Ein Rezept, das aus der Kälte kommt - Spitalzentrum Biel-Bienne
Ein Rezept, das aus der Kälte kommt - Spitalzentrum Biel-Bienne
Ein Rezept, das aus der Kälte kommt - Spitalzentrum Biel-Bienne
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Erinnerungen an Afghanistan<br />
<strong>Ein</strong>es morgens im Juli 2001 erhielt<br />
ich einen Telefonanruf von „Médecins<br />
sans frontières“: „Für unseren<br />
<strong>Ein</strong>satz im Norden Afghanistans<br />
brauchen wir eine Ärztin, wenn<br />
möglich eine Gynäkologin; Abreise<br />
Anfang September. Bist du interessiert?“<br />
Ich hatte bereits in Sierra<br />
Leone für diese Organisation gearbeitet<br />
und war davon hell begeistert<br />
gewesen. Nun aber Afghanistan...<br />
<strong>der</strong> Krieg, die bedrohlichen<br />
Talibans, die Burka, die öffentlichen<br />
Hinrichtungen, was hatte eine<br />
westliche Frau dort verloren?<br />
Und wenn ich mir selber eine Idee<br />
von diesem Land und seiner auf<br />
traurige Weise berühmt gewordene<br />
Bevölkerung machen würde? Warum<br />
nicht <strong>das</strong> Risiko eingehen und<br />
meinen Beruf unter schwierigen<br />
Umständen <strong>aus</strong>führen, wissend,<br />
<strong>das</strong>s nur weibliche Therapeuten<br />
Zugang zu den afghanischen Frauen<br />
und ihrer Gesundheit haben?<br />
Trotz sorgfältiger Vorbereitung<br />
liess mich <strong>der</strong> erste Anprall mit <strong>der</strong><br />
afghanischen Wirklichkeit perplex:<br />
Die strenge <strong>Ein</strong>samkeit <strong>der</strong> gewaltigen<br />
Bergwelt, unvermittelt unterbrochen<br />
von Paraden und Defilees,<br />
keine Elektrizität, kein Benzin, kein<br />
Gas, auch kein fliessendes Wasser,<br />
kein Telefon und keine Post. Kein<br />
Komfort. In den Strassen von Baharak,<br />
wo ich stationiert war, sah<br />
man nur Männer, Kin<strong>der</strong> und Esel<br />
lärmend unterwegs zum Markt;<br />
von den Frauen keine Spur. Sie hätten<br />
kein Recht auf den Markt zu gehen,<br />
wurde ich belehrt. Später begegnete<br />
ich ihnen auf dem Weg zur<br />
Klinik, unter <strong>der</strong> Burka versteckt,<br />
o<strong>der</strong> ohne Burka bei ihnen zu H<strong>aus</strong>e.<br />
Die Burka war nichts weiter als<br />
<strong>der</strong> sichtbare Aspekt ihrer Diskriminierung.<br />
In Baharak, einer sehr traditionellen<br />
Stadt in einer zurückgebliebenen<br />
Region, trägt man die Burka<br />
seit Menschengedenken, daran hat<br />
sogar die sowjetische Besetzung<br />
nichts geän<strong>der</strong>t. Neben <strong>der</strong> sichtbaren<br />
Diskriminierung machten<br />
mich die mangelnden Rechte <strong>der</strong><br />
Frauen betroffen; an Pflichten da-<br />
gegen fehlte es keineswegs. An<strong>der</strong>erseits<br />
hat mich die Kraft, die von<br />
diesen Frauen <strong>aus</strong>ging, und ihre<br />
Art sich im Stillen untereinan<strong>der</strong><br />
zu organisieren, um ihre Probleme<br />
zu lösen, zutiefst beeindruckt. In<br />
<strong>der</strong> Klinik erlebte ich, <strong>das</strong>s sich<br />
Frauen nach einem zwei- o<strong>der</strong><br />
dreitägigen Fussmarsch unter grössten<br />
Schmerzen o<strong>der</strong> mit einem<br />
schwerkranken Kind auf dem<br />
Rücken, für einen Behandlungsschein<br />
vordrängten. Es kam auch<br />
vor, <strong>das</strong>s sie unverrichteter Dinge<br />
in ihr Dorf zurückkehren mussten,<br />
wenn zur Rettung des Kindes ein<br />
Spitalaufenthalt nötig gewesen wäre.<br />
Ihre Männer erlaubten ihnen<br />
nicht im Spital zu bleiben. Solche<br />
Vorkommnisse lösten bei mir starke<br />
Gefühle <strong>der</strong> Ohnmacht und <strong>der</strong><br />
Auflehnung <strong>aus</strong>. Gleichzeitig bewun<strong>der</strong>te<br />
ich <strong>das</strong> afghanische Volk<br />
für seinen nie erlahmenden Glauben<br />
an die Zukunft, seinen Mut,<br />
seine Herzlichkeit und seine unvergleichliche<br />
Gastfreundschaft.<br />
In unserer Klinik arbeiteten drei<br />
Ärzte, zahlreiche Pfleger und Hebammen<br />
und weiteres paramedizinisches<br />
Personal. Gemeinsam mit<br />
<strong>der</strong> einheimischen Belegschaft<br />
kümmerten wir uns um die zahlreichen<br />
Patienten mit Durchfall, mit<br />
Infektionen <strong>der</strong> Atemwege, Rückfällen<br />
von Malaria, Tuberkulose,<br />
Unterernährung. Täglich galt es<br />
ein o<strong>der</strong> zwei Minenverletzte zu<br />
behandeln (ein trauriges Erbe <strong>der</strong><br />
russischen Besetzer) aber auch Verletzte<br />
mit Schusswunden (nach<br />
Kämpfen zwischen rivalisierenden<br />
Gruppen). Zusätzlich unterstützten<br />
wir ein Ernährungsprogramm für<br />
Kin<strong>der</strong> unter fünf Jahren und ein<br />
Familienplanungsprogramm und<br />
führten Schwangerschaftskontrollen<br />
durch. Zu meinen Pflichten<br />
gehörte zudem die Betreuung und<br />
Weiterbildung <strong>der</strong> einheimischen<br />
Ärztin und <strong>der</strong> Hebammen. Da die<br />
meisten Frauen zu H<strong>aus</strong>e gebären,<br />
bildeten wir auch traditionelle<br />
Hebammen zum <strong>Ein</strong>satz in ihren<br />
Dörfern <strong>aus</strong>. Wir verfügten über<br />
keine diagnostischen Geräte, ent-<br />
Fortsetzung Seite 22<br />
20 à propos 6/2002<br />
Afghanische Frauen haben eine<br />
Art, sich im Stillen untereinan<strong>der</strong><br />
zu organisieren um ihre<br />
Probleme zu lösen.<br />
Les femmes afghanes ont une<br />
façon silencieuse de s’organiser<br />
entre elles pour résoudre<br />
leurs problèmes.