32 Thinking the Future III Handarbeit in Perfektion Ob beim Ausformen von Reliefelementen oder beim manuellen Mischen der im hauseigenen Labor hergestellten Farben – das Wissen und die Erfahrung der Mitarbeiter ist in über 300 Jahren Manufakturgeschichte gewachsen. Christian Kurtzke hat schon als Kind von Meissener Porzellan gegessen, natürlich nur an besonderen Feiertagen. „Wir hatten auch das Zwiebelmuster zu Hause“, erzählt er. Der 41-jährige Manager spricht nicht nur von „Turnaround“ oder „Change Management“, sondern verwendet auch Begriff e der Kunstge schich te häufi g und mit Leidenschaft: „Das gehört für mich zur Allgemeinbildung“, sagt er. In der Geschichte der Manufaktur, hat er herausgefunden, haben die Generaldirektoren sich nie exklusiv um Bilanzen und Logistik gekümmert, sondern immer auch großen Einfl uss auf die künstlerische Ausrichtung genommen. Er selbst sieht sich deshalb auch als Chefde signer, gibt den erfahrenen Abteilungsleitern und Arbeitern immer wieder Anregungen für neue Farben oder Formen. „Ich habe ein gutes Gespür, was auf dem Markt ankommt.“ Christian Kurtzke, trotz des staubigen Arbeitsplatzes immer im eng geschnittenen Anzug unterwegs, trägt die gekreuzten Klingen der Manufaktur als Pin am Revers. US-Politiker tragen einen Flaggenpin, um Patriotismus zu demonstrieren, und auch Kurtzke will wohl mit der Nadel zeigen, dass Meissen keine Zwischenstation ist, sondern „eine Lebensaufgabe“. Wann immer Zeit ist, läuft er durch die verschachtelten Gänge und Kellerräume des weitläufi gen Geländes, updatet das innere Navigationssystem und sichtet die Bestände. Manchmal fühlt er sich wie ein Archäologe, der gerade eine Grabkammer geöff net hat. „Wir haben 700 000 Entwürfe und mehr als 200 000 Produkte aus drei Jahrhunderten in unseren Archiven“, sagt er, „vom Centerpiece bis zum Accessoire.“ Immer zur Hand hat er sein Smartphone, mit dem er Fundstücke fotografi ert und später Mitarbeitern und Kunden zeigt. Kurtzke fand zum Beispiel eine Tassenform aus dem Jahr 1760 mit klaren Linien und elegantem Design, „die ungeheuer modern wirkt“ und 2010 als Espresso-Tasse auf den Markt kam – mehr als 10 000 Stück wurden bislang verkauft. Früher brauchte die Manufaktur bis zu zweieinhalb Jahre, um eine neue Produktlinie auf den Markt zu bringen. „Das lag auch daran, dass man immer das vielteilige Service vor Augen hatte.“ Im 21. Jahrhundert sollen auch Einzelstücke, Geschenksets und spontane Ideen hergestellt werden. „Wir denken in Zyklen von wenigen Wochen“, sagt der Manager. Im Architekturatelier hängen große, geheimnisvolle Holzwerkzeuge an einer Wand, Lineale, Zirkel und Lot-Konstruktionen, mit denen man schon früher Wandverkleidungen gemacht hat. Das ist nicht nur Dekoration, sondern Hinweis an die Architekten, Designer und Großkunden, dass in Handarbeit produziert wird. Geht man durch die schmucklosen, pragmatisch eingerichteten Gänge, besteht daran kein Zweifel: Der Staub, der in der Luft liegt, der scharfe Geruch der Farbemulsionen bezeugen, „dass wir wirklich eine Manufaktur sind“. Im Museum neben den Fertigungshallen und Ateliers, das jedes Jahr von mehreren zehntausend Menschen besucht wird, stehen vor allem die opulenten Statuen, Tierfi guren mit leuchtenden Farben und viel Gold. Die Architektur des Museums aber ist mit den großen Fenstern, geraden Linien und Sichtbetonfl ächen weit entfernt von den Barockwurzeln der Marke. „Die Architekturlinie wird einen ganz neuen Look haben“, sagt Kurtzke, „das Opulente, Royale und Barocke, das die Menschen mit Meissen in Verbindung bringen, soll durch modernes und schlichtes Design ergänzt werden und so eine junge und urbane Zielgruppe ansprechen – klare Linien und matte Farben, edle Einfalt und stille Größe. Ein Klassiker in der Stunde der Geburt.“ Porzellan ist ein mehrdeutiges und damit modernes Produkt, in dem sich Natur und Technik, archaische Handarbeit und Highend-Design verbinden. In der Fertigung liegen die Wandelemente bereits auf Metallständern neben Tassen, Tellern, Vasen und Figuren. Auch hier wird deutlich: Es gibt Zuwachs in der Produktfamilie. Noch befi nden sich die Kacheln in ihrem grauweißen Naturzustand. „Wir können jede Farbe der Welt im eigenen Haus mischen“, sagt Kurtzke. „So können wir schnell reagieren und auch ausgefallene Wünsche der Kunden erfüllen.“ Die Flexibilität und Vielfalt des Produktionsprozesses wohnt auch dem Material selbst inne. Es können unendlich viele Formen gegossen werden, nicht nur glatte Kacheln, sondern ausgefallene Muster und Oberfl ächenstrukturen, und das ganz ohne das Porzellan durch Fräsen oder Stanzen zu beeinträchtigen. Der Geschäftsführer kann sich auch fi gürliche oder dreidimensio nale Designs vorstellen, etwa einen Kleiderhaken, der aus der Wand herauswächst, surreale Szenen, unbegrenzte Möglichkeiten. „Wir erfi nden hier die Wand neu.“ Diese Eigenschaften interessieren auch Sven Schnee von Gaggenau. Zusammen mit der Manufaktur Meissen plant er eine Erweiterung der Corporate Architecture für die Marke Gaggenau, welche Ende 2011 zum ersten Mal in Peking präsentiert werden wird. Die Idee liegt darin, die Gaggenau Heritage Wall anstatt aus jahrzehntealtem Tannenholz aus dem Schwarzwald alternativ aus Porzellan fertigen zu lassen. „Es gibt ein tolles Spannungsfeld zwischen Natur und Hightech“, sagt Schnee, das Design sei ein regelrechtes Trompe-l’Œil, eine Illusion, die durch Handwerk entsteht. Und damit kennt man sich bei Meissen gut aus. ¤ (RECHTS) BRAUN/ARTUR Weitere Informationen ZOOEY www.meissen.com FOTO:
Authentisches Material Das Böttgersteinzeug dieser Wandbekleidung ist nicht nur das ursprüngliche, sondern auch eines der authentischsten Materialien des Meissen- Architektur-Programms. Es wird in der sogenannten Roten Münze, einer Manufaktur in der Manufaktur, von Hand gefertigt.