Zusatzmaterial zu AL 2007, 124 Menges - Ad Legendum
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<strong>Zusatzmaterial</strong> <strong>zu</strong> <strong>AL</strong> <strong>2007</strong>, <strong>124</strong> <strong>Ad</strong> <strong>Legendum</strong> 9<br />
maßgebend für das „ob“ und „wie“ der medizinischen<br />
Behandlung. 110<br />
Die Ansicht, die einem Patiententestament generell keine<br />
Bindungswirkung <strong>zu</strong>spricht, es also völlig als Instrument<br />
<strong>zu</strong>r Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts<br />
am Lebensende ablehnt, 111 kann in der neueren Diskussion<br />
als überwunden angesehen werden. 112<br />
1. Patiententestament als Indiz für den mutmaßlichen<br />
Willen<br />
Einer weit verbreiteten Ansicht nach führe eine Patientenverfügung<br />
nicht <strong>zu</strong> einer unmittelbaren Bindung<br />
der Beteiligten, sondern sei lediglich als Anhaltspunkt<br />
bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Patienten<br />
<strong>zu</strong> berücksichtigen. 113 Der mutmaßliche Wille ist<br />
<strong>zu</strong> verstehen als der Wille, den der Patient in der konkreten<br />
Situation haben würde, wenn er über sich selbst<br />
bestimmen könnte. 114 Ein Patiententestament wird demnach<br />
also gerade nicht als Äußerung des aktuellen und<br />
wirklichen Willens betrachtet.<br />
Begründet wird diese Auffassung damit, dass Patiententestamente<br />
typischerweise nicht geeignet seien, die<br />
später tatsächlich eintretende Situation hinreichend genau<br />
<strong>zu</strong> skizzieren. 115 Da der Verfasser im Zeitpunkt der<br />
Errichtung das konkrete Krankheitsbild mit all seinen<br />
Begleiterscheinungen noch nicht kenne, könne seine<br />
Erklärung in der Regel nicht hinreichend bestimmt sein,<br />
um sie selbst schon als eine nach außen wirksame Behandlungsanweisung<br />
<strong>zu</strong> betrachten. 116<br />
Ferner wird argumentiert, die Lebensphilosophie eines<br />
Gesunden biete keine hinreichende Gewissheit bis <strong>zu</strong>m<br />
Tode. Vielmehr verschöben sich in Notlagen die Wertmaßstäbe<br />
des Betroffenen. Eine in gesunden Tagen errichtete<br />
Patientenverfügung könne nicht den wirklichen<br />
Willen des Patienten <strong>zu</strong>m Zeitpunkt des Eingriffs wiedergeben.<br />
117<br />
Darüber hinaus verliere ein Patiententestament mit <strong>zu</strong>nehmendem<br />
Alter an Bindungswirkung. Je länger die<br />
Errichtung einer solchen Verfügung <strong>zu</strong>rückliege, desto<br />
weniger könne sie Aufschluss über den Willen des Betroffenen<br />
geben. 118<br />
Zudem wird angeführt, dass in dem Zeitraum zwischen<br />
Errichtung der Patientenverfügung und ärztlichem<br />
Eingriff ein medizinischer Fortschritt eingetreten sein<br />
könnte und der Betroffene in der konkreten Situation<br />
daher etwas anderes wollen könnte, hätte er diesen bedacht.<br />
119<br />
Vertreter dieser Auffassung sprechen der Patientenverfügung<br />
konsequenterweise auch einen rechtsgeschäftlichen<br />
Charakter ab. Sie ordnen sie weder als Willenserklärung<br />
noch als rechtsgeschäftsähnliche Handlung ein. Das<br />
mitunter als „Allgemeinerklärung“ 120 bezeichnete Patiententestament<br />
sei <strong>zu</strong>mindest für eine Willenserklärung<br />
<strong>zu</strong> unbestimmt. 121 Zudem mangele es einer Patientenverfügung<br />
an einer der rechtsgeschäftlichen Natur einer<br />
Erklärung generell innewohnenden, irgendwie gearteten<br />
Selbstbindung. Eine Änderung des erklärten Willens im<br />
Rahmen einer rechtsgeschäftlichen Erklärung werde<br />
nämlich stets, wenn schon nicht ausgeschlossen, dann<br />
doch wenigstens erschwert (vgl. etwa das Zugangserfordernis<br />
eines formellen Widerrufs gemäß § 130 I 2 BGB).<br />
Der Verfasser einer Patientenverfügung hingegen könne<br />
seine Erklärung jederzeit form- und „hindernislos“ widerrufen.<br />
122<br />
2. Patiententestament als wirklicher Wille<br />
Die Gegenmeinung sieht in der Patientenverfügung<br />
eine antizipiert geäußerte Behandlungsanweisung, die<br />
solange als aktueller und wirklicher Wille des Patienten<br />
für jeden späteren Krankheitsfall verbindlich bleibe, bis<br />
sich der Erklärende von diesem mit erkennbarem Widerrufswillen<br />
distanziere. 123 Diese Willensbekundung<br />
des Betroffenen für oder gegen bestimmte medizinische<br />
Maßnahmen dürfe nicht durch einen Rückgriff auf dessen<br />
mutmaßlichen Willen unterlaufen werden. <strong>124</strong> Eine<br />
Durchbrechung der unmittelbaren Bindungswirkung<br />
komme nur dann in Betracht, wenn sich die konkreten<br />
Umstände nachträglich so erheblich geändert hätten,<br />
dass die frühere selbstverantwortlich getroffene Entscheidung<br />
des Patienten die aktuelle Sachlage nicht mehr<br />
<strong>zu</strong> umfassen vermöge. 125 Erst in einem solchen Fall sei<br />
hilfsweise auf den mutmaßlichen Willen des Patienten<br />
<strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>greifen, wobei die Patientenverfügung dann<br />
Indizwirkung bei dessen Ermittlung habe. 126<br />
Es spreche aus rechtsdogmatischer Sicht nichts dagegen,<br />
die Patientenverfügung wie die „normale“ Einwil-<br />
110 Schlüter, BGB-Familienrecht, Rn. 458; Detering, JuS 1983, 418<br />
(422).<br />
111 Spann, MedR 1983, 13 (15); Opderbecke, MedR 1985, 23 (36).<br />
112 Taupitz, Gutachten <strong>zu</strong>m 63. DJT, A 108 f.; Strätling/Sedemund-<strong>Ad</strong>ib/Scharf/Schmucker,<br />
ZRP 2003, 289 (289 f.); Vossler,<br />
BtPrax 2002, 240 (241).<br />
113 So u.a. OLG Frankfurt, NJW 1998, 2747 (2749); Detering, JuS<br />
1983, 418 (422); Dölling, MedR 1987, 6 (9); Laufs, NJW 1998,<br />
3399 (3400); Meier, BtPrax 1996, 161 (163); Deutsch, NJW<br />
1979, 1905 (1909); Sch/Sch – Eser, Vorbem §§ 211 ff., Rn. 28.<br />
114 MüKo/BGB – Schwab, § 1904, Rn. 20.<br />
115 Dodegge/Roth – Roth, BtKomm, C Rn. 108; Laufs, NJW 1998,<br />
3399 (3400).<br />
116 Taupitz, Gutachten 63. DJT, A 112 ff.<br />
117 Detering, JuS 1983, 418 (421 f.); Dölling, MedR 1987, 6 (9);<br />
Fritsche, MedR 1993, 126 (130); Rickmann, Patiententestament,<br />
S. 177; Spann, MedR 1983, 13 (14).<br />
118 Laufs, NJW 1998, 3399 (3400).<br />
119 Generell <strong>zu</strong>r hypothetischen Willensänderung Dölling, MedR<br />
1987, 6 (9); Spann, MedR 1983, 13 (14).<br />
120 Baumann/Hartmann, DNotZ 2000, 594 (604).<br />
121 Roth, JZ 2004, 494 (496).<br />
122 Detering, JuS 1983, 418 (422); Roth, JZ 2004, 494 (496); Spann,<br />
MedR 1983, 13 (14).<br />
123 BGH NJW 2003, 1588 (1591); Berger, JZ 2000, 797 (800 f.);<br />
Lipp, FamRZ 2004, 317 (320); Sternberg-Lieben, NJW 1985,<br />
2734 (2737); Taupitz, Gutachten 63. DJT, A 41, A 106 ff.; Verrel,<br />
NStZ 2003, 449 (450 f.).<br />
<strong>124</strong> BGH NJW 2003, 1588 (1591); Hahne, FamRZ 2003, 1619<br />
(1620); Taupitz, Gutachten 63. DJT, A 41.<br />
125 BGH NJW 2003, 1588, 1591; Sternberg-Lieben, NJW 1985,<br />
2734, 2737; Taupitz, Gutachten 63. DJT, A 41, A 106 ff.; Verrel,<br />
NStZ 2003, 449, 450 f.; Berger, JZ 2000, 797, 800 f.<br />
126 BGH NJW 2003, 1588, 1591; Hahne, FamRZ 2003, 1619,<br />
1620.