perlenarbeiten, o. O. 1982. – Beate Schmuck: Mustertücher aus einer Dortmunder Schule im Hause
Herbrecht. Dokumente schulischer Erziehung Dortmunder Mädchen im Spiegel sich wandelnder
Lebensverhältnisse und Erziehungsvorstellungen in der Zeit von 1700–1850, in: Dortmunder Beiträge
zur Pädagogik, 17, Bochum 1994.
3 Friedrich Grossmann übereignete in den 1930er Jahren seine Mustertuch-Sammlung dem damaligen
Staatlichen Museum für Deutsche Volkskunde, Berlin.
4 Grossmann, 1942(a) (Anm. 2), S. 269–282, und 1942(b), S. 244–257, S. 292–313.
5 Langes Fädchen – Faules Mädchen. Textile Handarbeiten in Erziehung, Beruf und Freizeit, Ausstellung,
Hannover, Historisches Museum, 1993, Hannover 1993 (Schriften des Historischen
Museums, 3), S. 12 f.