New Spaces_09_DE
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Er versteckt sich in einer staubigen Ecke in Rancho Santa Fe,<br />
der reichsten Gegend der USA, in einer bescheidenen Holzbaracke.<br />
Der Chino Farm Vegetable Shop ist klein, und auch die<br />
dazugehörige knapp 25 Hektar große Farm ist nichts Besonderes.<br />
Ganz anders die bunte Auslage des Hofl adens. Wie von einem<br />
anderen Stern schillert das auf der Farm angebaute Gemüse in<br />
allen Farben des Regenbogens. Hier werben blaue Möhren,<br />
bonbonfarbene Chioggia-Rüben, japanische Yamswurzeln mit<br />
purpurrotem Fruchtfl eisch und Berge von grün-schwarzem Palmkohl<br />
um die Gunst der Käufer. Es gibt auch Rosenkohl in Miniaturausgabe.<br />
Die erbsengroßen Röschen liegen wie aufgerollte<br />
Smaragdketten in kleinen Körben. Die Mara-de-Bois-Erdbeeren<br />
haben schon erwachsene Männer zu Tränen gerührt. Die Vielfalt<br />
der Salat-, Rettich- und Rübensorten ist überwältigend. Zahlreiche<br />
Spezialitäten von der Chino Farm – von Brennnesseln bis<br />
hin zu grünem japanischen Mizunasalat – sind grundsätzlich<br />
nicht im Supermarkt erhältlich und stehen gerade deswegen in<br />
Edelrestaurants hoch im Kurs.<br />
Berühmte Küchenchefs wie Wolfgang Puck (Spago)<br />
und Alice Waters (Chez Panisse), beide aus Kalifornien,<br />
haben sich einen Namen damit gemacht, Produkte von der<br />
Chino Farm einfl iegen zu lassen. Die großen Küchenchefs verlassen<br />
sich inzwischen so sehr auf innovative Produzenten wie<br />
die Familie Chino, dass die Medien dafür schon einen neuen<br />
Begriff geprägt haben: „Rockstar-Farmer“. Da ist eine Revolution<br />
im Gange, bei der die Renaissance des Gemüses zum richtungsweisenden<br />
Trend wird.<br />
Selbst Speisen, die als Fleischgericht auf der Karte stehen,<br />
kommen großzügig mit buntem Gemüse garniert auf den<br />
Tisch. Früher beeinträchtigte langweiliges und fades Gemüse<br />
häufi g den kulinarischen Genuss eines Fleischgerichts. Heute<br />
dagegen ist Fleisch oft nur noch eine Art schmückendes<br />
Beiwerk, das köstliche, ungewöhnliche Gerichte aus erntefrischem<br />
Gemüse zu einem ganz besonderen Geschmackserlebnis<br />
macht. „In der Saison spielen frisches Gemüse, Kräuter,<br />
Gewürze und Wildpfl anzen eine wichtige Rolle in unseren<br />
Menüs“, erklärt René Redzepi, Küchenchef des Noma in Kopenhagen<br />
(siehe dazu auch new spaces 04), das weithin als eines<br />
der besten Restaurants der Welt anerkannt ist. „Daher sind<br />
bei uns die Gerichte etwas ‚grüner‘ als in den meisten anderen<br />
Gour met restaurants.“ Das Noma ist beileibe kein Einzelfall.<br />
In San Diego geht man am besten ins George’s at the Cove.<br />
Der kleine Küstenort La Jolla, ein Stadtteil von San Diego, ist so<br />
exklusiv wie Beverly Hills und fast so feudal wie Rancho Santa<br />
Fe. Eine der Spezialitäten ist geschmorter Ochsenschwanz. Das<br />
klingt nach einem deftigen Fleischgericht, aber wer es bestellt,<br />
hat mehr Gemüse als Fleisch auf dem Teller. Der Ochsenschwanz<br />
wird zusammen mit zartem Lauch, Pfi ff erlingen, jungem<br />
Mangold, kross gebratenen Brennnesseln und Schnittlauch<br />
serviert. Das Fleisch zergeht auf der Zunge, aber ohne diesen<br />
unglaublichen Geschmack und diese unglaublichen Texturen<br />
des Gemüses, die Mutter Natur zu bieten hat, wäre das Gericht<br />
nicht das, was es ist.<br />
Noch vor etwa zehn Jahren galt das George’s als<br />
Touristenfalle mit einer 08/15-Speisekarte, die nur aus „Surf<br />
and Turf“ – Meeresfrüchten mit Fleisch – bestand. Heute ist<br />
die Karte erfrischend anders und bietet viel gesunde Kost.<br />
Das Restaurant hat sich neu erfunden. Das ist einzig und allein<br />
der Entscheidung von Küchenchef Trey Foshee zu verdanken,<br />
Gemüse von der Chino Farm groß herauszubringen. Foshee<br />
und sein Team fahren fast jeden Tag zur Farm hinaus, um ihre<br />
Zutaten einzukaufen. „Wir haben eine ausgesprochen saisonale<br />
Küche. Unsere Zutaten sind nicht nur frisch, sondern haben<br />
den optimalen Reifegrad, dann schmecken sie am besten“, sagt<br />
Foshee. Ein typisches Gericht auf seiner Speisekarte ist Möhrensalat,<br />
auf den ersten Blick eher Hausmannskost denn ein<br />
Gaumenschmaus. Doch ein Salat aus leuchtend bunten Möhren<br />
von der Chino Farm ist ein überwältigendes Geschmackserlebnis.<br />
Die ganz dünn geraspelten Möhren sind scharlachrot,<br />
weiß und violett und werden mit Kumquats, Honig und<br />
Gewürzjoghurt serviert.<br />
Ausgesprochen saisonale Zutaten müssen gar nicht großartig<br />
verarbeitet werden. Oft schmecken gerade die einfachsten<br />
Zubereitungen am besten. Entscheidend ist zu wissen, wie sie<br />
angerichtet werden, wie dünn sie geschnitten werden, wie lange<br />
sie blanchiert, gedünstet oder angebraten werden und wie sie<br />
miteinander kombiniert werden. Die besten Küchenchefs gehen<br />
heute mit Gemüse so um wie ein Metzger, der Filetstücke aus<br />
dem Fleisch schneidet. Die Zubereitung dieser „Gemüse fi lets“<br />
erfordert viel Zeit, Erfahrung und Kreativität. Die Gäste wissen<br />
das und sind bereit, dafür auch etwas mehr auf den Tisch des<br />
Hauses zu legen. Im Restaurant Guggenheim in Bilbao kommt das<br />
Gemüse frisch aus dem Garten direkt neben dem architektonischen<br />
Meisterwerk von Gehry.<br />
Das Gemüse wird mit demselben Fingerspitzengefühl<br />
behandelt wie die unbezahlbaren Kunstwerke innerhalb der Museumsmauern.<br />
Die zenartige, vegetarische Karte ist ein Gedicht<br />
und bietet kulinarische Genüsse wie gedünsteten schwarzen<br />
Rettich und Endivien-Confi t. „Ich habe damit angefangen, Wildgemüse<br />
wie Schwarzwurzeln, Feldsalat und rote Disteln selbst<br />
anzubauen“, erklärt der baskische Küchenchef Josean Martínez<br />
Alija. „Biogemüse wird zum neuen Luxus schlechthin.“<br />
„ Möhren werden<br />
in Zukunft die neue<br />
Foie gras sein.“<br />
Massimo Bottura<br />
Thinking the Future II 25