Zusatzmaterial zu AL 2007, 124 Menges - Ad Legendum
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<strong>Zusatzmaterial</strong> <strong>zu</strong> <strong>AL</strong> <strong>2007</strong>, <strong>124</strong> <strong>Ad</strong> <strong>Legendum</strong> 5<br />
IV. Reichweite des Patiententestaments<br />
Fraglich ist, ob die in einer Patientenverfügung festgelegten<br />
antizipierten Behandlungsanweisungen des Patienten<br />
unabhängig von dem Stadium seines Leidens<br />
Anwendung finden können, oder ob die Rechtsordnung<br />
die Reichweite einer solchen Verfügung auf das<br />
Vorliegen näher <strong>zu</strong> bestimmender medizinischer Vorausset<strong>zu</strong>ngen<br />
beschränken darf.<br />
1. Hilfe beim Sterben<br />
Der BGH hat in einer Strafsache 54 in Anlehnung an die<br />
damaligen von der Bundesärztekammer verabschiedeten<br />
Richtlinien für die Sterbehilfe 55 entschieden, wann<br />
der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen <strong>zu</strong>lässig ist.<br />
Er hat dabei zwischen der „Hilfe beim Sterben“ (Sterbehilfe<br />
i.e.S.) und der „Hilfe <strong>zu</strong>m Sterben“ (Sterbehilfe<br />
i.w.S.) unterschieden. So sei von „Hilfe beim Sterben“<br />
<strong>zu</strong> sprechen, wenn das Grundleiden eines Kranken nach<br />
ärztlicher Überzeugung unumkehrbar (irreversibel) sei,<br />
einen tödlichen Verlauf angenommen und der Sterbeprozess<br />
bereits begonnen habe, der Tod also in kurzer<br />
Zeit eintreten werde. Liegen diese Vorausset<strong>zu</strong>ngen vor,<br />
sei eine das erlöschende Leben verlängernde intensivmedizinische<br />
Behandlung in der Regel nicht mehr indiziert.<br />
Der Arzt werde folglich eine solche Maßnahme nicht<br />
mehr anbieten. 56<br />
Ihr Unterlassen bedeutet keine Tötung des Patienten<br />
durch den Arzt. Es ist vielmehr ausschließlich ärztliche<br />
Hilfe und Begleitung im Sterbeprozess geboten. 57 Die<br />
Entscheidung gegen lebensverlängernde Maßnahmen<br />
obliegt in diesen Fällen dem Arzt alleine. Er beurteilt<br />
kraft seines Fachwissens, ob in der konkreten Situation<br />
die möglichen medizinischen Eingriffe noch indiziert<br />
sind und er sie anbietet. 58 Eine Unterlassung bzw.<br />
Einstellung von lebenserhaltenden Maßnahmen beruht<br />
dann also gerade nicht auf einer in einer Patientenverfügung<br />
antizipiert getroffenen Entscheidung des Patienten.<br />
Für eine Einwilligung in eine lebensverlängernde<br />
bzw. -erhaltende Behandlung ebenso wie für die Verweigerung<br />
derselben ist von vornherein kein Raum, wenn<br />
ärztlicherseits mangels Indikation eine solche Behandlung<br />
überhaupt nicht angeboten wird. 59<br />
2. Hilfe <strong>zu</strong>m Sterben<br />
Habe aber der Sterbeprozess noch nicht eingesetzt, so<br />
werde der behandelnde Arzt eine medizinische Maßnahme<br />
in der Regel für indiziert halten und folglich anbieten.<br />
Entspreche die lebenserhaltende Maßnahme aber<br />
nicht dem (im entschiedenen Fall: mutmaßlichen) Willen<br />
des Patienten, müsse sie unterlassen bzw. abgebrochen<br />
werden. Sterbe der Betroffene folglich, so liege ein Fall<br />
der „Hilfe <strong>zu</strong>m Sterben“ vor. Diese Form der Sterbehilfe<br />
i.w.S. hält der BGH für Strafsachen ausdrücklich für<br />
<strong>zu</strong>lässig. 60 Die Unterscheidung zwischen „Hilfe beim<br />
Sterben“ und „Hilfe <strong>zu</strong>m Sterben“ anhand des Merkmals<br />
der Todesnähe verweist demnach lediglich auf die<br />
unterschiedlichen Gründe für die Einstellung lebenserhaltender<br />
Maßnahmen. 61 Eindeutig ist, dass ein Behandlungsabbruch<br />
bei entsprechendem Patientenwillen auch<br />
vor Einsetzen des Sterbeprozesses möglich ist. Unklar<br />
ist aber, ob nach dem BGH für ein solches Verlangen<br />
die übrigen beiden Vorausset<strong>zu</strong>ngen vorliegen müssen,<br />
namentlich die Unumkehrbarkeit des Grundleidens und<br />
der tödliche Verlauf. Der 1. Strafsenat geht hierauf nicht<br />
näher ein. Insofern sind zwei Interpretationen des Urteils<br />
denkbar.<br />
Es lässt sich restriktiv so deuten, dass die Bedingungen,<br />
die in den Richtlinien der Bundesärztekammer neben der<br />
unmittelbaren Todesnähe für die „Hilfe beim Sterben“<br />
aufgestellt werden, auch für die Fälle der „Hilfe <strong>zu</strong>m<br />
Sterben“ vorliegen müssen. Dafür spricht der Wortlaut<br />
des 1. Leitsatzes, wenn es heißt, „bei einem unheilbar<br />
erkrankten, nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten<br />
kann der Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder<br />
Maßnahme ausnahmsweise auch dann <strong>zu</strong>lässig sein,<br />
wenn die Vorausset<strong>zu</strong>ngen der von der Bundesärztekammer<br />
verabschiedeten Richtlinien für die Sterbehilfe<br />
nicht vorliegen, weil der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt<br />
hat.“ 62 Zum einen wird ausdrücklich eine unheilbare<br />
Erkrankung vorausgesetzt, also die Irreversibilität.<br />
Zum anderen deutet das „weil“ darauf hin, dass nur das<br />
Merkmal der Todesnähe nicht erfüllt sein muss, das eines<br />
grundsätzlichen tödlichen Verlaufs aber schon.<br />
Das Urteil kann aber auch extensiv dahingehend interpretiert<br />
werden, dass zwar ein unheilbares Grundleiden<br />
vorliegen, dass dieses aber nicht zwingend einen<br />
tödlichen Verlauf angenommen haben muss und dass<br />
es maßgeblich auf den Willen des Patienten ankommt.<br />
Dafür spricht, dass der BGH lediglich feststellt, dass der<br />
„Abbruch einer einzelnen lebenserhaltenden Maßnahme“<br />
bei entsprechendem Patientenwillen grundsätzlich<br />
als Ausdruck der allgemeinen Entscheidungsfreiheit<br />
und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit <strong>zu</strong>lässig<br />
sei, 63 ohne dabei einen tödlichen Verlauf voraus<strong>zu</strong>setzen.<br />
Zudem liegt dem BGH ein Sachverhalt vor, in dem<br />
das Grundleiden der Betroffenen noch keinen tödlichen<br />
Verlauf genommen hat: „Frau S. war (…) lebensfähig.“ 64<br />
Zugleich erachtet er einen Behandlungsabbruch aber<br />
nicht als von vornherein unmöglich, was er aber hätte<br />
54 BGHSt 40, 257-272.<br />
55 Richtlinien der Bundesärztekammer für die Sterbehilfe, MedR<br />
1985, 38 f.<br />
56 BGHSt 40, 257 (260); so auch Ziffer I der Grundsätze der Bundesärztekammer<br />
<strong>zu</strong>r ärztlichen Sterbebegleitung v. 11.09.1998,<br />
NJW 1998, 3406 (3406 f.).<br />
57 BGHSt 40, 257 (260); Lipp, FamRZ 2004, 317 (319).<br />
58 BGHSt 40, 257 (260); Coeppicus, Rpfleger 2004, 262 (263).<br />
59 BGH NJW 2003, 1588 (1593); Lipp, Stellvertretene Entscheidungen<br />
bei „passiver Sterbehilfe“, in: May/Geißendörfer/Simon/Strätling,<br />
Passive Sterbehilfe, S. 37 (52 f.); Taupitz,<br />
Gutachten 63. DJT, A 23 f., A 91; Hahne, FamRZ 2003, 1619<br />
(1622).<br />
60 BGHSt 40, 257 (260).<br />
61 Lipp, FamRZ 2004, 317 (319).<br />
62 BGHSt 40, 257 (257).<br />
63 BGHSt 40, 257 (260).<br />
64 BGHSt 40, 257 (260).