26 Thinking the Future II „ Wir suchen in freier Natur nach Beeren und Kräutern, mit denen andere sich gar nicht abgeben.“ René Redzepi Alija spricht eine Erkenntnis an, die sich weltweit immer mehr durchsetzt: Bei einem echten Luxusessen geht es weniger um die Zurschaustellung teurer Zutaten als um die Rückbesinnung auf das, was Mutter Erde so reichhaltig zu bieten hat. Entscheidend ist, den unverfälschten Geschmack zur Geltung zu bringen. Über diese seltenen Gemüsesorten aus heimischem Anbau können wir die Exotik unserer Umgebung entdecken und das schwer Fassbare eines bestimmten Ortes erfahren. Massimo Bottura, der Küchenchef der Osteria Francescana in Modena, wurde dank seiner Fähigkeit, die Traditionen seines Heimatlands mit der Zukunft zu verbinden, im Februar 2011 zum besten Koch der Welt ernannt. „Möhren werden die neue Foie gras sein“, erklärt er unmissverständlich. Um noch mehr von dieser ausgesprochen saisonalen Küche auf die Teller der Gäste zu bringen, folgen immer mehr Restaurants dem Beispiel von Alija: Der Trend geht zum eigenen Gemüsegarten. Im kanadischen Montreal hat das beliebte Edelrestaurant Joe Beef direkt neben der Terrasse hinter dem Haus einen großen Sommergarten angelegt, in dem prächtige alte Tomatensorten, Kürbisse und „Hexenkräuter“ bestens gedeihen. Wenn der eigene Garten gerade nichts hergibt, lassen die Beiköche auch schon mal einen Zierkohl und Mangold aus Montreals Stadtparks mitgehen. Michael Hoff mann vom Margaux in Berlin ist ebenfalls in Personalunion Küchenchef und Gärtner. Sein achtgängiges vegetarisches Menü „Voyage de Légumes“ für rund 140 Euro ist weltberühmt. Viele Zutaten stammen aus seinem eigenen 2000-Quadratmeter-Garten, in dem über 70 Kräuter- und Gemüsearten angebaut werden. Lola und Bill Zimmerman, die Besitzer des Herbfarm Restaurant vor den Toren von Seattle, bewirtschaften nicht nur einen Biobauernhof, sondern haben auch einen Garten, in dem Kräuter wie Süß dolden und Kümmelthymian nur darauf warten, die erlese nen Gerichte zu verfeinern. Gerichte wie Lorbeer-Clafoutis und die Brennnessel-Liebstöckel-Suppe spiegeln die üppige Pfl anzenpracht des Gartens wider. „Einen Garten zu haben ist heutzutage ein Luxus“, erklärt der französische Biologe Michel Pitrat, Autor von „Histoires de légumes“. Da unsere moderne Welt keine Agrargesellschaft mehr ist, so Pitrat, ist diese einst normale Lebensform zum Privileg geworden. Was im 17. Jahrhundert in der Bauernküche auf den Tisch kam – Rüben, Möhren und Kartoff eln –, wächst nun als Luxusgut in exklusiv gestalteten Gärten. Viele Küchenchefs begnügen sich nicht mehr mit Gemüse aus ihren selbst angelegten Gärten, sondern gehen höchstpersönlich Wildgemüse sammeln. Die Köche des für seine kreative Gemüseküche berühmten Noma in Kopenhagen sind in ihren heimatlichen Gefi lden ständig auf der Jagd nach „alten Schätzchen“, sei es in den wilden Wäldern oder im Dornengestrüpp am Straßenrand. „Wir suchen in freier Natur nach Beeren und Kräutern, mit denen andere sich gar nicht abgeben würden, und arbeiten mit Lebensmitteln, die nicht auf den üblichen Vertriebswegen erhältlich sind“, erklärt Küchenchef Redzepi. Im September 2010 traf sich die Elite der internationalen Gemüseköche zum dritten Mal bei „Cook it raw“. Initiiert vom Kopenhagener „Culinary Consultant“ Alessandro Porcelli, reisten René Redzepi, David Chang, Massimo Bottura, Daniel Patterson & Co. an den Polarkreis in die Wildnis ums fi nnische Levi, um sich beim Angeln, Beerensammeln und auf der Jagd an ursprüngliche Lebensmittel heranzupirschen. Sie entdeckten dabei Kräuter, Beeren, Wurzeln, Moose, Pilze oder junge Farnsprösslinge, die wie grüne Haselnüsse schmecken. Frischer, leicht süßlicher Birkensaft ist längst nicht mehr nur in Russland und den nordischen Länder ein beliebtes Getränk. Für manche, darunter die kreativen Köpfe des Coi in San Francisco, hat die neue Gemüseküche schon etwas von Performancekunst an sich. So nennt Küchenchef Daniel Patterson eine seiner ausgefallenen Zusammenstellungen „Früh winterliche Gartenabstraktion“. Er sagt voraus, dass dieser Trend sich noch verstärken wird. „Wild wachsende Wurzeln, Blätter, Beeren und Wildblumenblüten werden aufgrund ihrer starken emotionalen Komponente eine sehr wichtige Rolle spielen“, sagt Patterson. Der Ursprung dieser romantischen Ästhetik lässt sich zu Küchenchef Michel Bras in Laguiole und seinem aus 60 Zutaten bestehenden „Gargouillou“ zurückverfolgen – einer magischen Komposition aus einfachem, frischem Gemüse, die inzwischen Kultstatus genießt. Küchenchefs in der ganzen Welt haben sich von dieser spielerischen Hommage an die französische Landschaft inspirieren lassen. In einigen Gargouillou- Varianten fehlt selbst die „Erde“ aus schwarzen Brioche-Stückchen und Tomatenpulver nicht. ¤ Weitere Informationen Chino Farm, 6123 Calzada Del Bosque, Rancho Santa Fe, CA 92067, USA www.chezpanisse.com; www.wolfgangpuck.com www.noma.dk; www.georgesatthecove.com www.restauranteguggenheim.com; www.osteriafrancescana.it www.joebeef.ca; www.margaux-berlin.de; www.theherbfarm.com www.coirestaurant.com; www.michel-bras.com
Frisches Biogemüse aus heimischem Anbau ist nicht nur etwas für Ökos, sondern auch für Genießer. Während wir noch versuchen, die Grenze zwischen postmoderner Molekularküche und Sehnsucht nach der Vergangenheit zu ergründen, fi nden einige Küchenchefs mit bahnbrechenden Ideen ihren eigenen Weg. Er führt sie in die Gärten hinter ihren Restaurants, durch schattige Wälder und zu nahegelegenen Bauernhöfen, wo die Schätze der Erde nur darauf warten, entdeckt zu werden. Dem Erdreich entrissen Die Zukunft liegt in vergessenen Kräutern und Gemüsesorten wie schwarzen Möhren. Gute Ideen FOTO: DARQUÉ/PHOTOCUISINE