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Zusatzmaterial zu AL 2007, 124 Menges - Ad Legendum

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6 <strong>Ad</strong> <strong>Legendum</strong> <strong>Zusatzmaterial</strong> <strong>zu</strong> <strong>AL</strong> <strong>2007</strong>, <strong>124</strong><br />

tun müssen, hielte er ein Unterlassen ohne Vorliegen des<br />

tödlichen Verlaufs für nicht <strong>zu</strong>lässig. Der damalige Vorsitzende<br />

des befassten 1. Strafsenats Kutzer hat in einem<br />

Rechtsgespräch erklärt, der BGH für Strafsachen habe<br />

die Zulässigkeit eines Behandlungsabbruchs nicht von<br />

einem tödlichen Verlauf abhängig machen wollen. 65<br />

3. Die Problematik der Vorausset<strong>zu</strong>ng des „irreversiblen<br />

tödlichen Verlaufs“<br />

Nun hat der 12. Zivilsenat des BGH in seinem Beschluss<br />

vom 17. März 2003 66 erklärt, dass für das Verlangen eines<br />

Betreuers, eine lebenserhaltende Behandlung ein<strong>zu</strong>stellen,<br />

kein Raum sei, wenn das Grundleiden noch keinen<br />

irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen habe. 67 Er<br />

begründet diese rechtlichen Vorgaben damit, dass das<br />

Zivilrecht nicht erlauben könne, was das Strafrecht verbiete.<br />

68 Der BGH für Zivilsachen fühlt sich also durch<br />

das Urteil des BGH für Strafsachen gebunden, wobei er<br />

dessen restriktiver Interpretation folgt. Der 12. Zivilsenat<br />

definiert jedoch in seiner Begründung nicht näher,<br />

was er genau unter einem irreversiblen tödlichen Verlauf<br />

versteht. Daher lässt sich auch diese Entscheidung unterschiedlich<br />

auslegen.<br />

In der Literatur wird sie teilweise so gedeutet, dass der<br />

Anwendungsbereich einer Patientenverfügung fortan auf<br />

die Fälle unmittelbarer Todesnähe, also auf die Fälle der<br />

„Hilfe beim Sterben“ eingeengt worden sei. 70 Einer solchen<br />

Interpretation wird jedoch aus dem Grunde wohl<br />

schon gefolgt werden können, weil der 12. Zivilsenat auf<br />

das Merkmal der Todesnähe nicht näher eingeht. Würde<br />

er einen begonnenen Sterbeprozess für die Möglichkeit<br />

eines Behandlungsabbruchs hingegen voraussetzen, hätte<br />

er ihn <strong>zu</strong>mindest genannt.<br />

Andere Teile des Schrifttums verstehen den irreversiblen<br />

tödlichen Verlauf dahingehend, dass das Grundleiden<br />

unumkehrbar und trotz medizinischer Behandlung<br />

<strong>zu</strong> einem unbestimmten Zeitpunkt <strong>zu</strong>m Tode führen<br />

müsse. 70 Von einem solchen Verständnis wären aber in<br />

der Regel die in der Anzahl stetig steigenden Wachkoma-Patienten<br />

und ähnlich gelagerte Fälle nicht umfasst.<br />

Sind deren körperliche Funktionen im Übrigen stabil,<br />

können sie mitunter noch unbestimmt viele Jahre mittels<br />

künstlicher Sondenernährung weiter leben. 71 Ein<br />

Sterben an dem „Grundleiden Wachkoma“ ist aber nicht<br />

feststellbar. Man wird daher bis <strong>zu</strong>m Ausfall weiterer vitaler<br />

Organfunktionen, die dann als tödlich verlaufend<br />

<strong>zu</strong> qualifizieren wären, nicht davon ausgehen können,<br />

dass das Grundleiden des Betroffenen einen tödlichen<br />

Verlauf angenommen hat. 72<br />

Die Entscheidung könnte man aber auch so interpretieren,<br />

dass das Grundleiden irreversibel sein und dann<br />

tödlich verlaufen müsste, wenn die in Rede stehende<br />

medizinische Maßnahme unterbliebe. Von einer solchen<br />

Definition wären etwa auch Wachkoma-Patienten umfasst,<br />

denn deren Grundleiden ist unumkehrbar und,<br />

würde man die künstliche Ernährung oder Beatmung<br />

unterlassen, würden sie versterben. Auch wenn die Vorsitzende<br />

des 12. Zivilsenats Hahne in einem Vortrag vor<br />

dem Nationalen Ethikrat ausdrücklich erklärt hat, dass<br />

sie den irreversiblen tödlichen Verlauf entsprechend der<br />

letzten Interpretationsmöglichkeit verstehe 73 und somit<br />

also auch den Fall des Wachkoma-Patienten als mit umfasst<br />

sähe, erntete die Entscheidung in der Fachwelt wegen<br />

der undeutlichen Ausarbeitung und der auch noch<br />

bei weiter Auslegung vorhandenen Einschränkung der<br />

Reichweite von Patientenverfügungen viel Kritik. 74 Die<br />

Konsequenz ist nämlich, dass die in einer Patientenverfügung<br />

geäußerte Verweigerung der Einwilligung in<br />

lebenserhaltende Maßnahmen als nicht beachtlich abgetan<br />

wird, wenn entweder das Grundleiden (noch) nicht<br />

unumkehrbar ist, also noch Möglichkeiten auf eine vollständige<br />

Genesung bestehen, oder bei Unterlassen der<br />

Behandlung der Tod nicht eintreten würde. Der Patient<br />

würde dann entgegen seinem ausdrücklich geäußerten<br />

Willen zwangsbehandelt werden. 75<br />

4. Stellungnahme<br />

Es ist daher <strong>zu</strong> erörtern, ob eine solche Einschränkung<br />

der Patientenautonomie geboten ist. Zu denken ist in diesem<br />

Zusammenhang vor allem an Situationen, in denen<br />

Menschen mit ihrem Leben in Frieden abgeschlossen<br />

haben und jeden Zustand, der lebenserhaltende Maßnahmen<br />

erforderlich machen würde, als den von Gott<br />

oder vom Schicksal gewollten Sterbezeitpunkt ansehen.<br />

Erkrankt eine solche Person schwer und wird einwilligungsunfähig,<br />

kann es zwar sein, dass die Krankheit ohne<br />

Behandlung tödlich verläuft, diese Vorausset<strong>zu</strong>ng also<br />

erfüllt ist. Sie muss dann aber nicht zwangsläufig auch<br />

irreversibel sein. Ebenso ist an religiöse Motive für einen<br />

Behandlungsverzicht <strong>zu</strong> denken, deren Verwirklichung<br />

dem Betroffenen mitunter wichtiger ist als die Rettung<br />

seines Lebens. So ist nicht unüblich, dass ein Zeuge Jehovas<br />

eine Bluttransfusion in antizipierter Form mittels<br />

einer Patientenverfügung kategorisch ablehnt, selbst<br />

wenn durch das Unterlassen sein Leben erlischt. 76 Auch<br />

hier ist eine Irreversibilität, etwa nach einem Unfall, <strong>zu</strong><br />

verneinen.<br />

Es ist nicht ein<strong>zu</strong>sehen, warum in diesen Fällen dem<br />

Einzelnen verwehrt werden sollte, Art und Maß an medizinischer<br />

Behandlung auch antizipiert wirksam fest-<br />

65 Kutzer, ZRP 2003, 213 (213); in diesem Sinne auch Coeppicus,<br />

Rpfleger 2004; Lipp, FamRZ 2004, 317 (319).<br />

66 BGH NJW 2003, 1588-1594.<br />

67 BGH NJW 2003, 1588 (1590).<br />

68 BGH NJW 2003, 1588 (1590).<br />

69 Hufen, ZRP 2003, 248 (249).<br />

70 Kutzer, ZRP 2003, 213 (213); Höfling/Rixen, JZ 2003, 885<br />

(891).<br />

71 Merkel, ZStW 107 (1995), 545 (557).<br />

72 Coeppicus, Rpfleger 2004, 262 (262); Kutzer, ZRP 2003, 213<br />

(213).<br />

73 So müsse das Grundleiden irreversibel sein und „bei natürlichem<br />

Verlauf <strong>zu</strong>m Tode führen“, Hahne, FamRZ 2003, 1619<br />

(1621).<br />

74 Vgl. nur Hufen, ZRP 2003, 248 ff.; Kutzer, ZRP 2003, 213 ff;<br />

Stackmann, NJW 2003, 1568 ff.; Verrel, NStZ 2003, 449 ff.<br />

75 Lipp, FamRZ 2004, 317 (319); Hufen, ZRP 2003, 248 (248).<br />

76 Vgl. etwa BVerfG NJW 2002, 206-207.

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